Spannungsverhältnis Subjekt? - DepositOnce

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Universitätsverlag der TU Berlin
Susann Köppl, Johanna Lang, Karen Koch (Hrsg.)
SPANNUNGSVERHÄLTNIS SUBJEKT?
Tagung des Internationalen interdisziplinären
Arbeitskreises für philosophische Reflexion (IiAphR)
06. bis 08. Juni 2013 an der Technischen Universität Berlin
ISBN 978-3-7983-2702-3 (Druckversion)
ISBN 978-3-7983-2703-0 (Onlineversion)
ISBN 978-3-7983-2702-3
www.univerlag.tu-berlin.de
Susann Köppl * Johanna Lang * Karen Koch
Das Subjekt ist einer der zentralsten Begriffe in der Philosophie und den Geisteswissenschaften überhaupt, gleichzeitig jedoch auch einer, der besonders schwierig zu
fassen ist. Nicht nur lassen sich philosophiehistorisch stark variierende Bedeutungen
dieses Begriffes ausmachen, darüber hinaus stellt es eine besondere Herausforderung dar, das Subjekt ins Verhältnis zu anderen zentralen Begriffen der Philosophie zu
setzen, wie etwa Person, Selbst, Ich, Substanz, Gehirn und Individuum. Die weit verbreitete Unklarheit über diesen Begriff und seine doch nicht zu leugnende Relevanz
gaben uns Anlass zu diesem Projekt – die ihm inne liegenden Spannungsverhältnisse
den Ausgangspunkt.
Spannungsverhältnis Subjekt?
Spannungsverhältnis Subjekt?
Universitätsverlag der TU Berlin
Susann Köppl | Johanna Lang | Karen Koch (Hrsg.)
Spannungsverhältnis Subjekt?
Tagungsband
Spannungsverhältnis Subjekt?
Tagungsband
Tagung des Internationalen interdisziplinären
Arbeitskreises für philosophische Reflexion (IiAphR)
06. bis 08. Juni 2013 an der Technischen Universität Berlin
Herausgeberinnen: Susann Köppl
Johanna Lang
Karen Koch
Universitätsverlag der TU Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar.
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Das Manuskript ist urheberrechtlich geschützt.
Satz/Layout: Susann Köppl, Andrea Haas
ISBN 978-3-7983-2702-3 (print)
ISBN 978-3-7983-2703-0 (online)
Online publiziert auf dem Digitalen Repositorium
der Technischen Universität Berlin:
URL http://opus4.kobv.de/opus4-tuberlin/frontdoor/index/index/docId/5303
URN urn:nbn:de:kobv:83-opus4-53035
[http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:83-opus4-53035]
Die Druckfassung enthält zwei zusätzliche Aufsätze, die in der Online-Fassung
aus urheberrechtlichen Gründen nicht enthalten sind.
Zum Geleit
Mit dem „Spannungsverhältnis Subjekt?“ ist eine Thematik
aufgerufen, die nicht nur die philosophischen Gemüter seit
langem bewegt und gleichzeitig aktuelle Brisanz besitzt,
sondern es ist ein Spannungsfeld über die Frage nach dem
Subjekt eröffnet, das uns als Thema entgegen tritt, uns
ohnehin angeht, ob wir wollen oder nicht. Das Subjekt lässt
sozusagen keinen unbeteiligt. Und insofern verbindet sich
das Thema dieses Sammelbandes auch mit einigen Grund­
gedanken jenes Rahmen gebenden Arbeitskreises, dem
Internationalen interdisziplinären Arbeitskreis für philoso­
phische Reflexion (IiAphR), aus dem heraus die Tagung und
der wiederum daraus entstandene vorliegende Band hervor­
gegangen sind.
Persönliches, existentielles Engagement, Subversion und
Kooperation können in diesem Sinn als leitende Prinzipien
genannt werden, in denen sich Kritik wie Verbindlichkeit
als Maßgaben für die gegenseitige selbstorganisierte Nach­
wuchsförderung in wechselseitigem Austausch mit Institu­
tionen und Fachleuten produktiv verbinden. Reflexion und
Denken selbst scheinen ein grunddemokratisches Moment
zu umgreifen und fragen nicht im Besonderen nach institu­
tionellen Einstufungen und Hierarchien. Wer denkt, denkt.
So stehen etwa in den Veranstaltungen wie auch in den
daraus entstehenden Publikationen Gedanken junger
Studierender oder auch außerakademisch Interessierter
5
ganz selbstverständlich gleichgewichtig neben denen von
arrivierten Akademiker_innen – und auch dieser Band
umfasst die ganze Bandbreite von ganz jungen Denkern
und Denkerinnen bis hin zu den im Akademischen weiter
fortgeschritteneren. Die Frage nach dem „Spannungsver­
hältnis Subjekt“ ist, wie auch andere Initiativen des
Arbeitskreises, in das derzeit größere Forschungsprojekt
mit dem Titel: „Erfahrungen der Asymmetrie – Orientie­
rung in der Kritik“ eingebunden und nimmt sich darin
eigen aus. Der Ausgang von Asymmetrie bezieht sich auf
ihre unaufhebbare Überwindung und die daraus zugleich
erwachsende verantwortliche Aufmerksamkeit auf sie. Es
ist eine Aufmerksamkeit, in der diese Asymmetrie eine
grundsätzlich kritisch befragte bleibt und bleiben muss.
Gegenüber den stark konzeptionellen Ausrichtungen der
Veranstaltungen zu „Simultaneität. Modelle der Gleichzei­
tigkeit“1 oder: „Inversion. Öffentlichkeit und Privatsphäre
im Umbruch“2 scheint hier nun im Fragen nach Subjekti­
vität der Radius zunächst enger gezurrt und auf den indivi­
duierten Einzelnen und seine ihm eigenen Spannungen
gerichtet zu sein. Gleichwohl ist sofort deutlich, dass
solche Spannungen nicht unabhängig von den Gemein­
schaften, Zusammenhängen und Gesellschaften sind, in
denen wir uns befinden. Der Blick vom einzelnen Span­
1
2
6
Siehe auch den IiAphR-Band: Simultaneität. Modelle der Gleichzei­
tigkeit in den Wissenschaften und Künsten. Hrsg. v. Philipp Hub­
mann und Till Julian Huss. Bielefeld 2013.
Und den weiteren IiAphR-Band: Inversion. Privatsphäre und Öffent­
lichkeit im Umbruch. Hrsg. v. Frauke A. Kurbacher, Agnieszka Igiel
und Felix von Boehm. Würzburg 2012.
nungssubjekt ist letztlich immer auch ein geweiteter auf das
Umfeld und vermag so u. a. wissenschaftspolitische
Dimensionen zu gewinnen. Vom Anliegen des Kreises her
gesprochen, ließe sich auf diese Weise kritisch konsta­
tieren, dass aufgrund von europaweiten Veränderungen der
universitären Profile, Bildungslandschaften und ökonomi­
schen Lagen Nachwuchsförderung vielfach ohnehin schon
gar nicht mehr betrieben werden kann. Mittlerweile
scheinen sich vielmehr Fragen nach der bloßen Wahrung
von Universitas, ihrer Eigenständigkeit und Bildung über­
haupt zu stellen – wiewohl diese Fragen viel zu wenig
gestellt und diskutiert werden, sowohl öffentlich als auch in
den eigenen Kreisen, und zwar in einer Weise wenig, die
Sorge bereiten kann und sollte. Es ist eine Sorge um die
Autonomie der Universitäten und derer, die darin sind, und
die kritische Anfrage, inwiefern hinter dem angestammten
Bildungsland – im vielbemühten Bild der „Dichter und
Denker“ – vielleicht mittlerweile nicht viel mehr als ein
Etikettenschwindel steckt. Es bedarf solch einer intern wie
extern greifenden Diskussion, die den Machtzentrierungen
durch Elitefokussierungen und den Standortschließungen,
die der Reduzierung und dem Verlust gerade intellektuelle
und kulturelle Diversität entgegensetzt. Vor dem Hinter­
grund von fehlenden Mitteln im Zuge universitärer
Umstrukturierungen, sukzessiv gekürzter, geplant fort
gesparter, aber benötigter Stellen, fortfallender Lehrstühle,
ganzer Institute, Stoffe und Standorte, aber auch angesichts
der nicht zuletzt daraus entstehenden zeitlichen und inhalt­
7
lichen Lücken, nimmt sich dann unter Umständen noch
einmal mehr aus, was es bedeutet, sich selbst gegenseitig
anerkennend Raum für freies Reflektieren, für Denkfreiheit
zu geben – auch in Form eines gemeinsamen Bandes, der
sich damit auch einem weiteren Publikum öffnet. Nicht
zuletzt in diesem Sinn darf man gespannt sein, welche Frei­
räume für freies Denken sich daraus ergeben und vor allem,
was darin für Fragen aufgeworfen werden.
Ein herzlicher Dank gilt den wissenschaftlichen
Leiter_innen der Tagung und den Herausgeberinnen des
Bandes: Karen Koch, Susann Köppl, Johanna Lang und
Nikolaos Tzanakis-Papadakis, der kooperierenden Institu­
tion: der Technischen Universität Berlin sowie natürlich
den Beitragenden des vorliegenden Bandes.
Allen Leser_innen viel Freude dabei!
*
*
IiAphR *
*
* *
Frauke A. Kurbacher
Berlin im Frühjahr 2014
8
*
*
IiAphR
*
*
* * Internationaler interdisziplinärer Arbeitskreis für philosophische Reflexion
Vorwort
„Spannungsverhältnis Subjekt?“
Obwohl sich ein Großteil der gegenwärtigen philosophi­
schen und wissenschaftlichen Diskussionen vom Subjekt
verabschiedet zu haben scheint, ist es an anderer Stelle
überraschend lebendig und gilt als letzter Bezugspunkt, als
Grundbaustein von Theorie. Das wirft die Frage auf,
welcher Umstand diese gegensätzlichen Positionen ermög­
licht und ob sie sich tatsächlich so ausschließen, wie es auf
den ersten Blick wirkt. Dabei schien es uns vielverspre­
chend, sich dem Subjekt(begriff) über dessen Spannungs­
verhältnisse anzunähern.
In diesem Sinne gliederten wir die Tagung in vier Themen­
felder, die wir als interessant und aussichtsreich erachteten
und die als einzelne Scheinwerfer auf die Thematik
verstanden wurden: das Subjekt und das Selbst – Span­
nungen innerhalb der Selbstbezüglichkeit, das erkennende
Subjekt zwischen Bedingung und Möglichkeit, das politi­
sche Subjekt zwischen Selbst- und Fremdbestimmung und
das soziale Subjekt zwischen Authentizität und Anerken­
nung. In ihnen kreisten wir bspw. um folgende Fragen:
Kann man das Subjekt losgelöst von der starken Idee einer
Instanz (eines Kerns, eines Ichs oder auch einer Seele)
9
denken oder ist man zu seiner Beschreibung notwendig auf
sie verwiesen? Wo liegt der Unterschied zwischen den
Begriffen „Subjekt“, „Selbst“, „Ich“ und „Person“? Was
sind „Selbstverhältnisse“? Kann es ein Subjekt geben,
wenn wir an der Idee der Autonomie (in einem starken
Sinne) zweifeln? Ist das Subjekt (substantieller) Träger von
Eigenschaften oder Produkt von Diskursen bzw. sogar
sprachliches Konstrukt? Ist das Subjekt sein Gehirn?
Welche Erkenntnisansprüche kann das Subjekt stellen? Wie
ist das Verhältnis von Subjekt und sozialer Umwelt zu
beschreiben, gerade auch mit Blick auf die Subjektwer­
dung? Wie geht der individuelle Anspruch nach Selbstver­
wirklichung oder Authentizität mit dem gleichzeitigem
Streben nach (sozialer) Anerkennung d'accord?
In der Diskussion ging es uns nicht darum, diese Span­
nungen aufzulösen oder als trügerisch zu verwerfen. Auch
war es nicht unser Anliegen, fertige Definitionen zu geben
oder eine bloß historische Auflistung der verschiedenen
Subjektdefinitionen vorzunehmen. Im Gegenteil ging es
uns vorwiegend darum, die dem Subjekt(begriff) inhä­
renten Spannungsverhältnisse als solche ernst zu nehmen
und aus verschiedenen Perspektiven in ihrer Komplexität
zu beleuchten, ihre Bedeutung zu verstehen und diese zu
konkretisieren, um uns so einer angemessenen Interpreta­
tion desselben zu nähern. Vielleicht, so war die implizite
Annahme, kann man dem Subjekt(begriff) genau über diese
Spannungsverhältnisse auf eine fruchtbare Art und Weise
begegnen.
10
Dieser Sammelband ist nun das gebündelte Resultat dieser,
unserer Tagung, die vom 06.06.2013 bis 08.06.2013 an der
Technischen Universität Berlin statt fand. Die Tagung
wurde ausgerichtet vom Internationalen Interdisziplinären
Arbeitskreis für philosophische Reflexion (kurz dem
IiAphR) – in persona von Karen Koch, Susann Köppl,
Johanna Lang und Nikolaos Tzanakis-Papadakis. Sie setzte
die Forschungsreihe Erfahrungen der Asymmetrie. Orien­
tierung in der Kritik fort, die der IiAphR seit 2009 verfolgt.
Der IiAphR ist ein philosophischer Arbeitskreis, der jedem
philosophisch interessierten Menschen offen steht. Seine
Arbeit besteht vorwiegend in jährlichen Veranstaltungen
(Tagungen, Workshops, Colloquien u. ä.) zu Themen, die
innerhalb des Arbeitskreises entstehen und aus Publika­
tionen, die wiederum aus diesen Veranstaltungen hervor
gehen (können). Nähere Informationen gibt es unter:
www.iiaphr.eu.
Doch möchten wir das Vorwort nicht nur nutzen, um kurz
die Tagung und uns selbst vorzustellen, sondern auch, um
uns ganz herzlich für die Unterstützung zu bedanken und
zwar bei der Technischen Universität Berlin, namentlich
bei Thomas Gil, Nina Krampitz und Rainer Adolphi, für die
Zurverfügungstellung des Raums und die Bewerbung der
Tagung, bei dem Universitätsverlag der Technischen
Universität Berlin, namentlich bei Dagmar Schobert, für
die Möglichkeit der Publikation, bei Landbrot und Zwer­
genwiese, die für unser leibliches Wohl sorgten, bei Andrea
Haas für die Unterstützung bei der Umschlaggestaltung des
11
Bandes und ganz besonders natürlich bei den Vortragenden,
die auf eigene Kosten und Mühen an unserer Tagung
mitwirkten: Sophia Lena Sawall, Christine Witt, Stefan
Kühnen, Laurin Berresheim, Nina Rabuza, Martin Mettin,
Thorsten Streubel, Bennett Schuster, Lukas von Bodel­
schwingh, Hannah Holme, Henning Nörenberg, Anne
Clausen, Frauke A. Kurbacher und Eva Seidlmayer. Leider
fanden nicht alle Vortragenden die Zeit und die Kraft sich
an dem Band zu beteiligen, doch auch ihnen sei gesagt:
Schön dass ihr dabei wart! Ein herzliches Dankeschön geht
ebenfalls an Felix Bräuer und Till Ermisch für Anregung
und Kritik und natürlich an alle IiAphRianer_innen, die uns
unterstützt haben und ohne die der Kreis wie seine Veran­
staltungen nicht möglich wären.
Die Herausgeberinnen
12
Inhaltsverzeichnis
DIE HERAUSGEBERINNEN
Spannungsverhältnis Subjekt? ....................................................15
CHRISTINE WITT
Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des
Subjekts ......................................................................................25
LAURIN BERRESHEIM
Das vereinzelte Dasein. John Haugelands Interpretation
des Daseins in Sein und Zeit .......................................................43
NINA RABUZA & MARTIN METTIN
Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie ..............59
EVA SEIDLMAYER
Das Subjekt im Spannungsverhältnis von epistemischer
Struktur und Handlung. Ein historisch systematischer
Beitrag ........................................................................................81
THORSTEN STREUBEL
Das Ich und sein Subjekt. Oder warum ich nicht mein
Gehirn bin .................................................................................101
HENNING NÖRENBERG
Der „Absolutismus des Anderen“ als ein Paradigma der
Subjektkonstitution ...................................................................125
SUSANN KÖPPL
Subjektivation und Selbstsein ..................................................147
13
ANNE CLAUSEN
Autonomie und Verwahrlosung. Das Subjekt zwischen
zwei Formen des Selbstverlusts ...............................................171
FRAUKE A. KURBACHER
Haltung. Zu einer kritischen Reformulierung des Personbegriffs in drei Thesen ..............................................................195
Autor_innen- & Herausgeberinnenverzeichnis ........................209
14
Spannungsverhältnis Subjekt?
Die Herausgeberinnen
Das Subjekt ist einer der zentralen Begriffe der Philosophie
und Geisteswissenschaften überhaupt, gleichzeitig jedoch
auch einer, der besonders schwierig zu fassen ist. Nicht nur
lassen sich philosophiehistorisch stark variierende Bedeu­
tungen dieses Begriffes ausmachen, darüber hinaus stellt es
eine besondere Herausforderung dar, das Subjekt ins
Verhältnis zu anderen zentralen Begriffen der Philosophie
zu setzen, wie etwa Person, Selbst, Ich, Substanz, Gehirn
und Individuum. Die weit verbreitete Unklarheit über
diesen Begriff und seine doch nicht zu leugnende Relevanz
gaben uns Anlass zu diesem Projekt, die ihm inne
liegenden Spannungsverhältnisse den Ausgangspunkt.
Bereits in der Antike lassen sich unterschiedliche Konzep­
tionen des Subjekts finden. So bezeichnet etwa Aristoteles
dasselbe als Träger von Eigenschaften wie auch von Hand­
lungen und benennt damit sowohl Gegenstände als auch
Menschen. Zum zentralen Begriff wird das Subjekt aber
erst in der Neuzeit. Exemplarisch lassen sich die erkennt­
nistheoretischen Ansätze Thomas Hobbes' und René
Descartes' nennen. Während bei Thomas Hobbes etwa der
Körper, insofern er Wahrnehmungen hat, Subjekt ist,
bestimmt René Descartes es hingegen als Träger der Cogi­
tationes, der geistigen Eigenschaften. Gegen letztere
15
Spannungsverhältnis Subjekt?
Bestimmung wendet sich wiederum Immanuel Kant, der
das Subjekt als reine Denkaktivität auffasst, welcher keine
Eigenschaften zugesprochen werden können, da sie sich
jeglicher Prädikation entzieht.
Was bedeuten diese unterschiedlichen Bestimmungen?
Kann der Subjektbegriff einheitlich definiert werden? Gibt
es eine umfassende Bestimmung dieses Begriffs, die den
unterschiedlichen Bestimmungen gerecht wird oder ist er
vielmehr eine leere Hülle und wird als beliebige Variable
verwendet? Wenn der Begriff leer und somit multipel
besetzbar wäre, bestünde eine Konsequenz darin, ihn – um
der Klarheit willen – einfach abzuschaffen und für die
jeweils unterschiedlichen Bestimmungen verschiedene
Begriffe zu finden. Gibt es also Gründe am Subjektbegriff
festzuhalten?
Zum einen ließe sich, zumindest für den westlichen Kultur­
kreis, konstatieren, dass das Subjekt im Sinne eines gram­
matikalischen Subjekts zu den Grundpfeilern unseres
Denkens und Sprechens und somit unseres Lebens wie der
wissenschaftlichen Forschung gehört. Es scheint zumindest
in diesem Sinne unverzichtbar zu sein. Zum anderen ist ein
Festhalten am Subjektbegriff vor allem von Seiten der kriti­
schen, der politischen und der ethischen Philosophie
zumeist ein Festhalten an vernünftiger Autonomie, auch
wenn diese durchaus in ihren eigentümlichen Strukturen,
ihren Spannungsverhältnissen wahrgenommen wird. Die
Verbindung von Vernunft und Autonomie mit dem Begriff
16
Spannungsverhältnis Subjekt?
des Subjekts ist jedoch gerade in der Moderne nicht mehr
wegzudenken.
Ein Plädoyer für das Subjekt ist so betrachtet auch ein
Plädoyer für die vernünftige Autonomie einer bzw. eines
jeden Einzelnen, von der es unzweifelhaft wichtig ist, sie
immer wieder neu zu überdenken; ihr immer wieder Aktua­
lität zu verschaffen. Philosophien wie zum Beispiel dieje­
nige Immanuel Kants begreifen das Subjekt als kritische
Instanz und machen es zum Bezugspunkt des Urteilens
über Wahrheitsfragen. Im Mittelpunkt steht ein Verständnis
des Subjekts als eines, das die Fähigkeit besitzt, sowohl
über Erkenntnis- als auch über moralische Fragen durch
Anstrengung der eigenen Reflexion begründet zu urteilen.
Auch G.W.F. Hegels Philosophie basiert in diesem Sinne
wesentlich auf der Fähigkeit zur Reflexion über Wahrheits­
fragen, wobei die Fähigkeit zur Selbstreflexion und damit
auch zur Selbstkritik noch stärker in den Mittelpunkt
gerückt wird. Zudem haben beide Philosophen Folgendes
gemein: Sie legen großen Wert darauf, dass alle Ergebnisse
der (Natur-)Wissenschaften damit verträglich sein müssen,
dass wir denkende, selbstreflexive Wesen sind.
Eine Verabschiedung des Subjekt(begriff)s aus der (philo­
sophischen) Diskussion würde so betrachtet also auch eine
Absage an jegliche Fähigkeit zur Reflexion und damit auch
an die Autonomie einer bzw. eines jeden Einzelnen zur
Folge haben. Denn autonom zu handeln bedeutet, sich über
bestimmte Situationsbedingungen bewusst werden zu
können, in der Lage zu sein, über Handlungsgründe nach­
17
Spannungsverhältnis Subjekt?
zudenken und zu bestimmten Handlungsmöglichkeiten Pro
und Contra abzuwägen, aber auch, bzw. gerade deswegen,
die Verantwortung für Fehlverhalten auf sich zu nehmen.
Zwar scheinen naturwissenschaftliche Ergebnisse, wie z. B.
die der Hirnforschung und daran anschließende Philoso­
phien dem Subjekt Autonomie abzusprechen und seine
Fähigkeit zur vernünftigen Reflexion stark einzuschränken,
doch muss gefragt werden, ob das Subjekt nicht dort
wieder an Geltung gewinnt, wo Methoden und Ziele von
Experimenten und Theorien in den Mittelpunkt einer
Betrachtung gerückt werden. Erfordert die reflexive Hinter­
fragung von z. B. naturwissenschaftlichen Methoden und
denen aus ihnen hervorgehenden Ergebnissen nicht gerade
ein Subjekt?
Andererseits ist das Subjekt auch immer schon als ein
bedingtes zu begreifen, etwa durch seine soziale wie
körperliche Konstitution. Wir sind nicht nur denkende oder
gar rationale Wesen, sondern ebenso fühlende, begehrende
oder auch spontan reagierende, die sich gern auch einmal
anpassen und einfach dazu gehören wollen und die sich vor
allem auch (in positiver wie in negativer Weise) beein­
flussen lassen. In diesem Sinne betonen etwa die Subjekti­
vierungstheorien (bspw. von Michael Foucault oder Judith
Butler) den Prozess der Subjektwerdung als einen der
Anpassung an bestimmte vorgegebene Strukturen. Dies
wirft die Frage auf, ob und inwiefern die Idee einer Iden­
tität des Subjekts, etwa im Sinne einer „Wesensgleichheit“
gerade auch in Anbetracht der Bedingtheit, Prozessualität
18
Spannungsverhältnis Subjekt?
und Beziehungshaftigkeit desselben, überhaupt gedacht
werden kann, an die sich doch wiederum die Idee der
(vernünftigen) Autonomie zu binden scheint.
Zudem werden, gerade auch in den letzten Jahren, die
Gefühle und der Körper wieder neu thematisiert und ins
Zentrum der Überlegungen über das Subjekt gerückt. Eine
Forderung nach vollständiger Autonomie und permanenter
Vernünftigkeit kann nur eine Überforderung sein und stellt
eine Verkennung der jeweils eigenen Situation und Fähig­
keiten dar.
Der Grundgedanke dieser Tagung war es nun, die unter­
schiedlichen Bestimmungen des Begriffs als in einem
Spannungsverhältnis zueinander stehend zu denken, ja, das
Subjekt selbst als ein solches Spannungsverhältnis zu
begreifen. Statt einer starren Definition sollte so den unter­
schiedlichen Bedeutungen desselben Rechnung getragen
werden. Unter einem Spannungsverhältnis verstehen wir in
diesem Zusammenhang einander negierende Positionen,
die sich auf ein und denselben Begriff beziehen. Daraus
folgt jedoch unseres Erachtens nicht die Unmöglichkeit der
Zuweisung dieser Positionen auf eben ein- und denselben
Terminus. Es folgt ebenfalls nicht, dass es sich um jeweils
vollständig unterschiedliche Phänomene handelt, die wir
mit dem Begriff Subjekt greifen wollen, sodass er multipel
besetzbar wäre. Es folgt vielmehr, dass es sich um keine
stabilen Zuschreibungen handelt, sondern lediglich um
Zuschreibungsmomente, die in diesem Sinne dialektisch
verstanden werden müssen, d. h. sich in einem ständigen
19
Spannungsverhältnis Subjekt?
Entwicklungs- und Übergangsprozess befinden.
Diese Tagung rückte die internen wie externen Spannungs­
verhältnisse des Subjekt(begriff)s in den Fokus der wissen­
schaftlichen Betrachtung, um so einen Raum zu eröffnen,
in dem Reflexionen über die ihm zugeschriebenen Bestim­
mungen und Phänomene angestrengt werden können und
sollen. Im Rahmen dieser Überlegungen stehen nun die
folgenden Beiträge, die explizit wie implizit um die Span­
nungsverhältnisse zwischen Subjekt und Selbst, der
Bedingtheit und Möglichkeiten des erkennenden Subjekts,
der Selbst- und Fremdbestimmung wie auch der Authenti­
zität und Anerkennung kreisen, die als Themenfelder die
Tagung charakterisierten.
Christine Witt unternimmt eine Analyse von Sören Kier­
kegaards Grundbegriffen wie Angst, Verzweiflung und
Selbstsein. Sie verbindet diese mit Phänomenen psychi­
scher Überlastung wie z. B. Burnout, die unter modernen
Sozial- sowie Arbeitsbedingungen verstärkt hervortreten.
Es ist die These der Autorin, dass sich das moderne Indivi­
duum in die Überfülle der gesellschaftlich gegebenen
Selbsthilfeangebote flüchtet und damit seine eigene Situa­
tion mehr verstellt als erhellt. In Anschluss an Kierkegaard
gilt es vielmehr, die Phänomene der Angst und Verzweif­
lung als Grunderfahrungen des einzelnen Subjekts zu
verstehen und diese als solche zu begreifen. Denn sie
vermögen zu einer Erkenntnis seiner selbst und zum
Aufschluss der je eigenen Situation beizutragen.
20
Spannungsverhältnis Subjekt?
Laurin Berresheim nimmt Martin Heideggers Kritik am
Subjektbegriff auf und verfolgt mit John Haugeland eine
sozialpragmatische Lesart von Sein und Zeit. Das Dasein
soll demnach als eine Lebensform begriffen werden, die
durch eine normative Praxis hervorgebracht wird. Das
Seinsverständnis, durch das sich das Dasein auszeichnet,
konstituiert sich folglich erst in einer Interaktion verschie­
dener Personen und kann daher nicht von einem isolierten
Subjekt her gedacht werden. Wie der Autor jedoch in einem
Ausblick kritisch zu bedenken gibt, kann das Subjekt in
dieser Praxis nicht vollkommen aufgehen, weil es nach
Heidegger auch ein irreduzibles Verhältnis zu seinem
jeweils eigenen Sein hat.
Nina Rabuza und Martin Mettin betrachten die Stellung
des Subjekts in der Kritischen Theorie, welche dasselbe
einerseits als historisch-bedingte kritische Instanz mensch­
licher Erkenntnis und andererseits als eine das Objekt der
Erkenntnis verkennende Instanz versteht. Die AutorInnen
rücken den Gedanken der Befreiung des Subjekts aus
seinen selbst verschuldeten Herrschaftsverhältnissen in den
Vordergrund. Diese Befreiung kann nur aus einem Akt der
Reflexion und kritischen Selbsterkenntnis des Subjekts und
einer darauf folgenden tatsächlichen Veränderung der Herr­
schaftsverhältnisse geschehen.
Thorsten Streubel beleuchtet das Verhältnis zwischen
Gehirn und Geist aus einer erkenntniskritischen und phäno­
21
Spannungsverhältnis Subjekt?
menologischen Perspektive. Dabei strebt er eine Kritik des
ontologischen Naturalismus an, indem er zeigt, dass ein
Vertreter dieses Naturalismus eine sich selbst aufhebende
Position einnimmt. Der Autor hat dabei die Thesen, dass a)
eine Reduktion des Menschen auf nur zwei Momente,
Körper und Geist, oder auch nur auf den Körper, nicht zu
halten ist, und dass b) sich das menschliche Subjekt als
komplexe Einheit vieler Momente, der vom Autor einge­
führten „Anthropoialien“, erweist.
Eva Seidlmayer betrachtet die aufgerufene Thematik aus
dem Blickwinkel der Auseinandersetzung um eine ange­
messene Wahrheitskonzeption und der daraus hervorge­
henden Frage nach der richtigen Lebensführung zwischen
Stoikern, akademischer und phyrronischer Skepsis. Hierbei
geht es der Autorin sowohl um eine Verhältnisbestimmung
zwischen Subjektdefinitionen und Wahrheitskonzepten als
auch um eine Einsicht in die Verschränkung von Theorie
und Praxis. Denn aus den jeweils vertretenen Wahrheits­
konzeptionen resultiert nicht nur eine verschiedene episte­
mische Verortung des Subjekts. Sie üben überdies Einfluss
auf seine Einstellungen und Handlungen aus und besitzen
so praktisch-normative Bedeutung.
Henning Nörenberg bezieht Stellung zu einem, unter
anderem von Derrida und Agamben geführten, politischtheologischen Diskurs, den der Autor als „Absolutismus
des Anderen“ bezeichnet. Er versteht den Diskurs als Fort­
22
Spannungsverhältnis Subjekt?
führung aber auch als Korrekturversuch des Absolutismus
Carl Schmitts. Der Andere wird in dieser Auseinanderset­
zung als Opfer eines sich selbst gerechten, egoistischen
Subjekts stilisiert, welches es zu überwinden gilt. Das
politische Subjekt hat sich dem Anderen vielmehr in einer
von Scham geprägten Haltung zu nähern. Der Hauptkritik­
punkt des Autors besteht darin, dass es sich hier um eine
verengte Sichtweise handelt, die soziale Beziehungen nur
aus der Rolle eines Täters, dem Subjekt, und eines Opfers,
dem Objekt, heraus deute und die Pluralität menschlicher
Beziehungen nicht zu fassen vermag.
Susann Köppl beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem
Spannungsverhältnis, das sich zwischen der Vorstellung
eines gesellschaftlich konstituierten Subjekts und der
Vorstellung eines individuellen „Selbstseinkönnens“ ergibt.
Die Autorin betrachtet dafür das Subjekt vor allem aus
sozialer und diskurstheoretischer Perspektive, indem sie
Theorien der Subjektivation heranzieht, und stellt sich die
Frage nach einem angemessenen Verständnis von „Selbst­
sein“ innerhalb dieser Theorien. Dabei plädiert sie für einen
Begriff des „Selbst“, der über den des Subjekts hinaus geht
und die Eigenständigkeit desselben, sein kritisches Poten­
tial, betont.
Anne Clausen beleuchtet das Subjekt ebenfalls aus der
Perspektive der Theorie der Subjektivation. Die Autorin
fragt jedoch nicht nach den Konstitutionsmomenten der
23
Spannungsverhältnis Subjekt?
Subjektivation und damit des Subjekts, sondern sucht mit
dem Begriff der „Verwahrlosung“, der unter Einbezug von
zentralen Thesen Foucaults erläutert wird, gerade den
entgegengesetzten Prozess zu erklären. „Verwahrlosung“
beschreibt das Aussetzen eines Subjektivierungsprozesses
und den damit einhergehenden Verlust sozialer Bezie­
hungen als auch des Subjekt-seins selbst.
Frauke Annegret Kurbacher kritisiert an Subjektkonzep­
tionen, dass es ihnen latent an einem Blick auf Intersubjek­
tivität und Gemeinschaft mangelt. Das Phänomen mensch­
licher Pluralität wird darin nicht erfasst, welches es jedoch
für ein angemessenes Verständnis des Subjekts zu begreifen
gilt. Mit einer Philosophie der Haltung strebt die Autorin
eine Revision der theoretischen Konzeptionen um das
Subjekt an, welche dem Begriff der Person Vorrang
gewährt, weil dieser die intersubjektiven Verhältnisse, in
denen sich das Subjekt befindet, zu explizieren vermag.
24
Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des
Subjekts
Christine Witt
Wir leben in einer Zeit der Ängste. Angst ist ein Grundge­
fühl, welches den Menschen lebenslang begleitet. Heute ist
die Frage nach der Angst dabei aktueller denn je. Themati­
siert wird sie vor allem durch die Angstforschung der
Psychologie, aber auch in der Soziologie und Philosophie
wird der Frage nach der Angst und deren Entstehung nach­
gegangen.
Hinter den großen Theorien der Angstforschung steht eine
einzelne Person, welche durch ihr Werk Der Begriff der
Angst von 1844 die Thematik in einem Ausmaß darstellt,
wie es kein anderer zuvor getan hat: Søren Kierkegaard.
Kierkegaards Denken hat trotz seines theologischen Hinter­
grunds nicht an Aktualität verloren. Er war sowohl eine
zerrissene als auch eine moderne Gestalt des 19. Jahrhun­
derts; ein Dandy, der durch Kopenhagens Straßen flanierte
und der zugleich ein ganzes Lebensgefühl in Worte fasste.
In seinen Werken wendet sich Kierkegaard stets an den
Einzelnen und spricht somit jeden persönlich an. Künstler
wie z. B. Kafka, Max Frisch, Ingmar Bergmann und Milan
Kundera ließen sich von ihm inspirieren und zeigen, dass
dieser in seiner eigenen Zeit kaum rezipierte Denker, wenn
auch anonym, in der Kunst präsent ist. Wenig zentral ist er
25
Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts
dagegen auch heute noch in der philosophischen Theorie,
vor allem in den aktuellen Formen der Theorie der Subjek­
tivität und der Anthropologie. In dem nachfolgenden Text
möchte ich zeigen, wie aktuell die von der Kunst gespürten
und immer wieder neu wach gehaltenen Inspirationen, die
von Kierkegaards Denken ausgehen können – sozusagen
seinem Wirklichkeitsgehalt –, noch immer auch für die
philosophische Theorie sein könnten.
In der heutigen Zeit sind es vor allem die Tiefenpsycho­
logie, speziell Sigmund Freud, und in der Philosophie
Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre, die mit dem Thema
Angst in Verbindung gebracht werden. Freuds Angsttheorie
war dabei noch sehr stark an Kierkegaards Analysen selbst
angelehnt, denn auch er machte eine deutliche Unterschei­
dung zwischen der Furcht vor etwas Bestimmten und der
Angst vor etwas Unbestimmten fest. Heidegger und Sartre
dagegen haben den Begriff der Angst aus seinem theologi­
schen Kontext herausgelöst und ihn vielmehr ontologisiert. 1
Diese Säkularisierung des Angstbegriffs ist jedoch nur ein
scheinbarerer Vorteil. Der Preis war, dass beide Philoso­
phen in ihren Angstanalysen den Menschen aus dem Blick
verloren und ihn nur noch als ein Strukturmerkmal des
Wesens des Menschen betrachtet haben. 2
1
2
26
Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1967. Jean-Paul
Sartre: Das Sein und das Nichts. Hamburg 1991.
Obwohl Heidegger ebenfalls das Empfinden des Menschen in den
Vordergrund seines Denkens stellt, betrachtet er in seinen Analysen
den Menschen nicht als einzelnes Individuum, sondern nur als Men­
sch-Wesen bzw. Ding an sich.
I. Werden zum Selbst. Theologie und Anthropologie
I. Werden zum Selbst. Theologie und Anthropologie
Kierkegaard dagegen behält den Menschen stets im Mittel­
punkt seiner Betrachtung, denn entscheidend für ihn war
das Verhältnis, was es heißt Mensch zu sein, und dabei
nicht nur, was es heißt überhaupt Mensch zu sein, sondern
was es heißt, dass wir alle, jeder Einzelne für sich,
Menschen sind. Somit hat Kierkegaard es sich selbst zur
Aufgabe gemacht, den Einzelnen zur zentralen Bestim­
mung seines Schaffens zu machen. Was Kierkegaard
auszeichnet, ist, wie es Michael Theunissen beschreibt,
hierin ein „dialektischer Negativismus“. Die Frage nach
dem Gelingen des Lebens kann demnach nur beantwortet
werden, wenn sich der Einzelne die Frage stellt und beant­
wortet, warum das Leben misslingen kann. Das bedeutet,
dass wir zwar nicht sagen und wissen können, wie das gute
Leben gelingen kann, wir aber trotz allem wissen, was wir
auf keinen Fall wollen – nämlich leiden. Demnach
erschöpft sich ein gutes Leben nicht in dem Streben nach
der Verwirklichung von Zielen und Zwecken. Die Antwort,
wie ein gelingendes Leben aussehen soll, kann nur von
jedem Einzelnen auf Grund seiner Erfahrungen beantwortet
werden. Sprich, am Ende muss man sich selbst verlieren,
um sich selbst zu gewinnen.3
3
Vgl. Michael Theunissen: „Das Menschenbild in der »Krankheit
zum Tode«“, in: Michael Theunissen/Wilfried Greve (Hg): Materia­
lien zur Philosophie Sören Kierkegaards. Frankfurt am Main 1979,
S. 496–510. Emil Angehm (Hg.): Dialektischer Negativismus: Mi­
chael Theunissen zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main 1992.
