Universitätsverlag der TU Berlin Susann Köppl, Johanna Lang, Karen Koch (Hrsg.) SPANNUNGSVERHÄLTNIS SUBJEKT? Tagung des Internationalen interdisziplinären Arbeitskreises für philosophische Reflexion (IiAphR) 06. bis 08. Juni 2013 an der Technischen Universität Berlin ISBN 978-3-7983-2702-3 (Druckversion) ISBN 978-3-7983-2703-0 (Onlineversion) ISBN 978-3-7983-2702-3 www.univerlag.tu-berlin.de Susann Köppl * Johanna Lang * Karen Koch Das Subjekt ist einer der zentralsten Begriffe in der Philosophie und den Geisteswissenschaften überhaupt, gleichzeitig jedoch auch einer, der besonders schwierig zu fassen ist. Nicht nur lassen sich philosophiehistorisch stark variierende Bedeutungen dieses Begriffes ausmachen, darüber hinaus stellt es eine besondere Herausforderung dar, das Subjekt ins Verhältnis zu anderen zentralen Begriffen der Philosophie zu setzen, wie etwa Person, Selbst, Ich, Substanz, Gehirn und Individuum. Die weit verbreitete Unklarheit über diesen Begriff und seine doch nicht zu leugnende Relevanz gaben uns Anlass zu diesem Projekt – die ihm inne liegenden Spannungsverhältnisse den Ausgangspunkt. Spannungsverhältnis Subjekt? Spannungsverhältnis Subjekt? Universitätsverlag der TU Berlin Susann Köppl | Johanna Lang | Karen Koch (Hrsg.) Spannungsverhältnis Subjekt? Tagungsband Spannungsverhältnis Subjekt? Tagungsband Tagung des Internationalen interdisziplinären Arbeitskreises für philosophische Reflexion (IiAphR) 06. bis 08. Juni 2013 an der Technischen Universität Berlin Herausgeberinnen: Susann Köppl Johanna Lang Karen Koch Universitätsverlag der TU Berlin Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar. Universitätsverlag der TU Berlin 2014 http://www.univerlag.tu-berlin.de Fasanenstr. 88, 10623 Berlin Tel.: +49 (0)30 314 76131 / Fax: -76133 E-Mail: [email protected] Das Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Satz/Layout: Susann Köppl, Andrea Haas ISBN 978-3-7983-2702-3 (print) ISBN 978-3-7983-2703-0 (online) Online publiziert auf dem Digitalen Repositorium der Technischen Universität Berlin: URL http://opus4.kobv.de/opus4-tuberlin/frontdoor/index/index/docId/5303 URN urn:nbn:de:kobv:83-opus4-53035 [http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:83-opus4-53035] Die Druckfassung enthält zwei zusätzliche Aufsätze, die in der Online-Fassung aus urheberrechtlichen Gründen nicht enthalten sind. Zum Geleit Mit dem „Spannungsverhältnis Subjekt?“ ist eine Thematik aufgerufen, die nicht nur die philosophischen Gemüter seit langem bewegt und gleichzeitig aktuelle Brisanz besitzt, sondern es ist ein Spannungsfeld über die Frage nach dem Subjekt eröffnet, das uns als Thema entgegen tritt, uns ohnehin angeht, ob wir wollen oder nicht. Das Subjekt lässt sozusagen keinen unbeteiligt. Und insofern verbindet sich das Thema dieses Sammelbandes auch mit einigen Grund­ gedanken jenes Rahmen gebenden Arbeitskreises, dem Internationalen interdisziplinären Arbeitskreis für philoso­ phische Reflexion (IiAphR), aus dem heraus die Tagung und der wiederum daraus entstandene vorliegende Band hervor­ gegangen sind. Persönliches, existentielles Engagement, Subversion und Kooperation können in diesem Sinn als leitende Prinzipien genannt werden, in denen sich Kritik wie Verbindlichkeit als Maßgaben für die gegenseitige selbstorganisierte Nach­ wuchsförderung in wechselseitigem Austausch mit Institu­ tionen und Fachleuten produktiv verbinden. Reflexion und Denken selbst scheinen ein grunddemokratisches Moment zu umgreifen und fragen nicht im Besonderen nach institu­ tionellen Einstufungen und Hierarchien. Wer denkt, denkt. So stehen etwa in den Veranstaltungen wie auch in den daraus entstehenden Publikationen Gedanken junger Studierender oder auch außerakademisch Interessierter 5 ganz selbstverständlich gleichgewichtig neben denen von arrivierten Akademiker_innen – und auch dieser Band umfasst die ganze Bandbreite von ganz jungen Denkern und Denkerinnen bis hin zu den im Akademischen weiter fortgeschritteneren. Die Frage nach dem „Spannungsver­ hältnis Subjekt“ ist, wie auch andere Initiativen des Arbeitskreises, in das derzeit größere Forschungsprojekt mit dem Titel: „Erfahrungen der Asymmetrie – Orientie­ rung in der Kritik“ eingebunden und nimmt sich darin eigen aus. Der Ausgang von Asymmetrie bezieht sich auf ihre unaufhebbare Überwindung und die daraus zugleich erwachsende verantwortliche Aufmerksamkeit auf sie. Es ist eine Aufmerksamkeit, in der diese Asymmetrie eine grundsätzlich kritisch befragte bleibt und bleiben muss. Gegenüber den stark konzeptionellen Ausrichtungen der Veranstaltungen zu „Simultaneität. Modelle der Gleichzei­ tigkeit“1 oder: „Inversion. Öffentlichkeit und Privatsphäre im Umbruch“2 scheint hier nun im Fragen nach Subjekti­ vität der Radius zunächst enger gezurrt und auf den indivi­ duierten Einzelnen und seine ihm eigenen Spannungen gerichtet zu sein. Gleichwohl ist sofort deutlich, dass solche Spannungen nicht unabhängig von den Gemein­ schaften, Zusammenhängen und Gesellschaften sind, in denen wir uns befinden. Der Blick vom einzelnen Span­ 1 2 6 Siehe auch den IiAphR-Band: Simultaneität. Modelle der Gleichzei­ tigkeit in den Wissenschaften und Künsten. Hrsg. v. Philipp Hub­ mann und Till Julian Huss. Bielefeld 2013. Und den weiteren IiAphR-Band: Inversion. Privatsphäre und Öffent­ lichkeit im Umbruch. Hrsg. v. Frauke A. Kurbacher, Agnieszka Igiel und Felix von Boehm. Würzburg 2012. nungssubjekt ist letztlich immer auch ein geweiteter auf das Umfeld und vermag so u. a. wissenschaftspolitische Dimensionen zu gewinnen. Vom Anliegen des Kreises her gesprochen, ließe sich auf diese Weise kritisch konsta­ tieren, dass aufgrund von europaweiten Veränderungen der universitären Profile, Bildungslandschaften und ökonomi­ schen Lagen Nachwuchsförderung vielfach ohnehin schon gar nicht mehr betrieben werden kann. Mittlerweile scheinen sich vielmehr Fragen nach der bloßen Wahrung von Universitas, ihrer Eigenständigkeit und Bildung über­ haupt zu stellen – wiewohl diese Fragen viel zu wenig gestellt und diskutiert werden, sowohl öffentlich als auch in den eigenen Kreisen, und zwar in einer Weise wenig, die Sorge bereiten kann und sollte. Es ist eine Sorge um die Autonomie der Universitäten und derer, die darin sind, und die kritische Anfrage, inwiefern hinter dem angestammten Bildungsland – im vielbemühten Bild der „Dichter und Denker“ – vielleicht mittlerweile nicht viel mehr als ein Etikettenschwindel steckt. Es bedarf solch einer intern wie extern greifenden Diskussion, die den Machtzentrierungen durch Elitefokussierungen und den Standortschließungen, die der Reduzierung und dem Verlust gerade intellektuelle und kulturelle Diversität entgegensetzt. Vor dem Hinter­ grund von fehlenden Mitteln im Zuge universitärer Umstrukturierungen, sukzessiv gekürzter, geplant fort gesparter, aber benötigter Stellen, fortfallender Lehrstühle, ganzer Institute, Stoffe und Standorte, aber auch angesichts der nicht zuletzt daraus entstehenden zeitlichen und inhalt­ 7 lichen Lücken, nimmt sich dann unter Umständen noch einmal mehr aus, was es bedeutet, sich selbst gegenseitig anerkennend Raum für freies Reflektieren, für Denkfreiheit zu geben – auch in Form eines gemeinsamen Bandes, der sich damit auch einem weiteren Publikum öffnet. Nicht zuletzt in diesem Sinn darf man gespannt sein, welche Frei­ räume für freies Denken sich daraus ergeben und vor allem, was darin für Fragen aufgeworfen werden. Ein herzlicher Dank gilt den wissenschaftlichen Leiter_innen der Tagung und den Herausgeberinnen des Bandes: Karen Koch, Susann Köppl, Johanna Lang und Nikolaos Tzanakis-Papadakis, der kooperierenden Institu­ tion: der Technischen Universität Berlin sowie natürlich den Beitragenden des vorliegenden Bandes. Allen Leser_innen viel Freude dabei! * * IiAphR * * * * Frauke A. Kurbacher Berlin im Frühjahr 2014 8 * * IiAphR * * * * Internationaler interdisziplinärer Arbeitskreis für philosophische Reflexion Vorwort „Spannungsverhältnis Subjekt?“ Obwohl sich ein Großteil der gegenwärtigen philosophi­ schen und wissenschaftlichen Diskussionen vom Subjekt verabschiedet zu haben scheint, ist es an anderer Stelle überraschend lebendig und gilt als letzter Bezugspunkt, als Grundbaustein von Theorie. Das wirft die Frage auf, welcher Umstand diese gegensätzlichen Positionen ermög­ licht und ob sie sich tatsächlich so ausschließen, wie es auf den ersten Blick wirkt. Dabei schien es uns vielverspre­ chend, sich dem Subjekt(begriff) über dessen Spannungs­ verhältnisse anzunähern. In diesem Sinne gliederten wir die Tagung in vier Themen­ felder, die wir als interessant und aussichtsreich erachteten und die als einzelne Scheinwerfer auf die Thematik verstanden wurden: das Subjekt und das Selbst – Span­ nungen innerhalb der Selbstbezüglichkeit, das erkennende Subjekt zwischen Bedingung und Möglichkeit, das politi­ sche Subjekt zwischen Selbst- und Fremdbestimmung und das soziale Subjekt zwischen Authentizität und Anerken­ nung. In ihnen kreisten wir bspw. um folgende Fragen: Kann man das Subjekt losgelöst von der starken Idee einer Instanz (eines Kerns, eines Ichs oder auch einer Seele) 9 denken oder ist man zu seiner Beschreibung notwendig auf sie verwiesen? Wo liegt der Unterschied zwischen den Begriffen „Subjekt“, „Selbst“, „Ich“ und „Person“? Was sind „Selbstverhältnisse“? Kann es ein Subjekt geben, wenn wir an der Idee der Autonomie (in einem starken Sinne) zweifeln? Ist das Subjekt (substantieller) Träger von Eigenschaften oder Produkt von Diskursen bzw. sogar sprachliches Konstrukt? Ist das Subjekt sein Gehirn? Welche Erkenntnisansprüche kann das Subjekt stellen? Wie ist das Verhältnis von Subjekt und sozialer Umwelt zu beschreiben, gerade auch mit Blick auf die Subjektwer­ dung? Wie geht der individuelle Anspruch nach Selbstver­ wirklichung oder Authentizität mit dem gleichzeitigem Streben nach (sozialer) Anerkennung d'accord? In der Diskussion ging es uns nicht darum, diese Span­ nungen aufzulösen oder als trügerisch zu verwerfen. Auch war es nicht unser Anliegen, fertige Definitionen zu geben oder eine bloß historische Auflistung der verschiedenen Subjektdefinitionen vorzunehmen. Im Gegenteil ging es uns vorwiegend darum, die dem Subjekt(begriff) inhä­ renten Spannungsverhältnisse als solche ernst zu nehmen und aus verschiedenen Perspektiven in ihrer Komplexität zu beleuchten, ihre Bedeutung zu verstehen und diese zu konkretisieren, um uns so einer angemessenen Interpreta­ tion desselben zu nähern. Vielleicht, so war die implizite Annahme, kann man dem Subjekt(begriff) genau über diese Spannungsverhältnisse auf eine fruchtbare Art und Weise begegnen. 10 Dieser Sammelband ist nun das gebündelte Resultat dieser, unserer Tagung, die vom 06.06.2013 bis 08.06.2013 an der Technischen Universität Berlin statt fand. Die Tagung wurde ausgerichtet vom Internationalen Interdisziplinären Arbeitskreis für philosophische Reflexion (kurz dem IiAphR) – in persona von Karen Koch, Susann Köppl, Johanna Lang und Nikolaos Tzanakis-Papadakis. Sie setzte die Forschungsreihe Erfahrungen der Asymmetrie. Orien­ tierung in der Kritik fort, die der IiAphR seit 2009 verfolgt. Der IiAphR ist ein philosophischer Arbeitskreis, der jedem philosophisch interessierten Menschen offen steht. Seine Arbeit besteht vorwiegend in jährlichen Veranstaltungen (Tagungen, Workshops, Colloquien u. ä.) zu Themen, die innerhalb des Arbeitskreises entstehen und aus Publika­ tionen, die wiederum aus diesen Veranstaltungen hervor gehen (können). Nähere Informationen gibt es unter: www.iiaphr.eu. Doch möchten wir das Vorwort nicht nur nutzen, um kurz die Tagung und uns selbst vorzustellen, sondern auch, um uns ganz herzlich für die Unterstützung zu bedanken und zwar bei der Technischen Universität Berlin, namentlich bei Thomas Gil, Nina Krampitz und Rainer Adolphi, für die Zurverfügungstellung des Raums und die Bewerbung der Tagung, bei dem Universitätsverlag der Technischen Universität Berlin, namentlich bei Dagmar Schobert, für die Möglichkeit der Publikation, bei Landbrot und Zwer­ genwiese, die für unser leibliches Wohl sorgten, bei Andrea Haas für die Unterstützung bei der Umschlaggestaltung des 11 Bandes und ganz besonders natürlich bei den Vortragenden, die auf eigene Kosten und Mühen an unserer Tagung mitwirkten: Sophia Lena Sawall, Christine Witt, Stefan Kühnen, Laurin Berresheim, Nina Rabuza, Martin Mettin, Thorsten Streubel, Bennett Schuster, Lukas von Bodel­ schwingh, Hannah Holme, Henning Nörenberg, Anne Clausen, Frauke A. Kurbacher und Eva Seidlmayer. Leider fanden nicht alle Vortragenden die Zeit und die Kraft sich an dem Band zu beteiligen, doch auch ihnen sei gesagt: Schön dass ihr dabei wart! Ein herzliches Dankeschön geht ebenfalls an Felix Bräuer und Till Ermisch für Anregung und Kritik und natürlich an alle IiAphRianer_innen, die uns unterstützt haben und ohne die der Kreis wie seine Veran­ staltungen nicht möglich wären. Die Herausgeberinnen 12 Inhaltsverzeichnis DIE HERAUSGEBERINNEN Spannungsverhältnis Subjekt? ....................................................15 CHRISTINE WITT Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts ......................................................................................25 LAURIN BERRESHEIM Das vereinzelte Dasein. John Haugelands Interpretation des Daseins in Sein und Zeit .......................................................43 NINA RABUZA & MARTIN METTIN Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie ..............59 EVA SEIDLMAYER Das Subjekt im Spannungsverhältnis von epistemischer Struktur und Handlung. Ein historisch systematischer Beitrag ........................................................................................81 THORSTEN STREUBEL Das Ich und sein Subjekt. Oder warum ich nicht mein Gehirn bin .................................................................................101 HENNING NÖRENBERG Der „Absolutismus des Anderen“ als ein Paradigma der Subjektkonstitution ...................................................................125 SUSANN KÖPPL Subjektivation und Selbstsein ..................................................147 13 ANNE CLAUSEN Autonomie und Verwahrlosung. Das Subjekt zwischen zwei Formen des Selbstverlusts ...............................................171 FRAUKE A. KURBACHER Haltung. Zu einer kritischen Reformulierung des Personbegriffs in drei Thesen ..............................................................195 Autor_innen- & Herausgeberinnenverzeichnis ........................209 14 Spannungsverhältnis Subjekt? Die Herausgeberinnen Das Subjekt ist einer der zentralen Begriffe der Philosophie und Geisteswissenschaften überhaupt, gleichzeitig jedoch auch einer, der besonders schwierig zu fassen ist. Nicht nur lassen sich philosophiehistorisch stark variierende Bedeu­ tungen dieses Begriffes ausmachen, darüber hinaus stellt es eine besondere Herausforderung dar, das Subjekt ins Verhältnis zu anderen zentralen Begriffen der Philosophie zu setzen, wie etwa Person, Selbst, Ich, Substanz, Gehirn und Individuum. Die weit verbreitete Unklarheit über diesen Begriff und seine doch nicht zu leugnende Relevanz gaben uns Anlass zu diesem Projekt, die ihm inne liegenden Spannungsverhältnisse den Ausgangspunkt. Bereits in der Antike lassen sich unterschiedliche Konzep­ tionen des Subjekts finden. So bezeichnet etwa Aristoteles dasselbe als Träger von Eigenschaften wie auch von Hand­ lungen und benennt damit sowohl Gegenstände als auch Menschen. Zum zentralen Begriff wird das Subjekt aber erst in der Neuzeit. Exemplarisch lassen sich die erkennt­ nistheoretischen Ansätze Thomas Hobbes' und René Descartes' nennen. Während bei Thomas Hobbes etwa der Körper, insofern er Wahrnehmungen hat, Subjekt ist, bestimmt René Descartes es hingegen als Träger der Cogi­ tationes, der geistigen Eigenschaften. Gegen letztere 15 Spannungsverhältnis Subjekt? Bestimmung wendet sich wiederum Immanuel Kant, der das Subjekt als reine Denkaktivität auffasst, welcher keine Eigenschaften zugesprochen werden können, da sie sich jeglicher Prädikation entzieht. Was bedeuten diese unterschiedlichen Bestimmungen? Kann der Subjektbegriff einheitlich definiert werden? Gibt es eine umfassende Bestimmung dieses Begriffs, die den unterschiedlichen Bestimmungen gerecht wird oder ist er vielmehr eine leere Hülle und wird als beliebige Variable verwendet? Wenn der Begriff leer und somit multipel besetzbar wäre, bestünde eine Konsequenz darin, ihn – um der Klarheit willen – einfach abzuschaffen und für die jeweils unterschiedlichen Bestimmungen verschiedene Begriffe zu finden. Gibt es also Gründe am Subjektbegriff festzuhalten? Zum einen ließe sich, zumindest für den westlichen Kultur­ kreis, konstatieren, dass das Subjekt im Sinne eines gram­ matikalischen Subjekts zu den Grundpfeilern unseres Denkens und Sprechens und somit unseres Lebens wie der wissenschaftlichen Forschung gehört. Es scheint zumindest in diesem Sinne unverzichtbar zu sein. Zum anderen ist ein Festhalten am Subjektbegriff vor allem von Seiten der kriti­ schen, der politischen und der ethischen Philosophie zumeist ein Festhalten an vernünftiger Autonomie, auch wenn diese durchaus in ihren eigentümlichen Strukturen, ihren Spannungsverhältnissen wahrgenommen wird. Die Verbindung von Vernunft und Autonomie mit dem Begriff 16 Spannungsverhältnis Subjekt? des Subjekts ist jedoch gerade in der Moderne nicht mehr wegzudenken. Ein Plädoyer für das Subjekt ist so betrachtet auch ein Plädoyer für die vernünftige Autonomie einer bzw. eines jeden Einzelnen, von der es unzweifelhaft wichtig ist, sie immer wieder neu zu überdenken; ihr immer wieder Aktua­ lität zu verschaffen. Philosophien wie zum Beispiel dieje­ nige Immanuel Kants begreifen das Subjekt als kritische Instanz und machen es zum Bezugspunkt des Urteilens über Wahrheitsfragen. Im Mittelpunkt steht ein Verständnis des Subjekts als eines, das die Fähigkeit besitzt, sowohl über Erkenntnis- als auch über moralische Fragen durch Anstrengung der eigenen Reflexion begründet zu urteilen. Auch G.W.F. Hegels Philosophie basiert in diesem Sinne wesentlich auf der Fähigkeit zur Reflexion über Wahrheits­ fragen, wobei die Fähigkeit zur Selbstreflexion und damit auch zur Selbstkritik noch stärker in den Mittelpunkt gerückt wird. Zudem haben beide Philosophen Folgendes gemein: Sie legen großen Wert darauf, dass alle Ergebnisse der (Natur-)Wissenschaften damit verträglich sein müssen, dass wir denkende, selbstreflexive Wesen sind. Eine Verabschiedung des Subjekt(begriff)s aus der (philo­ sophischen) Diskussion würde so betrachtet also auch eine Absage an jegliche