27
Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts
Kierkegaards Kritik am systematischen Denken sowie an
geschlossenen Systemen, wie man damals von Hegels
System sprach, zeigt sich nicht nur in dem Vorwort zu Der
Begriff der Angst. Auch der Untertitel Eine simple psycho­
logisch-wegweisende Untersuchung in der Richtung auf
das Dogmatische Problem der Erbsünde weist eine gewisse
Ironie bezüglich Hegels Ansprüchen auf, welchen Kierke­
gaard entgegenwirken will. Wie der Untertitel erkennen
lässt, koppelt Søren Kierkegaard in seiner Arbeit eine
psychologische Analyse der Angst mit dem Problem der
Erbsünde und kennzeichnet Angst zugleich als dogmati­
sches Problem.
Dies heute so Befremdende hat zwei Seiten. Zum einen
zeigt er mit seiner Untersuchung die Grenzen einer psycho­
logischen Betrachtung auf; zum anderen stellt er einen
Zusammenhang des theologisch als Sündhaftigkeit vorge­
stellten Gefallenseins-in-die-Welt und eines zu lebenden
Lebens des Endlichen mit der grundlegend verstandenen
Angst dar. Auch wenn Kierkegaard in seiner Arbeit eine
eigenwillige Deutung des Sündenfalls vollzieht, wird die
Frage nach der Angst nicht in einem theologischen Kontext
diskutiert, sondern bleibt in der Psychologie verankert. Die
Geschichte Adams wird lediglich verwendet, um die
anthropologischen Voraussetzungen zu klären. Demnach
symbolisiert die Geschichte des Sündenfalls die Geschichte
des Menschen.
„Angst“ ist auch im Denken ein Phänomen der Moderne.
Bevor Søren Kierkegaard seine Analyse der Angst erar­
28
I. Werden zum Selbst. Theologie und Anthropologie
beitet hat, war von Angst, wie sie heute verstanden wird,
keine Rede. Vielmehr wurde von Furcht gesprochen, wie
z. B. bei Descartes, der Furcht als eine Veranlagung der
Seele verstand4 oder Hegel, für den die „absolute Furcht“
eine Voraussetzung des Selbstbewusstseins war, die eng mit
der bekannten Dialektik der „Herr- und Knechtschaft“
sowie dem heute wieder so breit diskutierten „Kampf um
Anerkennung“ zweier Individuen auf Leben und Tod
verknüpft ist.5 Auch Schelling gab keine eindeutige
Begriffsbestimmung, sondern sprach von einer generellen
„Angst des Lebens“. „Die Angst des Lebens selbst treibt
den Menschen aus dem Centrum, in das er erschaffen
worden […]“6 ist. Kierkegaard war hier der Erste, der einen
wesentlichen Unterschied deutlich machte: Er zeigte, dass
„Angst“ gerade nicht dem konkreten Bestimmten gilt,
sondern aus dem Wissen resultiert, dass da wo Nichts ist,
etwas sein könnte. In diesem Sinne grenzt er fundamental
die Furcht vor etwas Bestimmten von der Angst vor etwas
Unbestimmten ab.
Kierkegaards Analysen stehen dabei in der langen Reihe
neuzeitlicher Anthropologie, das theologische ErbsündenDogma als symbolisch formuliertes Bild der Schlüssel­
szene des Werdens zum Menschen philosophisch zu refor­
mulieren. Was Kierkegaards Ansatz auszeichnet, ist der
4
5
6
Vgl. René Descartes: Die Leidenschaften der Seele. Hamburg 1984.
Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes.
Frankfurt am Main 1973.
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Untersuchun­
gen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusam­
menhängenden Gegenstände, Hamburg 1997, S. 53, OA 461–463.
29
Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts
Versuch, gewissermaßen eine im Theologischen nicht
explizit angesprochene anthropologische Zwischendimen­
sion und die daraus folgende Ambivalenz in den Blick zu
heben: einen menschlichen Zustand zu benennen, der am
Ende ebenso zu einer Verzerrung der menschlichen Bezie­
hungen führte, wie es auch schon im Erbsündendogma
vorgestellt war.
Jedoch ist zu bedenken, dass sich der von Kierkegaard
benannte Zustand keineswegs bereits in Sünde befand.
Dafür wählt er als einen objektiven Zwischenzustand 7 die
„Angst“, welche sich in der menschlichen Entwicklung,
kurz vor dem Erwachen der Sexualität und des Geistes,
herausbildet, und er macht, ins Theologische verwoben, die
Entstehung der Angst konkret an der Geschichte Adams
deutlich. Es gibt jedoch auch eine lebensweltliche Paral­
lele, an der die Angstentstehung und ihre Entwicklung
nachzuzeichnen ist. Und um hier in meinem Beitrag jene
biblischen Bezüge nicht zu sehr in den Vordergrund zu
stellen, werde ich im Folgenden die Entstehung der Angst
am Beispiel des Kindes skizzieren.
Ebenso wie Adam befindet sich auch ein Kleinkind zu
Beginn seiner Entwicklung in Unschuld und Unwissenheit.
Es hat keine Vorstellung, was richtig und was falsch ist,
ebenso wenig kennt es den Unterschied zwischen Gut und
Böse. So verhält es sich auch mit Adam, der in völliger
Unwissenheit und Unschuld lebte, bevor er vom Baum der
7
30
Angst wird hier als objektiver Zustand gewählt, da Angst weder eine
emotionale noch eine instinktive Reaktion ist, sondern ein Indiz des
Geistes.
I. Werden zum Selbst. Theologie und Anthropologie
Erkenntnis aß. Konform mit der Geschichte der biblischen
Genesis ist die Unschuld als Unwissenheit definiert, in
welcher das Kind noch nicht als Geist definiert ist, sondern
sich in einer dem vorausgehenden „seelischen“ Verfassung
befindet. Das Kind ist in diesem Zustand „in unmittelbarer
Einheit mit seiner Natürlichkeit“8, während sich dagegen
der Geist des Kindes in einem träumenden Zustand aufhält,
in welchem sich der Unterschied von Gut und Böse noch
nicht herauskristallisiert hat. Dennoch herrscht neben Ruhe
und Frieden bereits latent eine weitere Größe vor; das
Nichts, welches Angst erzeugt. Demnach ist, so Kierke­
gaard, die Unschuld zugleich Angst. „Träumend entwirft
der Geist seine eigene Wirklichkeit, diese Wirklichkeit aber
ist Nichts; dieses Nichts aber sieht die Unschuld beständig
außerhalb ihrer.“9 Mit der komplexen Verschlungenheit von
„Seele“ – Seelenentwicklung – und „träumendem Geist“
bedient sich Kierkegaard, wie so häufig in seinem Denken,
einer Figur Hegels.
Angst wird demnach im Nichtwissen der Unschuld erzeugt,
wenn eine Unwissenheit vorherrscht. Angst gilt, das ist ja
für Kierkegaard ein entscheidender Punkt, dem Wissen,
dass da wo Nichts ist, etwas sein könnte. Angst ist also eine
„Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglich­
keit.“10 Am Beispiel des Kindes bedeutet dies, dass bereits
8
9
10
Sören Kierkegaard: „Der Begriff der Angst“, in: Hermann
Diem/Walter Rest (Hg): Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zit­
tern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst, München 2012,
S. 487.
Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 487.
Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 488.
31
Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts
bei jedem Kind die Angst vorhanden ist, obwohl es noch
keine Unterscheidung zwischen Gut und Böse, Recht und
Unrecht erfahren hat. Die Mächtigkeit des Nichts kann
aufgrund dessen wachsen, dass das Kind sich seiner
eigenen Unschuld und Unwissenheit nicht bewusst ist;
gerade dadurch kann sie Angst erzeugen. Da sich die Angst
im Ausdruck des Unbestimmten befindet, ist sie selbst auch
unbestimmt.
Nach Kierkegaard ist die Angst ihrer Struktur nach doppel­
deutig, denn „Angst ist eine sympathische Antipathie und
eine antipathetische Sympathie.“11 Das wird vor allem im
alltäglichen Sprachgebrauch deutlich, wenn man z. B. von
einer süßen Angst, scheuen Angst usw. redet. 12 Des
Weiteren ist Angst, welche aus Unschuld erwächst,
zunächst keine Schuld und lässt sich demnach mit der
Unschuld wieder vereinen. Das wiederum wird deutlich am
Beispiel des Kindes, welches sich vor Etwas ängstigt, aber
im nächsten Moment von diesem Etwas mit seiner süßen
Beängstigung gefesselt wird.
„Wer durch Angst schuldig wird, ist ja unschuldig: denn es
war ja nicht er selbst, sondern die Angst, eine fremde
Macht, die ihn ergriff, eine Macht, die er nicht liebte, vor
der er sich vielmehr ängstigte; – und doch ist er ja
schuldig: er versank in die Angst, die er doch liebte,
indem er sie fürchtete. Es gibt in der Welt nichts Zweideu­
tigeres als dies.“13
11
12
13
32
Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 488.
Vgl. Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 488.
Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 489.
II. Möglichkeitsbewusstsein (Der Geist als Angst)
Erst mit dem bewussten Wissen um die Angst erhält das
Leben eine Struktur, denn sobald man dieses Wissen
erlangt hat, gibt es keinen Weg mehr in die Unschuld
zurück. Die Angst ist immer ein Verdacht gegen die eigene
Person und trägt entscheidend zum Selbsterkenntnisprozess
des Menschen bei.
II. Möglichkeitsbewusstsein (Der Geist als Angst)
Angst ist ihrer Bestimmung nach ein Ausdruck des Geistes.
Der Mensch wird als „eine Synthese des Seelischen und
Leiblichen“14 interpretiert. Diese Synthese kann jedoch
nicht ohne den Geist als dritte Instanz existieren, und auch
wenn der Geist im Zustand der Unschuld nur träumend
vorhanden ist, so ist er doch gegenwärtig. Das führt dazu,
dass er kontinuierlich als feindliche Position „das
Verhältnis zwischen Seele und Leib [stört], das wohl
besteht, aber doch wieder insofern nicht besteht, als es erst
durch den Geist zum Bestehen kommt.“15 Der Geist über­
nimmt also auch eine positive Rolle, indem er beständig
das Verhältnis von Leib und Seele bildet und er sich in
diesem ambivalenten Verhältnis als Angst verhält: Angst
vor sich selbst. Der Geist kann der Angst weder
entkommen, noch von ihr Besitz nehmen, da er die Angst
gleichzeitig liebt, aber auch vor ihr flieht. Die Unschuld ist
14
15
Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 490.
Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 490.
33
Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts
in diesem Zustand eine vom Geist bestimmte Unwissenheit
um das Nichts und daher Angst. „Hier gibt es kein Wissen
um Gut und Böse und so weiter; vielmehr entwirft sich in
der Angst die ganze Wirklichkeit des Wissens als das unge­
heure Nichts der Unwissenheit.“16 In dieser, von Kierke­
gaard eröffneten Perspektive zeigt sich, dass Angst weder
emotional noch unwillkürlich erfolgt, sondern vielmehr
Teil der menschlichen Verfasstheit ist.
Kierkegaard sieht in der Freiheit einen Zusammenhang
zwischen Geist und Angst. Dies wird deutlich am Beispiel
Adams, der sich im Zustand der Unschuld befand und
keinen Begriff von Gut und Böse hatte, bevor er vom Baum
der Erkenntnis aß. Somit konnte er das Verbot Gottes nicht
einhalten, denn erst durch den Genuss der verbotenen
Frucht erfuhr er einen Unterschied zwischen Gut und Böse.
Ebenso verhält es sich bei einem Kind, welches im Zustand
der Unschuld und Unwissenheit keinen Unterschied
zwischen Richtig und Falsch kennt. Es weiß nicht, dass es
falsch ist, jemanden zu schlagen, zu bestehlen oder zu
beschimpfen – bis es, nachdem es dieses getan hat, von den
Eltern, der Gesellschaft, seiner Umwelt darauf aufmerksam
gemacht wird. Erst nach der Belehrung erkennt es, dass es
vor seiner Tat eine Freiheit gehabt hatte, die es so nicht
mehr erfahren wird.
„Das Verbot ängstigt ihn, weil das Verbot die Möglichkeit
der Freiheit in ihm erweckt. Was an der Unschuld vorbei­
ging als das Nichts der Angst, das ist nun in ihn selbst
16
34
Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 490.
II. Möglichkeitsbewusstsein (Der Geist als Angst)
hineingekommen, und ist hier wieder ein Nichts, die ängs­
tigende Möglichkeit zu können.“17
Die Angst verdeutlicht, dass der Mensch eine Freiheit
besitzt, die keine Notwendigkeit ist, sondern die Möglich­
keit hat. Demnach signalisiert das Verbot die vorerst noch
abstrakte Möglichkeit, überhaupt etwas zu können.
„Angst ist nicht eine Bestimmung der Notwendigkeit, aber
auch keine der Freiheit; sie ist eine in Verstrickung gera­
tene Freiheit, wobei die Freiheit in sich selbst nicht frei
ist, sondern eben verstrickt ist, nicht in der Notwendigkeit,
sondern in sich selbst.“18
Mit seiner Aussage, dass es sich bei der Freiheit um eine
gefesselte Freiheit handelt, welche nicht in sich frei,
sondern in sich gebunden ist, geht Kierkegaard dem
Problem nach, wie aus einer reinen Möglichkeit eine Wirk­
lichkeit werden kann.19
Welche Folgen birgt solch eine Möglichkeit? Es ist ersicht­
lich, dass niemand die ihm gegebene Möglichkeit direkt in
die Realität umsetzen und somit auf das eigene Handeln
anwenden kann. Zunächst bedarf es des Bewusstseins über
eben diese Möglichkeit. Doch genau hier liegt das Para­
doxe, denn die Tatsache und das Bewusstsein darüber, dass
die Möglichkeit besteht, etwas tun zu können, obwohl es
keine Notwendigkeit ist, sondern nur eine Möglichkeit,
17
18
19
Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 491.
Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 497.
Vgl. Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 497.
35
Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts
äußert sich als Angst. Diese Angst verdeutlicht, dass der
Mensch die Freiheit zum Handeln hat, es sich dabei jedoch
nicht um die Art einer Freiheit handelt, in welcher eine
freie Entscheidung möglich ist. Kierkegaards Ausdruck
einer gebundenen bzw. gefesselten Freiheit verdeutlicht
genau diesen Sachverhalt.
Die Angst indiziert demnach eine Freiheit, die sich noch
keine inhaltliche Bestimmung gegeben hat. Jedoch löst sich
die Freiheit in der eingetretenen Wirklichkeit, welche zuvor
nur eine Möglichkeit war, auf, sobald gehandelt wird. Auf
die biblische Genesis bezogen, wird dies durch den
Sündenfall verdeutlicht. Wie auch Adam nach dem Essen
vom Baum der Erkenntnis diesen Schritt nicht mehr rück­
gängig machen kann, gilt dies ebenso für alle späteren Indi­
viduen. Jede Handlung zieht eine verpflichtende Konse­
quenz mit sich, welche zwar dazu führt, dass die Angst
überwunden wurde, man sich jedoch bewusst wird, dass
man nicht mehr über die Freiheit verfügt, wie es noch vor
der Handlung der Fall war. Somit ist die Angst die einzige
Form, in der Freiheit als Freiheit tatsächlich erfahren
werden kann.
Die Angst wird mit dem Bild des Schwindels verglichen,
welche den Menschen zu dem Zeitpunkt überkommt, wenn
der Geist die Synthese setzen will und der Freiheit ihre
Möglichkeiten offenbart werden. Der Mensch, welcher
verantwortlich für sich selbst sein soll, ist von der Fülle der
Möglichkeiten überfordert und flieht vor dem schwindligen
Gefühl, das die Freiheit in ihm verursacht. Und in diesem
36
III. Prekäres Selbst (Sich zu ängstigen lernen)
Schwindel greift der Mensch nach etwas Handfestem und
Greifbarem, um sich daran festzuhalten und Sicherheit zu
gewinnen. Die Aufgabe sein eigenes Sein zu synthetisieren,
welche die Freiheit dem Menschen aufbürdet, belastet ihn,
da die Überwindung der Gegensätze nie vollständig
gelingen wird. Die Angst und somit auch der Schwindel
werden demnach immer ein Teil des Menschen bleiben.
III. Prekäres Selbst (Sich zu ängstigen lernen)
Angst, so Kierkegaard, ist ein Abenteuer, dass es zu
bestehen gilt. Wer nicht gelernt hat, sich zu ängstigen, geht
an seiner Angst zugrunde. „Wer daher gelernt hat, auf die
rechte Weise Angst zu haben, der hat das Höchste
gelernt“20, denn Angst ist ein Teil des Menschen, der sich
seiner selbst bewusst ist. Ohne die Möglichkeiten, die dem
Einzelnen zur Verfügung stehen, würde der Mensch nicht
nur in seinem Dasein ersticken, er hätte auch keine Freiheit
mehr und wäre in seinen Entscheidungen festgelegt und
würde keine Angst verspüren. Da der Mensch aber eine
Synthese aus Leib und Seele ist, besitzt er die Fähigkeit,
sich zu ängstigen, denn „je tiefer seine Angst ist, desto
größer ist der Mensch“21.
Die Angst ist hier jedoch keine von außen kommende
Kraft, sondern etwas, für das der Mensch, da er sie selbst
erzeugt, allein verantwortlich ist. Ohne die Angst gäbe es
20
21
Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 631.
Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 631.
37
Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts
keine Möglichkeit der Freiheit und es ist auch nur diese
Angst, die in Beziehung mit dem Glauben bildend ist,
„indem sie alle Endlichkeiten verzehrt, all ihre
Täuschungen aufdeckt“22. In seiner Unendlichkeit wird der
Mensch erst dann gebildet, wenn er durch die Angst
geschult wird, das wiederum ruft ein Bilden durch die
Möglichkeit hervor. Nur in der Möglichkeit kann der
Mensch gebildet werden, denn in ihr ist alles möglich. Der
Mensch, welcher „in Wahrheit durch die Möglichkeit
erzogen wurde“23, ist sich des Schönen wie auch des
Schrecklichen des Lebens bewusst, das stets ein Teil des
menschlichen Daseins sein wird.
Über die Verzweiflung seiner Schwäche ist sich der
Mensch durchaus bewusst. Er versucht sich gegen sie zu
wehren, indem er mit aller Gewalt bestrebt ist ein freies
Individuum zu sein, über welches nur er bestimmen darf.
Dies sucht er mit Hilfe seiner eigenen Freiheit umzusetzen
und macht sich aber gerade dadurch schlussendlich unfrei.
Verzweiflung ist ein universelles Phänomen. Das Selbst des
Menschen ist – wie Kierkegaard an einer berühmten Stelle
in einer hegelianischen Ausdrucksweise schreibt – ein
Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält.24 In diesem
Kontext ist die Verzweiflung das Missverhältnis in diesem
Selbstverhältnis. Dabei ist das Wesen jeder Form der
22
23
24
38
Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 631.
Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 632.
Vgl. Sören Kierkegaard: „Die Krankheit zum Tode“, in: Hermann
Diem/Walter Rest (Hg): Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zit­
tern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst, München 2012,S. 34.
IV. Flucht vor dem Selbst
Verzweiflung, sich selbst loszuwerden, nicht man selbst
sein zu wollen oder nicht ein Selbst sein zu wollen. Dieses
Missverhältnis kann sich in verschiedenen Aspekten
äußern: wie etwa sich nicht bewusst zu sein, ein Selbst zu
haben oder eben das Bewusstsein darüber, dass man ein
Selbst hat, aber man nicht Selbst sein will oder man
verzweifelt versucht Selbst sein zu wollen bzw. sich ein
neues Selbst wünscht.25
Für Kierkegaard war Angst ein fruchtbarer Kontext,
welcher, versehen mit einem theologischen Rahmen,
psychologisch und anthropologisch diskutiert wurde.
Meine Idee ist es, Kierkegaard aus dem Theologischen
herauszulösen und ihn in die Wirklichkeit einzubringen,
jedoch, anders als bei Heidegger und Sartre, werde ich die
existentiellen Aufgaben des menschlichen Lebens nicht aus
der Betrachtung ausschließen. Die Frage, die sich hier aber
besonders stellt, ist: Wie verändert sich Kierkegaards
Angstanalyse angesichts unserer Wirklichkeit?
IV. Flucht vor dem Selbst26
Durch den Fortschritt des 19. Jahrhunderts und dem daraus
resultierenden Optimismus bzgl. der Zukunft kam es
gerade zur immer weiteren Steigerung von bedrängenden
25
26
Vgl. Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode a.a.O., S. 81.
Der Abschnitt „Flucht vor dem Selbst“ beinhaltet eigene Gedanken,
Thesen und Theorien, welche ich in meiner Dissertation mit dem
vorläufigen Arbeitstitel „Verzweiflung als Selbsterfahrung des Sub­
jekts“, weiter ausführen, belegen und/oder widerlegen werde.
39
Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts
Verzweiflungsphänomenen. Wir verlieren uns zunehmend,
gerade im Fortschrittsgeist. Das wiederum führt dazu, dass
es immer schwieriger wird als Einzelner zu existieren.
Gleichzeitig ist man einsam, trotz der Tatsache, nicht als
Einzelner überleben zu können. Zudem überfordern
Wissenschaft und Technik den einzelnen Menschen durch
zunehmende Beschleunigung.
Das ist in der heutigen Zeit nicht anders. Überforderungen
und Spezialisierungen an den Menschen führen zu
erhöhtem Leistungsdruck. Der Mensch hat am Ende nur
noch die Aufgabe sein individuelles Selbst abzustreifen und
sich anzupassen.
Die Folge kann u. a. eine Depression sein, welche in
bestimmten Bereichen durch die Bezeichnung „Burn-Out“
bereits gesellschaftlich anerkannt ist und den Leidenden
sogar Respekt erzeugt. Es wird jedoch oft nicht bedacht,
dass es sich beim „Burn-Out“ um die Krankheit Depression
handelt, sondern es wird nur gesehen, dass der Betroffene
viel gearbeitet hat und somit Anerkennung verdient. Die
Spezialisierung und überhöhte Anforderung an den
Menschen führt oft dazu, dass dem Menschen das eigen­
ständige Denken abgenommen wird, daraus resultierend
beginnt der Mensch sich immer mehr zu hinterfragen.
Zu keiner Zeit wie heute werden so viele Workshops,
Bücher und Seminare über die Selbsterkenntnis, Selbstfin­
dung usw. angeboten. Doch statt sich seinen Ängsten und
dem Verzweifeln zu stellen, flüchtet der Mensch mit Hilfe
diverser Ratgeber. Dabei ist es die Verzweiflung, die dem
40
IV. Flucht vor dem Selbst
Menschen Anreize gibt, über sich selbst nachzudenken,
sich zu hinterfragen und sich selbst zu erkennen.
In der heutigen Zeit ist das Thema Verzweiflung durch den
Leistungsdruck von außen aktueller denn je; aber auch die
Flucht vor dem Verzweifeln ist ein Phänomen, das uns
tagtäglich begegnet. Die Frage „Wer bin ich?“ ist präsenter
als es z. B. noch vor 200 bis 300 Jahren der Fall war, denn
durch den Glauben sowie Gesellschaft und auch Eltern
wurde dem Menschen meist vorgegeben, wer man ist und
was man zu sein hat. Die Freiheit zur individuellen Entfal­
tung, wie es heute möglich ist, gab es so zur damaligen Zeit
kaum. Heutzutage hat der Mensch viele Freiheiten, sich
selbst zu erfahren. Doch diese Freiheit hat auch ihren Preis,
da der Mensch am Ende von den Möglichkeiten, die ihm
seine Freiheit bietet, überfordert ist und an seiner Freiheit
und schließlich an sich selbst verzweifelt. Um die ihm
gegebene Freiheit optimal nutzen zu können, muss der
Mensch lernen, mit seiner Verzweiflung umzugehen.
Natürlich wird Verzweiflung heute anders betrachtet, als es
zu Kierkegaards Zeit der Fall war. Das liegt vor allem
daran, dass sich unsere Wirklichkeit verändert und sich das
Problem destruktiv zugespitzt hat. Kierkegaard beschreibt
deshalb eine Wirklichkeit, die er noch nicht kennen konnte.
Trotz dessen spiegeln seine Theorien sich mit der heutigen
Wirklichkeit, was zeigt, wie aktuell und wichtig Kierke­
gaards Denken noch immer ist.
Aktuell verhält es sich so, dass wir über Kierkegaards
Theorien, wenn auch anonym, tagtäglich reden. Angst,
41
Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts
Verzweiflung, Ernst, Ironie sind alles kierkegaardsche
Themen, aber auch welche des Alltags, denn sie präsen­
tieren unsere Wirklichkeit. Eine heutige Zeit findet sich nur
deshalb in seinen Theorien wieder, weil sie alltagstauglich
gemacht und in unsere Umgangssprache überführt wurde.
Den wahren Gehalt seiner Theorien kennen jedoch nur
wenige.
Das betrifft in einem besonderen Maße die Verzweiflung.
Verzweiflung darf nicht nur negativ betrachtet werden,
sondern sollte eine Chance sein, sich selbst zu reflektieren
und gestärkt aus einer Situation herauszugehen. In einem
Leben, in dem wir auf permanenter Suche nach dem
eigenen Selbst sind, ist Verzweiflung ein wichtiger Schritt
zur Selbsterkenntnis.
42
Das vereinzelte Dasein
John Haugelands Interpretation des Daseins in
Sein und Zeit
Laurin Berresheim
In Heidegger on Being a Person interpretiert Haugeland
den Begriff ‚Dasein‘, mit dem Heidegger in Sein und Zeit
eine Entität bezeichnet, die ein Seinsverständnis hat, als
allgemeine Lebensform. Seine These ist, dass ein Seinsver­
ständnis erst im Rahmen einer konformistischen Gesell­
schaft entstehen kann und nicht bereits zu der individuellen
Anlage des Menschen gehört. In meinem Beitrag erläutere
ich in einem ersten Schritt Haugelands Modell einer
normativen gesellschaftlichen Praxis, das die Vorausset­
zung eines Seinsverständnisses beschreibt. In einem
zweiten Schritt erkläre ich wie Haugeland zufolge Personen
in einer solchen Praxis instituiert werden. Angesichts dieser
Auffassung ist es schwierig, die Frage zu beantworten, was
das Subjekt eines Seinsverständnisses ist, weil sowohl
einzelne Personen als auch die gesellschaftliche Praxis als
ganze dafür infrage kommen. Dies sollte uns nicht davon
abhalten, zu hinterfragen, ob Haugeland letztendlich das
Verhältnis von Individuen und Dasein angemessen
beschreibt, wenn er stets von Individuen als Institutionen
ausgeht. Am Ende werde ich die Frage aufwerfen, ob es
nicht doch Bestandteile des individuellen Vermögens des
43
Das vereinzelte Dasein
Menschen gibt, die nicht auf strukturelle Elemente der
konformistischen Gesellschaft zurückgeführt werden
können und dennoch wesentlich für sein Seinsverständnis
sind.
In Sein und Zeit bezeichnet Heidegger als ‚Dasein‘ das
Wesen, das ein Seinsverständnis hat und dessen Grund­
struktur das ‚In-der-Welt-Sein‘ ist. Diese Struktur analy­
siert er, um herauszuarbeiten, was die Bedingungen eines
Seinsverständnisses sind. Dabei grenzt er sich von
verschiedenen subjektivistischen Vorstellungen ab, denen
zufolge ein solches bereits zu der individuellen Anlage des
Menschen gehört. Für Heidegger ist es vielmehr in der
Wechselwirkung zwischen mehreren Mitgliedern einer
Gesellschaft verankert. Das Dasein ist in erster Linie ein
„Miteinandersein“.1 Grund dafür ist, dass die wichtigen
Verhaltensweisen, die unser Seinsverständnis ausmachen,
niemals bloß auf individuellen Handlungen und individu­
ellen Entscheidungen beruhen, sondern im Wesentlichen
durch allgemeine Regeln und gesellschaftliche Normen
reguliert werden. Heidegger schreibt daher: „Das Wer ist
nicht dieser und nicht jener, nicht man selbst und nicht
einige und nicht die Summe Aller. Das ‚Wer‘ ist das
Neutrum, das Man.“2 Gemeint ist die unpersönliche Form
des dritten Personalpronomens in Ausdrücken wie ‚darüber
spricht man nicht‘. In unserem alltäglichen Verständnis und
1
2
44
Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 2006, S. 125.
Heidegger: Sein und Zeit a.a.O., S. 126.
Das vereinzelte Dasein
unseren Verhaltensweisen richten wir uns die meiste Zeit
nach dem, was man halt so tut.
Welches Wesen hat Heidegger zufolge ein Seinsver­
ständnis? Angesichts seiner eigenen Charakterisierung des
Daseins als die Seinsart des Menschen liegt es nahe, das
Dasein einfach mit ‚Mensch‘ zu übersetzen. In seinem
Aufsatz Heidegger on Being a Person kritisiert John
Haugeland aber diese Interpretation und argumentiert, dass
das Dasein keineswegs auf den Menschen eingeschränkt
werden muss und schon gar nicht auf einzelne Personen. Er
interpretiert das Dasein als eine gesellschaftliche Struktur,
in der Normen entstehen, durch die verschiedene Seinsbe­
reiche instituiert werden können. Grundlegend für ein
Seinsverständnis ist Haugeland zufolge der durch Normen
geregelte Umgang mit Dingen, und dieser kann durch ganz
verschiedenartige Wesen vollzogen werden, so wie wissen­
schaftliche Forschungsgemeinschaften, Sprachgemein­
schaften usw.
Ich werde im Folgenden Haugelands Interpretation des
Daseins und seine Auffassung des Verhältnisses von Dasein
und Person erläutern. Ich denke nämlich, dass diese uns
einen Anhaltspunkt liefern können, um das Subjekt eines
Seinsverständnisses zu charakterisieren. Insbesondere
möchte ich dabei die Frage aufwerfen, inwiefern wir
einzelnen Personen ein eigenes Seinsverständnis
zuschreiben können. Wenn das Seinsverständnis nämlich in
erster Linie von einer umfassenden gesellschaftlichen
Struktur verkörpert wird, dann muss uns die Frage beschäf­
45
Das vereinzelte Dasein
tigen, welche Rolle Individuen als elementare Bestandteile
dieser Praxis spielen. Wenngleich ich aus Platzgründen in
diesem Beitrag nicht darauf zu sprechen kommen kann,
denke ich, dass man von dem hier skizzierten Bild ausge­
hend auch das erkennende Subjekt charakterisieren könnte.
Man müsste zeigen, wie Erkennen – sowie jede weitere
Tätigkeit vernünftiger Wesen – auf bestimmten Regeln
beruht, deren Begründung nur in einer gesellschaftlichen
Praxis liegen kann3. Da aber das richtige Befolgen von
Regeln noch nicht hinreichend für die Objektivität der
Erkenntnis ist, müssten noch weitere Aspekte des gesell­
schaftlichen Praxis erläutert werden, die über das hinaus
gehen, was bei den ‚gewöhnlichen‘ Praktiken, in denen das
Subjekt sich konstituiert, vorhanden ist. Zunächst werde
ich Haugelands Auffassung des Daseins als eine gesell­
schaftliche Praxis, in der Normen des Umgangs mit
Seiendem und somit entsprechende Seinsbereiche institu­
iert werden, erläutern. Anschließend werde ich erklären,
weshalb wir Haugeland zufolge Personen ebenfalls als
Institutionen betrachten können, welche aber eine ausge­
zeichnete Rolle in dieser Praxis einnehmen.
3
46
Einen solchen sozialpragmatischen Ansatz verfolgt Haugeland z. B.
in seinem Aufsatz: „Truth and Finitude: Heidegger’s Transzendental
Idealism“, in: John Haugeland: Dasein Disclosed, Cambridge/
Massachusetts/London 2013, S. 187–220.
I. Haugelands Interpretation des Daseins
I. Haugelands Interpretation des Daseins
Haugelands Überlegungen zum ‚Dasein‘ in Heidegger on
Being a Person werden von der Frage geleitet, was den
Menschen als rationales Wesen von nicht-rationalen Wesen,
d. h. insbesondere Tieren, unterscheidet. Üblicherweise
werden als Antwort auf diese Frage zwei Merkmale des
Menschen hervorgehoben: sein besonderes gesellschaftli­
ches Verhalten bzw. seine Sittlichkeit und seine Sprachfä­
higkeit. Dabei wird die Sprachfähigkeit meist als Voraus­
setzung für das Sittliche betrachtet. Eine Erklärung für die
Sprachfähigkeit scheint alsdann aber schwieriger und nicht
selten haben sich Philosophen dabei beholfen, indem sie
auf den Geist oder die Intentionalität verwiesen haben. Für
Haugeland bietet der umgekehrte Weg eine attraktivere
Lösung an: Wir beobachten erst, was die Besonderheit der
Handlungsfähigkeit bzw. das gesellschaftliche Verhalten
des Menschen ausmacht und versuchen dann seine Sprach­
begabung daraus herzuleiten.
Für dieses Vorgehen meint Haugeland, dass er sich an
Heidegger und seiner Auffassung des ‚Man‘ als das ‚Wer‘
des Daseins anlehnen kann. Sein Ausgangspunkt ist die
Tendenz zur ‚Abständigkeit‘4, mit der Heidegger das Man
charakterisiert:
„Im Besorgen dessen, was man mit, für und gegen die
Anderen ergriffen hat, ruht ständig die Sorge um einen
Unterschied gegen die Anderen, sei es auch nur, um den
4
Haugeland bezieht sich nicht explizit auf diese Textstelle, aber es
scheint offensichtlich, dass er genau diese im Sinn hatte.
47
Das vereinzelte Dasein
Unterschied gegen sie auszugleichen, sei es, daß das
eigene Dasein – gegen die Anderen zurückbleibend – im
Verhältnis zu ihnen aufholen will, sei es, daß das Dasein
im Vorrang über die Anderen darauf aus ist, sie niederzu­
halten.“5
Haugeland meint, dass das Phänomen, das Heidegger hier
beschreibt, keinerlei Sprache voraussetzt und sich deshalb
als Kandidat für sein Vorhaben anbietet. Er setzt es als
Prinzip einer ‚konformistischen Gesellschaft‘ an, welche
das spezifische gesellschaftliche Verhalten rationaler Wesen
verkörpern soll.
Mitglieder einer konformistischen Gesellschaft – wir
nennen sie hier um der Kürze willen ‚Konformisten‘ – sind
Wesen, die sich gegenseitig nachahmen, um ihr Verhalten
aneinander anzupassen. Dabei bilden sich gemeinsame
Verhaltensmuster heraus, die dem gesellschaftlichen
Zusammenleben zugrunde liegen. Dieses Verhalten darf
man nicht mit dem einer Herde von Tieren verwechseln.
Wie Haugeland anmerkt:
„‚Conformism’ here means not just imitativeness (monkey
see, monkey do) but also censoriousness – that is, a posi­
tive tendency to see that one’s neighbors do likewise and
to suppress variation.“6
Konformisten teilen ihr Verhalten weder zufälligerweise,
noch entstehen die gemeinsamen Verhaltensmuster bloß
5
6
48
Heidegger: Sein und Zeit a.a.O., S. 126.
Haugeland: „Heidegger On Being a Person“, in: John Haugeland:
Dasein Disclosed a.a.O., S. 3–16 , S. 4.
I. Haugelands Interpretation des Daseins
durch Nachahmung, sondern Konformisten haben verschie­
dene Mittel, um ihre Billigung oder Missbilligung einer
bestimmten Verhaltensweise auszudrücken. Haugeland
beschreibt dies als eine Sanktionspraxis, in der sich
Konformisten gegenseitig Sanktionen erteilen, um
bestimmte Verhaltensmuster zu verstärken. Dabei können
Sanktionen ebenso gut positiv als auch negativ gemeint
sein, als Belohnung oder als Bestrafung.7
Haugeland versucht nachzuweisen, wie durch eine konfor­
mistische Gesellschaft Normen entstehen, durch die
bestimmte Bereiche des Seienden instituiert werden. Dabei
ist zunächst auffallend, dass wir seiner Auffassung zufolge
das Sein der Dinge bzw. die Seinsbereiche, zu denen die
Dinge gehören, nicht einfach entdecken oder wahrnehmen,
sondern durch unser Verhalten konstituieren. Seiner Auffas­
sung zufolge besteht das Seinsverständnis eines Wesens in
einem normativen Umgang mit den Dingen. Deswegen
seine Charakterisierung des Daseins als
„the anyone and everything instituted by it: a vast intricate
pattern – generated and maintained by conformism – of
norms, normal dispositions, customs, sorts, roles, referral
relations, public institutions and so on.“8
7
8
Dieser zweideutige Aspekt des Sanktionsbegriffs im Modell einer
konformistischen Gesellschaft wurde genauer von R. Brandom her­
ausgearbeitet in seiner Version der konformistischen Gesellschaft,
die er als ‚normative Pragmatik‘ beschreibt. Vgl.: Robert Brandom:
Expressive Vernunft, Frankfurt am Main 2000, S. 77 f.
Haugeland: „Heidegger On Being a Person“ a.a.O., S. 9.
49
Das vereinzelte Dasein
Am Ende will er sogar zeigen, dass selbst Sprache und
Intentionalität in einer solchen normativen Praxis gründen.
Seine Erläuterungen will ich kurz skizzieren.
Die Sanktionen, die sich Mitglieder einer konformistischen
Gesellschaft gegenseitig erteilen, bringen bestimmte Hand­
lungsdispositionen hervor, unter gegebenen Umständen auf
eine entsprechende Weise zu handeln. Haugeland spricht
von Sorten von Handlungsumständen oder Verhaltens­
weisen, die miteinander assoziiert werden. So wird z. B. in
der Regelung des Straßenverkehrs eine rote Ampel mit dem
Stehenbleiben des Fußgängers assoziiert. Solche Normen
stehen niemals bloß für sich allein, sondern immer im
Zusammenhang eines ganzen Gefüges von Normen.
Gegenstände, die in vielen verschiedenen Normen invol­
viert sind, erhalten eine Rolle. Diese Rollen bestimmen
sich wiederum aus einem ganzen Gewebe von Rollen und
stehen niemals bloß für sich allein. Eine Ampel hat z. B.
die Rolle, den Straßenverkehr zu regeln, und existiert nur
im größeren Zusammenhang des Straßenverkehrs. Diese
Auffassung des Zusammenhangs vieler verschiedener
Normen bezeichnet Haugeland selber als ‚normativen
Holismus‘. Am Ende soll sie das wiedergeben, was
Heidegger in Sein und Zeit als ‚Weltlichkeit der Welt‘
beschreibt – die Rolle eines Gegenstandes entspricht der
‚Bewandtnis‘ eines Gegenstandes, die sich wiederum nur
innerhalb einer ‚Bewandtnisganzheit‘ bestimmten lässt.9
Die Normen, denen das Verhalten zu den Gegenständen
9
50
Heidegger: Sein und Zeit a.a.O., S. 83 f.
I. Haugelands Interpretation des Daseins
unterliegt, bestimmen Haugeland zufolge das Sein dieser
Gegenstände. So könnte man z. B. sagen, dass das Sein der
Ampel darin besteht, dass wir anhalten, wenn sie rot ist,
und dergleichen. Haugeland folgert daraus: „all constitution
is institution.“10 Nicht nur vom Menschen hergestellte
Gegenstände sind davon betroffen, sondern selbst Dinge,
die vom Tun des Menschen auf dem ersten Blick unab­
hängig erscheinen. Am Ende behauptet Haugeland, dass
wir sogar Sprache und Intentionalität durch normative
Praktiken erläutern können:
„The important point is that linguistic forms are under­
stood as (special) equipment, and hence, the word/object
reference relations are just a special case of interequip­
mental referral relations – which suggests another slogan:
all intentionality is instituted referral.“11
Haugeland zufolge können wir sprachliche Einheiten wie
Werkzeuge verstehen, indem wir ihre Rolle in einer norma­
tiven Praxis betrachten. Offensichtlich ist der Gebrauch
von ‚sprachlichen Werkzeugen‘ komplizierter als der
Umgang mit anderen Werkzeugen und sonstigen Gegen­
ständen. Die genaue Funktionsweise kann aber an dieser
Stelle nicht ausgeführt werden.12
10
11
12
Haugeland: „Heidegger On Being a Person“ a.a.O., S. 8.
Haugeland: „Heidegger On Being a Person“ a.a.O., S. 8.
Die genauen Erläuterungen dazu kann man in Haugelands späteren,
an „Heidegger On Being a Person“ angelehnten, Aufsatz finden:
John Haugeland: „The All-Star Intentionality“, in: John Haugeland:
Having Thought, Cambridge/Massachusetts/London 1998, S. 127–
170, S. 153 f.
51
Das vereinzelte Dasein
Wichtig ist hier festzuhalten, dass Haugeland meint,
jegliche Form von Seinsverständnis auf eine konformisti­
sche Praxis zurückführen zu können. Das Dasein als das
Wesen, das ein Seinsverständnis hat, ist folglich nicht eine
einzelne Person, sondern eher die gesellschaftliche Praxis,
an der die Person teilnehmen kann. Wir müssten daraus den
Schluss ziehen, dass das Subjekt eines Seinsverständnis nur
eine Gesellschaft von Konformisten sein kann. Soweit
mutet die Darstellung allerdings merkwürdig an: Sollen wir
daraus folgern, dass Individuen selber kein eigenes Seins­
verständnis haben können? Welche Rolle spielen Indivi­
duen in der konformistischen Praxis?
II. Individuen als ursprüngliche Institutionen
Für Haugeland sind Personen ebenso wie andere Dinge in
erster Linie Institutionen einer konformistischen Gesell­
schaft. So schreibt er: „people are primordial institutions.“13
Eine Person kann man als die Verkörperung einer Vielfalt
von verschiedenen Rollen beschreiben, die gewissen
Regeln unterliegen und in komplexen Zusammenhängen
mit vielen weiteren Rollen stehen. Ein Student ist z. B.
wesentlich dadurch bestimmt, dass er seine Zeit an der
Universität verbringt, Vorlesungen und Seminare besucht
usw. Darüber hinaus steht die Rolle eines Studenten in
Beziehungen zu vielen weiteren gesellschaftlichen Rollen,
wie z. B. Dozenten, Universitätsprofessoren, Verwaltungs­
13
52
Haugeland: „Heidegger On Being a Person“ a.a.O., S. 10.
II. Individuen als ursprüngliche Institutionen
beamte usw. So sind Personen in erster Linie selber Verkör­
perungen von allgemeinen instituierten Lebensweisen.
Haugeland beschreibt das Verhältnis von Dasein und
Person, indem er Personen als ‚Fälle‘ des Daseins charak­
terisiert: „Dasein is the overall phenomenon, consisting
entirely of its individual ‚occurrences‘, and yet prerequisite
for any of them being what it is.“14
Gleichwohl haben Personen eine Sonderrolle innerhalb der
Bedeutungszusammenhänge, die durch das Dasein konsti­
tuiert werden. Haugeland nennt sie deshalb ‚ursprüngliche
Institutionen‘ (primordial institutions). Dafür gibt es
wesentlich drei Gründe. Erstens muss es offensichtlich
Wesen geben, die bestimmte Handlungsumstände und
Verhaltensweisen sortieren, damit die Normen einer
konformistischen Gesellschaft funktionieren. Damit eine
Ampel den Straßenverkehr regelt, muss es Menschen
geben, die für verschiedene Ampellichter entsprechend
verschiedene Reaktionsweisen haben. Noch wichtiger ist
aber zweitens, dass diese Wesen für ihr Verhalten verant­
wortlich gemacht werden können. So schreibt Haugeland
weiter: „it is a distinctive institution in that it can have
behavior as ‚my‘ behavior and can be censured if that beha­
vior is improper: it is a case of Dasein.“ 15 Ein anderes
Wesen oder einen Gegenstand sanktionieren wir im Gegen­
satz zu Personen nicht, wenn ihr Verhalten Fehler aufweist.
Wir halten sie nicht für den Fehler verantwortlich und
14
15
Haugeland: „Heidegger On Being a Person“ a.a.O., S. 10.
Haugeland: „Heidegger On Being a Person“ a.a.O., S. 11.
53
Das vereinzelte Dasein
suchen immer die Ursache dafür in den äußeren
Umständen. Die Verantwortung, die wir Personen hingegen
zuschreiben, ist grundlegend für die Sanktionspraxis, denn
wenn es keine zurechnungsfähigen Akteure gäbe, könnte
niemand sanktioniert werden, und dann gäbe es auch keine
Normen.
Der dritte und letzte Punkt, den Haugeland über Personen
macht, scheint mir aber am wichtigsten zu sein: Personen
sind Wesen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie exis­
tieren. Die Besonderheit von existierenden Wesen, fasst
Haugeland in Anlehnung an Heidegger auf folgende Weise
zusammen: „something exists if what (or ‚who‘) it is, in
each case, is its own efforts to understand what (or who) it
is.“16 Eine Person ist das, was sie ist, durch ihre eigenen
Handlungen, Entscheidungen und Bemühungen. Dies
bedeutet, dass sie sich ihre Rollen selbst aussuchen kann.
Noch wichtiger ist aber, dass eine Person ein Wesen ist, für
welches das eigene Sein auf dem Spiel steht und welches
sich daher um ein angemessenes Selbstverständnis
bemühen muss. Das Selbstverständnis einer Person drückt
sich dabei wesentlich dadurch aus, dass sie selbstkritisch
ist. Sie muss verstehen, was ihr angesichts ihrer selbster­
wählten Rollen erlaubt ist und was nicht. Und sie muss
versuchen zu verstehen, wie sie das, was sie tut, am besten
tun kann.
Vor allem muss eine Person eine selbstkritische Haltung zu
den verschiedenen Rollen, die sie gleichzeitig verkörpert,
16
54
Haugeland: „Heidegger On Being a Person“ a.a.O., S. 12.
II. Individuen als ursprüngliche Institutionen
einnehmen. Es kann nämlich sein, dass bestimmte Wider­
sprüche zwischen diesen entstehen. Eine Studentin, die
zugleich Rockgitarristin sein möchte, befindet sich z. B. in
einer solchen Lage, wenn die langen Nächte, die sie in
Berliner Kneipen verbringt, dazu führen, dass sie ihre
wichtigen Vorlesungen vernachlässigt. Eine solche Situa­
tion kann dazu führen, dass eine Person sich entscheiden
muss, eine ihrer Rollen zugunsten einer anderen aufzu­
geben. Eine Person, die eine solche Entscheidung trifft,
bezeichnet Haugeland als entschlossene Person, welche ein
eigenes oder – mit Heidegger gesprochen – ein eigentliches
Dasein führt. Der wesentliche Grund, weshalb Personen
auf diese Art und Weise selbstkritisch sind, ist, dass sie
anteilnehmende Wesen sind: Ihr eigenes Sein bedeutet
ihnen etwas. Nur deshalb sind Widersprüche für sie nicht
annehmbar. Nur deshalb sind Personen Wesen, die ihre
Verhaltensweisen gegenseitig sanktionieren, wenn sie nicht
mit den anerkannten Normen in Einklang stehen.
Letzten Endes scheint es also falsch, oder zumindest unzu­
reichend, das Seinsverständnis allein auf die Ebene der
konformistischen Gesellschaft zu setzen. Das Selbstver­
ständnis von Personen bzw. das Verstehen ihres eigenen
Seins beruht zwar in erster Linie auf instituierten Lebens­
weisen, die sie ausführen. Gleichwohl sind Personen im
Gegensatz zu anderen Wesen in der Lage sich ihre Rollen
selber zu wählen und diese auch selber mitzugestalten. In
einem gewissen Sinn ist das Verstehen ihres eigenen Seins
die Ursache dieses Seins. Dieses eigene Seinsverständnis
55
Das vereinzelte Dasein
ist schließlich eine wichtige Voraussetzung für das Funktio­
nieren einer konformistischen Gesellschaft.
III. Fazit
In diesem Beitrag habe ich eine Interpretation von Heideg­
gers Begriff des Daseins vorgestellt, die nicht davon
ausgeht, dass das Dasein eine einzelne Person bezeichnet,
sondern eine gesamte gesellschaftliche Struktur, die ein
Seinsverständnis verkörpert. So ist nach Haugelands
Auffassung das Dasein als Praxis einer konformistischen
Gesellschaft zu beschreiben, in welcher Normen entstehen
können, durch die verschiedene Seinsbereiche instituiert
werden. Personen sind selber auch Institutionen, die sich
allerdings auszeichnen, weil sie das, was sie sind, aufgrund
ihrer eigenen Bemühungen sind und weil es ihnen dabei
um ihr eigenes Sein geht.
Abschließend können wir uns mit Hinblick auf den Titel
dieses Tagungsbandes fragen, wie wir dieser Auffassung
zufolge das Subjekt des Seinsverständnis auffassen sollten.
Dabei lautet die Frage, wer der Inhaber des Seinsverständ­
nisses ist: die gesellschaftliche Praxis als Ganze oder die
einzelne Person? Auf der einen Seite können wir sagen,
dass die Praxis bzw. die konformistische Gesellschaft das
Subjekt ist, weil Haugeland zufolge ein Seinsverständnis
primär auf der beschriebenen Sanktionspraxis einer solchen
Gesellschaft beruht. Auf der anderen Seite haben wir
gesehen, dass diese Praxis von Personen getragen wird,
56
III. Fazit
welche zwar selber Institutionen sind, aber dennoch ein
wesentliches Vermögen zur Selbstreflexion und Selbst­
kritik, das wesentlich für das Bestehen der Praxis ist.
Dieses Selbstverhältnis könnten wir bereits als eigenes
Seinsverständnis, d. h. Verständnis des eigenen Seins
charakterisieren.
Diese verschiedenen Deutungsmöglichkeiten sollten einige
Bedenken aufwerfen. Gelingt es Haugeland am Ende
tatsächlich ein voraussetzungsloses Erklärungsmodell für
die Vernunft des Menschen vorzuschlagen? Einige
Elemente scheinen mir noch unerklärt: Woher kommt die
Fähigkeit der Konformisten sich gegenseitig Sanktionen zu
erteilen? Haugeland verweist hier selber auf eine Art natür­
liche Anlage, ohne weiter darauf einzugehen. Noch span­
nender scheint aber die Frage, woher Personen das
Vermögen haben, sich selbstkritisch zu ihren gesellschaftli­
chen Rollen zu verhalten. Oder mit Heideggers Worten:
Woher stammt das Vermögen zur Eigentlichkeit? Ist dieses
auch wieder eine strukturelle Bedingung der konformisti­
schen Gesellschaft? Oder können wir sie nur als individu­
elles Vermögen begreifen? Eins scheint festzustehen: Wir
können das Subjekt Haugeland zufolge nicht begreifen,
wenn wir es nicht im Kontext geteilter Praktiken
betrachten; allerdings geht das Subjekt als Einzelnes nicht
in der Teilnahme an diesen Praktiken auf. Um ein angemes­
senes Verständnis des Subjekts zu erreichen, müssen wir
stets im Auge behalten, dass es auch immer in der Lage
sein muss, die gesellschaftlichen Praktiken, aus denen es
57
Das vereinzelte Dasein
sein Selbstverständnis erhält, kritisch zu reflektieren. Die
verschiedenen Fragen, die ich zum Abschluss aufgeworfen
habe, werde ich offen lassen müssen. Ihre Auflösung
scheint mir aber eine wichtige Aufgabe zu sein, wenn wir
uns um ein besseres Verständnis des Subjekts bemühen
wollen.
58
Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie
Nina Rabuza und Martin Mettin
Die Kritische Theorie thematisiert das Subjekt als histo­
risch bedingte Instanz menschlicher Erkenntnis, in der sie
zum einen das Potential für die Einrichtung einer vernünf­
tigen Form menschlichen Zusammenlebens erblickt. Zum
anderen stellt sich das Subjekt für Kritische Theoretike­
rinnen aber auch als eine Form des gewaltvollen und zurüs­
tenden Zugriffs auf das von ihm Verschiedene, das Objekt,
dar. In der Dialektik der Aufklärung entfalten Theodor W.
Adorno und Max Horkheimer die Überlegung, dass das
Subjekt selbst und dessen Geschichte widersprüchlich
sind.1 Sie lesen die Homerische Odyssee als Urszene der
bürgerlichen Subjektwerdung, die zwar kein realgeschicht­
liches Faktum erzählt, wohl aber Wesentliches über die
innere Widersprüchlichkeit der Subjektform aussagt: Der
Austritt des Menschen aus dem unmittelbaren Naturzusam­
menhang und dem mythischen Götterhimmel wurde durch
das vernünftig erkennende Ich, das seine Umwelt erklären
und handelnd in sie eingreifen kann, vollzogen. 2 Das Ende
des vorsubjektiven Chaos`, so Adorno und Horkheimer,
musste durch die Entwicklung des vernünftigen Subjektes
vollzogen werden, dessen Fähigkeit, seine Umwelt zu
1
2
Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung (=
Adorno Gesammelte Schriften Bd. 3), Frankfurt/Main 1981, S. 13.
Ebd., S. 19.
59
Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie
begreifen, in der Fähigkeit zum kategorialen Denken
begründet sei. Andererseits wird das Subjekt als verhäng­
nisvolle Form aufgefasst, weil die Befreiung durch das
Subjekt und des Subjektes aus der ersten Natur zur Verstri­
ckung in die zweite Natur geführt habe, also in eine Gesell­
schaft, die dem Subjekt als undurchdringliche, unveränder­
bare erscheint.3 Die Rekonstruktion der Dialektik des
Subjektes zielt auf eine Befreiung des Subjektes aus der
menschengemachten Unfreiheit. Ziel der Kritischen
Theorie ist nicht die Abschaffung oder Zertrümmerung des
Subjektes, sondern dessen Rettung mithilfe der eigenen
Fähigkeit zur Reflexion und Erfahrung.
Im Folgenden soll die Dialektik des Subjektes in der Kriti­
schen Theorie entfaltet und eine Perspektive auf die
Befreiung des Subjektes eröffnet werden.
I. Geschichte der Subjektform
Das Individuum, wie es sich gegenwärtig darstellt als Atom
der Gesellschaft, sowie seine Form, die des Subjektes,
haben eine Geschichte. Diese Geschichte lässt sich ablesen
am Phänomen selbst (also am eigenen Leib und Leben der
einzelnen Individuen); ebenso an den Dokumenten der
Kultur und an gesellschaftlichen Strukturen, welche die
historische Entwicklung des Individuums bzw. Subjektes
begleiten. Kritische Theorie hat es sich zur Aufgabe
gemacht, diese Geschichte nachzuvollziehen. So stellt denn
3
60
Ebd., S. 13.
I. Geschichte der Subjektform
auch Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik
der Aufklärung, eine der zentralen Schriften des Instituts
für Sozialforschung, den Versuch dar, die Geschichte des
bürgerlichen Subjektivierungsprozesses zu rekonstruieren.
Dabei soll jedoch weder eine ursprüngliche Epoche der
Menschheit freigelegt werden, in der die Subjektform noch
nicht ausgebildet gewesen wäre, noch wird der Versuch
unternommen, ein ontologisches Fundament der Gesell­
schaft ausfindig zu machen – ein solches Programm der
Ursprungsbestimmung oder aber der Seinssuche impliziert
ein „zurück zu“ ebenjenen Zuständen, die dann häufig
gleich als paradiesische angenommen werden. Vielmehr ist
Horkheimer und Adorno daran gelegen, die Gegenwart im
Licht der Geschichte zu erhellen, um die Gewalten nachzu­
zeichnen, welche in der bürgerlichen Gesellschaft wirken. 4
In diesem Sinne wird in der Dialektik der Aufklärung der
Homerische Epos von der Odyssee aus dem 20. Jahrhun­
dert heraus als ein frühes Zeugnis bürgerlicher Vergesell­
schaftung interpretiert, das mit bestimmten Momenten von
Aufklärung einhergeht. Für Horkheimer und Adorno lassen
4
Zurecht bestimmt Detlev Claussen Horkheimers und Adornos Dia­
lektik der Aufklärung als radikale Auseinandersetzung mit der Ge­
genwart des Zivilisationsbruches Auschwitz, der dazu nötigt, die his­
torische Perspektive der Kritischen Theorie ganz beim Wort zu neh­
men. Weder also kann das von Marx bestimmte Emanzipationspo­
tenzial der bürgerlichen Epoche auf die Zeit nach der verpassten Ver­
änderung der Welt einfach übertragen werden, noch darf der Rück­
blick Horkheimers und Adornos auf die Zeugnisse der Antike unhis­
torisch als „Einfühlung“ in jene längst vergangene Epoche gedeutet
werden. Vgl. Detlev Claussen: Abschied von Gestern. Kritische
Theorie heute, Bremen 1986, S. 17 f. und S. 24.
61
Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie
sich bereits im antiken Epos Motive ausfindig machen, die
bis in das 20. Jahrhundert hineinragen. Was sich demnach
an der Erzählung über die frühbürgerlichen Subjekte, den
Helden Odysseus und seine Gefährten, zeigt, ist die
Dialektik von Naturbeherrschung und Naturverfallenheit,
die insbesondere in der Episode der Vorbeifahrt an der Sire­
neninsel deutlich wird. Wenn Odysseus mit seiner Schiffs­
besatzung an den Sirenen vorbei segelt, sich selber an den
Mast binden lässt, um dem betörenden Gesang der mythi­
schen Gestalten lauschen zu können, ohne ihm zu erliegen,
den Ruderern hingegen die Ohren mit Wachs verstopft
sind, damit sie das Schiff sicher an der Insel vorbei navi­
gieren, ihnen so aber der Genuss des Gesanges verwehrt
bleibt – dann äußert sich hierin ein Moment von Arbeitstei­
lung und Selbstbeherrschung, das paradigmatisch ist für
bürgerliche Formen von Gesellschaft.5 Um dem bloßen
Naturzwang zu entkommen, müssen sich die Subjekte
selber disziplinieren, ihre Triebe, ihre körperlichen (aber
auch geistigen) Bedürfnisse aufschieben bzw. verdrängen,
um sich selbst zu erhalten. Die List, die Odysseus hier
einsetzt, damit er dem von den Göttern bestimmten
Schicksal, der mythischen Natur, entkommen kann, steht
für das Vermögen der Vernunft. Sie stellt hier vorrangig das
Instrument dar, mit den Naturgewalten fertig zu werden,
die Dinge zu handhaben und ist so Entzauberung der
Natur.6 Im Gebrauch der Vernunft treten die Menschen aus
5
6
62
Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung a.a.O., S. 49–54.
Ebd., S. 19.
I. Geschichte der Subjektform
der Natur heraus, sie werden Subjekte. Gleichzeitig können
sie dies nur, weil sie bereits Subjekte sind, Vernunft
besitzen. (Diese scheinbare Widersprüchlichkeit zwischen
„immer schon Subjekt sein“ und „zum Subjekt werden“
wird von Adorno und Horkheimer bewusst nicht aufgelöst,
da kein realgeschichtlicher Moment bestimmt werden soll,
an dem das Subjekt aus dem Dunkeln des Chaos getreten
wäre. Vielmehr werden aus der Odyssee wie aus anderen
Dokumenten der Kultur die verschlungenen Wege der
Subjektwerdung herausarbeitet.) Ebenso differenziert sich
die gesellschaftliche Struktur zum Zweck der Naturbeherr­
schung aus, wird arbeitsteilig, um sich effektiv reprodu­
zieren und von der Natur emanzipieren zu können; Odys­
seus kann sich den Genuss nur leisten, weil seine Gefährten
die körperliche Arbeit verrichten. Die Vernunft organisiert
somit auch die Einrichtung der Gesellschaft.
Mit den Mitteln der Vernunft gelang es der Menschheit, der
mythischen Naturverfallenheit zu entkommen, ihr instru­
menteller Charakter war damit ein historisch notwendiger
Schritt hin zur gesellschaftlichen Freiheit. Zugleich aber
taten die Menschen damit den Dingen und sich selber, nicht
zuletzt ihrer eigenen Naturwüchsigkeit, Gewalt an. Sie
verstricken sich in Herrschaft und eine verhärtete Gesell­
schaft, die ihrerseits mythisch wird, weil sie im Namen der
Aufrechterhaltung ihrer Ordnung unveränderbar erscheint
und undurchsichtig wird.7 Die Spuren dieses Prozesses
7
Ebd., S. 28.
63
Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie
finden sich nicht nur in der Odyssee, alle Individuen haben
sie selber am eigenen Leib erfahren:
„Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis
das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche
Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon
wird noch in jeder Kindheit wiederholt.“8
Aber nicht nur die griechische Aufklärung als Entzau­
berung der Natur bleibt dem Mythos verfangen. Auch die
Epochen, die der bürgerlichen Aufklärung des 18. Jahrhun­
derts nachfolgen, verstricken sich mythisch in eine zweite
Natur, zu der sich die bürgerliche Gesellschaft samt ihrer
Produktions- und Reproduktionsbedingungen verhärtet hat,
in der die ökonomische, politische und administrative
Einrichtung der Welt als alternativlos und unveränderbar
erscheint. Wie diese verwaltete und verhärtete Welt dann
im 19. Jahrhundert aussieht, hat Karl Marx im Kapital
detailliert festgehalten. Was in ihr als unveränderliches,
ehernes Naturgesetz gilt, ist allem voran das Tauschgesetz
der Ware, welches im Zeitalter des industriellen Kapita­
lismus sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse zu
bestimmen beginnt. Eine Konsequenz der sich auswei­
tenden Warenförmigkeit ist, dass vom gesellschaftlichen
und konkreten Charakter der menschlichen Arbeit abstra­
hiert wird. Nicht nur die Produkte werden zu Trägern von
Tauschwerten, die Abstraktion schlägt nun zurück auf die
Arbeiterinnen: Die konkrete Arbeit, die den Wert der
8
64
Ebd., S. 50.
I. Geschichte der Subjektform
einzelnen produzierten Ware bildet, tritt zurück hinter die
abstrakte Arbeit. Der Warenwert wird nicht anhand der
tatsächlich verausgabten Arbeitszeit der individuellen
Arbeiterin gemessen, sondern anhand der gesellschaftli­
chen Durchschnittsarbeitszeit. Die austauschbaren Arbeite­
rinnen müssen sich dem gesellschaftlichen Durchschnitt
anpassen, sonst verlieren sie ihre einzige Möglichkeit, ihre
Arbeitskraft auf dem Markt zu veräußern, womit sie sich
reproduzieren können.9 Dadurch treten sie in Konkurrenz
zu einander. All diese Abstraktions- und Wettbewerbspro­
zesse sowie die Durchsetzung des Tauschprinzips als herr­
schendem Rationalitätsmaßstab führen zur Vereinzelung
der bürgerlichen Subjekte, sie werden zu „Robinso­
naden“10, wie Marx sie im Kapital nennt, die dem Schein
unterliegen, sie seien auf sich allein gestellt, für das eigene
Wohl und Verderben ausschließlich selbst verantwortlich.
(Zwar existiert eine formale und rechtlich verbriefte Frei­
heit der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft – die
Leibeigenschaft etwa ist abgeschafft und dem Individuum
wird als solchem Recht zuerkannt, wodurch es überhaupt
erst verfasst ist –, weder Marx noch Horkheimer und
Adorno verkennen dieses emanzipatorische Potenzial der
bürgerlichen Gesellschaft, jedoch sind die Individuen genö­
tigt, ihre eigene Haut, ihre Arbeitskraft zu Markte zu
tragen, sich also in Konkurrenz zu den anderen Arbeite­
rinnen zu begeben, da der formal-rechtlichen Freiheit
9
10
Karl Marx: Das Kapital, Band 1 (= Marx-Engels-Werke Bd. 23),
Berlin 1986, S. 72.
Ebd., S. 90.
65
Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie
ebenso die „Freiheit“ von Produktionsmitteln entspricht;
d. h. sie können nur existieren, wenn sie der Lohnarbeit
nachgehen.)
Erschwerend kommt hinzu, dass die Menschen im vorange­
schrittenen Kapitalismus zunehmend der Maschinerie
unterworfen sind – seien es nun die Maschinen und Appa­
rate in den Fabriken, an den Arbeitsplätzen, in der Freizeit,
sei es die gesellschaftliche Maschinerie als Ganze. 11 Das
aber lässt ihre subjektiven Vermögen, ihre Erfahrungs- und
Vernunftfähigkeit, nicht unberührt; so sind die bürgerlichen
Subjekte nicht nur „eingespannt wie gepanzerte Tiere in
ihren Verschalungen“12, sondern sie fristen ein trostloses
Dasein im Dunkel der Realität, ähneln sich dem Entwick­
lungsstand der „Lurche“13 an, wie Horkheimer und Adorno
1944 schreiben:
„Die Regression der Massen heute ist die Unfähigkeit, mit
eigenen Ohren Ungehörtes hören, Unergriffenes mit
eigenen Händen tasten zu können, die neue Gestalt der
Verblendung, die jede besiegte mythische ablöst. Durch
die Vermittlung der totalen, alle Beziehungen und
Regungen erfassenden Gesellschaft hindurch werden die
Menschen zu dem wieder gemacht, wogegen sich das
Entwicklungsgesetz der Gesellschaft, das Prinzip des
Selbst gekehrt hatte: zu bloßen Gattungswesen, einander
gleich durch Isolierung in der zwanghaft gelenkten
Kollektivität.“14
11
12
13
14
66
Ebd., S. 404.
Theodor W. Adorno: Zu Subjekt und Objekt (= Adorno, Gesammelte
Schriften Bd. 10.2), Frankfurt/Main 1977, S. 749.
Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung a.a.O., S. 53.
Ebd., S. 53 f.
II.Adornos Kritik am idealistischen Subjekt in der Negativen Dialektik
II. Adornos Kritik am idealistischen Subjekt in der
Negativen Dialektik
Warum es ausgerechnet an der Subjektform hängt, ob die
Individuen Erfahrungen im emphatischen Sinne machen
und sich ihrer eigenen Vernunft bedienen können, kann
nicht allein aus der (Sozial-)Geschichte der Subjektform
abgelesen werden. Ebenso müssen die theoretischen und
philosophischen Auseinandersetzungen mit dem Subjekt in
den Blick genommen werden, da sie nicht einen bloßen
„Überbau“ zum geschichtlichen Prozess darstellen, sondern
durch die Gesellschaft hindurch mit der materiellen Ausge­
staltung der Welt vermittelt sind. Die hier geforderte
Perspektive ist die der Erkenntniskritik, wie sie Adorno in
der Negativen Dialektik einnimmt. Adorno weist sein
letztes vollendetes Buch als das Werk aus, in dem er sein
Denken und seine zahlreichen materialen Arbeiten zumin­
dest partiell in den Zusammenhang einer philosophischen
Reflexion stellen wolle.15 In ihr finden sich zahlreiche
methodologische Überlegungen und Gedanken, die
Adornos Denken erläutern und rechtfertigen sollen.
Eine der zentralen Fragen der Negativen Dialektik lautet,
ob und wie an dem Versprechen von Philosophie und
Aufklärung, die Welt mittels des Geistes zu erkennen und
sie vernünftig einzurichten, angeknüpft werden kann –
wenngleich dieses Versprechen nicht nur unerfüllt blieb,
sondern zugleich das Gegenteil dessen verwirklicht
15
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, (= Gesammelte Schriften
6), Frankfurt/Main 1973, S. 9.
67
Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie
wurde.16 Aus der Perspektive Adornos ist es zum einen im
19. Jahrhundert nicht gelungen, die Marxsche Weiterfüh­
rung der Aufklärung in der gesellschaftlichen Realität zu
verwirklichen.17 Zum anderen wurde im 20. Jahrhundert
durch die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden
jeglicher Glauben daran, die Welt könnte eine vernünftige
werden, durch die absolute Katastrophe der Vernichtung
zerstört.18
Die Aufklärung wurde zum einen zerstört, zum anderen hat
sie sich aber auch auf grauenhafte Weise verwirklicht: Die
vollkommene Identifikation des Einzelnen mit dem Allge­
meinen kann das, was nicht unter den Begriff gebracht
werden kann, nicht dulden. In den Vernichtungslagern
wurde das vermeintlich „Nichtidentische“, dass die Iden­
tität der wahnhaften deutschen Volksgemeinschaft
gefährdet, in Gestalt der Jüdinnen und Juden vernichtet.
Adorno interpretiert also die Shoah nicht als außerhalb
einer Zivilisationsgeschichte der Menschheit zum Guten
und Vernünftigen stehend, sondern als Verwirklichung der
negativen Seite der Aufklärung.19
Die Negative Dialektik hat den Anspruch, sowohl Erkennt­
niskritik als auch Gesellschaftskritik zu sein. Sie kritisiert
16
17
18
19
68
Ebd., S.15.
Sybe Schaap: Die Verwirklichung der Philosophie. Der metaphysi­
sche Anspruch im Denken Theodor W. Adornos, Würzburg 2000,
S. 24.
Albrecht Wellmer: „Model 3: Meditationen zur Metaphysik. Meta­
physik im Augenblick ihres Sturzes“, in: Axel Honneth/Christoph
Menke: Theodor W. Adorno. Negative Dialektik, Berlin 2006, S.189–
206, S. 189.
Adorno: Negative Dialektik a.a.O., S. 355.
II.Adornos Kritik am idealistischen Subjekt in der Negativen Dialektik
die Philosophie in ihrem Versuch und ihrem Scheitern, die
Welt vollkommen zu erfassen, nicht nur bezüglich ihrer
Kategorien, sondern stellt diese immer auch selbst als
Gewordenes dar: Die idealistische Philosophie Hegels stellt
darin den Höhepunkt des philosophischen Strebens danach,
die Welt vollkommen mit der Vernunft zu erfassen, über­
haupt dar.20 Das Subjekt des Idealismus strebe nach abso­
lutem Wissen, also der vollständigen Identifikation des
Erkannten mit dem zu Erkennenden, dem Objekt mit dem
Subjekt, das sich darin selbst als Grund sowohl des
Erkenntnisprozesses als auch der Erkenntnismittel erfährt. 21
Die Identität von Subjekt und Objekt im absoluten Wissen
ist für Adorno zwangsläufig eine scheinhafte, da Subjekt
und Objekt unmöglich realiter identisch sind.22 Die Mittel
des Subjektes, auf das Objekt zuzugreifen und es zu
erkennen, führen nicht dazu, dass das Objekt selbst zu
einem materialen Teil des Subjektes wird. Adorno wirft nun
Hegel vor, dass er die Möglichkeit von etwas jenseits des
erkennenden Subjektes zugunsten der Totalität der begriff­
lichen Bestimmungen opfert. Die ganze Wirklichkeit in
ihrer Heterogenität wird unter die begriffliche Totalität
gestellt und behauptet, sie sei genau so, wie der Begriff sie
erfasse.23 Eine Erkenntnis dessen, was eben nicht im
Begriff vorkommt, wird damit verunmöglicht. Das absolute
Subjekt Hegels wird vom Subjekt der Erkenntnis zum
20
21
22
23
Ebd. S. 16.
Ebd. S. 161 f.
Ebd. S. 162.
Ebd.
69
Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie
zurüstenden Subjekt der scheinhaften Erkenntnis: Aufgrund
seines instrumentellen Gebrauchs von Begriffen ist ihm die
Erkenntnis von Neuem verwehrt, da es keine Erfahrung
von etwas machen kann, was außerhalb seiner begrifflichen
Schemata liegt.24 Die Kritik am absoluten Wissen Hegels
ist paradigmatisch für die grundsätzliche Kritik Adornos
am erkennenden Subjekt. Dies lässt sich am Modell vom
vernünftigen Erkennen verdeutlichen: Das Subjekt erkennt
die Welt im Medium des Begriffs. Mittels des Begriffs und
der begrifflichen Ordnung greift es auf das zu, was es
erkennen will. Darin liegen sowohl Schein als auch Wahr­
heit der Identifikation begründet. Zum einen ist Denken auf
den Begriff angewiesen, mit dem es die Wirklichkeit
ordnen und erklären kann. Zum anderen ist die Identifika­
tion immer nur scheinhaft, denn Begriff und Sache sind
nicht gleich, sie werden nur gleichgesetzt. Wird die unüber­
brückbare Trennung von Subjekt und Objekt, von Begriff
und Gegenstand vergessen, wird die Identifikation zur
Unwahrheit:
„Der Schein von Identität wohnt jedoch dem Denken
selber seiner puren Form nach inne. Denken heißt identifi­
zieren. Befriedigt schiebt begriffliche Ordnung sich vor
das, was Denken begreifen will. Sein Schein und seine
Wahrheit verschränken sich.“25
24
25
70
Ebd., S. 17.
Ebd.
II.Adornos Kritik am idealistischen Subjekt in der Negativen Dialektik
Grundsätzlich sind Schein und Wahrheit also nicht vonein­
ander zu trennen. Zwar kann das Auseinanderfallen von
Begriff und zu Begreifendem reflektiert werden, es lässt
sich aber nicht feststellen, was vom zu Begreifenden nicht
begriffen wurde. Würde man versuchen, das Nichtbestimm­
bare, Nichtidentische zu bestimmen, wäre es nicht mehr
nichtidentisch.
Das Modell Adornos ist auf zweifache Weise dialektisch zu
lesen. Erstens ist die vernünftige Erkenntnis nicht zu
trennen von einem Moment des Zwangs oder der Unterord­
nung durch den Begriff. Vernünftiges Erkennen geht einher
mit einer Reduktion und Kategorisierung. Adorno versteht
also die subjektive Erkenntnis selbst als einen Widerspruch
von Vernunft und Erkenntnis auf der einen Seite und
Gewalt und Herrschaft auf der anderen Seite. Zum zweiten
wird die Dialektik als eine Logik des Einspruchs, eine Art
„Prävention“, verstanden: Indem der dialektische
Einspruch sich beständig gegen die falsche Identifikation
wehrt und auf dem Unterschied beharrt, soll er den
Umschlag in den Zwang ohne Erkenntnis verhindern.
Adornos Erklärung des idealistischen Identitätsstrebens
bleibt nicht bei einer erkenntniskritischen Erklärung stehen,
sondern verlässt die philosophische Immanenz und stellt
eine Verbindung zur Triebtheorie her. Das idealistische
Gesetz der Identifikation sei die vergeistigte „Wut aufs
Opfer“26. Im Idealismus habe sich die Wut des Raubtiers
auf das Opfer, das es zur Selbsterhaltung erbeuten und
26
Ebd., S. 33.
71
Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie
töten muss, in die Erkenntnistheorie eingeschlichen. 27 Das
als minderwertig verschrieene Andere müsse durch den
Gedanken verschlungen werden, da es potentiell das
System als Ganzes, das absolute Durchdringen der Wirk­
lichkeit gefährdet.28 Die Natur, das Undurchsichtige, Hete­
rogene, wird also zum Feind, da sie sich nicht der kalkulie­
renden Vernunft beugt. Im vollständig vernünftigen System
gilt es also, das noch nicht beherrschte Andere einzuver­
leiben, um die Vernunft selbst nicht in Gefahr zu bringen.
Das Argument richtet sich gegen die philosophische Natur­
verachtung und das Denken des qualitativen Fortschritts,
indem Adorno eine Ähnlichkeit von idealistischem Denken
und animalischem Trieb herstellt. Adorno fasst Vernunft
und Subjekt nicht als ahistorische Erkenntnisinstrumente
der ewigen Wahrheit auf. Dadurch blickt er auf die
Geschichte der Philosophie nicht als Fortschreiten des
Geistes zu höheren Formen der Erkenntnis, sondern als
eine Wiederkehr von Denkmustern, Verhaltensweisen und
Reaktionen, die ihren Ursprung auch im animalischen Trieb
haben. In diesen drastischen Formulierungen wird das
erkennende Subjekt also zum wütenden Subjekt, das sich
gegen die Natur als vermeintliche Bedrohung des eigenen
Status richtet. Im Denken als Prozess der Identifikation
liegt auch der repressive Charakter der zurüstenden
Vernunft begründet. Wäre es nicht möglich, Denken und
Erkenntnis der Welt anders zu fassen als in der für die
27
28
72
Ebd.
Ebd., S. 34.
II.Adornos Kritik am idealistischen Subjekt in der Negativen Dialektik
Kritische Theorie unüberwindbaren Dichotomie von
Subjekt und Objekt?