Fähigkeit zur Reflexion und damit auch an die Autonomie einer bzw. eines jeden Einzelnen zur Folge haben. Denn autonom zu handeln bedeutet, sich über bestimmte Situationsbedingungen bewusst werden zu können, in der Lage zu sein, über Handlungsgründe nach­ 17 Spannungsverhältnis Subjekt? zudenken und zu bestimmten Handlungsmöglichkeiten Pro und Contra abzuwägen, aber auch, bzw. gerade deswegen, die Verantwortung für Fehlverhalten auf sich zu nehmen. Zwar scheinen naturwissenschaftliche Ergebnisse, wie z. B. die der Hirnforschung und daran anschließende Philoso­ phien dem Subjekt Autonomie abzusprechen und seine Fähigkeit zur vernünftigen Reflexion stark einzuschränken, doch muss gefragt werden, ob das Subjekt nicht dort wieder an Geltung gewinnt, wo Methoden und Ziele von Experimenten und Theorien in den Mittelpunkt einer Betrachtung gerückt werden. Erfordert die reflexive Hinter­ fragung von z. B. naturwissenschaftlichen Methoden und denen aus ihnen hervorgehenden Ergebnissen nicht gerade ein Subjekt? Andererseits ist das Subjekt auch immer schon als ein bedingtes zu begreifen, etwa durch seine soziale wie körperliche Konstitution. Wir sind nicht nur denkende oder gar rationale Wesen, sondern ebenso fühlende, begehrende oder auch spontan reagierende, die sich gern auch einmal anpassen und einfach dazu gehören wollen und die sich vor allem auch (in positiver wie in negativer Weise) beein­ flussen lassen. In diesem Sinne betonen etwa die Subjekti­ vierungstheorien (bspw. von Michael Foucault oder Judith Butler) den Prozess der Subjektwerdung als einen der Anpassung an bestimmte vorgegebene Strukturen. Dies wirft die Frage auf, ob und inwiefern die Idee einer Iden­ tität des Subjekts, etwa im Sinne einer „Wesensgleichheit“ gerade auch in Anbetracht der Bedingtheit, Prozessualität 18 Spannungsverhältnis Subjekt? und Beziehungshaftigkeit desselben, überhaupt gedacht werden kann, an die sich doch wiederum die Idee der (vernünftigen) Autonomie zu binden scheint. Zudem werden, gerade auch in den letzten Jahren, die Gefühle und der Körper wieder neu thematisiert und ins Zentrum der Überlegungen über das Subjekt gerückt. Eine Forderung nach vollständiger Autonomie und permanenter Vernünftigkeit kann nur eine Überforderung sein und stellt eine Verkennung der jeweils eigenen Situation und Fähig­ keiten dar. Der Grundgedanke dieser Tagung war es nun, die unter­ schiedlichen Bestimmungen des Begriffs als in einem Spannungsverhältnis zueinander stehend zu denken, ja, das Subjekt selbst als ein solches Spannungsverhältnis zu begreifen. Statt einer starren Definition sollte so den unter­ schiedlichen Bedeutungen desselben Rechnung getragen werden. Unter einem Spannungsverhältnis verstehen wir in diesem Zusammenhang einander negierende Positionen, die sich auf ein und denselben Begriff beziehen. Daraus folgt jedoch unseres Erachtens nicht die Unmöglichkeit der Zuweisung dieser Positionen auf eben ein- und denselben Terminus. Es folgt ebenfalls nicht, dass es sich um jeweils vollständig unterschiedliche Phänomene handelt, die wir mit dem Begriff Subjekt greifen wollen, sodass er multipel besetzbar wäre. Es folgt vielmehr, dass es sich um keine stabilen Zuschreibungen handelt, sondern lediglich um Zuschreibungsmomente, die in diesem Sinne dialektisch verstanden werden müssen, d. h. sich in einem ständigen 19 Spannungsverhältnis Subjekt? Entwicklungs- und Übergangsprozess befinden. Diese Tagung rückte die internen wie externen Spannungs­ verhältnisse des Subjekt(begriff)s in den Fokus der wissen­ schaftlichen Betrachtung, um so einen Raum zu eröffnen, in dem Reflexionen über die ihm zugeschriebenen Bestim­ mungen und Phänomene angestrengt werden können und sollen. Im Rahmen dieser Überlegungen stehen nun die folgenden Beiträge, die explizit wie implizit um die Span­ nungsverhältnisse zwischen Subjekt und Selbst, der Bedingtheit und Möglichkeiten des erkennenden Subjekts, der Selbst- und Fremdbestimmung wie auch der Authenti­ zität und Anerkennung kreisen, die als Themenfelder die Tagung charakterisierten. Christine Witt unternimmt eine Analyse von Sören Kier­ kegaards Grundbegriffen wie Angst, Verzweiflung und Selbstsein. Sie verbindet diese mit Phänomenen psychi­ scher Überlastung wie z. B. Burnout, die unter modernen Sozial- sowie Arbeitsbedingungen verstärkt hervortreten. Es ist die These der Autorin, dass sich das moderne Indivi­ duum in die Überfülle der gesellschaftlich gegebenen Selbsthilfeangebote flüchtet und damit seine eigene Situa­ tion mehr verstellt als erhellt. In Anschluss an Kierkegaard gilt es vielmehr, die Phänomene der Angst und Verzweif­ lung als Grunderfahrungen des einzelnen Subjekts zu verstehen und diese als solche zu begreifen. Denn sie vermögen zu einer Erkenntnis seiner selbst und zum Aufschluss der je eigenen Situation beizutragen. 