Ohne detailliert auf die Entwicklung der Position Adornos
eingehen zu können – dazu wäre es nötig, sich kleinteilig
Adornos Kritik an der Phänomenologie Edmund Husserls
und Henri Bergsons und der Kritik an Martin Heidegger
zuzuwenden –, soll zumindest ein Argument gegen die
Liquidation des Subjektes erläutert werden.
In dem späten Text Zu Subjekt und Objekt, der kurz vor
Adornos Tod erschien, geht Adorno zu Beginn auf die
Möglichkeit ein, die Ungeschiedenheit, die vor der Tren­
nung von Subjekt und Objekt liegt, wieder herzustellen,
verwirft diese aber als „romantische Sehnsucht“. 29 Der
Vorstellung, es gebe einen glücklichen „adamitischen“
Zustand, der vor der Trennung von Subjekt und Objekt
liegt und zu dem es zurück zu gehen gelte, wird von
Adorno der grauenhafte Mythos, das Chaos, die absolute
Unmündigkeit entgegengestellt.30 Wie in der Dialektik der
Aufklärung ist der Ausgang aus diesem Stand einerseits ein
Fortschritt. Andererseits geht der Fortschritt einher mit
Zwang und Herrschaft des Subjektes gegen sich selbst und
gegen Andere.31 Versuche, die Subjektform zu überwinden,
haben das Subjekt vielmehr liquidiert, anstatt es aufzu­
heben.32 Diese Liquidation führt zurück in einen
„unfreieren“, grauenhaften Zustand. Denn das, was das
29
30
31
32
Adorno: Zu Subjekt und Objekt a.a.O., S. 742.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
73
Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie
Subjekt zur Freiheit führt, die Vernunft, wird darin abge­
schafft. Die Liquidation des Subjektes würde eben nicht
dazu führen, die zwangvolle Identifikation hinter sich zu
lassen, sondern deren vorgängige Form des Bewusstseins,
die Ungeschiedenheit, in der der Mensch ohnmächtig den
Naturgewalten, dem Götterhimmel etc. ausgeliefert war,
wiederherzustellen33. Eine Aufhebung des Identitätsbe­
wusstseins und damit des gewaltvollen Subjektes bestünde
aber nicht in der Regression zur Ungeschiedenheit, sondern
in der Weiterentwicklung der Vernunft, etwa im Vermögen
der Reflexion und des Differenzierens. Adorno fasst diese
als Kommunikation zwischen dem Verschiedenen, in der
das erkennende Subjekt sich rezeptiv zu den Objekten
verhält und diese zugleich in ein Verhältnis zu seinen
Begriffen setzt.
Das dialektische Erkenntnismodell Adornos muss zum
einen als eine Kritik des Subjektes verstanden werden, zum
anderen aber auch als ein Versuch seiner Rettung, denn
schließlich ist Erkenntnis zwangsläufig auf das Subjekt
verwiesen. Für Adorno stellt sich dabei vorrangig die
Frage, wie das Verhältnis von Subjekt und Objekt verändert
werden kann, so dass die Tendenz der Herrschaft über die
Dinge abgeschwächt wird.
33
74
Ebd.
III. Rezeptivität und Spontaneität
III. Rezeptivität und Spontaneität
Nur mit der Kraft des Subjektes kann es gelingen, den
Panzer der Subjektivität zu durchbrechen, die verhärteten
und herrschaftsförmigen Strukturen der Gesellschaft,
welche die Einzelnen bis in jede Zelle hinein erfassen,
überhaupt erst als solche wahrzunehmen. Dialektische
Kritik an Vernunft und Aufklärung bedeutet dementspre­
chend, nicht im Mythos zu verharren oder sich einer neuen
Mythologie zu verschreiben, also etwa den vermeintlichen
Tod des Subjektes zugunsten einer neuen Unmittelbarkeit
zwischen den ehemals Getrennten (Subjekt und Objekt) zu
affirmieren, sondern aus der Aufklärung heraus mit ihr und
gegen sie am Bestreben nach Emanzipation festzuhalten.
Die Fragen, die es zu beantworten gilt, lauten entspre­
chend: Wie lässt sich in der verwalteten Welt überhaupt
noch denken, ohne in rein instrumenteller Vernunft zu
verharren; wie also ist Kritik möglich? Und wie lassen sich
Erfahrungen von Besonderem, Neuem machen, die nicht
gleich von eingeschliffenen Schemata geschluckt werden?
Einfache Antworten auf diese Fragen gibt es nicht – es
wäre wohl kaum zu viel behauptet, dass sämtliche Texte
der Kritischen Theorie um eben jene kreisen. Zumindest
aber muss konstatiert werden, dass beide Fragen aufs
engste verbunden sind, dass also nur erfahrungsfähige
Subjekte auch erkenntnisfähig sind – und umgekehrt. So
verstellt die verwaltete Welt nicht nur die sinnliche Erfah­
rung, richtet nicht nur die Körper zu, sondern affiziert
75
Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie
zugleich den selbstherrlichen Intellekt, der sich von der
sinnlichen Erfahrung trennt, um sie zu unterwerfen:
„Die Vereinheitlichung der intellektuellen Funktion, kraft
welcher die Herrschaft über die Sinne sich vollzieht, die
Resignation des Denkens zur Herstellung von Einstim­
migkeit, bedeutet Verarmung des Denkens so gut wie der
Erfahrung; die Trennung beider Bereiche läßt beide als
beschädigte zurück.“34
Horkheimer und Adorno schließen damit an einen starken
Vernunftbegriff an, der selber der Aufklärungsphilosophie
entstammt, nämlich an den Vernunftbegriff Kants. In der
Kritik der reinen Vernunft prägte Kant die berühmte
Formulierung, dass Gedanken ohne Inhalt leer, Anschau­
ungen ohne Begriffe blind seien.35 Erkenntnis entspringt
somit aus zwei Quellen, die in zwei Vermögen des Gemüts
begründet sind, nämlich zum einen aus dem Vermögen der
Rezeptivität, also dem Vermögen, sinnliche Erfahrungen zu
machen, zum anderen aus dem Vermögen der Spontaneität,
dem Vermögen also, jene Erfahrungen auf Begriffe zu
bringen, sie sprachlich und denkend zu erfassen. Trotz der
Aufwertung der sinnlichen Erfahrung zur Erkenntnisquelle
bleiben bei Kant jedoch beide Vermögen strikt getrennt.
Zudem werden sie zu apriorischen Elementen der Trans­
zendentalphilosophie; das heißt: Vor jeder empirischen
Erfahrung und vor jeder denkenden Auseinandersetzung
34
35
76
Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung a.a.O., S 53.
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (= Werke Bd. III), Frank­
furt/Main 1974, B 74 (S. 97).
III. Rezeptivität und Spontaneität
mit der historischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit
stehen die reinen Formen der Anschauung und die funda­
mentalen Verstandesbegriffe (die Kategorien) bereits fest.
Die Erkenntnisfähigkeit der Menschen wird damit zur
historischen Invariante.
Horkheimer und Adorno wenden nun die kantische
Vernunftkritik noch einmal gegen sich selbst, erheben
Einspruch gegen die Apriorizität der Kategorien und gegen
die merkwürdige Körperlosigkeit der reinen, transzenden­
talen Anschauungsformen. Vernunft behält ihr kritisches
Potential nur dann, wenn sie darauf reflektiert, dass sie
selber auch Herrschaftsinstrument ist, dass im Namen der
Befreiung vom Naturzwang das Subjekt von seiner eigenen
Naturwüchsigkeit gewaltvoll getrennt wurde:
„Das Selbst, das nach der methodischen Ausmerzung aller
natürlichen Spuren als mythologischer weder Körper noch
Blut noch Seele und sogar natürliches Ich mehr sein sollte,
bildet zum transzendentalen oder logischen Subjekt subli­
miert den Bezugspunkt der Vernunft, der gesetzgebenden
Instanz des Handelns.“36
Gegen dieses Reinheitsgebot der Vernunft ist Kritische
Theorie das „Eingedenken der Natur im Subjekt“ 37. Im
„zuchtlosen Gedanken“38 versucht sie, den Spuren der
Körperlichkeit, dem erfahrenen Glück und dem widerfah­
renen Leid zu folgen, diese Reflexionen nun aber nicht dem
36
37
38
Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung a.a.O., S. 46.
Ebd., S. 58.
Ebd.
77
Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie
bloß Empirischen, Alltäglichen, Ephemeren zuzurechnen,
sondern sie in das Herz der Theorie selbst zu tragen. Inso­
fern tritt neben die große Form, die philosophische
Abhandlung, gleichberechtigt die kleine, der Essay, die
Aphorismen und die Fragmente. In Horkheimers Dämme­
rung und Notizen, Adornos Minima Moralia, aber auch in
Benjamins Einbahnstraße und der Berliner Kindheit um
1900 sind konkrete Erfahrungen und das Scheitern
derselben aufbewahrt. Gleichzeitig werden diese Splitter
der sinnlichen Welt stets mit theoretischen Gedanken und
philosophischen Reflexionen vermittelt, werden nicht für
sich stehen gelassen, sondern in Bezug zu Gesellschaft und
Geschichte gesetzt. Erst so, in der intellektuellen
Anschauung, der geistigen Erfahrung39, wird das Ausgeson­
derte namhaft, das Leid beredt, kommt die bedrängte
Kreatur zu Wort, um die Erlösungsbedürftigkeit der Welt
vor Augen und Ohren zu führen. Die Aufgabe an kritisches
Denken ist, das Sensorium: Blick, Gehör und Gespür zu
schärfen und für die Widersprüche in der gesellschaftlichen
und geschichtlichen Wirklichkeit zu sensibilisieren, für das
Unabgegoltene und Randständige aufmerksam zu sein.
Instrumentelles Denken, das meint, es könne alles im
Begriff erfassen, alles ließe sich mit den Mitteln der
Vernunft handhaben, betrügt das Subjekt um seine eigenen
Möglichkeiten. Zugleich ist es aber nur Subjekten, kriti­
schen Subjekten40 möglich, in dieser Weise Rezeptivität
39
40
78
Vgl. etwa Adorno: Negative Dialektik a.a.O., S. 41.
Der Begriff des kritischen Subjektes ist von Detlev Claussen entlie­
hen: „Es läßt sich nur paradox ausdrücken, was als historischer Ma­
III. Rezeptivität und Spontaneität
und Spontaneität zu verbinden; also Widerstand zu leisten
und Einspruch zu erheben gegen die bestehenden Verhält­
nisse.
terialismus heute praktiziert werden kann: ein Marxismus, der keiner
mehr ist, theoretisch-kritische Praxis ohne organisationspraktische
Verdinglichung, weder im Akademischen noch im Politischen, Ar­
beit an der Konstitution von kritischen Subjekten.“ in: Ders.: Ab­
schied von Gestern a.a.O., S. 37.
79
Das Subjekt im Spannungsverhältnis
von epistemischer Struktur und Handlung
Ein historisch systematischer Beitrag
Eva Seidlmayer
Auf der Tagung war dazu eingeladen worden, das Spannungs­
verhältnis Subjekt auszuloten und so beschäftigten sich die
Vorschläge, die das versuchten, vor allem mit der Erkenntnis­
fähigkeit des Subjektes und damit wie es sich selbst sehen,
verstehen und wahrnehmen könne. Bei einer solchen Eingren­
zung des Subjektes auf seine Erkenntnisfähigkeit kommt der
Aspekt des Subjekts als Handelndes zu kurz. Dies ist kein
Zufall, sondern typisch für die moderne Philosophie, darauf
weisen nicht zuletzt pragmatistische DenkerInnen hin. Die
Pragmatisten strebten die Erneuerung der Philosophie eben
unter dem Vorzeichen eines konkreten Effekts, den Theorien
für das Leben haben sollen, an. Dass das kein ganz neuer
Gedanke ist, deutet dabei schon der Titel von William James'
berühmter Vorlesung Pragmatism. A new name for same old
ways of thinking an.1
1
Diesen Anspruch eines Zusammenhangs von Wissen und Leben
stellt James programmatisch in seiner zweiten Vorlesung Was heißt
Pragmatismus? fest: „Nirgends kann ein Unterschied sein, der nicht
anderswo einen Unterschied macht. Es gibt keinen Unterschied auf
der Ebene abstrakter Wahrheit, der sich nicht auch in einem Unter­
schied auf der Ebene der konkreten Tatsachen ausdrückt und in ei ­
nem daraus resultierenden Verhalten, das irgendjemandem auferlegt
wird, irgendwie, irgendwo, irgendwann. Die ganze Aufgabe der Phi­
losophie sollte eigentlich darin bestehen herauszufinden, welche
81
Das Subjekt im Spannungsverhältnis
Denn während das enge Verhältnis in zeitgenössischen
Auseinandersetzungen von Erkenntnistheorie und Handlungs­
theorie oft verschüttet ist, stellt John Dewey im Kontrast dazu
für die antike Philosophie fest, dass dort Erkenntnis und Tätig­
keit eng verbunden waren.2 Vielmehr noch: Dewey beob­
achtet, dass in der Antike gegenüber der Moderne ein viel
differenzierteres Verständnis von beiden Elementen – von
Erkenntnis und Tätigkeit – vorlag.3 Und so wird gerade in der
historischen Dimension deutlich, wie verwoben diese Aspekte
sind. Es ist wieder einmal die Antike, die einen erhellenden
Blick auf einen systematischen Aspekt – in diesem Fall: das
Subjekt – ermöglicht.
Es lohnt sich, die Aspekte, die die antiken Debatten prägten,
auf ihre Bedeutung für die modernen Subjektkonstitutionen zu
überprüfen; denn der Eindruck, den wir uns von der Vergan­
genheit machen können, entsteht immer in der Spannung zur
2
3
82
konkreten Unterschiede es für Sie und mich in konkreten Situationen
unseres Lebens macht, ob diese oder jene Weltformel die einzig
wahre ist“. William James: Pragmatismus. Ein neuer Name für eini­
ge alte Denkweisen, Darmstadt 2001, S. 63 (Hervorhebungen vom
Autor).
John Dewey/Martin Suhr: Die Suche nach Gewißheit. Eine Untersu­
chung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln, Frankfurt
2013, S. 24–25.
Auf zwei Ebenen war die Erkenntnis in wissenschaftliche Erkenntnis
(epistêmê) einerseits und Meinung oder Glaube (doxa) andererseits
unterschieden und die Tätigkeit in reine Tätigkeit und praktisches
Handeln. Das griechisch-antike Denken unterschied Denken und
Handeln damit eher als zwei Paare auf zwei Ebenen; im Gegensatz
zur grundlegenden Trennung von Erkenntnis und Tätigkeit, die sich
bis in die Neuzeit eingeschliffen hat. (Dewey/Suhr: Die Suche nach
der Gewißheit a.a.O., S. 21).
Das Subjekt im Spannungsverhältnis
Gegenwart, zur Jetzt-Zeit.4 Damit ist nicht nur das Verstehen
der Vergangenheit auf die Gegenwart verwiesen; die Gegen­
wart ist es auch auf die Vergangenheit. Für die systematische
Philosophie bedeutet dies, sie muss auch immer eine histori­
sche sein; historische Philosophie ist aber auch immer syste­
matisch. Es lohnt sich, weil wir in der Antike eine Konstella­
tion haben, die das für die Subjektkonstitution wichtige
Verhältnis von Erkennen und Handeln anders setzt als unsere
Gegenwart und weil systematische Fragen sich eben erst
zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufspannen lassen.
Die Reflexion auf Subjektkonstitutionen kann daher nicht auf
eine Reflexion auf Subjektkonstitutionen zu anderen Zeiten
und in anderen Gesellschaften verzichten. Genauso wenig
kann sie ohne Überlegungen zu dem Verhalten dieser
Subjekte auskommen; auf das, was ihr Leben ausmacht, ihre
Entscheidungen und Beziehungen; denn erst diese Bezie­
hungen zeigen das Subjekt nicht nur als Objekt einer Theorie,
sondern in seinem Sein. Eine solche Verknüpfung von
Denken und Handeln und von Geschichte und Gegenwart
werde ich in diesem Aufsatz angehen. Das Spannungsver­
hältnis Subjekt wird hier also als eines zwischen Erkenntnis­
theorie und Handeln beschrieben werden.
Aus dem dritten Jahrhundert v. u. Z. ist uns eine Auseinander­
setzung zwischen rivalisierenden philosophischen Schulen,
den Skeptikern der Akademie, den Skeptikern des Pyrrho­
4
Wir werden nie wirklich verstehen können, was in einer anderen
Zeit, in einem andern Kontext gedacht worden ist (Walter Benjamin:
Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart 2010,
S. 143).
83
Das Subjekt im Spannungsverhältnis
nismus sowie der Stoa, überliefert, die eine ganz intensive
Diskussion über die Bestimmung der Kriterien von Wahrheit
und des guten Lebens führten. Das Spannungsverhältnis
Subjekt entsteht dabei zwischen den Positionen in der Debatte.
Denn in der Auseinandersetzung wurden ganz unterschied­
liche Konzepte von Subjekt vertreten, die trotz oder gerade
wegen der entfernten Perspektive einen sehr klaren Blick auf
systematische Strukturen freigeben. Ich werde zunächst (1.)
über die bedeutsame Verbindung von Denken und Handeln in
der antiken Debatte sprechen, um dann (2.) einige für die
Unterscheidung der unterschiedlichen Positionen wichtige
systematische Bereiche zu nennen, um diese dann (3.) bis auf
die Handlungsebene zu verfolgen und hier eine grobe Typisie­
rung in normative und selbstbezügliche Wahrheits- und Hand­
lungskonzeptionen vorzunehmen.5
I. Erkenntnistheorie und Handeln
Neben den ganz unterschiedlichen erkenntnistheoretischen
Zugängen wird in den antiken Texten auch deutlich, dass
diese Konzeptionen von Wahrheit mit einer Vorstellung von
gutem Leben verbunden sind. Zwar verhandelten die Stoiker,
die akademischen Skeptiker sowie die pyrrhonischen Skep­
5
84
Leider ist hier nicht der Raum, um die Aspekte, die ich zeigen will,
in der Länge und Intensität herauszuarbeiten, die geboten wäre. Mei­
ne Überlegungen müssen also im Status einer Skizze verbleiben.
Deswegen möchte ich auf mein Dissertationsprojekt hinweisen, das
sich genau mit der hier angesprochenen Spannung von unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Konzepten und ihren Auswirkungen
auf der Handlungsebene beschäftigt.
I. Erkenntnistheorie und Handeln
tiker vordergründig die Frage, wie und ob Wahrheit – als
Abstraktion von dem, auf das man sich bezieht – zu erkennen
sei, doch zielte die Kontroverse darauf, wie (und ob) Werte
(wie das Gute, das Schlechte), an denen sich ein gutes Leben
orientieren kann, bestimmt werden können. Letztlich ging es
ihnen vor allem darum, ob ein gutes Leben überhaupt möglich
sein kann.
Die enge Verbindung beider Bereiche lässt sich auch in den
Quellen beobachten. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn
Cicero gegen die akademische Skepsis wettert:
„Diejenigen also, die bestreiten, dass irgend etwas begriffen
werden könne [gemeint sind die akademischen Skeptiker],
entreißen sowohl die Instrumentarien als auch den Schmuck
des Lebens, oder vielmehr: sie zerstören sogar das ganze
Leben von Grund auf und berauben das Lebewesen selbst
um seinen animus [Leben/Seele/Sinn]. Im Hinblick darauf
fällt es schwer, über ihre temeritas [Leichtsinn] so zu spre­
chen, wie die Sache es eigentlich erforderte (Cicero, Acade­
mica II 31).“6
Davon abgesehen, dass Cicero hier gegen die Skeptiker
polemisiert, wird doch in diesem Statement die Bedeutung,
die epistemischen Konzepten für das ganz alltägliche
Leben zugeschrieben wird, deutlich. Gleiches können wir
auch für die Vertreter der anderen Position in der Auseinan­
dersetzung beobachten. Auch den Skeptikern geht es letzt­
lich in ihrem philosophischen Streit um das gute Leben.
6
Übersetzung modifiziert nach Schäublin (Marcus Tullius Cicero:
Akademische Abhandlungen Lucullus. lateinisch-deutsch, Text und
Übersetzung von Christoph Schäublin, Hamburg 1995, S. 45.).
85
Das Subjekt im Spannungsverhältnis
Auch der Skeptiker Sextus Empiricus gibt an, die Pyrrhoneer
wollten die Menschen aus philanthrôpos – aus MenschenLiebe – von der „Einbildung und Voreiligkeit der Dogmatiker
[also der Stoiker] durch Argumentation heilen (Sextus PH III
280).“7 Der Mensch, der der stoischen Lehre folgt, werde
„fortwährend beunruhigt“, sein Eifer nach dem Guten und
dem Vermeiden der Übel führe dazu, dass er in „große Sorgen
gerät“ (Sextus PH I 26–27). Sextus bietet dagegen an, durch
sein philosophisches Konzept einer konsequenten Absage an
Dogmen könne die Seelenruhe (ataraxia) erreicht werden.
Während einerseits deutlich wird, dass sich in allen diesen
Schulen Vorstellungen für das gute Leben finden lassen8, die
auf die spezifische Theorie verweisen, wird hier auch klar, wie
verhärtet die ideologischen Fronten sind.
Ursula Wolf nimmt wie Dewey diesen Zusammenhang des
Subjekts in seiner Spannung zwischen Erkenntnis und Leben
als Handeln auf, der in der antiken Philosophie präsent ist.9 Es
zeigt sich, warum beide Ebenen so stark aufeinander
verwiesen sind: Die Frage nach dem guten Leben enthält die
Frage nach der Konstituierung der Welt und von sich selbst. 10
7
8
9
10
86
Sextus Empiricus: Grundriss der pyrrhonischen Skepsis. Mit einer
Einleitung von Malte Hossenfelder, Frankfurt. 1985, S. 299.
Sowohl Arkesilaos als auch Sextus haben eine Vorstellung davon,
was eine richtige Handlung ist (Arkesilaos: „katorthôsis“ („gerade­
machen“) (Sextus M VII 158 (Sextus Empiricus: Gegen die Dogma­
tiker. Adversus mathematicos libri 7–11. übersetzt von Hansueli
Flückiger, Sankt Augustin 1998.)); Sextus Empiricus „orthos“
(„richtig“) (Sextus PH I 16–17)).
Ursula Wolf: Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben,
Hamburg 1999.
Wolf: Die Philosophie a.a.O., S. 95.
I. Erkenntnistheorie und Handeln
Anstatt bei philosophischen Positionen anzusetzen, geht Wolf
von der ganz situativen Frage Wie soll ich leben? aus. Sie
mündet für Wolf aber ebenfalls in der Frage nach dem Bezug
auf das Leben im Ganzen: Wie sollte ich als ein so konstitu­
iertes endliches menschliches Wesen in der so konstituierten
Welt leben?11 Die Frage nach dem guten Leben beinhaltet also
die Frage nach der Konstituierung des Subjekts und die der
Konstituierung der Welt. Im Handeln – als Lebenspraxis –
bietet sich dabei immerhin die Perspektive, den Gegensatz
von Individuum und Gesellschaft aufzubrechen. Aus dem
Situationsbezug wird ein Weltbezug.
Diese Verbindung der Frage nach Wahrheit und nach der
Erreichbarkeit des guten Lebens eint die sonst so gegen­
sätzlichen antiken philosophischen Schulen von Stoa und
Skeptikern. Dabei spiegeln sich in den Vorstellungen vom
guten Leben die unterschiedlichen philosophischen
Konzepte. Sie gilt es nun wenigstens skizzenhaft nachzu­
vollziehen, um eine Idee von den sich so vehement abgren­
zenden Subjektbegriffen zu bekommen.
11
Eingebettet in eine fünfstufige Schichtung der Frage nach dem guten
Leben, skizziert Ursula Wolf die unterschiedlichen Bezugnahmen
zwischen individuellem Leben und natürlicher Umwelt, sozialer
Umgebung und historischer Situation. Durch „Iteration“ oder „Ra­
dikalisierung“ gerät diese Frage immer allgemeiner, immer prinzipi­
eller; wird zu einer Frage nach dem guten Leben an sich, nicht nur
für diese eine Situation, sondern im Ganzen. Für die unterste existen­
tielle Frageebene formuliert Wolf die Frage nach dem guten Leben
dann folgendermaßen: Wie sollte ich als ein so konstituiertes endli­
ches menschliches Wesen in der so konstituierten Welt leben?, Wolf:
Die Philosophie a.a.O., S. 78–80.
87
Das Subjekt im Spannungsverhältnis
II. Systematische Positionen zum Subjekt
Im Verlauf ihrer erkenntnistheoretischen Auseinandersetzung
setzen die historischen Schulen der Stoa, der akademischen
Skepsis und der pyrrhonischen Skepsis ganz unterschiedliche
Akzente. Sextus Empiricus – einer der späten Vertreter der
pyrrhonischen Skepsis – bringt die Unterscheidung der unter­
schiedlichen Herangehensweisen am Anfang seiner Grundle­
gung einer pyrrhonischen Skepsis (pyrrhoniae hypotyposes)
auf den Punkt:12
„Wenn jemand eine Sache sucht, dann ist der zu erwartende
Erfolg entweder ihre Entdeckung oder die Verneinung ihrer
Entdeckung und das Eingeständnis ihrer Unerkennbarkeit
oder die Fortdauer der Suche. Das ist vielleicht auch der
Grund, weshalb hinsichtlich der philosophischen
Forschungsgegenstände die einen behauptet haben, sie [u. a.
die Stoiker] hätten die alêthês (das Wahre) gefunden,
während die anderen [u. a. die akademischen Skeptiker]
erklärten, es lasse sich nicht erkennen, und die dritten
[nämlich die pyrrhonischen Skeptiker] noch suchen (Sextus
PH I 2).“13
Sextus macht hier die verschiedene Herangehensweise an
philosophische Themen zum Kriterium der Klassifizierung
12
13
88
Damit brechen die Pyrrhoneer einen gewohnten Pfad der Philosophie
ab. Die qualitativ andere Ausrichtung zeigt sich auch darin, dass
Sextus nicht versucht einen bestimmten Wert in einer Hierarchie ge­
genüber anderen Werten durchzusetzen, sondern dass dieser Wert
formal und relativ in Abhängigkeit zu einzelnen Menschen ist (Julia
Annas: The morality of happiness. Oxford 2004, www.oxfordschol­
arship.com/oso/public/content/philosophy/0195096525/toc.html
(24.09.2013), S. 351).
Übersetzung: Malte Hossenfelder: Grundriss a.a. O., S. 93.
II. Systematische Positionen zum Subjekt
von philosophischen Schulen. Vor dem Hintergrund der
Verbindung von theoretischen Inhalten und der Frage nach
dem guten Leben, wird Sextus' Unterscheidung der verschie­
denen Philosophien zu einer Unterscheidung unterschiedlicher
philosophischer Denkströmungen und Lebensentwürfe.14
Zwar kann ich aus Gründen der Textökonomie die Positionen
hier nicht an den Quellen entwickeln und so muss ich im
Folgenden leider etwas schematisch und vielleicht zu monoli­
thisch die einzelnen Positionen voneinander abgrenzen, um zu
zeigen, dass Sextus dennoch mit seiner Unterscheidung einen
wichtigen Punkt trifft. Dazu will ich zunächst einen groben
Überblick über die gegensätzlichen Strukturen geben: Die
Unterschiede betreffen vor allem die Konzeption von Wahr­
heit, die dann Bedeutung für die Handlungsebenen und damit
für die Konzeptionen von Subjekt bekommen.
Die Stoiker verstanden die Wahrheit als ein externes Prinzip.
Dieses Prinzip stellten sie sich zwar so vor, dass es alles
durchzieht, alles durchdringt, an dem sie also auch teilhaben,
das ihnen aber äußerlich ist und daher bloß verwirklicht
werden kann. Die stoische Vorstellung von Wahrheit war
dabei die eines Dogmas, einer klaren eindeutigen Erkennbar­
keit dessen, was wahr ist. Die Wahrheit galt als abgeschlossen,
14
Sextus nennt hier, was er für den obersten Unterschied der Philoso­
phien (hê anôtatô diaphora tôn philosophôn (Sextus PH I 1)) hält,
nämlich ihre Auffassung der alêtheia. Trotzdem ist es weniger das
Wahre, was seinem Grundriss zu folge den Pyrrhonismus interes­
siert, sondern dies ist vielmehr die Seelenruhe, die ataraxia. Sie gilt
es zu erreichen, nicht die Erkenntnis des Wahren (Stéphane Mar­
chand: „Le sceptique cherche-t-il vraiment la vérité?“, in: Revue de
Métaphysique et de Morale, (1), 2010, S. 123–141.).
89
Das Subjekt im Spannungsverhältnis
als eindeutig begreifbar (katalêptos), im wahrsten Sinne des
Wortes.
Dagegen lehnte es die akademische Skepsis ab, eine Gewiss­
heit darüber haben zu können, ob eine Vorstellung wahr ist
oder ob man einer Täuschung erliegt. Sie gingen stattdessen
von der Plausiblität (eulogon (Arkesilaos)) oder der Glaub­
würdigkeit (pithanon (Karneades)) aus. Was die akademi­
schen Skeptiker glaubhaft fanden, war es aber immer nur
innerhalb einer Situation.15 Die einzelnen Situationen und das,
was darin als glaubhaft gelten konnte, waren unverbunden,
Wahrheit war also keine Vorstellung, die einzelne Situationen
überstieg und durchzog.
Die pyrrhonische Skepsis setzte noch einen etwas anderen
Akzent und stufte Wahrheit als in jeder einzelnen Situation
lediglich subjektiv erfahrbar ein. Von Sextus Empiricus
wissen wir, dass die pyrrhonische Skepsis damit eine Relati­
15
90
Seine Differenzierung des Vorstellungsbegriffs in eine für ihn un­
glaubhafte Vorstellung (im Sinne u. a. der Stoiker) und eine glaub­
hafte Vorstellung ermöglichte es Karneades auch, einen differenzier­
ten Zustimmungsbegriff anzudeuten (Sextus Adv. Math. VII 166–
173). Eine starke Zustimmung, wie die der Stoiker, lehnt Karneades
ab, während er offenbar eine schwache situative Zustimmung zu
Glaubhaftem zugibt (z. B. Anthony A. Long/David N. Sedley: Die
hellenistischen Philosophen Texte und Kommentare. Sonderausgabe,
Stuttgart 2006, S. 549; Katja M. Vogt: „Scepticism and action“, in:
Richard A. H. Bett (Hg.): The Cambridge companion to ancient
scepticism, Cambridge, UK/New York 2010, S. 165–180, S. 170;
Harald Thorsrud: „Arcesilaus and Carneades“, in: Bett (Hg.): The
Cambridge companion to ancient scepticism a.a.O., S. 58–80, S. 73–
74). Der schwache situative Zustimmungsbegriff ist für die Akade­
miker auch deswegen systematisch notwendig, weil er auf die von
den Stoikern fortgesetzte Kritik, die Akademiker könnten ohne einen
Begriff gar nicht handlungsfähig sein, reagiert.
II. Systematische Positionen zum Subjekt
vität von Wirklichkeit und der Situation, aber auch dem jewei­
ligen Subjekt und seiner Sinnlichkeit feststellte (Sextus PH I
175, II 37). Wahrheit war damit für die Pyrrhoneer ein
Erleben, eine Lebensform (agogê). Anders als die Stoiker, und
in gewisser Weise auch die Akademiker16, verorten sie Wahr­
heit damit intern, orientiert an der eigenen Wahrnehmung.
Wahrheit entsteht für die pyrrhonischen Skeptiker erst in der
Situation, in der Erfahrung durch die Sinne, in der ewigen
Suche nach Wahrheit (Sextus PH I 1–3). Sie ist damit nie
abgeschlossen, sondern prozessual.
Die schematische Abgrenzung der unterschiedlichen Schulen,
wie sie hier geleistet wurde, kann nur eine grob gezogene
Skizze sein. Dennoch hoffe ich, wurde dabei immerhin der
Gedanke deutlich, dass es letztlich um alternative Zugänge
zum Problemfeld Subjekt geht. Dabei lassen sich also
offenbar einige Aspekte zusammenfassen, anhand derer sich
die Richtungen unterscheiden lassen und die auch für Subjekt­
konstitutionen generell bedeutsam sein können. Da ist zum
einen die Frage, (a.) ob eine wahre Vorstellung abge­
schlossen, unveränderbar und gewissermaßen vollständig ist,
wie sie jetzt ist; oder ob sie jetzt eben noch nicht abge­
schlossen ist und sich noch verändern wird. Unterschiedliche
Positionen gibt es auch dazu, ob die Wahrheit überhaupt
irgendwann abgeschlossen sein wird. Oder ob sie eben unab­
geschlossen bleibt und sich immer weiter verändert. Ein
anderer wichtiger Aspekt ist (b.) der der Verortung von Wahr­
16
Jonathan Barnes: „Some ways of scepticism“, in: Stephen Everson
(Hg.): Epistemology, Cambridge/New York 1990, S. 204–224,
S. 223.
91
Das Subjekt im Spannungsverhältnis
heit. Dabei kann Wahrheit extern verortet sein und von einem
von der eigenen Wahrnehmung äußeren Kriterium abhängig
sein. Oder sie wird in sich selbst begründet, entsteht in der
eigenen Wahrnehmung. Dies kann als eine interne Verortung
von Wahrheit gelten.17
III. Einstellungen zur Welt
Welche konkreten Unterschiede ergeben sich auf der Hand­
lungsebene aus diesen Erklärungen zur Wahrheit und diesen
Versuchen einer Klassifikation von internen und externen
Verortungen und abgeschlossenen und prozessualen Vorstel­
lungen von Wahrheit? Sie haben mit den Subjekten und ihrem
konkreten Leben zu tun, weil sie auf die Konzepte vom Ich im
Verhältnis zum Außen, zum Anderen und zu Anderen reflek­
tieren und auch mit den Handlungsmöglichkeiten – also den
Potentialen – der Menschen verknüpft sind.18 Mit den Bezug­
17
18
92
Jonathan Barnes stellt heraus, dass die meisten Theorien der Er­
kenntnis sich durch das Kriterium für Erkenntnis, also durch ihr Be­
gründungsschema unterscheiden und somit eine bestimmte Position
in einem „foundationalist' approach to knowledge“ einnehmen. Er
versucht, die verschiedenen Ansätze in einem generellen Schema der
Epistemologie zu fassen, in das er zwei Begründungsmuster eines
Externalismus und eines Internalismus einordnet (Jonathan Barnes:
Some ways a. a. O., S. 217–222).
In Ciceros De fato – über das Schicksal – wird das klar (Cicero, De
fato XVII 39–40 (Marcus Tullius Cicero: Über das Schicksal. De
fato. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Karl
Bayer, Düsseldorf/Zürich 2000.)). Es gab unter den alten Philoso­
phen zwei Lehrmeinungen: die einen vertraten die Ansicht, alles sei
durch das Schicksal bestimmt. Die anderen waren der Ansicht, die
Seele sei ohne jeden Einfluss des Schicksals durch den Willen be­
stimmt. Die Stoa unter Chrysipp wollte in dieser Diskussion eine
III. Einstellungen zur Welt
nahmen des Subjekts auf ein Außen steht aber auch die
Bezugnahme des Subjekts auf sich Selbst in Verbindung.19
Philosophie ist „Lebensform“20, ein „Darinnensein im
Leben“21. Noch deutlicher wird das, wenn man sich klar
macht, welche ganz lebensweltlichen Konsequenzen für die
einzelnen Menschen sich aus den skizzierten Wahrheitskon­
zepten ergeben:
Die Stoiker operieren mit der begreifenden Vorstellung (phan­
19
20
21
Mittelstellung einnehmen, bestätigte dann aber laut Cicero die
Zwangsläufigkeit des Schicksals ohne es zu wollen (Cicero, De fato
XVII 39). Die „Zustimmung“ („synkatathesis“) zu einer Vorstellung
ist in der Diskussion über das Schicksal einer der zentralen Begriffe.
Auf diesen Zusammenhang geht Frauke A. Kurbacher in ihrem Bei­
trag in diesem Band ein.
Alexander Nehamas: The art of living. Socratic reflections from Pla­
to to Foucault, Berkeley 2000. Alexander Nehamas stellt dieses Zu­
sammendenken von Leben mit seinen ganz individuellen Zügen an
den Beispielen Sokrates, Foucault, Montaigne und Nietzsche vor.
Wilhelm Dilthey: „Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbil­
dung in den metaphysischen Systemen“, in: Wilhelm Dilthey: Welt­
anschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie.
Gesammelte Schriften VIII, Leipzig 1931, S. 73–118, S. 99. Aus die­
sem „Darinnensein im Leben“ (Wilhelm Dilthey: Typen der Weltan­
schauung a. a. O., S. 99), aus dem Zusammenspiel von individuellen
Momenten und allgemein gemachten Lebenserfahrungen entstehen
verschiedene Typen der Weltanschauung. Die Menschen erleben also
ihre Individualität durch ihre konkreten Erfahrungen und haben au­
ßerdem Anteil an einer allgemeinen Lebenserfahrung, die sie mit an­
deren gemeinsam haben (Wilhelm Dilthey: Typen der Weltanschau­
ung a. a. O., S. 79). So erklärt Dilthey auch den Widerspruch zwi­
schen den Systemen der Philosophie durch unterschiedliche Lebens­
erfahrungen (Wilhelm Dilthey: Typen der Weltanschauung a. a. O.,
S. 98). Der gemeinsame Grundstock an Erfahrungen als Menschen
sorgt dabei aber dafür, dass diese Positionen nicht extrem unter­
schiedlich sind, sondern dass sich diese in einige wesentliche Grup­
pen untergliedern lassen.
93
Das Subjekt im Spannungsverhältnis
tasia kataleptikê) im Sinne eines aktiven Vermögens.22 Denn
zu einer wahren Vorstellung muss für sie außerdem noch die
bewusste Zustimmung (synkatathesis) der Menschen hinzu­
treten, diese Vorstellung zu akzeptieren. An diesem Punkt des
Erreichens von Erkenntnis, aber auch an dem der Überprü­
fung, der Evidenz und ihres Konzepts des Weisen23, erhält das
eigene Handeln, das Diskutieren und Nachvollziehen einen
hervorgehobenen Stellenwert. Das Gestalten steht hier im
Zentrum, während der Einzelne mit seinen Bedürfnissen in
den Hintergrund tritt.
Während die stoische Position also Orientierung für das gute
Leben gab und Werte formulierte, die es umzusetzen galt,
forderten die skeptischen Positionen24 mit ihrer Absage an
eine klar erkennbare Wahrheit und an ein umfassendes
Prinzip von den Menschen ein großes Maß an selbständiger
Positionierung ein.
Während die Menschen in der stoischen Philosophie inner­
halb eines gewissen vorgegebenen Rahmens handeln konnten,
mussten sich die Menschen, die den skeptischen Positionen
22
23
24
94
Michael Frede: „Stoic epistemology“, in: Keimpe Algra (Hg.): The
Cambridge history of Hellenistic philosophy. Cambridge, U.K./New
York 1999, S. 295–322, S. 301.
Der Weise ist für die Stoiker jemand, der zwar alles weiß, dessen
Wissen aber vor allem ein Umgehen- und Bewerten-Können von
wahren und falschen Vorstellungen ist (DL VII 47 (Diogenes Laerti­
os: Leben und Lehre der Philosophen. Aus dem Griechischen über­
setzt und herausgegeben von Fritz Jürß, Stuttgart 2010.); Frede:
Epistemology a. a. O., S. 322).
Hier wäre eigentlich eine differenziertere Sichtweise auf die skepti­
sche Position der Pyrrhoneer und Akademiker wichtig; auch hier
rächt sich die vorgegebene Kürze des Textes.
III. Einstellungen zur Welt
folgten, diesen Rahmen selbst geben. Einige Interpreten spre­
chen deswegen von einer Art Überforderung, durch die bei
den Menschen eine „tiefe Verunsicherung“ ausgelöst wurde.25
So erklärt sich etwa Malte Hossenfelder das Verschwinden der
Pyrrhonischen Schule im 3. Jahrhundert n. u. Z. und das
Populärwerden des Christentums.26 Die philosophische
Herauslösung oder Alleinstellung des Subjekts aus der
dogmatischen Ordnung etwa der Stoiker führte dabei offenbar
nicht nur zu einer Stärkung des Willens zur Vergrößerung der
Verantwortung, sondern dazu, dass jeder Einzelne auf die
eigene Wahrnehmung beschränkt blieb. Es wird schwer über
irgendetwas zu sprechen, wenn jede Wahrnehmung nur noch
auf die Einzelnen bezogen ist und vermittelt und erklärt
werden muss. Die Überbetonung der eigenen Perspektive
droht in den Kontaktabbruch zu anderen Menschen zu
münden: in „Schweigen“27. Mit dem Problem der Kommuni­
kation wächst auch das Problem mit Anderen zu handeln.28
25
26
27
28
Hossenfelder: „Einleitung“, in: Sextus Empiricus: Grundriss a.a.O.,
S. 9–88, S. 29.
Hossenfelder geht so weit, die Überforderung durch die skeptischen
Positionen so groß einzuschätzen, dass sie einer der Gründe war,
weswegen sich das Christentum in der Folge so stark durchsetzen
konnte. (Hossenelder: „Einleitung“ a. a. O., S. 88).
Vittorio Hösle: Wahrheit und Geschichte. Studien zur Struktur der
Philosophiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwick­
lung von Parmenides bis Platon, Stuttgart/Bad Cannstatt 1984,
S. 663.
Auf diesen Rückzug ins Private weisen uns auch historische Quellen
hin, wie ein Bericht Ciceros. Er erzählt von Kleitomachos, der nach
der Zerstörung Karthagos ein Buch für die in der eroberten Stadt ge­
fangenen Mitbürger geschrieben hatte. In diesem Buch argumentiert
er im Sinne der Philosophie Karneades' dagegen, darüber zu trauern,
dass die Stadt von Feinden erobert worden ist (Cicero Tusc. Disp. III
95
Das Subjekt im Spannungsverhältnis
Mit Anderen etwas zu organisieren, etwas zu gestalten, abseits
von den eigenen positiven Erfahrungen, ist, auf Grundlage der
pyrrhonischen Theorie, massiv erschwert. Die Skeptiker sind
eben keine „social reformers“29.
Die Unterschiedlichkeit der Denkformen auf epistemischer
Ebene hat somit unterschiedliche Konsequenzen für das
Leben der Menschen. Die normative Haltung der Stoiker, die
systematisch offenbar eng mit ihrer externen und abgeschlos­
senen – ja vorgängigen – Konzeption von Wahrheit verbunden
ist, steht gegen die selbstbezügliche Haltung der Skeptiker, die
Wahrheit vom Individuum aus denken und diese relative
Wahrheit als unabgeschlossen und sich verändernd betrachten.
Diese systematische Verbindung von Erkenntnis und Handeln
scheint mir auch im Hintergrund moderner Diskussionen
wichtig zu sein, bei denen in der Regel Handlungsaspekte
weniger deutlich diskutiert werden.
IV. Schluss und Ausblick
Ich möchte abschließend die wichtigen Thesen des
Aufsatzes noch einmal zusammenfassen: Der leitende
Gedanke dieses Aufsatzes war die These (1.), dass es quali­
29
96
54 (Marcus Tullius Cicero: Gespräche in Tusculum. Hrsg. Und
übers. Von Olof Gigon, Düsseldorf 1998.)). An solchen Anekdoten
lässt sich der geringe Stellenwert erkennen, den öffentliche Struktu­
ren wie eine Stadt offenbar für die akademischen Skeptiker hatten.
Richard Bett trifft diese Einschätzung für die akademischen Skepti­
ker, sie lässt sich aber auf die Pyrrhoneer übertragen (Richard A. H.
Bett: „Scepticism and ethics“, in: Bett (Hg.): The Cambridge companion to ancient scepticism a.a.O., S. 181–194, S. 192.).
IV. Schluss und Ausblick
tativ unterschiedliche Denkströmungen gibt, in denen sich
unterschiedliche Konzeptionen von Subjektverhältnissen
ausdrücken und in denen Wahrheitskonzeptionen und
Handlungen in Spannung zueinander stehen. Auf der Ebene
der Subjektkonstituierung wirken die Wahrheitskonzep­
tionen somit auch auf die Einstellungen oder Haltungen
zur Welt zurück.
Dabei gibt es (2.) offenbar zumindest zwei Aspekte, die
diese Wahrheitskonzepte prägen: (a) die Vorstellung von
Wahrheit oder Erkenntnis als abgeschlossene und statische
oder unabgeschlossene und sich verändernde; (b) der Ort
dieser Wahrheit oder das Verhältnis des Subjektes zu dieser
Wahrheit als externer oder interner. (3.) Die Unterschiede
auf der erkenntnistheoretischen Ebene können sich damit –
zumindest so weit wie die Überlegung hier ging – zum
einen (a) in einer normativen, politisch etwas umsetzenden
Einstellung äußern. Oder aber (b) in einer, die vom
einzelnen Individuum ausgeht, in der das einzelne Subjekt
mit sich authentisch zu werden versucht und sich zum
Zentrum seiner Konzeption von Welt macht.
Vor dem Hintergrund dieses Zusammenhangs lässt sich
überlegen, ob die unterschiedlichen Ansätze notwendig als
sich ausschließende Alternativen verstanden werden
müssen, die jeweils Anspruch auf Richtigkeit erheben.
Denn einerseits wirkt der aktive normative Ansatz der
Stoiker innerhalb seines Kontextes einer Bezugnahme auf
ein Gemeinwesen angemessen. Gleichzeitig stellt aber auch
der situative und vom Einzelnen ausgehende Ansatz der
97
Das Subjekt im Spannungsverhältnis
Skeptiker im Rahmen eines Bewusstwerdens der Einmalig­
keit und individuellen Vereinzelung eine adäquate Subjekt­
konstitution dar.30 Die Angemessenheit für ihren jeweiligen
Kontext lässt fragen, ob sie nicht auch als alternative
Optionen verstehbar sein könnten. Gerade der festgestellte
systematische Unterschied verschiedener in ihren Subjekt­
konstitutionen begründeter Einstellungen zur Welt kann so
zum Argument für die Aufhebung der vermeintlichen
Konkurrenz der Ansätze werden. Die Theorierichtungen
könnten somit vielmehr als Optionen für ihr jeweiliges
Anliegen gelten und damit als korrespondierende31
Haltungen zur Welt. Dieser Gedanke wird dadurch unter­
strichen, dass beide Ansätze in einer Art symbiotischem
Verhältnis zu einander stehen.32 Karneades, einer der
zentralen Vertreter der akademischen Skepsis, macht eine
solche Bemerkung, die bei Diogenes Laertius überliefert
30
31
32
98
Dies ließe sich noch deutlicher am Sorites-Paradox herausarbeiten
und belegen.
Mit dem Begriff der „Korrespondenz“ ist hier nicht auf die „Korrespondenztheorie“ als die Entsprechung von Überzeugung und Wirk­
lichkeit angespielt!
Dietmar Heidemann kennzeichnet dieses gegenseitig konstituierende
Verhältnis von Skeptizismus und Dogmatismus als einen „integrati­
ven Antiskeptizismus“ (Dietmar Heidemann: Der Begriff des Skepti­
zismus. Seine systematischen Formen, die pyrrhonische Skepsis und
Hegels Herausforderung, Berlin 2007.). Ausgehend von der antiken
Debatte entwickelt er einen systematischen Begriff des Skeptizis­
mus, der als integrativer Bestandteil der menschlichen Rationalität
konstituierend für jeden Wissensbegriff sein muss (Dietmar Heide­
mann: Begriff des Skeptizismus a. a. O., S. 349, 355). Es ist demnach
kein Zufall, dass dem Dogmatismus der Stoa mit einer skeptischen
These begegnet wird oder dass sich die Skepsis an einem Dogmatis­
mus abarbeitet. Beide Richtungen entwickelten sich also aneinander.
IV. Schluss und Ausblick
ist: „Hätt's nicht Chrysipp gegeben, dann gäb's wohl auch
nicht mich (DL IV 62)“.
Wenn es also weniger um ein Festschreiben einer Dominanz
von theoretischen Gegensätzen geht, eröffnet sich die
Möglichkeit, den Gegensatz vielmehr als das Auslösen einer
Denkbewegung zwischen den als gegensätzlich erscheinenden
Polen zu denken. Die Gegensätze könnten somit vielmehr als
Optionen, statt als sich gegenseitig ausschließende Gegen­
sätze verstanden werden. Der Necker-Würfel kann dazu ein
gutes Bild sein.33
Er ist ein Vexierbild, bei dem zwei
Eindrücke nacheinander entstehen und
ineinander umklappen können.34 Es
überwiegt eben einmal der Eindruck
des einen Würfels, der nach hinten
gekippt ist, und einmal der Eindruck
des nach vorn gekippten Würfels.
Dieses Umklappen der Perspektive könnte für das theoreti­
sche Umklappen der Theorien vom Individuum zum Außen
stehen. Der Necker-Würfel löst den Gegensatz also nicht auf;
vielmehr besteht er weiter fort. Die widersprüchlich schei­
nenden Ansätze werden ernst genommen, aber in ihrem
Verhältnis zueinander bestimmt und so zu korrespondie­
33
34
Kathrin Stengel beschreibt das Verhältnis der Philosophien Wittgen­
steins und Merleau-Pontys mit dieser Figur des Necker-Würfels (Ka­
thrin Stengel: Das Subjekt als Grenze. Ein Vergleich der erkenntnis­
theoretischen Ansätze bei Wittgenstein und Mereau-Ponty,
Berlin/New York 2003.).
Die Abbildung Necker Würfel ist entnommen aus: Stengel: Subjekt
als Grenze a. a. O., S. 154.
99
Das Subjekt im Spannungsverhältnis
renden Aspekten oder, wie ich vorhin überlegte, zu Optionen.
Im Sinne der pragmatischen Überlegungen William James'
wären das keine privilegierten Strukturen, sondern einfach
Strukturen, die auf dieselbe Wirklichkeit unterschiedlich
reagieren würden und damit unterschiedliche konkrete
psychologische Effekte haben.35 Der Necker-Würfel ist damit
zwar vor allem eine Illustration, kann aber vielleicht program­
matisch für einen Subjektbegriff werden, wie er sich zwischen
Selbstbezug und normativem Weltbezug aufspannt.
Mein Beispiel ist also eine Auseinandersetzung über episte­
mische Verortungen des Selbst, die vor 2000 Jahren geführt
wurde, in einer ganz anderen Kultur als die, in der wir
heute leben. Trotzdem, oder gerade darum, können wir aber
viel daraus lernen, was unterschiedliche Selbstverhältnisse
und Selbstverortungen des Menschen (in epistemischer
Hinsicht) auch heute heißen können: Denn der weite Blick
eröffnet eine Perspektive, um zu verstehen, wie auch in
anderen Debatten Subjektverhältnisse zu einander in Span­
nung geraten können.
35
Philip Kitcher: „Der andere Weg“, in: Martin Hartmann/Jasper Lip­
tow/Marcus Willaschek: Die Gegenwart des Pragmatismus, Berlin
2013, S. 35–61, S. 51.
100
Das Ich und sein Subjekt
Oder warum ich nicht mein Gehirn bin.
Thorsten Streubel
Ich möchte im Folgenden einige zentrale Gedanken meiner
Habilitationsschrift Kritik der philosophischen Vernunft.
Die Frage nach dem Menschen und die Methode der Philo­
sophie vorstellen. In dieser Schrift unterziehe ich zwei
Paradigmen des Philosophierens einer kritischen Prüfung:
einerseits den (metaphysischen sowie den methodischen)
Naturalismus und andererseits diejenige Denktradition, der
es um die Realisierung der platonischen Idee der Philoso­
phie (Platon, Descartes, Kant, Husserl etc.) ging. Während
der Naturalismus die Natur, so wie sie von den Naturwis­
senschaften beschrieben wird, als grundlegenden bzw. als
alleinigen Seinsbereich ansetzt, besteht der Kern der plato­
nischen Idee der Philosophie (die nicht mit Platons Philoso­
phie überhaupt gleichzusetzen ist) unter anderem im
Gedanken der begründungslogischen Vermeidung unausge­
wiesener metaphysischer Voraussetzungen und in der Idee
einer strengwissenschaftlichen Philosophie, die nur durch
Reflexion der eigenen Möglichkeitsbedingungen ins Werk
gesetzt werden kann. Die erste Frage einer wirklich wissen­
schaftlichen Philosophie muss daher lauten: ‚Ist Philoso­
phie als strenge Wissenschaft überhaupt möglich – und
wenn ja, wie ist sie möglich?‘. Leitfaden meiner Untersu­
101
Das Ich und sein Subjekt
chung, die diese Frage wieder aufnimmt, ist dabei das
Gehirn-Geist-Problem, so wie es gegenwärtig diskutiert
wird, weil sich hieran besonders gut einsichtig machen
lässt, inwiefern die theoretische Übernahme vermeintlicher
Selbstverständlichkeiten die erfolgreiche Behandlung
philosophischer Probleme erschwert oder gar unmöglich
macht. Eine strengwissenschaftliche Philosophie muss
zunächst alle Geltungsansprüche einklammern und darf
nicht etwa unkritisch von der Existenz der Natur und insbe­
sondere des Gehirns als Grundlage, Bedingung oder gar
Ursache mentaler Prozesse ausgehen.
Ich muss im Folgenden aus Platzgründen allerdings auf die
Darstellung der methodologischen Grundlegung einer
strengwissenschaftlichen Philosophie verzichten. Statt­
dessen möchte ich die Grundzüge der von mir entworfenen
Fundamentalanthropologie darstellen, die ein unverkürztes
Bild vom Menschen zu zeichnen trachtet. Ich beginne hier
mit einer Sortierung verschiedener subjektbezogener
Begriffe (1.), gehe dann auf das paradoxale Gehirn ein (2.)
und skizziere zum Abschluss die Grundzüge einer Funda­
mentalanthropologie (3.).
I. Differenzierung relevanter Begriffe
Das „Ich und sein Subjekt“ – mit diesem etwas merkwür­
digen Titel möchte ich andeuten, dass die gegenständlichen
Korrelate der Begriffe ‚Ich‘ und ‚Subjekt‘ nicht identisch
sind. Das Ich und das Subjekt sind nicht identisch, wenn­
102
I. Differenzierung relevanter Begriffe
gleich möglicherweise das Ich ein wesentliches Moment
des Subjekts als eines Ganzen ausmacht. Das Ich kann m.
E. nur als Subjekt des Subjekts sinnvoll gedacht werden,
also als diejenige Instanz, welche subjektiv erlebt, von
Erlebnisgehalten affiziert wird und auf diese Affektionen
reagiert und die weder mit den Inhalten des Erlebens (und
damit auch nicht mit dem Körper) noch mit dem logischen
Ich oder einem erworbenen Ichkonzept zusammenfällt. Ich
beobachte immer wieder, dass Psychologen, Hirnforscher,
ja selbst manche Philosophen nicht hinreichend klar
zwischen den verschiedenen auf das Subjekt bezogenen
Begriffen differenzieren. Das Geschäft der Philosophie
besteht aber zu einem nicht unwesentlichen Teil darin,
begriffliche Unterscheidungen vorzunehmen. Ich möchte
daher folgende Begriffe voneinander abgrenzen:
(i) Das ‚Ich‘ als Subjektkern: das Ich des Erlebens
sowie der Affektionen und Reaktionen, das als volunta­
tiv-geistiges Zentrum zu denken ist.
(ii) Das kantische „Ich denke“, das nur eine logische
und gedachte Größe ist. Es ist selbst eine Denksetzung.
Logisches Subjekt und logisches Objekt sind nach Kant
keine substantiellen Entitäten, sondern Konstitutions­
produkte bzw. Setzungen des Verstandes. Das Denken
setzt denkend ein Ich, welches ein Objekt denkt. Das
Ich (i), das (wirklich) denkt, ist aber nicht das vom
Denken gesetzte Ich (ii), das zum Denken nur hinzuge­
dacht wird, um die Einheit des Bewusstseins zu stiften.
103
Das Ich und sein Subjekt
(iii) Das Selbst als Selbstkonzept oder als Selbstbild,
das aus dem logischen Ich und den Selbstzuschrei­
bungen (und übernommenen Fremdzuschreibungen),
die im Laufe des Lebens gemacht werden, besteht. (Ich
bin der, für den ich und andere mich halten.)
(iv) Das ‚Subjekt‘ als eine Ganzheit, das (wie ich im
zweiten Teil ausführen werde) aus sechs Grundmo­
menten komponiert ist: Ich, Bewusstsein, Geistigkeit,
Leib, Körper, Umwelt. – Der große Mensch! (Hiermit
ist zugleich impliziert, dass das Subjekt wesentlich mehr
ist als ein Diskurseffekt.)
(v) Die ‚Subjektivität‘: Wie es ist, ich selbst zu sein.
(vi) Die ‚Person‘: Hierbei handelt es sich um einen
besonders vagen Terminus; es ist unklar, was darunter
genau zu verstehen ist. Oft wird ‚Person‘ synonym mit
‚vollverantwortliches Rechtssubjekt‘ oder einfach mit
‚erwachsener Mensch‘ gebraucht.
(vii) Der ‚Geist‘ im Sinne von ‚mind‘: Konzept des
cartesischen Paradigmas: Eine Art Weltinnenraum und
zugleich intentionaler Akteur.
(viii) Der (kleine) ‚Mensch‘: denkendes Lebewesen. Für
Biologen eine Primatenart.
Auch wenn ich nicht alle der hier aufgelisteten Begriffe für
sinnvoll halte, so kann man doch den meisten derselben
unterschiedliche Aspekte unseres Seins zuweisen. Auf gar
104
I. Differenzierung relevanter Begriffe
keinen Fall sollte man aber diese Begriffe durcheinander
werfen oder in eins setzen. Was uns bis heute fehlt, ist
immer noch eine überzeugende Idee vom Menschen. Und
dies führt mich zu einem viel grundsätzlicheren Problem.
Das Haupthindernis einer angemessenen Beschreibung
unseres Menschseins oder einer sachadäquaten Anthropo­
logie besteht nämlich m. E. darin, dass wir gewohnt sind,
die Phänomene von vornherein mittels eines bestimmten,
historisch überkommenen Begriffsapparats zu deuten.
Dieser Begriffsapparat mit seinen fundamentalen binären
Kategorien von Körper und Geist, Leib und Seele, Soma
und Psyche, Gehirn und Geist wird in der Regel selbst
nicht weiter kritisch hinterfragt. Er stellt ein historisches
Apriori dar, welches das philosophische und wissenschaft­
liche Denken bestimmt – ich möchte sogar sagen: gefangen
hält und unseren Verstand verhext. Auch alle naturalisti­
schen Reduktionsprogramme, die versuchen das ärgerliche
Phänomen der Subjektivität aus der Welt zu schaffen,
arbeiten zunächst einmal mit dem dualistischen Denk­
schema.
Ich möchte dagegen dieses dualistische Grundschema,
welches unser aller Denken so sehr beherrscht, selbst in
Frage stellen. Ich glaube, man kann hier ohne sonderliche
Übertreibung von einem cartesisch-naturalistischen
Verblendungszusammenhang sprechen, der selbst noch das
Denken des poststrukturalistischen Diskursivismus prägt.
Man kann sich zwar hinter der Unhintergehbarkeitsthese
von Sprache und Diskurs verstecken. Aber um die Aner­
105
Das Ich und sein Subjekt
kennung eines diskursiven Jenseits, wie auch immer man
das dann bezeichnet – ob als Natur, Materie oder Sein, wird
man nicht herumkommen, will man die Phänomene nicht
gänzlich ignorieren. Auch der Diskurs ist ja ohne materi­
elle Zeichen unmöglich.
Allerdings bestreite ich nicht, dass der Dualismus sich auf
Evidenzen bzw. Erfahrungen berufen kann, die ihn
scheinbar beglaubigen. Diese Evidenzen, wie sie schon
Descartes mit seiner Unterscheidung von Ausdehnung und
Denken begrifflich fasst, leugne ich keineswegs. Ich würde
nur behaupten, dass gewissermaßen das Ganze das Wahre
ist – will heißen: Körper und ‚Geist‘ sind unselbständige
Momente eines viel umfassenderen Phänomens, und ihre
einseitige Herauslösung aus diesem Gesamtphänomen lässt
allererst die metaphysischen Fragen, wie eben das LeibSeele-Problem oder das Problem der Welterkenntnis,
entstehen. Dieses einheitliche Phänomen möchte ich den
‚Großen Menschen‘ nennen, von dem der kleine Mensch
nur ein Teil ist. Was ich damit meine, werde ich im zweiten
Teil erläutern.
Zunächst möchte ich zeigen, dass die konsequente Anwen­
dung des Naturalismus auf das Gehirn-Geist-Problem
sowohl den Naturalismus als auch den cartesischen
Dualismus aufhebt. Meine folgenden Überlegungen glie­
dern sich daher in zwei Teile: Zunächst geht es mir um eine
Destruktion des cartesisch-naturalistischen Verblendungs­
zusammenhangs. Im Anschluss hieran werde ich dann kurz
ein alternatives Konzept skizzieren.
106
II. Das reale und das wirkliche Gehirn
II. Das reale und das wirkliche Gehirn
– eine Auseinandersetzung mit Gerhard Roth
Der Dualismus kann sich auf zahlreiche empirische
Befunde berufen: So führt die Schädigung bestimmter
Hirnbereiche zu kognitiven, emotionalen oder senso-moto­
rischen Beeinträchtigungen und Ausfällen. Sogenannte
‚mentale‘ Ereignisse können auch einfach mittels elektri­
scher Stimulation der Hirnrinde hervorgerufen werden, von
einfachen willentlichen Körperbewegungen über Halluzi­
nationen bis hin zu Nahtoderfahrungen. Ebenso scheint es
umgekehrt so etwas wie eine mentale Beeinflussung des
Gehirns zu geben: Ein willentlicher Entschluss terminiert
in bestimmten Körperbewegungen, ohne dass der
Handelnde wüsste, wie er das macht. Allerdings kann man
letztere Erfahrung, wie überhaupt die Erfahrung von
Selbsttätigkeit und Spontaneität, bestreiten und als
Täuschung des Gehirns zu entlarven versuchen. Man
braucht dabei subjektives Erleben nicht gänzlich zu
leugnen, sondern es nur als Epiphänomen zu fassen. Wenn
man eine Zweiweltentheorie vermeiden möchte, ohne das
Offensichtliche in Abrede zu stellen, nämlich Subjektivität,
dann ist der Epiphänomenalismus eigentlich eine ganz
kommode Position.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die meisten Studie­
renden, wenn sie anfangen über den Zusammenhang von
Gehirn und Geist nachzudenken, schnell von Cartesianern
zu Epiphänomenalisten werden. Plötzlich denken, wollen
und perzipieren nicht mehr sie selbst, sondern ihre Gehirne:
107
Das Ich und sein Subjekt
Das Gehirn denkt, schließt, fühlt, will, macht Fehler, inter­
pretiert auf bestimmte Weise etc. Ich will das keinesfalls
ins Lächerliche ziehen. Denn es scheint ja offensichtlich zu
sein, dass es ohne Gehirn keinen Geist, keine Wahrneh­
mung und kein Erleben gäbe. Schon der Schlag auf den
Kopf, der uns ohnmächtig werden lässt, oder die Narkose­
spritze, die unser Bewusstsein aussetzt, sind doch Beweis
genug, könnte man sagen. Oder auch die morgendliche
Tasse Kaffee, die uns stets von neuem davon überzeugt,
dass der Geist ein Gehirnphänomen oder eine Hirnfunktion
ist.
Ich werde nun im Folgenden nicht die These vertreten, wir
könnten ohne Gehirn denken, aber ich werde zu zeigen
versuchen, dass es nicht unser Gehirn ist, welches denkt.
Das empirische Gehirn ist, so meine These, in Wahrheit
kausal impotent. Und dies folgt letztlich auch, wie ich nun
anhand der Überlegungen des Philosophen und Gehirnfor­
schers Gerhard Roth zeigen möchte, aus einem zu Ende
gedachten Naturalismus, der sich in einem widersinnigen
neurobiologischen Konstruktivismus selbst aufhebt.1 Die
Vorstellung, unser empirisches Gehirn sei die Grundlage,
Bedingung oder gar Ursache von Subjektivität, wird sich
sowohl von einem naturalistischen wie von einem transzen­
dentalphänomenologischen Standpunkt aus als unhaltbar
erweisen.
1
Teile der folgenden Überlegungen wurden bereits veröffentlicht in:
Thorsten Streubel: „Was ist der Mensch? – Das Gehirn-Geist-Pro­
blem aus kantischer Sicht. Plädoyer für eine transzendentale Anthro­
pologie.“ In: Kant-Studien 3 (2012), 370–377.
108
II. Das reale und das wirkliche Gehirn
Die Argumentation Roths ist zusammengefasst diese: Das
Gehirn ist von der Umwelt isoliert und räumlich getrennt.
Es empfängt lediglich körpereigene chemische und elektri­
sche Signale, nicht aber Licht oder gar Farbe, nicht Schall
oder gar Töne etc. Die von der Umwelt einlaufenden Infor­
mationen werden in den einheitlichen neuronalen Code
umgewandelt. „Die Sinneszellen“, so Roth,
„übersetzen das, was in der Umwelt passiert, in die
‚Sprache des Gehirns‘, nämlich die Sprache der
Membran- und Aktionspotentiale, der Neurotransmitter
und Neuropeptide. Diese Sprache besteht aus chemischen
und elektrischen Signalen, die als solche keinerlei Spezi­
fität haben, also neutral sind. Dies ist das Prinzip der
Neutralität des neuronalen Codes, und dieses Prinzip hat
für das Verständnis der Funktionsweise des Gehirns die
größte Bedeutung.“2
Dem Gehirn sind also weder der eigene Körper noch die
Umwelt noch es selbst gegeben. Es ist zunächst einmal nur
ein komplexes biologisches System, in dem bestimmte
körpereigene Signale einlaufen und ‚weiterverarbeitet‘
werden. In einem erkenntnistheoretischen Sinne ist dem
Gehirn nämlich überhaupt nichts gegeben: Es ist nicht das
Ich des bewussten Wahrnehmens. – Wäre es dies, dann
würde es direkt durch ‚mentale‘ Wahrnehmungsinhalte
beeinflusst werden, was mit einer naturalistischen Sicht­
weise kaum zu vereinbaren sein dürfte.
2
Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neuro­
biologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt a.M.
1994, S. 80.
109
Das Ich und sein Subjekt
Wenn wir aber trotzdem Geist und Bewusstsein als
Produkte neuronaler Prozesse denken wollen, wenn wir
also an der Gehirnthese festhalten wollen, dann folgt
hieraus, dass das Gehirn eine großartige Scheinwelt produ­
ziert, deren Funktion unklar ist und die jedenfalls nicht
darin bestehen kann, das Gehirn als zentrales Datenverar­
beitungs- und Steuerungsorgan selbst von ‚oben‘, also
mental zu steuern. Das wäre also wieder der epiphänome­
nalistische Standpunkt. Und wenn wir diesen akzeptieren,
dann müssen wir auch noch den letzten Schritt mit Roth
mitgehen, der diese ganze Sichtweise radikal unterminiert
und den metaphysischen Naturalismus als solchen zum
Einsturz bringt: Wenn nämlich das empirische Gehirn
beständig diese phänomenale Scheinwelt produziert, also
die Tatsache, dass wir uns als geistig-leibliche Wesen in der
Welt erleben, dann folgt hieraus auch, dass das empirische
Gehirn selbst ein Gehirnphänomen sein muss. Das ist aber
in höchstem Maße paradox: Das empirische Gehirn kann
doch wohl kaum Weltsimulator und zugleich Teil eben
dieser Simulation sein. Das Selbst und Welt konstruierende
Gehirn und das konstruierte Gehirn, also das empirische,
können schon aus begrifflichen Gründen nicht in einem
ontologischen Sinne identisch sein. Ursache und Wirkung,
Bedingung und Bedingtes, Konstrukteur und Konstruiertes
fallen niemals schlechterdings zusammen. Und das ist frei­
lich auch Roths Standpunkt. Roth sieht sich daher
gezwungen, das reale vom wirklichen Gehirn zu unter­
scheiden, wobei das reale Gehirn der Simulator und das
110
II. Das reale und das wirkliche Gehirn
wirkliche Gehirn (also das empirisch erfahrbare Gehirn)
Teil der Simulation ist. Das reale Gehirn bringt also die
phänomenal-empirische und zugleich virtuelle Welt hervor,
die Roth in drei Bereiche gliedert: die Außenwelt, die Welt
unseres Körpers und die Welt unserer geistigen und emotio­
nalen Zustände.3
„Wenn ich aber annehme“, so Roth, „dass die Wirklichkeit
ein Konstrukt des Gehirns ist, so bin ich gleichzeitig
gezwungen, eine Welt anzunehmen, in der dieses Gehirn,
der Konstrukteur, existiert.“4
Und konsequent folgert Roth:
„Wir sind damit zu einer Aufteilung der Welt in Realität
und Wirklichkeit, in phänomenale und transphänomenale
Welt, Bewusstseinswelt und bewusstseinsjenseitige Welt
gelangt. Die Wirklichkeit wird in der Realität durch das
reale Gehirn hervorgebracht.“5
Die Wirklichkeit, also die Welt, die wir erfahren und in der
wir leben (Husserls Lebenswelt), ist ein Konstrukt, die von
einem Ding-an-sich-Gehirn in einer Ding-an-sich-Welt
hervorgebracht wird. Die ganze Erklärung sei jedoch, so
Roth, nur eine plausible Annahme, da sich mit ihr das
Rätsel von Bewusstsein und Welthabe befriedigend
erklären lasse.
3
4
5
Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit a.a.O., S. 278.
Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit a.a.O., S. 288.
Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit a.a.O., S. 289.
111
Das Ich und sein Subjekt
Ich halte die Argumentation Roths für in sich stringent, und
doch ist sie in ihrer Ganzheit widersinnig. Widersinnig ist
sie deshalb, weil die konstruktivistischen Konsequenzen
die empirischen Prämissen und damit letztlich sich selbst
aufheben. Denn der rothsche Konstruktivismus beruht auf
empirischen Befunden, die durch Untersuchungen am
empirischen Gehirn gewonnen wurden. Die These war ja
zunächst, dass das empirische Gehirn im empirischen
Körper sitzt und von der Umwelt getrennt ist; dass es die
einlaufenden Informationen verarbeitet und dabei das
subjektive Erleben einschließlich der Wahrnehmung der
Umwelt, des eigenen Körpers und – im Falle des Hirnfor­
schers – des fremden oder sogar des eigenen Gehirns
hervorbringt. Hieraus folgt aber nun, dass das empirische
Gehirn, das Gehirn, welches der Hirnforscher mittels
bestimmter technischer Apparaturen beobachtet und nach
dem Tod des Patienten evtl. entnimmt, präpariert und
analysiert, selbst nur ein Konstrukt ist. Es ist eine Simula­
tion, die als solche kausal völlig impotent ist, vergleichbar
mit Gehirnen in filmischen Dokumentationen. Auch das
Gehirn auf dem Bildschirm denkt nicht, auch es ist kausal
impotent – es ist ja nur ein Bild (ein Bildobjekt).
Meine These ist also: Immer dann, wenn wir behaupten,
dass es letztlich das empirische Gehirn ist, welches Wahr­
nehmung und sonstige subjektive Erlebnisse und Akte
hervorbringt, verwickeln wir uns notwendig in Widersinn.
Denn wir enden immer im neurobiologischen Konstrukti­
vismus, der jedoch seine Überzeugungskraft größtenteils
112
II. Das reale und das wirkliche Gehirn
aus empirischen Befunden speist, die er allesamt als
Täuschungen disqualifizieren muss. Im Rahmen der Simu­
lation gibt es keine internen kausalen Beziehungen. Es ist
wie im Film. Auch wenn im sonntäglichen Tatort Person A
Person B erschießt, so handelt es sich in Wahrheit um rein
zeitliche Bildabfolgen. Die filmisch dargestellten Personen
und Handlungen sind ja nur dargestellt, nicht wirklich
originär anwesend. Die Ursache des Filmes ist dagegen
nicht Teil des Filmes. Im Kino ist es der Filmprojektor,
ansonsten der Fernseher, der Rechner etc. Mit Roth muss
man nun aber sagen, dass auch alle wirklichen Prozesse
Scheinprozesse sind. Ihre wahre Ursache ist nicht Teil
dieser Welt, sondern wird darin nur durch einen Repräsen­
tanten dargestellt: das empirische Gehirn. Natürlich gilt
auch weiterhin, dass mich eine Kugel in den Kopf töten,
jedenfalls schwer verletzen kann. Aber was sich beob­
achten lässt, ist nicht die wahre Ursache, sondern nur deren
Repräsentation. Die empirische Kugel ist genauso virtuell
wie mein Körper.
Auch nach Roth kann sich die dualistische Unterscheidung
zwischen Gehirn und Geist auf entsprechende anschauliche
Gegebenheiten berufen. Sie ist keine unbegründete speku­
lative Verstiegenheit. Aber diese Unterscheidung bzw. die
Unterscheidung zwischen Außenwelt, eigenem Körper
(einschließlich des Gehirns) und Geist ist eine, die vom
Standpunkt des subjektiven Erlebens getroffen wird – und
das wird von ihm eben als Gehirnsimulation gedeutet. Aber
nicht das empirische Gehirn, sondern ein Ding-an-sich-Ge­
113
Das Ich und sein Subjekt
hirn simuliert diese phänomenale Wirklichkeit und deren
Erleben.
Roths empirisch begründeter neurobiologischer Konstrukti­
vismus ähnelt sehr stark der transzendentalen (präziser:
kritischen) Konzeption Kants, nur dass Kant gerade auf die
metaphysisch-naturalistischen Voraussetzungen verzichtet
und sich daher in keinen Widersinn verstrickt. Seine theore­
tische Grundlage ist die unbezweifelbare Präsenz von
Selbst und Welt (zu der prinzipiell auch das empirische
Gehirn gehört) und nicht der cartesische Dualismus (der
freilich auch von Descartes nicht vorausgesetzt wurde,
sondern das Ergebnis seines Begründungsgangs auf der
Grundlage des methodischen Zweifels war). Auch Kant
unterscheidet zwischen der phänomenalen Welt und einer
Ding-an-sich-Welt, nur dass Kant – anders als Roth – ledig­
lich formal von einem oder mehreren Dingen an sich und
einem intelligiblen Ich spricht. Dass unserem Erleben,
Erkennen und Handeln ein metaphysisches Gehirn
zugrunde liegt, ist eine unbegründete Annahme, die durch
keine Befunde der Hirnforschung gedeckt ist. Nichtsdesto­
trotz ist aber auch Kant (so wie Roth) der Auffassung – und
ich möchte ihm hierin folgen –, dass es im phänomenalen
Bereich keine echte Kausalität zwischen den Phänomenen
gibt. Es gibt zwar ein zeitliches Nacheinander und ein
räumliches Nebeneinander, aber keine kausalen Verknüp­
fungen zwischen den Erscheinungen in einem ontologi­
schen Sinne – auch nicht zwischen empirischem Gehirn
und Geist. Der ‚Geist‘ (im Sinne von geistigen Akten), die
114
II. Das reale und das wirkliche Gehirn
Umwelt, der Körper und das Gehirn sind ja allesamt Teile
des phänomenalen Bereichs. Erst durch die logischen
Verknüpfungen unseres ‚Verstandes‘ deuten wir zeitliche
Verhältnisse nach bestimmten Kriterien als kausale Verhält­
nisse. Aber es bleibt eine kausale Zuschreibung, die man
nicht ontologisieren darf. Und das gilt auch für die Korrela­
tionen von neuronalen und mentalen Prozessen (eine Rede­
weise, die freilich noch dem cartesischen Verblendungszu­
sammenhang angehört).
Wenn es nun aber stimmen sollte, dass Gehirn und Geist
gleichberechtigte, gleichsam parallel angeordnete Bereiche
der virtuellen Erlebniswelt sind, wie geht man dann jedoch
mit den auffälligen Korrelationen zwischen Gehirn und
Geist um? Wie sind sie zu verstehen? Es wird ja wohl kaum
Zufall sein, dass es diese Korrelationen gibt.