20 Spannungsverhältnis Subjekt? Laurin Berresheim nimmt Martin Heideggers Kritik am Subjektbegriff auf und verfolgt mit John Haugeland eine sozialpragmatische Lesart von Sein und Zeit. Das Dasein soll demnach als eine Lebensform begriffen werden, die durch eine normative Praxis hervorgebracht wird. Das Seinsverständnis, durch das sich das Dasein auszeichnet, konstituiert sich folglich erst in einer Interaktion verschie­ dener Personen und kann daher nicht von einem isolierten Subjekt her gedacht werden. Wie der Autor jedoch in einem Ausblick kritisch zu bedenken gibt, kann das Subjekt in dieser Praxis nicht vollkommen aufgehen, weil es nach Heidegger auch ein irreduzibles Verhältnis zu seinem jeweils eigenen Sein hat. Nina Rabuza und Martin Mettin betrachten die Stellung des Subjekts in der Kritischen Theorie, welche dasselbe einerseits als historisch-bedingte kritische Instanz mensch­ licher Erkenntnis und andererseits als eine das Objekt der Erkenntnis verkennende Instanz versteht. Die AutorInnen rücken den Gedanken der Befreiung des Subjekts aus seinen selbst verschuldeten Herrschaftsverhältnissen in den Vordergrund. Diese Befreiung kann nur aus einem Akt der Reflexion und kritischen Selbsterkenntnis des Subjekts und einer darauf folgenden tatsächlichen Veränderung der Herr­ schaftsverhältnisse geschehen. Thorsten Streubel beleuchtet das Verhältnis zwischen Gehirn und Geist aus einer erkenntniskritischen und phäno­ 21 Spannungsverhältnis Subjekt? menologischen Perspektive. Dabei strebt er eine Kritik des ontologischen Naturalismus an, indem er zeigt, dass ein Vertreter dieses Naturalismus eine sich selbst aufhebende Position einnimmt. Der Autor hat dabei die Thesen, dass a) eine Reduktion des Menschen auf nur zwei Momente, Körper und Geist, oder auch nur auf den Körper, nicht zu halten ist, und dass b) sich das menschliche Subjekt als komplexe Einheit vieler Momente, der vom Autor einge­ führten „Anthropoialien“, erweist. Eva Seidlmayer betrachtet die aufgerufene Thematik aus dem Blickwinkel der Auseinandersetzung um eine ange­ messene Wahrheitskonzeption und der daraus hervorge­ henden Frage nach der richtigen Lebensführung zwischen Stoikern, akademischer und phyrronischer Skepsis. Hierbei geht es der Autorin sowohl um eine Verhältnisbestimmung zwischen Subjektdefinitionen und Wahrheitskonzepten als auch um eine Einsicht in die Verschränkung von Theorie und Praxis. Denn aus den jeweils vertretenen Wahrheits­ konzeptionen resultiert nicht nur eine verschiedene episte­ mische Verortung des Subjekts. Sie üben überdies Einfluss auf seine Einstellungen und Handlungen aus und besitzen so praktisch-normative Bedeutung. Henning Nörenberg bezieht Stellung zu einem, unter anderem von Derrida und Agamben geführten, politischtheologischen Diskurs, den der Autor als „Absolutismus des Anderen“ bezeichnet. Er versteht den Diskurs als Fort­ 22 Spannungsverhältnis Subjekt? führung aber auch als Korrekturversuch des Absolutismus Carl Schmitts. Der Andere wird in dieser Auseinanderset­ zung als Opfer eines sich selbst gerechten, egoistischen Subjekts stilisiert, welches es zu überwinden gilt. Das politische Subjekt hat sich dem Anderen vielmehr in einer von Scham geprägten Haltung zu nähern. Der Hauptkritik­ punkt des Autors besteht darin, dass es sich hier um eine verengte Sichtweise handelt, die soziale Beziehungen nur aus der Rolle eines Täters, dem Subjekt, und eines Opfers, dem Objekt, heraus deute und die Pluralität menschlicher Beziehungen nicht zu fassen vermag. Susann Köppl beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem Spannungsverhältnis, das sich zwischen der Vorstellung eines gesellschaftlich konstituierten Subjekts und der Vorstellung eines individuellen „Selbstseinkönnens“ ergibt. Die Autorin betrachtet dafür das Subjekt vor allem aus sozialer und diskurstheoretischer Perspektive, indem sie Theorien der Subjektivation heranzieht, und stellt sich die Frage nach einem angemessenen Verständnis von „Selbst­ sein“ innerhalb dieser Theorien. Dabei plädiert sie für einen Begriff des „Selbst“, der über den des Subjekts hinaus geht und die Eigenständigkeit desselben, sein kritisches Poten­ tial, betont. Anne Clausen beleuchtet das Subjekt ebenfalls aus der Perspektive der Theorie der Subjektivation. Die Autorin fragt jedoch nicht nach den Konstitutionsmomenten der 23 Spannungsverhältnis Subjekt? Subjektivation und damit des Subjekts, sondern sucht mit dem Begriff der „Verwahrlosung“, der unter Einbezug von