Wenn der Naturalismus angewandt auf das Gehirn-GeistProblem sich im neurobiologischen Konstruktivismus
selbst ad absurdum führt, dann bleibt m. E. nur übrig, von
den Phänomenen auszugehen, genauer von der Anschauung
oder dem Erleben von Selbst und Welt, um von hier aus
eine von metaphysischen Voraussetzungen möglichst freie
Anthropologie und darauf aufbauend Erkenntnistheorie und
Ontologie zu entwickeln. Nur so wird man auch das para­
doxale Gehirn verständlich machen können, das prima
facie zugleich Teil und Ursache der phänomenalen Welt zu
sein scheint.
115
Das Ich und sein Subjekt
III. Grundriss einer Fundamentalanthropologie
Sieht man sich an, was alles Teil unseres Erlebens ist, dann
kommt man auf mindestens sechs Grundmomente, die
unser Menschsein ausmachen: Anschauung oder Erleben,
Ich, Geistigkeit, Leib, Körper und Umwelt. Diese Momente
sind nicht atomistisch als selbständige Entitäten misszuver­
stehen, sondern sie bilden zusammen das anthropologische
Grundphänomen, das „anthropologische Sextett“ (wie ich
es auch bezeichne) oder den großen Menschen. Ich nenne
diese sechs Momente Anthropoialien, weil sie eben Grund­
momente des vollen Menschseins sind und zugleich funda­
mentaler als Heideggers Existenzialien6. Der Mensch ist
gewissermaßen die Einheit und in zeitlicher Perspektive
das Zusammenspiel dieser Momente. Der große Mensch ist
das Spiel des anthropologischen Sextetts.
Das Entscheidende an dieser Fundamentalanthropologie ist
die Tatsache, dass sie nicht nur mit einer oder zwei Katego­
rien arbeitet (Körper oder Geist bzw. Körper und Geist),
sondern eben mit sechs. Und das heißt beispielsweise: Das
Ich ist nicht das Gleiche wie Geistigkeit, Geistigkeit etwas
anderes als Erleben oder Bewusstsein, ebenso sind Leib
und Körper begrifflich auseinanderzuhalten. Und die
Umwelt wird selbst zu einem Teil unseres Seins. Letzteres
ist besonders entscheidend, weil nur unter konsequenter
6
Heideggers Existenzialien würde ich als Effekte der menschlichen
Welthabe bzw. seiner Geistigkeit und Sprachlichkeit verstehen. Dies
wird durch das Denken Heideggers nach Sein und Zeit im Grunde
bestätigt, nur dass das Anthropoial der Geistigkeit von Heidegger zu
einer geschicklichen Macht namens „das Ereignis“, das Sein und
Zeit gibt, hypostasiert wird.
116
III. Grundriss einer Fundamentalanthropologie
Einbeziehung der Umwelt ins Menschsein das carte­
sisch-naturalistische Paradigma radikal überwunden
werden kann. Wer den Geist oder das Bewusstsein im
Gehirn lokalisiert, arbeitet immer noch mit einem Konzept
von Bewusstsein als einem Weltinnenraum. Dies ist aber
phänomenologisch unhaltbar: Schon Kant hat darauf hinge­
wiesen, dass der größte Teil unserer Bewusstseinsinhalte
die Erscheinungen in der Welt sind. Und so ist ja auch die
Innen-Außen-Unterscheidung eine räumliche Unterschei­
dung: Innen ist nicht der Geist, sondern höchstens dasje­
nige, was ich Leib nennen würde. Dieser ist aber nicht im
Kopf lokalisiert, sondern er ist dasjenige, was ich unmit­
telbar von mir spüre. Der Leib deckt sich räumlich unge­
fähr mit dem sicht- und tastbaren Körper.
Die Wahrnehmung wird völlig falsch beschrieben, wenn
man sie als Ansammlung von Qualia konstruiert. Wenn ich
wahrnehme, dann sehe, höre und taste ich Dinge in der
Welt, die ich räumlich mehr oder weniger weit von mir
entfernt erfahre: Mir sind die Dinge in der Welt und nicht
in einem privaten Kämmerchen im Gehirn gegeben. Sie
sind mir anschaulich als außer mir, das heißt außerhalb
meines Körpers, gegeben! – Und das heißt: Das anschau­
ende Bewusstsein ist nichts anderes als die Präsenz von
Selbst und Welt. Oder mit Kant gesprochen: Das anschau­
ende Bewusstsein ist die Form – die Anschauungsform –
der Welt. Ich würde sagen (ohne dass ich dies in gebotener
Kürze begründen kann), es ist allein die Anschauungsform
der Zeit. Bewusstsein (Erleben) und Welt sind somit keine
117
Das Ich und sein Subjekt
separaten Bereiche, sondern verhalten sich zueinander wie
Zeit-Form und Zeit-Inhalt bzw. wie Präsenz und Präsentes.
Die Umwelt ist Teil des Bewusstseins und das Bewusstsein
ist der formale Aspekt der Welt. Und weil die (Um-)Welt
Teil unseres Erlebens ist, ist sie ein wesentlicher Teil
unseres Seins. Selbst wenn ich meine Augen schließe,
meine Ohren abdichte, ja selbst wenn ich noch von allen
taktilen Empfindungen abstrahiere, bleibt aufgrund der
Räumlichkeit meines Leibes stets ein räumliches Jenseits
des Leibes mitgesetzt. Mein In-der-Welt-sein ist zuunterst
ein Im-Raum-sein, genauer ein Mich-im-Raum-erleben.
Die Umwelt ist dementsprechend ein Grundmoment
meines Seins, ein Anthropoial. Nur weil ich als großer
Mensch meine Umwelt bin, kann ich mich als kleiner
Mensch in der Umwelt wahrnehmend vorfinden.
Auch das Ich ist ein Anthropoial, nämlich das Moment, das
ich im strengen Sinne bin. Das Ich ist dabei kein originäres
phänomenales Datum, sondern kann nur indirekt aufge­
wiesen werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang
zunächst vor allem, dass das Subjekt mehr ist als das Ich,
nämlich die Einheit von Ich, Bewusstsein, Geistigkeit,
Leib, Körper und Umwelt. Das Ich hat dabei Bewusstsein,
Geist, Leib, Körper und Welt und steht den anderen
Anthropoialien gleichsam polar gegenüber, ohne von ihnen
real getrennt zu sein. Und insofern verliert nun mein
Vortragstitel hoffentlich seine Merkwürdigkeit: Das Ich ist
das eigentliche Subjekt aller sonstigen Grundmomente des
großen Subjekts – und daher spreche ich vom Ich und
118
III. Grundriss einer Fundamentalanthropologie
seinem Subjekt. Das Ich steht zu den sonstigen Momenten
in einer Art possessiven Beziehung, was weder mit einer
absoluten Verfügungsgewalt des Ich noch mit einem
gewöhnlichen Besitzverhältnis zu verwechseln ist. (Denn
in einem weiteren Sinne bin ich ja auch die anderen fünf
Grundmomente.) Wir hätten also das Ich und die restlichen
fünf Momente, die dem Ich zugehören, aber nicht seine
Teile sind. Und die Einheit dieses Sextetts wäre der große
Mensch.
Zum Abschluss möchte ich nun noch kurz erläutern, wieso
das Ich nicht mit dem Gehirn zusammenfällt und ich daher
nicht mein Gehirn bin.
Das Verhältnis von Ich und Gehirn denke ich analog dem
Verhältnis von Leib und Körper: Der Körper ist nichts
substanzielles, sondern entsteht als Erscheinungsreihe je
neu, wenn der Leib seine Sinnesorgane auf sich selbst
richtet. Der Leib ist das, was ich unmittelbar spüre, ohne
dass ich die fünf Sinne zu Hilfe nehme. Wenn ich aber
meinen Leib mittels meines Leibes betrachte, dann objekti­
viert sich dieser als gesehener, getasteter, gehörter etc.
Körper. Hieraus folgt: Der Leib ist keine mentale Reprä­
sentation des Körpers, sondern gewissermaßen dessen
Original. Der Leib liegt dem Körper bedingend zugrunde.
Der Leib ist mein eigentliches Wahrnehmungsorgan, der
Körper aber das Korrelat der kinästhetischen Vollzüge des
Leibes.
Das Ich hat seinen Ort aber dort, wo von außen betrachtet
das Gehirn vorfindbar ist. Meine These ist nun, dass das
119
Das Ich und sein Subjekt
Ich das Ansich des Gehirns ist und das Gehirn die leiblich
vermittelte Erscheinung meines Ich. Hierdurch lässt sich
das Gehirn-Geist-Problem und das Gehirnparadoxon
aufklären: Das Gehirn ist zwar eine kausal impotente
Erscheinungsreihe (hierin stimme ich Roth zu), aber es
repräsentiert mein Ich. Und phänomenale Scheineinwir­
kungen auf das Gehirn repräsentieren reale Einwirkungen
auf mein Ich. Daher haben Manipulationen der Gehirnfunk­
tionen oder gar der Hirnstrukturen oft signifikante Auswir­
kungen auf unser bewusstes Erleben und Leisten. Nicht
weil das Gehirn dieselben bedingt oder hervorbringt,
sondern weil Eingriffe ins Gehirn zugleich Eingriffe in
unser Ich sind. Daher kann ich zugleich sagen: 1. Ohne
Gehirn gibt es keinen Geist und kein Bewusstsein. 2. Das
Gehirn ist nicht die Grundlage unseres Bewusstseins. –
Dies gilt also deshalb, weil kein Gehirn zu besitzen
bedeuten würde, kein Ich zu haben.
Bleibt noch einem letzten Einwand zu begegnen: Ist die
Setzung eines substanziellen Ichs nicht ein Rückfall in die
längst überwundene Substanzontologie aristotelischer und
cartesischer Provenienz?
Das substanzielle Ich ist in der Tat kein unmittelbar beob­
achtbares Datum. Es gibt nichts in mir noch außer mir, auf
das ich deuten oder meine Aufmerksamkeit richten könnte
und das ich als Ich bezeichnen könnte. Normalerweise refe­
riert das Personalpronomen ich auf den Sprecher, also auf
einen bestimmten empirischen Menschen in der Welt.
Davon spreche ich aber hier nicht. Ich spreche hier von der
120
III. Grundriss einer Fundamentalanthropologie
Instanz, die einen Leib, einen Körper, Bewusstsein und
Umwelt hat, die denkt, will, agiert und von Tatsachen des
Bewusstseins affiziert wird. Dieses großgeschriebene Ich
lässt sich nur indirekt phänomenologisch aufweisen. Und
zwar über das Phänomen der Ichaffektion. Normalerweise
wird hierunter die Affektion des empirischen Subjekts
durch Umweltbestandteile verstanden. So wird angeblich
unsere Netzhaut durch reflektiertes Licht affiziert, wobei
diese Lichtreize in den neuronalen Code ‚übersetzt‘
werden, der vom Gehirn dann in bewusste Farbwahrneh­
mung umgewandelt wird. Das ist die altbekannte
Geschichte, die in den widersinnigen Konstruktivismus
führt. Ich meine mit Ichaffektion dagegen keine Affektion
unseres Bewusstseins, sondern eine Affektion des Ich durch
Tatsachen des Bewusstseins, beispielsweise durch Wahr­
nehmungsinhalte wie einen schrillen Pfiff, ein leckeres
Stück Torte oder einen interessanten Gedanken. Gäbe es
kein voluntativ-geistiges Ich, hätten alle Erlebnisgehalte
keinerlei Bedeutung. Sie gingen uns nichts an, denn uns
gäbe es ja nicht. Ichaffektion ist die Affektion des Ichs
durch etwas anschaulich Gegebenes und setzt dieses Ich
daher notwendig voraus. Etwas affiziert immer etwas. Das
Ich reagiert auf diese Affektionen auf unterschiedliche und
situationsspezifische Weise: attentional, emotional, delibe­
rativ, sprechend und/oder handelnd. Dabei kann das Ich
auch von solchen Gegebenheiten affiziert werden, auf die
es gerade nicht aufmerksam ist. Selbst wenn ich tief und
fest schlafe, kann mich jemand durch Rufen meines
121
Das Ich und sein Subjekt
Namens affizieren und so aufwecken. Das Ich ist dabei der
räumliche Nullpunkt meiner Wahrnehmung. Es ist dort, wo
von außen betrachtet das Gehirn sitzt. Daher sage ich: Das
Gehirn ist die Erscheinung meines Ichs. Ich bin das Ding
an sich meines Gehirns. Ich bin ein Ich an sich.
Virtuelle Manipulationen meines Gehirns repräsentieren
reale Manipulationen meines Ichs. Deshalb kann man zwar
ohne Gehirn nicht denken und wahrnehmen, ohne dass dies
jedoch bedeutet, dass das Gehirn denkt und wahrnimmt.
Ich bin es vielmehr, der denkt und wahrnimmt und der sich
von außen als Gehirn erscheint. Ich bin daher nicht mein
Gehirn, sondern erscheine mir höchstens als solches.
Ich möchte abschließend die Grundzüge der von mir im
Anschluss an Kant, Schopenhauer und Husserl entwi­
ckelten Fundamentalanthropologie nochmal in einer Über­
sicht darstellen:
1. Bewusstsein als erlebte Präsenz von Selbst und Welt
ist kein Weltinnenraum, der im Gehirn lokalisiert ist,
sondern es überschreitet die Körpergrenzen. Bewusst­
sein ist wesentlich (auch) Bewusstsein von Dingen und
Subjekten in der Welt.
2. Bewusstsein als Präsenz ist weder ein mentales noch
ein somatisches Phänomen. Geist und Bewusstsein sind
begrifflich streng zu unterscheiden.
3. Der Leib ist nicht identisch mit dem Körper, sondern
gewissermaßen das Ansich des Körpers.
122
III. Grundriss einer Fundamentalanthropologie
4. Der Leib ist Weltleib: Die Welt ist Korrelat leiblicher,
d. i. kinästhetischer Wahrnehmungsvollzüge.
5. Das Ich ist nur ein Moment des Subjekts; und es ist
nicht mit dem Gehirn identisch. Vielmehr ist das Gehirn
die mundane Erscheinung des Ichs.
6. Das Ich ist zwar der zentrale Akteur, aber nur inner­
halb einer komplexen subjektiven Infrastruktur, die
zugleich Ermöglichungsbedingung und Beschränkung
seiner Handlungsfreiheit ist.
123
Der „Absolutismus des Anderen“
als Paradigma der Subjektkonstitution
Henning Nörenberg
Dieser Beitrag ist aus urheberrechtlichen Gründen in der
online-Version nicht enthalten. Wir bitten um Ihr
Verständnis.
125
Subjektivation und Selbstsein
Susann Köppl
In meinem Beitrag werde ich der Frage nachgehen, was wir
unter „Selbstsein“ bzw. „Authentizität“ verstehen können,
wenn wir die Theorie der Subjektivation in ihren Grund­
zügen ernst nehmen.1 Beide Vorstellungen scheinen sich
nicht einfach ineinander überführen zu lassen, sondern eher
in einem Spannungsverhältnis zueinander zu stehen. Ich
bevorzuge hier den Begriff des „Selbstseins“ vor dem der
„Authentizität“, da mir letzterer facettenreicher und proble­
matischer erscheint.2
I. Subjektivation
Die Theorie oder besser die Theorien der Subjektivation
besagen in ihren Grundzügen, dass das Subjekt nicht als
vorrangig existent gedacht werden kann, sondern erst in
einem Prozess, eben dem der Subjektivation, entsteht. In
1
2
Ich beziehe mich im Folgenden vorwiegend auf die Theorie von Ju­
dith Butler, die an Gedanken von Michel Foucault anschließt.
Der Begriff der Authentizität scheint Momente der Natürlichkeit, der
Wahrhaftigkeit, der Originalität und Einzigartigkeit zu beinhalten,
die der Begriff des „Selbstseins“ vielleicht nicht zwangsläufig impli­
ziert. Ich verstehe jedoch das „Selbstsein“ bzw. das „Ganz-manselbst-Sein“ als eine Bedeutungsnuance des Begriffs der Authentizi­
tät. Zur Bedeutungsvielfalt des Begriffs „Authentizität“ siehe bspw.:
Susanne Knaller: Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie
des Begriffs Authentizität, Heidelberg 2007, S. 7–35.
147
Subjektivation und Selbstsein
dem Prozess der Subjektivation unterwirft es sich
bestimmten Diskursen und Normen, einem gemeinsam
geteilten Bedeutungshorizont wie es Charles Taylor nennen
würde, in dem es sich immer schon befindet und aus dem
es auch nie in Gänze heraustreten kann.3 Durch diese
Unterwerfung (oder vielleicht besser Anpassung) wird der
Mensch erst und ständig zum Subjekt. Doch nicht nur die
Diskurse und Normen bestimmen das Subjekt in seinem
Werden, sondern auch die konkreten Anderen. Erst durch
die Anderen, die mich als Subjekt anerkennen (und zwar im
Rahmen der Diskurse und Normen, die das Feld des Aner­
kennbaren überhaupt erst bestimmen), werde und bleibe ich
Subjekt.
Nun ist der Prozess der Subjektivation nicht nur ein Akt der
Unterwerfung, sondern auch der Prozess, der ein Subjekt
erst ermöglicht, der mich zu einem Subjekt der Anerken­
nung wie auch der Rechte, der Moral und der Handlung
macht. Er ist die Bedingung der Möglichkeit überhaupt
Subjekt zu werden und zu sein. So schreibt Judith Butler in
Psyche der Macht:
„Subjektivation ist buchstäblich die Erschaffung eines
Subjekts, das Reglementierungsprinzip, nach dem ein
Subjekt ausformuliert oder hervorgebracht wird. Diese
3
Vgl. Charles Taylor: Das Unbehagen der Moderne, Frankfurt am
Main, 1995, S. 40–51. Taylor versucht in seinem Buch die Vorstel­
lungen von Authentizität und sozialem Sein im Sinne einer Exi stenz
eines „unentrinnbaren Horizonts“ zusammen zu denken. Ebenso
kann man hier auf Heideggers „In-der-Welt-Sein“ verweisen. Martin
Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 2001.
148
II. Das Subjekt der Subjektivation
Subjektivation ist eine Art von Macht, die nicht nur
einseitig beherrschend auf ein gegebenes Individuum
einwirkt, sondern das Subjekt auch aktiviert oder formt.“4
Wenn wir nun die Idee der Subjektivation, die von ihren
Autor_innen im Detail durchaus verschieden ausformuliert
wird, in ihrer Grundstruktur ernst nehmen: Was bedeutet
das für die Vorstellung eines „Selbstseins“? Im Anschluss
daran stellen sich weitere Fragen: (1) Was bezeichnet das
Subjekt der Subjektivationstheorie eigentlich genau? (2)
Was verstehen wir unter „Selbstsein“? (3) Sollte man
zwischen dem Begriff des „Subjekts“ und dem des „Selbst“
unterscheiden und wenn ja wie? (4) Und inwiefern ist die
„Sehnsucht“ danach, „ganz man selbst“ (authentisch) zu
sein, Produkt des Diskurses und somit als normatives Ideal
(auch) ein Herrschaftsinstrument? Diese Fragen werde ich
in meinem Beitrag nicht gänzlich beantworten können,
doch möchte ich sie gern ein wenig näher beleuchten und
zur Diskussion stellen.
II. Das Subjekt der Subjektivation
Der Begriff des „Subjekts“ erfährt in den Theorien der
Subjektivation eine Verschiebung. Das Subjekt wird hier
nicht mehr als ein (gänzlich) autonomes, souverän agie­
rendes und sich selbst transparentes gedacht, sondern
vermehrt in seinen Abhängigkeiten und Bedingungen
4
Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung,
Frankfurt am Main 2001, S. 81–82.
149
Subjektivation und Selbstsein
betrachtet. Dem Subjekt wird durch Diskurse und Normen
ein Bedingungs- wie Möglichkeitsfeld gegeben, das nur
begrenzt übertreten oder geweitet werden kann. Zudem
wird es als (alleinige) Instanz oder Quelle des Denkens und
Handelns zurückgewiesen und vermehrt als ein soziales
Wesen, als ein „Ensemble von Verhältnissen“5 gedeutet.
Was wir denken und wie wir etwas tun, ist immer abhängig
von der Zeit und dem Umfeld, in der und dem wir leben
und von dem, was dort als richtig und falsch, als normal
und anerkennungswürdig verstanden wird.
In den Theorien der Subjektivation scheint das Subjekt
einen fragilen, veränderbaren, historischen Status zu
bezeichnen, der von „außen“ zu- wie abgesprochen wird.
Nun wird jeder Mensch in dieses Bedingungsgefüge hinein
geboren und scheint nicht anders zu können, als sich
(zunächst und auch ständig) anzupassen. Die Bezüge zu
Anderen gehen der eigenen Selbstbezüglichkeit (in einem
„anspruchsvollem Sinn“) immer schon voraus, angefangen
von der bedingungslosen Liebe eines Kindes zu den Eltern
bis hin zur Anerkennung, die mir als einer bestimmten
Person erwiesen wird.6
5
6
Judith Butler: „Subjekt“, in: Stefan Gosepath, Wilfried Hinsch, Bea­
te Rössler (Hg.): Handbuch der Politischen Philosophie und Sozial­
philosophie, Bd. 2, Berlin 2008, S. 1303.
Unter Selbstbezüglichkeit in einem „anspruchsvollen Sinn“ verstehe
ich bspw. sich selbst zu definieren, sich kritisch zu betrachten oder
auch das Nachdenken über sich selbst. Es gibt diverse andere For­
men der Selbstbezüglichkeit, von denen ein Teil (vermutlich) auch
den Beziehungen zu Anderen vorrangig ist, man denke bspw. an die
Homöosthase oder auch allgemeiner gesagt an Selbstorganisation.
150
II. Das Subjekt der Subjektivation
Das „Subjekt“ der Subjektivationstheorien gilt als
„Bezeichnung des politischen Status eines Menschen“ 7, als
„eine technische Angelegenheit“8, als „Subjekt-Position“9,
als „Modalität der sich auf sich selbst zurückwendenden
Macht“10 wie auch als „Vorbedingung der Handlungsfähig­
keit“11. Kurz: Das Subjekt gilt als etwas Formales. Es wird
als eine Variable, als ein „Knotenpunkt in einem
komplexen
Netz
wechselseitiger
Beziehungen“12
verstanden.
Zudem weist Butler darauf hin, dass die Bildung des
Begriffs „Subjekt“ bedingt ist durch den Ausschluss des
Unbewussten.13 Sie stellt dem Begriff „Subjekt“ deshalb
den der „Psyche“ gegenüber, der das Unbewusste mit
einschließt. Auch unterscheidet sie die Begriffe „Subjekt“
und „Individuum“. Das Subjekt ist, so Judith Butler,:
„nicht mit dem Individuum gleichzusetzen, sondern viel­
mehr als sprachliche Kategorie aufzufassen, als Platz­
halter, als in Formierung begriffene Struktur. Individuen
besetzen die Stelle, den Ort des Subjekts (als welcher
»Ort« das Subjekt zugleich entsteht), und verständlich
7
8
9
10
11
12
13
Butler: „Subjekt“ a.a.O., S. 1306.
So Reckwitz, der schreibt: „Folgt man Foucault, erscheint das Sub­
jekt letztlich nicht als eine geistige, sondern als eine ›technische‹ An­
gelegenheit. Es sind bestimmte scheinbar profane Techniken, in de­
nen eine bestimmte Subjektform immer wieder neu hervorgebracht
wird“. Andreas Reckwitz: Subjekt, Bielefeld 2008, S. 24.
Judith Butler: „Gewalt, Trauer, Politik“, in: Dies.: Gefährdetes Le­
ben, Frankfurt am Main 2005, S. 63–64.
Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 12.
Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 19.
Butler: „Subjekt“ a.a.O., S. 1304.
Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 191.
151
Subjektivation und Selbstsein
werden sie nur, soweit sie zunächst in der Sprache einge­
führt werden. Das Subjekt ist die sprachliche Gelegenheit
des Individuums, Verständlichkeit zu gewinnen und zu
reproduzieren, also die sprachliche Bedingung seiner
Existenz und Handlungsfähigkeit.“14
III. Das Selbstsein
Die Rede vom „Selbstsein“ oder von „Authentizität“ ist
derzeit populär. Das „authentische Subjekt“ bzw. „Selbst“
(in der weiten Bedeutung von Authentizität) gilt als norma­
tives Ideal, als Träger von Würde, Anerkennung und
Verantwortung. Auch wenn man zumeist zugesteht, dass
die damit verbundene Einzigartigkeit eine sozial konstitu­
ierte ist, so geht man doch langläufig davon aus, dass das
„authentische Selbst“ ein autonomes ist, dem es möglich
ist, sich selbst zu betrachten, zu bestimmen, zu verwirkli­
chen, zu „erschaffen“.15 Dabei vermischen sich heutzutage
die Vorstellungen von Autonomie und Authentizität.
Oftmals wird vorausgesetzt, dass man nur dann autonom
agiert, wenn man dabei auch authentisch ist, d. h. wenn
man aus Wünschen und Motiven heraus agiert, die auch
wirklich die eigenen sind, die mir in einem starken Sinne
entsprechen.16 Die Frage nach Authentizität (Wer und wie
14
15
16
Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 15.
Zur Thematik der sozial konstituierten Einzigartigkeit siehe bspw.:
Taylor: Das Unbehagen der Moderne a.a.O.; Alessandro Ferrara:
„Authenticity and the Project of Modernity“, in: European Journal
of Philosophy, 2:3, Basil Blackwell Ltd. 1994, 241–273.
Für eine Verbindung von Authentizität und Autonomie siehe bspw.
Harry G. Frankfurt: „Willensfreiheit und der Begriff der Person“, in:
152
III. Das Selbstsein
bin ich eigentlich?) greift somit die Probleme der Frage
nach Autonomie (Wie frei bzw. selbstbestimmt bin ich?)
mit auf.
Das „authentische Selbst“ gilt als eine Zuschreibung oder
Seinsweise, die (im Gegensatz zu einem Status des
Subjektseins) nicht von „außen“, sondern nur von „innen“
(und das auch nicht ohne paradoxe Züge) gegeben bzw.
gelebt werden kann. Dabei wird sich verschiedentlich auf
die Natürlichkeit, die Selbstbestimmung und/oder die
Selbstverwirklichung, die Art der Selbstbezüglichkeit
(bspw. in der Bildung eines inneren Konsens) oder auch auf
die Einzigartigkeit und Originalität eines Menschen
bezogen.17 Somit scheint die Rede von „Authentizität“ in
einem Spannungsverhältnis, wenn nicht sogar in einem
Widerspruch zu den Theorien der Subjektivation zu stehen,
17
Monika Betzler/Barbara Guckes (Hg.): Freiheit und Selbstbestim­
mung, Berlin 2001, S. 65–83 oder im Anschluss daran: Beate Röss­
ler: Der Wert des Privaten, Frankfurt a.M. 2001, S. 83–126. Dage­
gen sprechen, gerade mit Blick auf normative Konzepte der Authen­
tizität bspw.: Taylor: Das Unbehagen an der Moderne a.a.O., S. 37;
Ferrara: Authenticity a.a.O. und Christoph Menke: Tragödie im Sittli­
chen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt a.M. 1996,
S. 137–201. Sie plädieren für ein eigenständiges (normatives) Kon­
zept der Authentizität.
So bspw. bei: Jean-Jaques Rousseau: „Über die Ungleichheit“, in:
Ders.: Schriften zur Kulturkritik, Hamburg 1971, S. 61–269; Axel
Honneth: „Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Indivi­
dualisierung“, in: Ders: Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien
des gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt/New York 2002, S. 141–
158; Heiner Keupp: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der
Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek bei Hamburg, 1999,
S. 263–266; Taylor: Das Unbehagen der Moderne a.a.O. S. 39,
S. 65–81.
153
Subjektivation und Selbstsein
die diese auf verschiedene Arten und Weisen verwerfen.
Doch was kann „Selbstsein“ bedeuten, wenn wir den
prozessualen Charakter der Subjektivation, die Abhängig­
keit und Bedingtheit des Subjekts, ernst nehmen? Klar zu
sein scheint, dass die Rede von einem vorrangigen, stabilen
oder unveränderlichen „Wesen“ oder „Kern“ des Menschen
nicht zu halten ist. Widerspricht die Vorstellung eines „stän­
digen Werdens“ oder prozessualen Seins der Idee eines
„Selbstseinkönnens“? Schließen sich „Selbstsein“ und „ein
soziales Wesen sein“ kategorisch aus? Kann man „Selbst­
sein“ als eine „sozial konstituierte Einzigartigkeit“
beschreiben? Und worin unterscheiden sich die Begriffe
„Subjekt“ und „Selbst“?
IV. Identität, Authentizität und Selbsttransparenz
Um das Verhältnis von „Subjektivation“ und „Selbstsein“
etwas näher auszubuchstabieren, möchte ich mich im
Folgenden kurz drei Vorstellungen widmen, die mit der
Idee der Authentizität (im weiten Sinne) verbunden zu sein
scheinen, von den Theoretiker_innen der Subjektivation
jedoch verworfen werden. So wenden sich die
Theoretiker_innen der Subjektivation bspw. gegen die
Vorstellung von Identität.18 Aus Sicht der Subjektivatons­
theorien gibt es kein Subjekt, das mit sich selbst identisch
18
Die Vorstellung der Identität erwähne ich an dieser Stelle nur, da sie
oftmals mit der Vorstellung des „Selbstseins“ verbunden wird. Ich
möchte damit nicht behaupten, dass sie in irgendeiner Weise gleich­
zusetzen wären.
154
IV. Identität, Authentizität und Selbsttransparenz
wäre. Das Subjekt ist durch seine sozialen Verhältnisse
bestimmt, durch die Diskurse und Normen, denen es unter­
worfen ist. Identität erscheint hier als etwas von der Gesell­
schaft Gefordertes, als ein Effekt der Macht. So schreibt
Judith Butler mit Bezug auf Michel Foucault:
„Wenn der Diskurs Identität produziert, indem er ein
Reglementierungsprinzip bereitstellt und durchsetzt, das
das Individuum zutiefst durchdringt, totalisiert und verein­
heitlicht, dann scheint jede »Identität« als totalisierende
genau als eine solche »den Körper einkerkernde Seele« zu
fungieren.“ 19
Der Prozess der Subjektivation zeitigt diskursive Identitäts­
erzeugungen, die das Subjekt in sein „Inneres“ übernimmt.
Die psychische Identität, die Kohärenz als normatives Ideal
und diskursive Forderung (in Form einer „Seele“) bildet ein
Gefängnis, so Foucault. Die Forderung von Identität
erscheint folglich als eine Disziplinierungsmaßnahme.
Zudem wird die Vorstellung von Identität, etwa von Butler,
als Ausschlussverfahren kritisiert. Sie wird dem Menschen
nicht gerecht, zumal man sich mit ihr zumeist in einem
bipolaren Feld bewegt. Man ist Mann oder Frau, Kind oder
Erwachsene_r, gesund oder krank, In- oder Ausländer_in.
Die Vorstellung von Authentizität (in seiner weiten Bedeu­
tung) wird kritisiert, da man sich mit ihr, so scheint es, auf
die Vorstellung eines „wahren mit sich identischen Selbst“,
einer ontologischen Natürlichkeit oder aber auch auf die
19
Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 83.
155
Subjektivation und Selbstsein
Vorstellung eines (gänzlich) autonomen Subjekts zu
beziehen scheint. So plädiert Foucault etwa für eine krea­
tive Praxis „uns selbst als ein Kunstwerk zu schaffen“ 20,
statt uns auf einen moralischen Begriff der Authentizität zu
beziehen, auf die Vorstellung, dass wir ganz wir selbst sein
müssen. Auch Butler verwirft die Vorstellung von Authenti­
zität. Es gibt für sie kein „wahres Selbst“ jenseits der
sozialen Bezüge, das sich durch Souveränität oder Selbst­
transparenz auszeichnet. Auf der anderen Seite geht sie
jedoch davon aus, dass das Subjekt durchaus es selbst sein
will. Diesen Zustand kann es jedoch nie erreichen, da es
bspw. seine Abhängigkeiten verleugnet, die es permanent
wiederholt. So schreibt sie:
„Durch das unbewußte Betreiben seiner eigenen Auflö­
sung in neurotischen Wiederholungen jener Urkonstella­
tionen [gemeint sind die Abhängigkeitsverhältnisse, S.K.],
die es nicht nur nicht sehen will, sondern auch nicht sehen
kann, will es es selbst bleiben. Das bedeutet natürlich, daß
es, gebunden an das, was es nicht wissen will, von sich
selbst geschieden ist und nie ganz es selbst werden oder
bleiben kann.“21
20
21
Michel Foucault: „Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über
laufende Arbeiten“, in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel
Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt
am Main 1987, S. 265–294, S. 274. Dabei hat er natürlich kein auto­
nomes „Selbst“ im Auge, sondern sieht die Selbstverhältnisse als sol­
che als schöpferische Tätigkeiten an.
Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 15.
156
IV. Identität, Authentizität und Selbsttransparenz
Das Subjekt kann nicht „es selbst“ werden oder bleiben, da
ihm ein Teil seiner selbst stets unzugänglich ist. Zudem
arbeitet es, so Butler, auf paradoxe Weise gegen sich selbst.
Es wiederholt seine Abhängigkeiten, die es sich nicht
eingestehen will und kann, eben um es selbst zu bleiben.
Und da ihm immer ein Teil eigen ist, der ihm unzugänglich
bleibt, ist es immer geschieden von sich selbst.
Das Subjekt ist dazu gezwungen die gesellschaftlichen
Normen wie auch seine Abhängigkeitsverhältnisse zu
wiederholen, durch die es hervorgebracht wurde (eben als
permanenter Prozess der Subjektivation).22 Wir übernehmen
die Vorstellungen des Diskurses, müssen sie übernehmen,
um als Subjekte anerkannt zu werden. Diese Übernahme
bzw. Wiederholung ist jedoch keine genaue Reproduktion
von Machtverhältnissen, sondern geht immer mit einer
Verschiebung einher. Diese Verschiebung birgt die Gefahr
der Existenzbedrohung bei „falschem“ Vollzug, denn der
könnte zum Ausschluss führen. Sie ermöglicht jedoch auch
„performativ die Umrisse der Lebensbedingungen neu zu
zeichnen“23. Butler spricht sich gegen die Vorstellung eines
„Wesens“ aus und plädiert für eine Vorstellung der Perfor­
manz, einer Existenz als Möglichkeit.24
Zu der Vorstellung von „Selbstsein“ oder „Authentizität“
gehört die Idee, dass wir uns selbst suchen, finden,
bestimmen, ändern oder verwirklichen können (je nach
Theorie). Zu ihr scheint eine gewisse Art der Selbsttrans­
22
23
24
Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 32.
Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 32.
Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 123.
157
Subjektivation und Selbstsein
parenz zu gehören. Nun geht bspw. Butler davon aus, dass
wir uns als Subjekte nie transparent sind oder auch je sein
könnten. Wir kennen unsere Einflüsse nicht, wissen demzu­
folge nicht, warum wir so geworden sind, wie wir sind. Wir
sind uns immer schon enteignet und unverfügbar. 25 Da uns
unsere Vergangenheit nicht bekannt ist, fehlt auch immer
ein Teil der Rechtfertigungkette (bspw. der Begründung
unserer Taten) wie auch ein Teil unserer Lebensgeschichte.
Wir können nie genau sagen, warum wir etwas gefühlt,
gedacht, getan oder gewollt haben. In diesem Sinne sind
wir alle verantwortungslos.26 So schreibt Butler in der
Kritik der ethischen Gewalt:
„Wenn wir nun aber feststellen, dass dieses Subjekt so
verfasst ist, dass es sich selbst immer – bis zu einem
gewissen Grad jedenfalls – undurchschaubar, unbekannt
bleibt, so folgt daraus, dass es niemals vollständig
erklären kann, weshalb es so und nicht anders gehandelt
hat und es folgt auch, dass sich dieses Subjekt niemals für
seine Selbstidentität im Verlauf der Zeit verbürgen kann.
So ist das Subjekt, das sich nicht durch und durch kennt
und das nicht voll für sich einstehen kann, ein fragiles und
fehlbares Subjekt der Ethik, charakterisiert eher durch
seine Grenzen als durch seine Souveränität. Ethische
Systeme oder Moralcodes, die von der Selbsttransparenz
des Subjekts ausgehen oder die uns die Verantwortung für
eine uneingeschränkte Selbstkenntnis zuschreiben, neigen
dazu, fehlbaren Geschöpfen eine Art »ethischer Gewalt«
anzutun. Wir müssen uns zwar um Selbstkenntnis
bemühen und Verantwortung für uns übernehmen, wir
25
26
Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt am Main 2003,
S. 20.
Butler: Kritik der ethischen Gewalt a.a.O., S. 88.
158
IV. Identität, Authentizität und Selbsttransparenz
müssen zwar mit Einsicht über unser Tun und Lassen
entscheiden, aber ebenso wichtig ist, dass wir verstehen,
dass all unser Bemühen, einen Einklang mit uns selbst zu
erreichen, stets durchkreuzt werden wird.“27
Die Rede von einem „authentischen Selbst“ im (engeren)
Sinne von „Selbstsein“ erhält nun jedoch Sinn, wenn man
an die Phänomene des „Nicht-man-selbst-Seins“ denkt,
etwa an das Gefühl der Fremdbestimmung, der Indifferenz
oder auch der Selbsttäuschung.
Nun scheint es so, dass man das Gefühl des „Nicht-manselbst-Seins“ haben kann, ohne den Status des Subjekts zu
verlieren. Folgt man Butler, scheint das ein Zustand zu
sein, in dem wir uns zumeist befinden, da wir immer einen
Rest unserer selbst ausschließen und zwar den, der nicht in
das Raster der Kategorie „anerkennbares Subjekt“ passt.
Wenn das Raster der Anerkennbarkeit auf einer bipolaren
Unterscheidung beruht, müssen wir einen Teil von uns
ausschließen, etwas an uns verwerfen, um uns in dieses
Raster zu fügen. Dieser abgeschnittene Teil bleibt als
„unbewusster Rest“ jedoch vorhanden. Wir sind immer
mehr, als uns der Status „Subjekt“, die „in Formierung
begriffene Struktur“28 zugesteht. Der „nicht anzueignende
Rest“, den Butler als Melancholie beschreibt, markiert „die
Grenzen der Subjektivation“.29 Unsere eigene Inauthenti­
zität, verstanden als das „Gerade-nicht-man-selbst-seinKönnen“ wäre so gesehen eine Brutstätte der Kritik, die
27
28
29
Butler: Kritik der ethischen Gewalt a.a.O., S. 10 f.
Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 15.
Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 33.
159
Subjektivation und Selbstsein
uns ermöglicht nach Autonomie, politischer Veränderung
oder auch nach Selbstverwirklichung zu streben.
V. Subjektivation und Selbstsein
In welchem Verhältnis stehen nun „Selbstsein“ und
„Subjekt“ bzw. „Subjektivation“? Kann es einen Begriff
des „Selbstseins“ ohne ein mit sich identisches, (gänzlich)
souveränes und sich selbst transparentes „Wesen“ oder
„Subjekt“ geben? Dass man bedingt ist, scheint nicht
zwangsläufig in einem Widerspruch dazu zu stehen, man
selbst zu sein.30 „Selbstsein“ heißt immer auch in einem
sozialen und historischen Rahmen geworden zu sein, sich
in einem solchen zu bewegen und diesen auch nicht gänz­
lich in Frage stellen zu können. Der Rahmen ist die Grund­
lage unseres Fühlens, Denkens, Wollens und Handelns. Er
wird jedoch auch von Seiten der Subjektivationstheorien
nicht als deterministisch verstanden, sondern eben als ein
Feld der (vorgegebenen) Möglichkeiten. So schreibt Butler:
„Wenn ich frage, wer ich für mich sein könnte, muss ich
auch fragen, welchen Platz es in dem diskursiven Regime,
in dem ich lebe, für ein ›Ich‹ gibt. Und welche Arten, sich
mit dem Selbst zu befassen, wurden als diejenigen zuge­
lassen, die ich praktizieren könnte? Ich bin nicht an schon
feststehende Formen der Subjektbildung oder an vorgege­
30
Man denke etwa an die bedingte Freiheit bei Peter Bieri: Hätten wir
keine Bedingung, keine Grundlage unserer Vorlieben, Entscheidun­
gen etc. wären wir nicht frei, sondern würden zufällig agieren. Peter
Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen
Willens, München/Wien 2001.
160
V. Subjektivation und Selbstsein
bene Konventionen des Selbstbezugs gebunden, aber ich
bin sehr wohl an die Gesellschaftlichkeit dieser möglichen
Beziehungen gebunden. Ich mag meine Verständlichkeit
aufs Spiel setzen und der Konvention trotzen, aber in
diesem Falle handle ich in oder an einem sozio-histori­
schen Horizont, den ich zu durchbrechen oder zu verän­
dern suche.“31
Was ich fühle, denke, will und tue trägt in sich immer auch
den Bezug zur Welt und zu Anderen, was jedoch nicht
zwangsläufig bedeutet, dass ich nicht selbst agiere. Viel
eher wird die Vorstellung eines gänzlich einzelnen Wesens
(im Sinne eines Souveräns) in Frage gestellt und zwar zu
Gunsten eines intersubjektiven, eines immer schon und
immer neu in Bezügen stehenden sozialen Wesens. Dass
ich selbst ein „Ensemble von Verhältnissen“ bilde, einen
„Knotenpunkt in einem Netzwerk“, stellt nicht zwangs­
läufig die Vorstellung eines „Selbstseins“ in Frage. Kein
Mensch ist mit sich selbst identisch, sondern jede_r verän­
dert sich: durch Bezüge zur Welt und zu anderen
Menschen, durch Erfahrungen, die sie oder er macht. Doch
gerade wenn man an Erfahrungen des „Nicht-man-selbstSeins“ denkt, scheint es Weisen zu geben, mehr oder
weniger man selbst zu sein.
Doch wie verhalten sich nun die „Subjektivation“ und das
„Selbstsein“ zueinander? Sollte man den Begriff des
„Subjekts“ (als Status oder formale Kategorie) von dem des
„Selbst“ (etwa im Sinne einer inneren Bezüglichkeit)
trennen, der vielleicht nicht nur historisch in verschiedenen
31
Butler: Kritik der ethischen Gewalt a.a.O., S. 121.
161
Subjektivation und Selbstsein
sozio-kulturellen Diskursen bestimmt, sondern auch
(sozio-)biologisch verankert ist? Die Theorien der Subjekti­
vation sprechen von dem Subjekt als einem Status, als einer
Position im Diskurs oder einer sprachlichen Kategorie. Der
Begriff des „Selbst“ hingegen betont die intrasubjektive
Perspektive eines Menschen, die Selbstbezüglichkeit, die
vermutlich durch den Diskurs geprägt ist, aber vielleicht
nicht in ihm aufgeht. Zudem kann man ihn so beschreiben,
dass er die unbewussten Seiten des Menschen mit umfasst,
eben weil auch sie zu ihm selbst gehören. 32 Das „Selbst“
würde so ein „Mehr“ beschreiben, über den Begriff des
„Subjekts“ hinausgehen.
Ansätze für eine Trennung der Begriffe finden sich auch in
den Subjektivationstheorien. So spricht bspw. Butler in
Anschluss an Spinoza von „Grundbegehren“, so etwa dem
Begehren im eigenen Sein zu beharren (also zu überleben)
oder im Anschluss an Hegel dem Begehren nach Anerken­
nung. Dieses Begehrens ist zwar in seinem Gehalt ebenfalls
durch den Diskurs bestimmt, doch scheint es selbst „tiefer“
verortet zu werden.33
Das Begehren danach, im eigenen Sein zu verharren, wie
auch das nach Anerkennung führen nun mit Blick auf das
„Selbstsein“ zu einem Paradox: Ich kann nur ich selbst
sein, wenn ich mich anpasse, denn nur durch Anpassung
32
33
Statt von der Psyche spreche ich an dieser Stelle lieber vom „Selbst“.
Die Vorstellung der Psyche, gerade auch in einem psychoanalyti­
schen Verständnis, scheint mir theoretisch sehr aufgeladen. Für mei­
ne Zwecke reicht ein einfacheres Verständnis des „Selbst“.
Butler: Psyche der Macht a.a.O., bspw. S. 11–15, S. 31 f.
162
V. Subjektivation und Selbstsein
wird meine Existenz überhaupt gesichert. So schreibt
Butler:
„Das Streben nach Beharren im eigenen Sein erfordert die
Unterwerfung unter eine Welt von anderen, eine Welt, die
von Grund auf nicht unsere eigene ist (eine Unterwerfung,
die nicht erst später statt hat, sondern schon das Begehren
zu sein einrahmt und möglich macht). Nur indem man in
der Alterität beharrt, beharrt man im »eigenen« Sein.
Bedingungen ausgesetzt, die man nicht selbst geschaffen
hat, beharrt man immer auf diese oder jene Weise mittels
Kategorien, Namen, Begriffen und Klassifikationen, die
eine primäre und inaugurative Entfremdung im Sozialen
markieren. Wenn solche Bedingungen eine primäre Unter­
ordnung, ja Gewalt bedeuten, dann entsteht ein Subjekt,
um für sich selbst zu sein, paradoxerweise gegen sich
selbst.“34
Die Frage ist folglich: Kann man „Selbstsein“ und „Sozia­
lität“ zusammen denken oder stehen beide im Widerspruch
zueinander? Wie oben schon angedeutet, würde ich dafür
plädieren, beide zusammen zu denken. Dass ich ein
bedingtes Wesen bin, dass ich beeinflusst werde von
Anderen, in Gemeinschaft lebe (mit allem, was dazu
gehört), selbst Andere beeinflusse etc. bedeutet nicht
zwangsläufig, dass ich „entfremdet“ wäre, denn diese Rede
setzt in gewisser Weise ein ursprüngliches „Kernselbst“
voraus. Wenn wir das „Selbst“ jedoch prozessual verstehen,
wie das ja auch die Subjektivationstheorien andeuten,
ändert sich das „Selbst“ durch die Verhältnisse (zu sich, zur
34
Butler: Psyche der Macht a.a.O., bspw. S. 32.
163
Subjektivation und Selbstsein
Welt, zu Anderen), in denen es steht, durch die Erfah­
rungen, die es in ihnen macht. Es gibt kein „Selbst“ ohne
Bezüge. Das „Selbst“ ist in gewisser Weise „Resultat“
dieser Bezüge, die jedoch nicht nur Bezüge zu Anderen und
Anderem, sondern eben auch solche zu sich selbst sind.
Alles zusammen bildet erst ein „Selbst“. Und die Vielfältig­
keit der Bezüge und Verhältnisse ist natürlich nicht
reibungslos.
„Selbstsein“ und „Sozialität“ stehen also nicht im Wider­
spruch zueinander, sondern bedingen sich vielmehr gegen­
seitig. Was aber zeichnet dieses „Selbstsein“ dann aus? Mir
scheint es verlockend und aussichtsreich, den Begriff des
„Selbst“ aus einer basalen Selbstbezüglichkeit heraus zu
denken, als „Organisationsprinzip“ eines Lebewesens.35
Diese Selbstbezüglichkeit steht natürlich in einem Bezugs­
rahmen zur Welt und zu Anderen, in Interaktionen. Der
Gedanke des „Selbst als Organisationsprinzip“ oder viel­
leicht besser im Sinne einer „Selbstorganisation“ impliziert
jedoch, dass der Mensch es immer selbst ist, der sich „von
innen“ heraus organisiert. Auch wenn er „von außen“
(durch eine Umwelt, durch Interaktionen) beeinflusst wird,
diese ihm den Möglichkeitsrahmen seiner Entwicklung,
seines Seins vorgeben, so geschieht die Umformung doch
durch ihn selbst und zwar durchaus auch im Sinne einer
35
Den Begriff des „Selbst“ als Organisationsprinzip übernehme ich
von Daniel C. Dennett: Philosophie des menschlichen Bewußtseins.
Hamburg 1994, S. 533. Siehe dazu auch: Susann Köppl: „Das Selbst
als Organisationsprinzip. Vom „wahren Selbst“ zur Konsensbildung“, in: Rainer Adolphi (Hg.): Identitäten des Selbst. Beiträge zu
einem transdisziplinären Problemfeld. Münster (im Erscheinen).
164
V. Subjektivation und Selbstsein
Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Selbstwerdung.
Das „Selbst“ (im Sinne des ich selbst, du selbst etc., der
Selbstbezüglichkeit) agiert also in einem ihm vorgegebenen
Möglichkeits- und Verständnisrahmen (den konkreten
Vorstellungen des Diskurses und der Normen), hat aber
vielleicht das Potential, eben über diesen hinaus zu gehen
und zwar als „Ort“ der sich verschiebenden Wiederho­
lungen, als „Ort“ des unbewussten Rests dessen, was wir
neben den bipolaren Identitätszuordnungen eben auch noch
sind, als „Ort“ des Individuums, das immer mehr ist als
sein Status als Subjekt. Die bzw. der Einzelne ist eine
Schnittstelle, ein Knotenpunkt verschiedener Diskurse oder
kultureller Subjektcodes, deren Überlagerungen, so Reck­
witz, „unberechenbare Subjektivierungseffekte zeitigen
können“36. Zudem scheint der Begriff des „Selbst“ nicht
auf die Vorstellung einer totalen Transparenz angewiesen
zu sein, sondern sich im Gegenteil gerade auch durch seine
nicht bewussten Seiten auszuzeichnen. Zum einen ist uns
ein großes Spektrum organischer Selbstbezüglichkeit nicht
bewusst, zum anderen stellen wir Bezüge zu uns (bspw. zu
unserer Lebensgeschichte) immer wieder neu her, passen
sie an, deuten sie neu. Wenn man nun „Subjekt“ und
„Selbst“ unterscheidet, ließe sich vielleicht das kritische
Potential, die Eigenständigkeit, das „Selbstsein“ des
Menschen besser fassen. So schreibt auch Butler in Bezug
auf den späten Foucault (und in Bezug auf dessen Kritik
36
Reckwitz: Subjekt a.a.O., S. 91. Er schreibt an dieser Stelle über die
Theorie Judith Butlers.
165
Subjektivation und Selbstsein
der staatlichen Formen der Individualisierung und der
Forderung nach einer neuen Subjektivität):
„Die Vorstellung einer neuen Subjektivität setzt die Fähig­
keit voraus, neue Formen des Ausdrucks für das Selbst zu
erfinden oder zu finden. Weder »Subjektivität« noch
»Selbst« wären demnach auf das »Subjekt« zu reduzieren
oder durch den Begriff des Subjekts adäquat zu
erfassen.“37
VI. Das Ideal der Authentizität, eine Herrschaftstech­
nik?
Eine letzte Frage soll in diesem Rahmen noch gestellt
werden: Inwiefern kann man die „moderne Sehnsucht nach
Authentizität“, das Streben wie die Forderung nach
„Selbstsein“ auch als eine Art der Ideologie, Herrschafts­
technik oder Disziplinarmaßnahme (im Sinne Foucaults)
verstehen? Authentizität als normatives Ideal scheint die
derzeitige Spitze des modernen Individualismus zu bilden.
Sie gilt als Garant von Autonomie und Demokratie, als
Träger von Würde, Anerkennung und Verantwortung. Sie
scheint das kritische Potential eines (politischen wie ethi­
schen) Subjekts zu bilden. Das Streben nach Authentizität
erscheint als eine Errungenschaft der Moderne, als eine
Form der Emanzipation und als Selbstverwirklichung.
Kritiker dieses Ideals konstatieren jedoch, dass der emanzi­
patorische Anspruch auf Autonomie und Authentizität in
37
Butler: „Subjekt“ a.a.O., S. 1302–1303.
166
VI. Das Ideal der Authentizität, eine Herrschaftstechnik?
einen Zwang umgeschlagen ist, in eine institutionalisierte
Forderung. So spricht bspw. Axel Honneth davon, dass das
Ideal der Authentizität zu einer Legitimationsgrundlage des
Systems geworden sei und somit seinen ursprünglichen
inneren Zweck verloren habe.38 Den Menschen wird (so
auch Foucault) eine dauerhafte Introspektion abverlangt,
eine Selbstdisziplinierungsmaßnahme auferlegt, die sie
nicht zu leisten vermögen, jedoch übernehmen. Auch die
Last der Verantwortung wird von der Gesellschaft auf die
bzw. den Einzelne_n abgewälzt, so die Kritik. Wenn das
eigene Leben scheitert, ist man höchst selbst dafür verant­
wortlich. Die Gründe sollen nicht mehr in den gesellschaft­
lichen und politischen Strukturen gesucht werden, sondern
im eigenen Leben und Sein.39
Dem Menschen scheint eine Art „ethischer Gewalt“
angetan zu werden (so Butler im Anschluss an Adorno),
wenn wir sie als fehlbare Geschöpfe an dem Maßstab eines
souveränen und sich transparenten Wesens messen. Diese
Gewalt wird jedoch praktiziert, wobei sich natürlich fragen
ließe von wem oder was und zu welchem Zweck. Handelt
es sich also bei der „Selbsttechnik“ des Strebens nach
Authentizität bzw. der Suche nach sich selbst um ein
modernes (oder auch altes) Instrument der Herrschaft, dass
38
39
Honneth: „Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Indivi­
dualisierung“ a.a.O., S. 154, S. 146; Siehe auch Alain Ehrenberg:
Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegen­
wart, Frankfurt a.M. 2008.
Andreas Hetzel: „Verkenne dich selbst! Paradoxien der Psychologie“, in: Jörg Martin (Hg.): PsychoManie. Des Deutschen Seelen­
lage, Leipzig 1996, S. 145–177, 173 f.
167
Subjektivation und Selbstsein
uns zu einer Selbstdisziplinierung und -identität auffordert,
ohne dass wir das merken würden? Die Frage muss an
dieser Stelle offen bleiben. Festzuhalten bleibt jedoch, dass
Authentizität vermutlich nicht nur ein kritisches Potential
in sich birgt (wie es im Sinne des „Selbstseins“ oben skiz­
ziert wurde), sondern (gerade in ihrem weiten und unklaren
Sinne) durchaus auch als Machtinstrument oder Diszipli­
nierungsmaßnahme fungieren kann und als solche/s auch
gebraucht wird.40
VII. Fazit
Was kann also die Rede vom „Selbstsein“ meinen? Wenn
man die Grundzüge der Subjektivationstheorien ernst
nimmt, kann man sich mit ihr nicht mehr auf ein natürli­
ches, gänzlich autonomes Subjekt (oder auch „Selbst“)
beziehen, das sich vollkommen transparent wäre. Das
Subjekt, so sagten wir, gilt als Struktur, in die sich der
Mensch einpasst. Das „Selbst“ hingegen bestimmten wir
als prozessuale Selbstbezüglichkeit einer konkreten Person,
die immer auch und immer schon in Bezügen zur Welt und
zu Anderen und somit in bestimmten Diskursen und norma­
tiven Kontexten steht.
40
Zu dieser Thematik siehe: Susann Köppl: „Sei ganz du selbst! Ge­
danken über die Authentizität als normatives Ideal in Zeiten des mo­
dernen Individualismus“, in: Cédric Duchêne-Lacroix, Felix Heiden­
reich und Angela Oster (Hg.): Individualismus – Genealogie der
Selbst(er)findungen. Berlin (im Erscheinen).
168
VII. Fazit
Das „Selbst“ verändert sich ständig und kann sich nicht (in
einem gänzlichen Sinne) transparent sein, da es auch das
Unbewusste umfasst. Es überschreitet den Rahmen des
Subjekts, da es immer mehr „beinhaltet“ oder „ist“ als
Subjektsein zulässt. „Selbstsein“ bezieht sich folglich nicht
auf einen Wesenskern oder die Identität einer Person, da
das „Selbst“ sich in ständiger Transformation befindet.
Aber sind wir so gesehen dann nicht immer wir selbst?
Ja und Nein. Es scheint Formen zu geben mehr oder
minder stark „man selbst“ zu sein, man denke an Selbsttäu­
schung oder Indifferenz, an verschiedene Arten der Anpas­
sung. Zum „Selbstsein“ gehört ein gewisses Streben nach
Selbst(er)kenntnis, auch wenn diese in Gänze nicht erlangt
werden kann, da uns immer etwas an, von oder auch in uns
selbst unzugänglich bleibt. Man könnte es als ein Ideal des
„Eigenen“ beschreiben, das sich nicht im Subjekt selbst
finden lässt, sondern im ständigen Werden des „Selbst“.
Das Eigene (im Sinne eines Selbstseins) wäre so gesehen
kein fester Kern mehr, sondern ein ständiger Prozess, der
durch die Erfahrungen und Begegnungen befeuert wird.
Selbstsein, als eine gewisse Stimmigkeit mit sich, meint
dann gerade nicht einen total störungsfreien Einklang,
sondern eher etwas durchaus Plurales, Momenthaftes, sich
Transformierendes.
Die Frage danach, wer wir denn eigentlich sind bzw. sein
wollen, danach, was wir wirklich wollen, fühlen, denken
und tun (gerade auch innerhalb eines Beziehungsgeflechts
mit Anderen) scheint ein kritisches Potential unserer selbst
169
Subjektivation und Selbstsein
zu benennen. Es kann uns den Diskurs ein wenig übertreten
oder zumindest hinterfragen lassen. Auch wenn wir immer
schon in Identitätskategorien eingeordnet sind, sind diese
doch befragbar, bespielbar, annehm- oder ablehnbar, wenn
auch nur innerhalb eines bestimmten Rahmens. Auf der
anderen Seite kann man die Forderung nach Authentizität
(gerade in ihrem weiten Sinne) auch als Herrschaftstechnik
und Selbstdisziplinierungsmaßnahme auslegen, was ich in
diesem Artikel nur andeuten konnte. Dabei wird jedoch
zumeist auf eine Identität und Kohärenz der Einzelnen
gepocht, die dem Begriff eines „Selbstseins“ als ständiges
Werden zuwider laufen und weniger ein kritisches Potential
als eine Überforderung benennen.
Es scheint vielversprechend, im Anschluss an die Theore­
tiker_innen der Subjektivationstheorien, für neue Formen
und Vorstellungen des „Selbstseins“ zu plädieren, die sich
eben von den alten Vorstellungen von Identität, Kohärenz,
Transparenz und Souveränität (in einem sehr starken Sinne)
verabschieden und mehr das „inter- wie intrasubjektive
Selbst“ in seinen Abhängigkeiten und seiner Verletzlich­
keit, aber auch in seinen Potentialen und Möglichkeiten
thematisieren. Vielleicht werden wir so dem Menschen als
solchem gerechter.
170
Autonomie und Verwahrlosung
Das Subjekt zwischen zwei Formen des Selbstverlusts
Anne Clausen
In dem vorliegenden Text möchte ich mich der Frage nach
dem Subjekt von der anderen Seite her nähern, von dort,
wo das Subjekt nicht bzw. das „Nicht-Subjekt“ ist. Der
Begriff des Nicht-Subjekts geht dabei wesentlich auf Judith
Butler und ihre Rede von Auslöschungen, Ausschlüssen
und nicht-betrauernswertem Leben zurück. 1 Ich schlage
den Begriff „Verwahrlosung“ als eine der Subjektivierung
entgegen-gerichtete (Nicht-)Bewegung vor, die zu jener
Spannung zwischen Selbst und dem/den Anderen, in der
das Subjekt zumeist gedacht wird, gewissermaßen quer
liegt: In der Verwahrlosung gibt es das Eigene ebenso
wenig wie das Andere, es gibt nur Beziehungslosigkeit und
Indifferenz. Es geht mir also nicht um die Auseinanderset­
zung von einander entgegen-gesetzten Subjektpositionen,
sondern um die Spannung zwischen Subjekt, Intelligibilität
und dem, was nicht bestimmt, was unvermittelte Alterität
ist. Anhand des verwahrlosten Individuums möchte ich
dabei ein Verständnis für die psychische Verfasstheit und
das Selbstverhältnis des Nicht-Subjekts entwickeln und im
Anschluss daran eine Spannung des Subjekts zwischen
1
Vgl. Judith Butler: Gefährdetes Leben, Frankfurt am Main 2005,
S. 36.
171
Autonomie und Verwahrlosung
zwei Arten des Selbstverlusts darstellen, wobei sich zeigen
wird, dass hier gerade das äußerst disziplinierte Individuum
mit dem verwahrlosten Nicht-Subjekt auf unerwartete
Weise zusammenfällt.
I. Subjekt und Begehren
Ich verstehe Subjektivierung als einen Prozess der Begeg­
nung und Auseinandersetzung mit Fremdem und Anderem,
der gleichermaßen die Aneignung und Erfassung dieses
Anderen in den eigenen Strukturen wie auch die Transfor­
mation ebendieser Strukturen bedeutet. Seine Erfahrungen
und Bindungen verändern das Individuum und das Subjekt
als das Strukturierte geht überhaupt erst aus diesen hervor,
womit Selbst- und Weltverhältnis in einem konstitutiven
Zusammenhang stehen. Subjektivierung erfordert immer
Anderes, Fremdes, Nicht-Eigenes, mit dem das Individuum
in Beziehung tritt; es kann sich nicht aus sich selbst heraus
individuieren. Eigenes – „Identität“ – entsteht dabei durch
die Aneignung und Abgrenzung von Fremdem, die sowohl
das Eigene wie auch das Fremde erst hervorbringt. Das
Begehren des Individuums fungiert dabei als Triebkraft, die
diese Subjektivierung motiviert, indem es gleichermaßen
geformt und formbar ist und einen – entsprechend gerich­
teten – Antrieb dazu darstellt, auf die Welt Bezug zu
nehmen. Das Subjekt besteht auf der Grundlage von
primären Eindrücken und Verwerfungen,2 die diesen
2
Vgl. Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt 2002,
172
I. Subjekt und Begehren
Prozess begründen und damit konstitutiv sind. Als „Gesetz
des Begehrens“ strukturieren sie die Bezugnahmen des
Individuums auf die Welt, die weiterhin das Subjekt/Selbst
hervorbringen: Indem das Subjekt einmal in die (diskur­
siven, sozialen) Strukturen eingelassen ist, wirkt sein
Begehren in fortschreitendem Maße subjektivierend, da es
weitere Erfahrungen und Handlungen motiviert und regu­
liert. Im Prozess der Subjektivierung werden damit nicht
bloß äußere (Macht-)Wirkungen „erlitten“, sondern das
Subjekt konstituiert sich – vermittelt durch soziale und
kulturelle Rahmungen – in seinen Bindungen und Identifi­
kationen.
Als „autonom“ gilt das Subjekt in dem Maße, wie es die
Fähigkeit ausbildet, sein Wollen selbst zu bestimmen und
nicht nur unmittelbar auf äußere Reize und Einflüsse zu
reagieren. Diese Fähigkeit der Selbstbestimmung stellt eine
Disziplin des Subjekts dar, die sich ihrerseits als eine Art
Begehren zweiter Ordnung (nach Selbstbestimmung,
Selbstwirksamkeit etc.) begreifen lässt. Das in diesem
Sinne autonome Subjekt hält sich selbst trotz äußerer
Anfechtungen durch, wobei andersherum das „Selbst“ erst
aus dieser Disziplinierung hervorgeht. Es bezeichnet gerade
jene Einstellungen, Prinzipien und Werte mit denen sich
das Individuum in einer Weise identifiziert, dass es nicht
durch äußere Umstände von ihnen abgebracht wird. In
diesem Sinne kann man sagen, dass das Subjekt in
S. 81 und Judith Butler: „Psychische Anfänge“, in: Dies.: Psyche der
Macht, Frankfurt am Main 2001, S. 157–184.
173
Autonomie und Verwahrlosung
doppelter Weise auf seinem Begehren basiert: Über seine
Disziplin (sein Begehren, sich durchzuhalten, spinozistisch:
in seinem Sein zu verharren) und über die Formung (d. h.
jene Belange, auf die es diese Disziplin anwendet).
Wenn es aber in so entscheidender Weise das Begehren ist,
das das Subjekt hervorbringt, es für Machtwirkungen affi­
zierbar macht und seine Subjektivierung vorantreibt, so ist
es die Idee dieses Textes, einen Zustand bzw. Vorgang zu
betrachten, in dem die disziplinierende Wirkung des
Begehrens ausgesetzt ist. Im Folgenden möchte ich deshalb
Verwahrlosung als einen der Subjektivierung entgegenge­
setzten Prozess in den Blick nehmen.
II. Identität und Verwahrlosung
Assmann unterscheidet zwischen zwei Polen kultureller
Distinktionsbildung mittels derer Gesellschaften sich inner­
lich stabilisieren und äußerlich abgrenzen. In dem einen
Fall bedeutet Kultur die (selbstbezügliche) Abgrenzung
gegen das „Chaos“ oder die „Wildnis“. Am anderen Pol
geht es um die Abgrenzung von der anderen Kultur, dem
(äußeren) „Feind“.3 Schmutz, Verwahrlosung und Asozia­
lität stellen in diesem Sinne ein innerhalb der Gesellschaft
Verworfenes dar, das zur Alterität stilisiert und pathologi­
siert, kriminalisiert, eliminiert etc. wird. Die Gesellschaft,
deren wesentliche Funktion es ist, Subjekte hervorzu­
3
Vgl. Aleida und Jan Assmann: „Theorie unkommunikativen Verhal­
tens“, in: Jan Assmann und Dietrich Harth (Hg.): Kultur und Kon­
flikt, Frankfurt am Main 1990, S. 11–48, hier S. 28 f.
174
II. Identität und Verwahrlosung
bringen, die sie reproduzieren, erzeugt mit dem gleichen
Mechanismus der Subjektivierung, gewissermaßen als
seine Kehrseite, Verwahrlosung, die sie dann jedoch als ein
ihr Fremdes auf ein „Außen“ projiziert. Der zur Alterität
stilisierte „Penner“ ist in diesem Sinne die Manifestation
einer Delegation von Fremdheit, die das Fremde ebenso
wie das Eigene erst hervorbringt.
Verwahrlosung bezeichnet gleichermaßen einen Zustand
wie auch den zugehörigen (Verfalls-)Vorgang; beides hängt
zusammen, weil es wesentlich das „Nicht-Handeln“ oder
„Nicht-Sorgen“ eines Individuums ist, das den Zustand
markiert und auch den Prozess der Verwahrlosung bewirkt
bzw. ihm nichts entgegen setzt. Verwahrlosung ist das, was
gewissermaßen „von selbst“ passiert; Zivilisation stellt
dagegen ein ständiges Bemühen um und Herstellen von
Struktur und Ordnung dar. Dennoch wird Verwahrlosung
nicht als „natürlich“ aufgefasst, im Gegenteil läuft das
verwahrloste Individuum Gefahr, seine Menschlichkeit –
d. h. seine „menschliche Natur“ – zu verlieren. Direkt asso­
ziiert mit Verwahrlosung ist die physische Verschmutzung
(das ungepflegte Individuum, die heruntergekommene
Wohnstätte), aber Verwahrlosung kann auch als psychische,
soziale, moralische etc. vorgestellt werden. Verwahrlosung
bezeichnet einen Zustand, in dem ein Individuum Belange
vernachlässigt, um die es sich kümmern „sollte“. Scheinbar
hat es gewisse Ansprüche nicht oder hat sie aufgegeben –
Ansprüche gleichermaßen für-sich wie auch an-sich.4
4
Gemeint ist eine Unterscheidung zwischen Ansprüchen, die das Indi­
175
Autonomie und Verwahrlosung
Während das Begehren den Prozess der Subjektivierung
vorantreibt, steht das verwahrloste Individuum der Welt
(scheinbar) unempfänglich und indifferent gegenüber; es
wird durch kein Begehren veranlasst, seinen Zustand zu
verändern. Wenn ich im vorigen ausgeführt hatte, dass
Identität auf Trennung (Unterscheidung) und Beziehung
beruht, so liegt Verwahrlosung zu dieser Bestimmtheit quer.
Verwahrlosung heißt gleichermaßen, sich nichts anzu­
eignen, sich in nichts durchzuhalten, wie auch (sich von)
nichts zu trennen – es existiert im strengen Sinne gar kein
Selbst. Damit ist die der Subjektivierung zugrunde liegende
identitätslogische Unterscheidung und Gegenüberstellung
von Eigenem und Fremdem ausgesetzt. Das verwahrloste
Individuum nimmt keine intelligible Subjektposition ein,
was zum einen soziale Sanktionen nach sich ziehen kann,
insbesondere aber auch eine Konsequenz für die innere
Verfasstheit oder das Selbstverhältnis des Individuums hat:
Verwahrlosung bedeutet wesentlich Selbstverlust.
viduum bezüglich seiner Umwelt hat (Ansprüche für-sich), und je­
nen teilweise korrespondierenden Ansprüchen, die es an sich selber
stellt. Beide Arten von Ansprüchen wirken – vermittelt über das Rea­
litätsprinzip – regulierend aufeinander ein, wobei jedoch die Um­
weltbedingungen der Kontrolle des Individuums letztlich entzogen
sind und es mit seinen Ansprüchen an-sich scheitern kann (und im­
mer wieder wird). Wenn dennoch ein (genügend gutes, befriedigen­
des etc.) Gleichgewicht zustande kommt, erlebt das Individuum sich
als handlungs- und wirkmächtig. Dies ist beim verwahrlosten Indivi­
duum gerade nicht der Fall: Ansprüche sind entweder nicht vorhan­
den oder sie sind von der Realität entkoppelt und werden deshalb
nicht sichtbar; d. h. das verwahrloste Individuum hat entweder keine
Ansprüche an-sich oder es kann ihnen nicht genügen; es hat entwe­
der keine Ansprüche für-sich oder es kann sie nicht durchsetzen.
176
III. Selbstverlust
III. Selbstverlust
Wenn es kein vom Individuum unabhängiges Selbst gibt,
kein substantielles „Ich“ als „Träger“ eines Selbst ange­
nommen wird – welchen Sinn könnte es da machen, von
„Selbstverlust“ zu sprechen? Gemäß dem oben Gesagten
gehe ich nicht von einem irgendwie vorgängigen oder von
dem tatsächlichen Individuum unabhängigen „Selbst“ aus,
das verloren oder auch verfehlt werden könnte, oder etwa
als „wahres Selbst“ erst gefunden werden müsste. 5 Ist also
trotzdem von Selbstverlust die Rede, so heißt das, dass jene
Bindungen und Identifikationen ausgesetzt, unterbrochen
oder nicht vorhanden sind, die das Selbst erst ausmachen. 6
Indem das Subjekt sich in seinen Bezugnahmen auf die
Welt konstituiert, macht dieses Verhältnis zur Welt sein
Selbstverhältnis aus. Das gleiche Subjekt ist nicht einmal in
Beziehungen und einmal ohne denkbar. Mit einer Störung
oder einem Verlust dieser Bezugnahmen ist damit gleicher­
maßen das Selbstverhältnis beeinträchtigt; das Individuum
erleidet nicht etwa einen ihm äußerlichen Verlust, sondern
es ist unmittelbar selbst betroffen: Es wird sich selber
fremd, was wiederum Auswirkungen auf seine Handlungs­
fähigkeit etc. hat. Deutlich wird dies bei Butler:
„Wenn ich dich (...) verliere, betrauere ich nicht bloß den
Verlust, sondern ich werde mir selbst unergründlich. Wer
5
6
Vgl. Rahel Jaeggi: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphiloso­
phischen Problems, Frankfurt am Main 2005, S. 64.
Im zweiten Fall müsste strenggenommen nicht von „Verlust“ die
Rede sein, da das Individuum nie ein Selbst ausgebildet hatte.
177
Autonomie und Verwahrlosung
‚bin‘ ich ohne dich? Wenn wir einige dieser Bindungen
verlieren, durch die wir konstituiert sind, wissen wir nicht,
wer wir sind oder was wir tun sollen.“7
Ein Individuum kann in unterschiedlich starkem Maße mit
seiner Umwelt in Beziehung treten und dies hat entspre­
chend Auswirkungen auf sein Selbstverhältnis: Man könnte
sagen, dass jemand, der in vielen/vielfältigen und inten­
siven Beziehungen zu seiner Umwelt steht, sich in einem
größeren Netz an Bedeutungen/Bedeutsamkeiten erfährt
(sich in diesen zugänglich ist) und damit über ein
„größeres“ Selbst verfügt als ein Individuum, das nur
wenige und schwache Bindungen unterhält. Und in eben
diesem Sinne kann man auch sagen, dass mit einer
Einschränkung oder dem Wegfall dieser Bezugnahmen auf
die Welt auch (das) Selbst verloren geht. Und dies heißt
eben nicht, dass es gewissermaßen jenseits der tatsächli­
chen Existenz des Individuums ein Selbst gäbe, das ihm
nicht zugänglich ist,8 sondern es bedeutet, dass ein solches
Selbst nicht hervorgebracht wurde bzw. wird.
Indem das verwahrloste Individuum keine Beziehungen zur
Welt unterhält, wird es seiner selbst nicht gewahr; in dem
Maße, wie es der Welt unverbunden und indifferent gegen­
über steht, ist es sich selbst intransparent, denn „sich trans­
parent sein“ bedeutet offenbar gerade, Zugang zu haben zu
eigenen Vorlieben, Wünschen und Abneigungen, die
eigenen Dispositionen und Tendenzen zu kennen etc.
7
8
Butler. Gefährdetes Leben a.a.O., S. 39.
Vgl. Jaeggi: Entfremdung a.a.O., S. 64.
178
III. Selbstverlust
Selbstverlust ist damit nicht nur gleichbedeutend mit Welt­
verlust (der ja auch nicht bedeutet, dass die Welt nicht mehr
existiert – sie verliert aber ihre Bedeutsamkeit für das Indi­
viduum), sie stellen ebenfalls einen Verlust an Sinn(haftig­
keit) dar: Die Bezugnahmen auf die Welt spannten ja
gerade das Netz der Bedeutsamkeiten auf. Wenn ich vorher
den Prozess der Subjektivierung beschrieben hatte, in dem
Welt angeeignet wird, sich dabei für das Subjekt entfaltet
und ihm bedeutungsvoll wird, so stellt sich Verwahrlosung
als die gegenläufige Bewegung dar. Die Welt verengt sich
und verliert an Bedeutsamkeit und der Selbstverlust
markiert das Individuum als handlungsunfähig: In seiner
Beziehungslosigkeit fehlt ihm eine (affektive) Grundlage
für Entscheidungen (eine kognitive Strukturierung kann
vorhanden sein). Das verwahrloste Individuum kann damit
nur unmittelbar auf Ereignisse und Gegebenheiten
reagieren; es verfügt über keine überdauernde motivatio­
nale Struktur. Mit dem Selbst geht damit auch die Grund­
lage für Autonomie verloren.
Es ergibt sich damit das Modell einer Zirkel- bzw. Spiral­
bewegung, die in die eine oder in die andere Richtung
ausgeführt werden kann: Wenn das Begehren Bindungen
motiviert und ein Selbst und damit Bedeutsamkeit hervor­
gebracht wird, geschieht Subjektivierung; ist andererseits
dieser Prozess ausgesetzt, erfolgt ein der Subjektivierung
gegenläufiger Vorgang, den ich im Folgenden unter dem
Begriff der ausgesetzten Performanz fassen möchte.
179
Autonomie und Verwahrlosung
IV. Ausgesetzte Performanz
Performativ wird ein Akt genannt, der „etwas“ als das
hervorbringt, was es scheinbar („angeblich“) ist.