zentralen Thesen Foucaults erläutert wird, gerade den entgegengesetzten Prozess zu erklären. „Verwahrlosung“ beschreibt das Aussetzen eines Subjektivierungsprozesses und den damit einhergehenden Verlust sozialer Bezie­ hungen als auch des Subjekt-seins selbst. Frauke Annegret Kurbacher kritisiert an Subjektkonzep­ tionen, dass es ihnen latent an einem Blick auf Intersubjek­ tivität und Gemeinschaft mangelt. Das Phänomen mensch­ licher Pluralität wird darin nicht erfasst, welches es jedoch für ein angemessenes Verständnis des Subjekts zu begreifen gilt. Mit einer Philosophie der Haltung strebt die Autorin eine Revision der theoretischen Konzeptionen um das Subjekt an, welche dem Begriff der Person Vorrang gewährt, weil dieser die intersubjektiven Verhältnisse, in denen sich das Subjekt befindet, zu explizieren vermag. 24 Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts Christine Witt Wir leben in einer Zeit der Ängste. Angst ist ein Grundge­ fühl, welches den Menschen lebenslang begleitet. Heute ist die Frage nach der Angst dabei aktueller denn je. Themati­ siert wird sie vor allem durch die Angstforschung der Psychologie, aber auch in der Soziologie und Philosophie wird der Frage nach der Angst und deren Entstehung nach­ gegangen. Hinter den großen Theorien der Angstforschung steht eine einzelne Person, welche durch ihr Werk Der Begriff der Angst von 1844 die Thematik in einem Ausmaß darstellt, wie es kein anderer zuvor getan hat: Søren Kierkegaard. Kierkegaards Denken hat trotz seines theologischen Hinter­ grunds nicht an Aktualität verloren. Er war sowohl eine zerrissene als auch eine moderne Gestalt des 19. Jahrhun­ derts; ein Dandy, der durch Kopenhagens Straßen flanierte und der zugleich ein ganzes Lebensgefühl in Worte fasste. In seinen Werken wendet sich Kierkegaard stets an den Einzelnen und spricht somit jeden persönlich an. Künstler wie z. B. Kafka, Max Frisch, Ingmar Bergmann und Milan Kundera ließen sich von ihm inspirieren und zeigen, dass dieser in seiner eigenen Zeit kaum rezipierte Denker, wenn auch anonym, in der Kunst präsent ist. Wenig zentral ist er 25 Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts dagegen auch heute noch in der philosophischen Theorie, vor allem in den aktuellen Formen der Theorie der Subjek­ tivität und der Anthropologie. In dem nachfolgenden Text möchte ich zeigen, wie aktuell die von der Kunst gespürten und immer wieder neu wach gehaltenen Inspirationen, die von Kierkegaards Denken ausgehen können – sozusagen seinem Wirklichkeitsgehalt –, noch immer auch für die philosophische Theorie sein könnten. In der heutigen Zeit sind es vor allem die Tiefenpsycho­ logie, speziell Sigmund Freud, und in der Philosophie Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre, die mit dem Thema Angst in Verbindung gebracht werden. Freuds Angsttheorie war dabei noch sehr stark an Kierkegaards Analysen selbst angelehnt, denn auch er machte eine deutliche Unterschei­ dung zwischen der Furcht vor etwas Bestimmten und der Angst vor etwas Unbestimmten fest. Heidegger und Sartre dagegen haben den Begriff der Angst aus seinem theologi­ schen Kontext herausgelöst und ihn vielmehr ontologisiert. 1 Diese Säkularisierung des Angstbegriffs ist jedoch nur ein scheinbarerer Vorteil. Der Preis war, dass beide Philoso­ phen in ihren Angstanalysen den Menschen aus dem Blick verloren und ihn nur noch als ein Strukturmerkmal des Wesens des Menschen betrachtet haben. 2 1 2 26 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1967. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Hamburg 1991. Obwohl Heidegger ebenfalls das Empfinden des Menschen in den Vordergrund seines Denkens stellt, betrachtet er in seinen Analysen den Menschen nicht als einzelnes Individuum, sondern nur als Men­ sch-Wesen bzw. Ding an sich. I. Werden zum Selbst. Theologie und Anthropologie I. Werden zum Selbst. Theologie und Anthropologie Kierkegaard dagegen behält den Menschen stets im Mittel­ punkt seiner Betrachtung, denn entscheidend für ihn war das Verhältnis, was es heißt Mensch zu sein, und dabei nicht nur, was es heißt überhaupt Mensch zu sein, sondern was es heißt, dass wir alle, jeder Einzelne für sich, Menschen sind. Somit hat Kierkegaard es sich selbst zur Aufgabe gemacht, den Einzelnen zur zentralen Bestim­ mung seines Schaffens zu machen. Was Kierkegaard auszeichnet, ist, wie es Michael Theunissen beschreibt, hierin ein „dialektischer Negativismus“. Die Frage nach dem Gelingen des Lebens kann demnach nur beantwortet werden, wenn sich der Einzelne die Frage stellt und beant­ wortet, warum das Leben misslingen kann. Das bedeutet, dass wir zwar nicht sagen und wissen