(Geschlechts-)Identität ist bei Butler in diesem Sinne
performativ. Performanz funktioniert in diesem Sinne
rekursiv und das Konzept eignet sich dazu, zu erklären, wie
Fremdes zuallererst angeeignet werden kann, wie über­
haupt eine erste Strukturierung geschehen und Bedeutung
gesetzt werden kann, wenn noch keine „Anschlüsse“
bestehen. Man kann insofern sagen, dass sie „den Anfang
erklären“ könne – aber vielleicht sollte man sagen: Es gibt
im Sinne der Performanz gerade gar keinen Anfang. Perfor­
manz basiert darauf, dass das Subjekt in gesellschaftliche
Bezüge eingebunden ist, die seine Zeitlichkeit über­
schreiten.9 Seine Performativität setzt nicht zu irgendeinem
Zeitpunkt im Dasein des Subjekts ein, sondern vielmehr
geht das Subjekt aus ihr hervor. Sinnbildlich steht hierfür
bei Butler die reflexive Wende als performativer Akt, der
das Subjekt inauguriert.10 Indem das Subjekt sich in die
Strukturen einschreibt und dabei performativ Identität
hervorbringt, schließt es andere Möglichkeiten aus; gleich­
zeitig eröffnen sich neue, entstehen neue Notwendigkeiten
oder Gelegenheiten, die den Rahmen für Anschlusshand­
lungen bilden.11 Anschlussfähigkeit ist dabei zu verstehen
9
10
11
Vgl. Judith Butler: Hass spricht. Zur Politik des Performativen,
Frankfurt am Main 2006, S. 51.
Vgl. Butler: Psyche der Macht a.a.O., 63–70.
Anschlusshandlungen sind hier nicht nur in zeitlicher Folge, sondern
auch im Kontext von Handlungs- oder Sinnzusammenhängen zu ver­
stehen, die gewissermaßen als „Gefüge“ (Deleuze) fungieren, in de­
180
IV. Ausgesetzte Performanz
als die Disposition, auf (bestimmte, vorhandene) Identi­
täts-, Handlungs-, Kommunikations- etc. „Angebote“
eingehen zu wollen und zu können, d. h. Situationen und
Möglichkeiten wahrzunehmen, sie überhaupt als bedeut­
same zu erfahrenen und sich sozial „angemessen“ in ihnen
zu verhalten.12 Diese Angemessenheit oder auch Gültigkeit
oder Intellegibilität des Handlungsvollzugs stellt insofern
ein relevantes normatives Kriterium dar, da von ihr
abhängt, was für Möglichkeiten sich dem Subjekt weiterhin
eröffnen und inwiefern es ihm gelingen kann, sein
Begehren fortzuschreiben. Eine solche Anschlussfähigkeit
weist das verwahrloste Individuum gerade nicht auf;
Verwahrlosung bedeutet, dass die performative Aneignung
von Welt und Selbst (an irgendeiner Stelle) ausgesetzt ist.
„Ausgesetzte Performanz“ bedeutet in diesem Sinne, dass
der performative Vollzug derart unterbrochen oder sogar
von Anfang an nicht vorhanden ist, dass Identität und damit
Anschlussfähigkeit nicht (oder nicht mehr) hervorgebracht
werden, was dazu führt, dass gleichfalls Anschlusshand­
12
nen sich das Begehren formt.
Schrage beschreibt Foucaults Konzept der „Subjektivierung durch
Normalisierung“ mit der „These, dass fungible Subjektivität heute
sich im Wunsch nach Anschlussfähigkeit manifestiert“ (Dominik
Schrage: „Subjektivierung durch Normalisierung: zur Aktualisierung
eines poststrukturalistischen Konzepts“, in: Karl-Siegbert Rehberg/
deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) (Hg.): Die Natur der
Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Ge­
sellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Frankfurt am Main 2008,
S. 4127,
http://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/18569
(21.10.2013)), d. h. Anschlussfähigkeit bewirkt nicht nur Subjekti­
vierung, sondern ist wesentlich ihr Ziel: Wenn es erreicht ist, „läuft
der Rest“ von selber.
181
Autonomie und Verwahrlosung
lungen fehlen. In diesem Fall greift ein der Subjektivierung
entgegen gerichteter Mechanismus: Das Individuum, das
nur über wenige (oder wenig intensive) Bezüge zur Welt
verfügt, erfährt nur wenig Bedeutsamkeit und ist auch nur
wenig anschlussfähig; andersherum fällt es ihm mit
geringer Anschlussfähigkeit schwerer, Bedeutsamkeit zu
erfahren und Bezüge zu etablieren. Verwahrlosung ist
damit ein ebenso sich selbst fortschreibender Prozess wie
Subjektivierung.
Die Entstehung oder Herstellung eines solchen Zustandes
der Verwahrlosung ist mit dem bisher Gesagten aus zwei
Richtungen denkbar: Bereits vorhandene Bindungen
könnten von außen verunmöglicht und unterbrochen
werden oder das Individuum könnte bereits an der Ausbil­
dung von Bezugnahmen gehindert worden sein. Verwahrlo­
sung ist damit als hochgradig resignative Haltung
vorstellbar, das Individuum hat sich im wahrsten Wortsinn
aufgegeben. In beiden Fällen kennzeichnet der Mangel an
motivationaler Struktur die innere Dimension des NichtSubjekts, das im Sinne eines identitätslogischen „Selbst“Verständnisses tatsächlich nicht „ist“. Dabei stellt seine
Strukturlosigkeit aber gerade nicht eine fortwährende und
grenzenlose Offenheit gegenüber der Welt dar, sondern sie
bedeutet wesentlich, dass überhaupt keine Empfänglich­
keit, keine Durchlässigkeit gegenüber Anderem/Anderen
besteht, dass alles ausgeschlossen ist. Dieser Selbstverlust
des verwahrlosten Individuums ist die Kehrseite seiner
sozialen und diskursiven „Auslöschung“. Anstatt Identität
182
V. Verwahrlosung als Bedrohung
hervorzubringen und „sich Selbst“ zu konstituieren und
repräsentierbar zu machen, ist das verwahrloste und bezug­
lose Individuum Alterität, d. h. es ist nicht-intelligibel und
für sich selbst ebenso intransparent wie für andere.
V. Verwahrlosung als Bedrohung
Verwahrlosung erscheint gesellschaftlich als bedrohlich,
weil sie einen Bereich kennzeichnet, der nicht von der
Macht durchdrungen und folglich nicht von ihr kontrolliert
und kontrollierbar ist. Das Entscheidende ist dabei nicht
das tatsächliche Verhalten des verwahrlosten Individuums,
sondern der wesentliche Punkt ist, dass die Verwahrlosung
das Individuum als ein Fremdes markiert, das nicht an die
geteilten gesellschaftlichen Werte gebunden ist. Das aber
ist gerade die Funktion der Sozialisierung: Einen gemein­
samen Werte- und Bedeutungshorizont zu etablieren und
damit Sicherheit zu erzeugen. Wenn es also die wesentliche
Rolle von Gesellschaft ist, Subjekte hervorzubringen, so ist
das Nicht-Subjekt im wörtlichen Sinne a-sozial.
Das Nicht-Subjekt ist also gefährlich, weil es nicht an der
„Seele“13 zu packen ist, weil der Diskurs bei ihm nicht
greift: Indem das Individuum nicht begehrt (oder nicht in
einer diskursiv verfassten Weise begehrt), erweist es sich
als nicht von der Macht affizierbar. Man könnte sagen, dass
das verwahrloste Individuum die „Anrede“ (interpellation)
13
Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Ge­
fängnisses, Frankfurt am Main 1994, S. 41 f.
183
Autonomie und Verwahrlosung
verweigert, die bei Althusser das Subjekt begründet, 14 und
sich damit dem Prozess der Identifikation und Subjektivie­
rung entzieht. Da mit ihm auf diese Weise keine „Koopera­
tion“ möglich ist, muss es auf andere Art „beseitigt“ oder
„eliminiert“ werden.15 Das aber ist der Zwangscharakter
einer auf Identität basierenden Gesellschaftlichkeit: Dass
sie Freiheit darin gewährt, welche Identität angeeignet
wird, aber keine Freiheit darüber besteht, ob dies überhaupt
geschieht.
Für das Individuum erscheint Verwahrlosung als bedroh­
liche Alternative – wegen der sozialen Sanktionen, aber
eben auch, weil es fürchtet, sein Selbst und damit seine
(Selbst)Wirksamkeit zu verlieren. In diesem Sinne wird es
unter Umständen eine abwertende oder sonst wie unlieb­
same Anrufung annehmen, um überhaupt zu figurieren.
Verwahrlosung stellt in gewissem Sinne einen Widerstand
gegen die Macht dar, indem das Individuum dort, wo es
verwahrlost/indifferent ist, ihrer regulierenden Funktion
entgeht. Verwahrlosung ist damit als Modell einer (parti­
ellen) „Entunterwerfung“16 denkbar; man könnte sich
vorstellen, dass sich ein Individuum hinsichtlich eines
bestimmten Bereiches bewusst von diskursiven Regulie­
14
15
16
Vgl. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate.
Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg 1977, S. 140–145.
Ein bekanntes literarisches Beispiel hierfür ist Camus’ Figur des
Fremden: Meursault wird vom Gericht zum Tode verurteilt – nicht
weil er einen Mord begangen hat, sondern weil die Jury urteilt, dass
er keine „menschliche Seele“ habe. Auch hier steht also die Mensch­
lichkeit in Frage.
Vgl. Michel Foucault: Was ist Kritik?, Berlin 1992, S. 18.
184
V. Verwahrlosung als Bedrohung
rungen frei macht. Als Ort der Kritik scheint sie jedoch nur
bedingt geeignet, denn es entspricht der inhärenten Logik
des Diskurses, dass das Individuum nur in dem Maße, wie
es unterworfen ist, auch am Diskurs partizipiert; (diskur­
sive) Unterwerfung und Ermächtigung gehen Hand in
Hand. In der Angewiesenheit der Individuen auf gesell­
schaftliche Teilhabe und die Erfahrung von Sinn/Bedeut­
samkeit werden die Ausschlüsse der Ordnung für sie zwin­
gend.
Wenn Foucault über die „Seele“ schreibt, dass sie den
Körper gefangen hält,17 so ist der Verwahrloste gegen diese
Form der seelischen oder psychischen Machtwirkung
immun. Er ist in diesem Sinne frei – gleichzeitig fehlen
ihm jedoch jene Bindungen und Motive, von denen man
sagen könnte, dass sie Freiheit erst bedeutsam machen.
Man könnte sagen: seine Freiheit „nützt ihm nichts“; er
könnte zwar alles tun, aber er hat keine spezielle Veranlas­
sung. Es sind die Bindungen und Festlegungen, die Abhän­
gigkeit und Verletzbarkeit schaffen, aber auch erst Sinn und
Bedeutsamkeit stiften.
Das aufgrund seiner Indifferenz „freie“ Individuum ist
nicht autonom – es besitzt zwar die Freiheit zu Hand­
lungen, aber ohne „Selbst“, ohne durchgehaltene Struktur,
verfügt es über keine Entscheidungsgrundlage. Es ist damit
zwar nicht so sehr von der diskursiven Macht affiziert,
gleichzeitig aber hat es äußeren Einwirkungen und Kontin­
genzen nichts entgegen zu setzen, ist ihnen ohne reflexive
17
Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen a.a.O., S. 42.
185
Autonomie und Verwahrlosung
Distanz ausgesetzt. Indem sie eine kritische Haltung erst
ermöglicht, ist Subjektivierung – bei Foucault auch die
„Sorge um sich“ – paradoxerweise sowohl Machtwirkung
wie auch „Entunterwerfung“, d. h. Schutz vor Fremdbe­
stimmung und Manipulation.
VI. Verwahrlosung als Querschnittsphänomen
Wenn ich im Vorherigen gesagt hatte, dass Verwahrlosung
zur gesellschaftlichen Alterität stilisiert wird, so möchte ich
im Folgenden dafür argumentieren, dass diese Stilisierung
eine Projektion darstellt und dazu dient, eigene Fremdheit
abzuwehren und zu verleugnen.
Die grundlegende „Technik“ dieses Abwehr-Mechanismus
ist es, Individuen in ihren Eigenschaften zu totalisieren.
Das kann bedeuten, dass man z. B. aufgrund des verwahr­
losten Erscheinungsbildes eines Menschen auf seine
mangelnde moralische Integrität etc. schließt. Aber das
wäre eine sehr vereinfachte Darstellung, die gesellschaft­
liche Reaktion auf das Erscheinungsbild eines Menschen
ist sicherlich wesentlich komplexer und hängt von vielen
sozialen Faktoren und situativen Voraussetzungen ab (z. B.
könnte Verwahrlosung auch gerade zu einem bestimmten
Image gehören). Der Punkt hier ist ein anderer. Um ihn
vorzubereiten ist zunächst einmal die Feststellung nötig,
dass es offenbar sehr viele Bereiche gibt, denen jemand
sich widmen kann, denen er seine Aufmerksamkeit
zuwenden kann und hinsichtlich derer er sich disziplinieren
186
VI. Verwahrlosung als Querschnittsphänomen
kann. Es muss also notwendig eine Selektion stattfinden.
Menschen, Subjekte kümmern sich um bestimmte Bereiche
ihrer Existenz und vernachlässigen – indem sie das tun –
andere. Das ist schlichtweg eine Notwendigkeit ihres end­
lichen Daseins – es fällt bloß nicht so stark ins Auge, weil
es kulturell einen Konsens über Anforderungen an die
Selbstdisziplin (Selbstführung, Selbstregulation, Verant­
wortung etc.) des Einzelnen gibt. Welche Bereiche das
betrifft, was erwartet wird, damit ein Individuum nicht
unter die Kategorie „verwahrlost“ fällt, hängt dabei
entscheidend von der Gesellschaft ab, in der es sich
befindet. Nun wird es so sein, dass Individuen sich in
unterschiedlichem Maße regulieren und Verschiedenes in
ihre Existenz integrieren, immer aber wird es sich um eine
Selektion handeln und sie werden – mehr oder weniger
explizit – anderes aus ihrem Leben ausschließen. Sich
gegen Bereiche zu verschließen, sie nicht zu „kultivieren“
bedeutet aber, an diesen Stellen verwahrlost zu sein. Damit
lässt sich sagen, dass Verwahrlosung nicht ein klar abge­
grenztes Phänomen ist, das einige marginalisierte Indivi­
duen betrifft, sondern dass sie zum einen graduell verläuft
und zum anderen jeden betrifft. Offensichtlich muss ein
Individuum gerade in dem Maße, wie es sich spezialisiert
und konzentriert, anderes außer Acht lassen, und so ist
paradoxerweise gerade das besonders zielstrebige, diszipli­
nierte Individuum, das seine Aufmerksamkeit stark fokus­
siert, gegenüber Anderem verschlossen und in Bezug auf
dieses folglich als verwahrlost zu bezeichnen. Man kann
187
Autonomie und Verwahrlosung
spekulieren, ob das weniger zielgerichtete Individuum, das
sich schneller ablenken und sich leicht von anderen Dingen
einfangen lässt, „weniger“ verwahrlost ist als das sehr
disziplinierte. Andererseits besteht doch nur durch die
Richtung von Aufmerksamkeit (und damit notwendig den
Ausschluss) überhaupt ein bestimmter Zugang zur Welt.
Während das Nicht-Subjekt der Welt fremd und gewisser­
maßen monolithisch gegenübersteht, ist das Subjekt durch­
zogen von Fremdheit; mit der Strukturierung, gewisser­
maßen an ihren Rändern, verbreiten sich neue „Schatten
der Fremdartigkeit“18.
VII. Zwei Arten des Selbstverlustes
Bereits herausgestellt hatte ich die Durchdringung von
Fremdbezug und Autonomie, die sich daraus ergibt, dass
das Individuum paradoxerweise nur da „autonom“ sein
kann, wo es strukturiert ist und über ein Selbst verfügt, so
dass das angeblich autonome Subjekt tatsächlich radikal
heteronomen Ursprungs ist. Aber mehr noch: Seine Auto­
nomie droht dann in ihr Gegenteil umzuschlagen, wenn das
Subjekt diese konstitutive Fremdheit verleugnet, wenn es
sich als tatsächlich unabhängig imaginiert und das „Selbst“,
das „sich durchhält“, zum Panzer wird, der es gegenüber
der Umwelt abschottet. Wenn das verwahrloste Individuum
vorgestellt ist als Alterität, die der Welt undurchlässig
18
Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden, Frankfurt am Main
1990, S. 70.
188
VII. Zwei Arten des Selbstverlustes
gegenüber steht, so weist das rigide oder starr seinen
Regeln und Prinzipien folgende Individuum ebenfalls keine
Durchlässigkeit gegenüber Anderem und Fremdem auf.
Der scheinbare Gegensatz von Verwahrlosung und
(Selbst-)Disziplin fällt dort ineinander, wo Autonomie auf
der Grundlage eines einmal etablierten, statischen Gerüstes
gedacht wird; wo das Subjekt sich als „fertig“ begreift und
aufhört, für weitere (und neue) Erfahrungen offen zu sein.
Entlang der Ränder seiner Strukturierung ist das Subjekt
dann ebenso undurchlässig für Fremdes wie das verwahr­
loste Individuum insgesamt. Es handelt sich damit gewis­
sermaßen um ein bloß erweitertes narzisstisches Indivi­
duum, das jenseits des einmal etablierten Rahmens ebenso
beziehungslos ist, wie jenes. Tatsächlich erfüllt dieses
„gepanzerte“ und abgeschottete Subjekt damit nicht die
grundlegenden Anforderungen an ein autonomes Subjekt –
Autonomie erfordert immer das Hinterfragen der eigenen
Grundsätze und Bedingungen. Die Rechenschaft, die ich
von mir selber gebe, ist ein stets unabgeschlossener
Prozess, da ich meine Bedingungen nie vollständig
einholen kann, ich mir nie endgültig transparent bin. 19
Tatsächliche Autonomie (die ihrem Namen nach immer ein
Paradox oder zumindest irreführend bleibt) erfordert stän­
dige Aktualisierung; sie bedeutet, den eigenen heteronomen
Ursprung anzuerkennen und sich als notwendig stets
unvollständig und unabgeschlossen zu begreifen. Es kann
sich immer nur um ein transitorisches und vorläufiges
19
Vgl. Butler: Kritik der Ethischen Gewalt a.a.O., S. 31.
189
Autonomie und Verwahrlosung
Selbstverständnis handeln, das als Anhaltspunkt für weitere
Entscheidungen und Erfahrungen dient – durchgehalten
werden kann konsequenterweise gerade nur die Offenheit
selbst. Logisch auf die Spitze getrieben würde dies jedoch
ein Hintergehen oder Hinterfragen der eigenen Bedin­
gungen bis hinter die ursprünglichen konstitutiven Verwer­
fungen bedeuten. Indem der dort gesetzte Sinn aufgehoben
würde, hätte dies den Verlust des Selbst zur Folge und wird
von Butler entsprechend als „Auslöschung“ bezeichnet, die
das Subjekt bedroht, wenn es seiner konstitutiven Bedin­
gungen oder Setzungen gewahr wird.20 Diese Gefahr erklärt
das Beharren des Subjekts in seiner Verleugnung:
„Seine scheinbar in sich selbst begründete Autonomie
versucht, die Verdrängung zu verschleiern, die zugleich
der Grund des Subjekts wie die fortwährende Möglichkeit
seiner Grundlosigkeit ist.“21
In der Öffnung für das Andere, Fremde ist das Subjekt
durch den Verlust seiner selbst/seines Selbst bedroht. Wer
die ursprünglichen Setzungen von Sinn und Bedeutung in
Frage stellt, steht der Welt in ähnlicher Weise unent­
schieden oder ambivalent gegenüber wie der Verwahrloste.
Je größer also seine Angst vor einer solchen Uneindeutig­
keit ist, desto strenger muss das Subjekt offenbar seinen
heteronomen Ursprung verleugnen und an seinen Überzeu­
gungen festhalten.
20
21
Vgl. Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 13.
Butler: Unbehagen der Geschlechter a.a.O., S. 77.
190
VIII. Umgang mit Fremdheit
Mit dem bisher Gesagten habe ich dargestellt, dass einer­
seits Verwahrlosung und Disziplinierung in einer gewissen
Hinsicht zusammenfallen und andererseits tatsächliche
Autonomie in letzter Konsequenz ebenso wie Verwahrlo­
sung den Verlust eines (stabilen) Selbst bedeutet. Das Indi­
viduum ist damit von zwei Seiten von Selbstverlust bedroht
und muss sich in dem Spannungsfeld von Pseudoauto­
nomie22 und Verwahrlosung positionieren. Meine Idee
dabei ist, dass es sich bei Verwahrlosung wie auch bei
Subjektivierung um unterschiedliche Weisen handelt, mit
einer tatsächlich unhintergehbaren Fremdheit (in der Welt,
gegenüber der Welt) umzugehen.
VIII. Umgang mit Fremdheit
Hatte ich Subjektivierung eingangs als Vorgang der Begeg­
nung und Auseinandersetzung mit Fremdheit gedeutet, so
ist dem nun hinzuzufügen, dass jedes Erkennen gleicher­
maßen ein Verkennen ist und jede Strukturierung an ihren
Rändern notwendig neue Fremdheit(en) erzeugt. Dieses
„vertraute Andere“, die Fremdheit in mir selbst, stellt
gerade den „Preis“ der heteronomen Subjektivierung dar.
Ich handle mir – um bei der Metapher zu bleiben – statt der
Gegenüberstellung mit jener gewissermaßen monolithi­
schen und absoluten Fremdheit Fremdheiten ein, die durch
mich hindurchgehen, die mich quer durchziehen. Diese
22
D. h. jener abgeschotteten Form der Autonomie, in der sich das Indi­
viduum als völlig eigenständig imaginiert.
191
Autonomie und Verwahrlosung
Offenheit und das „Hineinnehmen“ des Fremden sind
gefährlich, weil ich mich damit verletzlich mache, mich
gewissermaßen ausliefere. Gleichzeitig liegt genau hier
auch die ethische Wertigkeit, wie sie von Butler dargestellt
wird: Meine Verletzlichkeit bedeutet, dass ich mich
einlasse, dass ich mich affizierbar, empfänglich für
Andere/Anderes mache, dass ich mich nicht abschotte. Ich
möchte nicht verletzt werden, aber ich riskiere es, weil die
Offenheit und die Verbindungen mir wichtiger sind als die
Gefahr, der ich mich aussetze. Der Schmerz einer Verlet­
zung fungiert dann als eine Art Nachweis:
„Meine Verletzung selbst belegt, dass ich offen für
Eindrücke, dass ich dem Anderen auf eine Weise ausgelie­
fert bin, die ich nicht vollständig vorhersagen oder
kontrollieren kann.“23
Gleichzeitig wird die Fremdheit meiner Selbst, diese
Intransparenz, die aus meiner heteronomen Konstitution
erwächst, zur Grundlage meiner ethischen Verpflichtung
für den Anderen. Indem ich begreife, dass seine „Identität“
ebenso unabgeschlossen und unvollständig ist, wie meine
Kenntnis meiner selbst, setzte ich das Urteil über ihn aus
und bewahre ihm gegenüber Offenheit:
„Ich spreche als ein ‚Ich‘, aber ich glaube nicht irriger­
weise, mein gesamtes Tun zu kennen, wenn ich so rede.
Ich stelle fest, dass schon mein Entstehungsprozess den
Anderen in mir impliziert, dass meine eigene Fremdheit
23
Vgl. Butler: Kritik der ethischen Gewalt a.a.O., S. 114.
192
VIII. Umgang mit Fremdheit
mir selbst gegenüber paradoxerweise die Quelle meiner
ethischen Verbindung mit anderen ist.“24
Andersherum heißt das: Sich dem Anderen gegenüber
abzuschotten, der Welt undurchlässig gegenüber zu stehen,
keine leidenschaftlichen Beziehungen zu ihr zu unterhalten
bedeutet, die Grundlage aufzugeben, aus der Verantwort­
lichkeit, ethisches Verpflichtetsein und Menschlichkeit
überhaupt erst resultieren.
Wenn Verwahrlosung keine Trennung vornimmt und für
Eindrücke unempfänglich ist und andererseits das Subjekt
affizierbar ist auf der Grundlage von Grenzziehungen, so
ergibt sich für das Individuum die scheinbar paradoxe
Forderung, affizierbar, berührbar und durchlässig zu sein
und gleichzeitig das Urteil auszusetzen, keine (starren)
Abgrenzungen zu vollziehen. Erforderlich ist eine „Doppel­
bewegung [...] in der wir moralische Normen geltend
machen und zugleich die Autorität in Frage stellen, mit
welcher wir diese Normen geltend machen.“25 Ein solches
Vorgehen impliziert den Verzicht auf (stabile, unveränder­
liche, abgeschlossene) Normen, Identitäten und Selbste.
Auch wenn ich meine Aufmerksamkeit auf etwas richte,
mich auf etwas konzentriere, mich für etwas entscheide,
muss ich mich fragen, was ich dadurch ausschließe, was
ich vernachlässige. Ich werde dann gewahr, dass der
Augenblick der Entscheidung ein Wahnsinn ist.26
24
25
26
Ebd. S. 114.
Ebd. S. 139.
Vgl. Sören Kierkegaard: Furcht und Zittern, zitiert nach Jacques
193
Autonomie und Verwahrlosung
Die ethische Herausforderung aber besteht meiner Ansicht
nach darin, das Begehren nach dem Anderen, nach dem,
das ich nicht bin, dauerhaft aufrecht zu erhalten. Gerade
weil Identität nur ein Instrument und eine Näherung und
immer vorläufig und unabgeschlossen ist, ist das Begehren,
den anderen zu erkennen, „verpflichtet (...), sich als
Begehren am Leben zu erhalten und sich nicht in der
Befriedigung aufzulösen.“27
27
Derrida: „Den Tod geben“, in: Anselm Haverkamp (Hg.): Gewalt
und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin. Frankfurt am Main 1994,
S. 331–445, hier S. 392.
Butler: Kritik der Ethischen Gewalt a.a.O., S. 60.
194
Haltung
Zu einer kritischen Reformulierung des
Personbegriffs in drei Thesen
Frauke A. Kurbacher
Dieser Beitrag ist aus urheberrechtlichen Gründen in der
online-Version nicht enthalten. Wir bitten um Ihr
Verständnis.
195
Autor_innen- & Herausgeberinnenverzeichnis
Laurin Berresheim, geboren 1992 in Lindenberg (im
Allgäu), beendete 2012 sein Bachelor-Grundstudium im
Kernfach Philosophie an der Freien Universität Berlin. Der
Titel seiner Abschlussarbeit lautet: Naturrecht und Sittlich­
keit in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts. Seit
dem Wintersemester 2012 studiert er im Masterstudiengang
Philosophie an der Freien Universität von Berlin.
Anne Clausen studierte Komparatistik, Spanisch,
Geschlechterforschung und Interkulturelle Germanistik in
Göttingen. Ihre Magisterarbeit trug den Titel Fremdheit
und Wahnsinn. In Göttingen gab sie Seminare zur Fremd­
heitsthematik wie zur Medientheorie und der Kritischen
Theorie. Zurzeit arbeitet sie an einer Promotion über das
Subjekt, Verletzlichkeit und Verantwortung im Anschluss
an Judith Butler. Interessensschwerpunkte: Postkoloniale
Theorie, Herrschafts-/Unterdrückungsstrukturen, Verletz­
lichkeit, das (marginalisierte) Subjekt, Kontinentale Philo­
sophie, Poststrukturalismus, Phänomenologie, Kritische
Theorie, Gender Theorie und Psychologie.
Karen Koch studierte im Bachelor-Studium Philosophie,
Geschichte und Kultur des Vorderen Orients und Griechi­
sche Literatur an der Freien Universität Berlin und schloss
2009 mit einer Arbeit über Heideggers Sein und Zeit ab.
209
Autor_innen- & Herausgeberinnenverzeichnis
Während ihres Masterstudiums, ebenfalls an der Freien
Universität Berlin, absolvierte sie ein Auslandssemester an
der Sorbonne IV, Paris. Sie beendete ihr Studium 2014 mit
einer Arbeit über Kants Kritik der reinen Vernunft, welche
den Titel trug: Kants Kritik der Metaphysik. Eine Analyse
seines systematischen Gedankengangs. Derzeit bereitet sie
ihre Promotion über den Zweckbegriff bei Kant und Hegel
vor. Sie ist seit 2011 aktives Mitglied des IiAphR. Veröf­
fentlichungen:
mit
Johanna
Lang:
„Flussers
Technikbegriff“, in: Flusser Studies 16, 2013, www.flus­
serstudies.net.
Susann Köppl studierte Philosophie und Musikwissen­
schaft in Berlin und arbeitet derzeit an ihrer Promotion über
Selbst und Selbstsein. Seit 2008 ist sie Mitglied des IiAphR.
Veröffentlichungen (Auswahl): „Das ,Selbst‘ als Organisa­
tionsprinzip. Vom ,wahren Selbst‘ zur Konsensbildung“, in:
R. Adolphi (Hg.): Identitäten des Selbst. Beiträge zu einem
transdisziplinären Problemfeld. Münster (im Erscheinen);
„Sei ganz du selbst! Gedanken über die Authentizität als
normatives Ideal in Zeiten des modernen Individualismus“,
in: C. Duchêne-Lacroix, F. Heidenreich, A. Oster (Hg.):
Individualismus – Genealogie der Selbst(er)findungen.
Berlin (im Erscheinen) .
Frauke A. Kurbacher, Gründung und Leitung des IiAphR,
Philosophiestudium an der WWU Münster, Promotion über
„Urteilskraft“, gefördert im DFG-GK Subjekt und Person
210
Autor_innen- & Herausgeberinnenverzeichnis
in der Philosophie der Neuzeit, Lise-Meitner-Habilitationsstipendium des Landes NRW für eine Philosophie der
Haltung, 2014 Habilitation an der Bergischen Universität
Wuppertal; Publikationen (Auswahl): Selbstverhältnis und
Weltbezug. Urteilskraft in existenz-hermeneutischer
Perspektive. Hildesheim 2005; „Was ist Haltung?“, in:
www.theomag.de (Dez. 2006); „Liebe zum Sein als Liebe
zum Leben“, in: Hannah Arendt: Der Liebesbegriff bei
Augustin. Hg. F.A. Kurbacher, Hildesheim 2006; „Liebe
und Person. Liebesphilosophien als Interpersonalitätstheo­
rien“ in: ZPDE, Heft 4, Hannover 2011; „,Haltungs­
wechsel‘. Zur Interpersonalität und Interkulturalität des
philosophischen Liebesbegriffs“, in: Die Welt der Liebe.
Liebessemantiken zwischen Globalität und Lokalität. Hg. T.
Morikawa, Bielefeld 2014; „Selbst und Haltung. Zu einer
kritischen Reformulierung des Personbegriffs“, in R.
Adolphi (Hg.): Identitäten des Selbst. Beiträge zu einem
transdisziplinären Problemfeld. Münster (im Druck).
Johanna Lang hat von 2007 bis 2011 Philosophie und
Sozialwissenschaften in Leipzig studiert und absolviert seit
2011 den Master Philosophie in Berlin. Ihr Schwerpunkt ist
praktische Philosophie. Veröffentlichungen: „Über das
Verhältnis von Eudaimonia und Erziehung“, in Philokles
Heft 19, Leipzig 2012; mit Karen Koch: „Vilém Flussers
Technikbegriff“, in: Flusser Studies 16, 2013,
www.flusserstudies.net. Derzeit schreibt sie an ihrer
Masterarbeit über die Authentizität bei Charles Taylor.
211
Autor_innen- & Herausgeberinnenverzeichnis
Martin Mettin studierte Rechts- und Sozialwissenschaften
sowie Philosophie in Leipzig und schloss den Master der
Philosophie an der Freien Universität Berlin mit einer
Arbeit über das Echo im Werk Walter Benjamins ab.
Zurzeit promoviert er zum Versuch einer Kritischen
Theorie des Hörens im Anschluss an Ulrich Sonnemann.
Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Gesellschafts­
theorie, Epistemologie, Religionsphilosophie und Ästhetik.
Henning Nörenberg studierte Philosophie, Germanistik
und Informatik an den Universitäten Rostock und Kopen­
hagen und promovierte 2013 im Fach Philosophie. Seit
2012 ist er Mitarbeiter in Projekten des "Studium
Optimum" an der Philosophischen Fakultät Rostock und
Mitglied im Redaktionskollegium der FUGE | Journal für
Religion & Moderne. Veröffentlichungen (Auswahl):
„Existenzphilosophie als Ontologie moralischer Phäno­
mene?“, in: Hans Feger, Manuela Hackel (Hg.): Existential
Philosophy and Ethics. Berlin 2013; mit Michael Groß­
heim: „Die Paulinische Anthropologie aus Sicht der Leib­
phänomenologie von Hermann Schmitz“, in: Christian
Strecker, Joachim Valentin (Hg.): Paulus unter den Philo­
sophen. Stuttgart 2013.
Nina Rabuza studierte Philosophie und Politikwissenschaft
in Halle/Saale und Berlin. In ihrer Masterarbeit mit dem
Titel Dialektik, Tod und Utopie befasste sie sich mit
Theodor W. Adornos Kritik an Martin Heideggers Funda­
212
Autor_innen- & Herausgeberinnenverzeichnis
mentalonotologie. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen
Kritische Theorie, Erkenntnistheorie und Sozialphiloso­
phien des 19. und 20. Jahrhunderts.
Ruth Eva Seidlmayer hat Philosophie und Alte Geschichte
in Hannover, Paris und Frankfurt am Main studiert. Seit
2012 promoviert sie als Stipendiatin der Rosa-LuxemburgStiftung in Frankfurt an der Schnittstelle von antiker Philo­
sophie und Sozialphilosophie über konkurrierende und
korrespondierende epistemische Modelle und Handlungs­
theorien. 2013 erfolgte ein Forschungsaufenthalt an der
AUC in Kairo. Der (Arbeits-)Titel ihrer Dissertation ist:
Wirklichkeit und Möglichkeit. Als unterschiedliche
Zugänge zur Welt. Ihr systematisches Projekt zielt darauf,
über die Erarbeitung unterschiedlicher Zugänge zur Welt
und die Verknüpfung von antiker und zeitgenössischer
Theorie, Handlungsspielräume im Alltag zu eröffnen.
Thorsten Streubel, geb. 1975, war zunächst Lehrbeauf­
tragter und wiss. Mitarbeiter an der Universität Würzburg
und danach Lektor und wiss. Mitarbeiter an der FU Berlin.
Zuletzt bekleidete er im WiSe 2013/14 eine Gastprofessur
an der FU Berlin. Promoviert wurde er 2005 an der Univer­
sität Würzburg. (Titel der Dissertation: Das Wesen der Zeit.
Zeit und Bewusstsein bei Augustinus, Kant und Husserl.)
Die Habilitation erfolgte 2013. (Titel der Habilitations­
schrift: Kritik der philosophischen Vernunft. Die Frage
nach dem Menschen und die Methode der Philosophie.)
213
Autor_innen- & Herausgeberinnenverzeichnis
Zudem liegen zahlreiche Aufsätze zur Leib-Körper-Proble­
matik, zum Verhältnis von Bewusstsein, Körper und Welt
sowie zur Wahrheitsfrage, aber auch zur Ethik vor. Z. B.:
„Der Leib. Ein merkwürdiges ,Ding‘. Zum Leib als Werk­
zeug und Vorstellung“, in: Philosophisches Jahrbuch 1,
2014; „Wahrheit als methodisches Problem der phänome­
nologischen Deskription“, in: Husserl Studies (2), 2011;
„Anschauung als Fundament, Gegenstand und Rechtsquelle
der Phänomenologie“, in: Phänomenologische For­
schungen, 2008.
Nikolaos Tzanakis-Papadakis studierte Politikwissen­
schaft und Geschichte an der Panteion Universität Athen
und zurzeit Philosophie auf Master an der Freien Univer­
sität Berlin. Er schreibt seine Abschlussarbeit über Marx'
Geschichtsdenken. Seit 2012 ist er Stipendiat der Rosa
Luxemburg Stiftung und leitete 2013 die Tagung „Span­
nungsverhältnis Subjekt?“ wissenschaftlich mit .
Christine Witt, geboren 1983 in Frankfurt/Oder, studierte
zunächst Pharmazie und später, von 2006 bis 2009 Kultur
und Technik in Berlin und schrieb ihre Bachelorarbeit zum
Thema Differenzierungen der Freiheit. Die Herausforde­
rung der modernen Hirnforschung unter dem Gesichts­
punkt des Naturalismus A. Schopenhauers. Von 2009 bis
2012 studierte sie Philosophie des Wissens und der Wissen­
schaften an der TU Berlin und beendetet dies mit der
Masterarbeit Der Schwindel der Angst. Das Erbe S. Kierke­
214
Autor_innen- & Herausgeberinnenverzeichnis
gaards im Selbstverständnis der modernen Freiheit. Derzeit
promoviert sie an der TU Berlin im Fachbereich Philoso­
phie. Schwerpunkt: Sören Kierkegaards Analysen der
Angst und Verzweiflung im Bezug zur Gegenwart.
215
Universitätsverlag der TU Berlin
Susann Köppl, Johanna Lang, Karen Koch (Hrsg.)
SPANNUNGSVERHÄLTNIS SUBJEKT?
Tagung des Internationalen interdisziplinären
Arbeitskreises für philosophische Reflexion (IiAphR)
06. bis 08. Juni 2013 an der Technischen Universität Berlin
ISBN 978-3-7983-2702-3 (Druckversion)
ISBN 978-3-7983-2703-0 (Onlineversion)
ISBN 978-3-7983-2702-3
www.univerlag.tu-berlin.de
Umschlag für Gesamtauflage_einzeilig m Zusatztitel oben.indd 1
Susann Köppl * Johanna Lang * Karen Koch
Das Subjekt ist einer der zentralsten Begriffe in der Philosophie und den Geisteswissenschaften überhaupt, gleichzeitig jedoch auch einer, der besonders schwierig zu
fassen ist. Nicht nur lassen sich philosophiehistorisch stark variierende Bedeutungen
dieses Begriffes ausmachen, darüber hinaus stellt es eine besondere Herausforderung dar, das Subjekt ins Verhältnis zu anderen zentralen Begriffen der Philosophie zu
setzen, wie etwa Person, Selbst, Ich, Substanz, Gehirn und Individuum. Die weit verbreitete Unklarheit über diesen Begriff und seine doch nicht zu leugnende Relevanz
gaben uns Anlass zu diesem Projekt – die ihm inne liegenden Spannungsverhältnisse
den Ausgangspunkt.
Spannungsverhältnis Subjekt?
Spannungsverhältnis Subjekt?
Universitätsverlag der TU Berlin
30.10.2014 10:56:15
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