können, wie das gute Leben gelingen kann, wir aber trotz allem wissen, was wir auf keinen Fall wollen – nämlich leiden. Demnach erschöpft sich ein gutes Leben nicht in dem Streben nach der Verwirklichung von Zielen und Zwecken. Die Antwort, wie ein gelingendes Leben aussehen soll, kann nur von jedem Einzelnen auf Grund seiner Erfahrungen beantwortet werden. Sprich, am Ende muss man sich selbst verlieren, um sich selbst zu gewinnen.3 3 Vgl. Michael Theunissen: „Das Menschenbild in der »Krankheit zum Tode«“, in: Michael Theunissen/Wilfried Greve (Hg): Materia­ lien zur Philosophie Sören Kierkegaards. Frankfurt am Main 1979, S. 496–510. Emil Angehm (Hg.): Dialektischer Negativismus: Mi­ chael Theunissen zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main 1992. 27 Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts Kierkegaards Kritik am systematischen Denken sowie an geschlossenen Systemen, wie man damals von Hegels System sprach, zeigt sich nicht nur in dem Vorwort zu Der Begriff der Angst. Auch der Untertitel Eine simple psycho­ logisch-wegweisende Untersuchung in der Richtung auf das Dogmatische Problem der Erbsünde weist eine gewisse Ironie bezüglich Hegels Ansprüchen auf, welchen Kierke­ gaard entgegenwirken will. Wie der Untertitel erkennen lässt, koppelt Søren Kierkegaard in seiner Arbeit eine psychologische Analyse der Angst mit dem Problem der Erbsünde und kennzeichnet Angst zugleich als dogmati­ sches Problem. Dies heute so Befremdende hat zwei Seiten. Zum einen zeigt er mit seiner Untersuchung die Grenzen einer psycho­ logischen Betrachtung auf; zum anderen stellt er einen Zusammenhang des theologisch als Sündhaftigkeit vorge­ stellten Gefallenseins-in-die-Welt und eines zu lebenden Lebens des Endlichen mit der grundlegend verstandenen Angst dar. Auch wenn Kierkegaard in seiner Arbeit eine eigenwillige Deutung des Sündenfalls vollzieht, wird die Frage nach der Angst nicht in einem theologischen Kontext diskutiert, sondern bleibt in der Psychologie verankert. Die Geschichte Adams wird lediglich verwendet, um die anthropologischen Voraussetzungen zu klären. Demnach symbolisiert die Geschichte des Sündenfalls die Geschichte des Menschen. „Angst“ ist auch im Denken ein Phänomen der Moderne. Bevor Søren Kierkegaard seine Analyse der Angst erar­ 28 I. Werden zum Selbst. Theologie und Anthropologie beitet hat, war von Angst, wie sie heute verstanden wird, keine Rede. Vielmehr wurde von Furcht gesprochen, wie z. B. bei Descartes, der Furcht als eine Veranlagung der Seele verstand4 oder Hegel, für den die „absolute Furcht“ eine Voraussetzung des Selbstbewusstseins war, die eng mit der bekannten Dialektik der „Herr- und Knechtschaft“ sowie dem heute wieder so breit diskutierten „Kampf um Anerkennung“ zweier Individuen auf Leben und Tod verknüpft ist.5 Auch Schelling gab keine eindeutige Begriffsbestimmung, sondern sprach von einer generellen „Angst des Lebens“. „Die Angst des Lebens selbst treibt den Menschen aus dem Centrum, in das er erschaffen worden […]“6 ist. Kierkegaard war hier der Erste, der einen wesentlichen Unterschied deutlich machte: Er zeigte, dass „Angst“ gerade nicht dem konkreten Bestimmten gilt, sondern aus dem Wissen resultiert, dass da wo Nichts ist, etwas sein könnte. In diesem Sinne grenzt er fundamental die Furcht vor etwas Bestimmten von der Angst vor etwas Unbestimmten ab. Kierkegaards Analysen stehen dabei in der langen Reihe neuzeitlicher Anthropologie, das theologische ErbsündenDogma als symbolisch formuliertes Bild der Schlüssel­ szene des Werdens zum Menschen philosophisch zu refor­ mulieren. Was Kierkegaards Ansatz auszeichnet, ist der 4 5 6 Vgl. René Descartes: Die Leidenschaften der Seele. Hamburg 1984. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt am Main 1973. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Untersuchun­ gen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusam­ menhängenden Gegenstände, Hamburg 1997, S. 53, OA 461–463. 29 Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts Versuch, gewissermaßen eine im Theologischen nicht explizit angesprochene anthropologische Zwischendimen­ sion und die daraus folgende Ambivalenz in den Blick zu heben: einen menschlichen Zustand zu benennen, der am Ende ebenso zu einer Verzerrung der menschlichen Bezie­ hungen führte, wie es auch schon im Erbsündendogma vorgestellt war. Jedoch ist zu bedenken, dass sich der von Kierkegaard benannte Zustand keineswegs bereits in Sünde befand. Dafür wählt er als einen objektiven Zwischenzustand 7 die „Angst“, welche sich in der menschlichen Entwicklung, kurz vor dem Erwachen der Sexualität und des Geistes, herausbildet, und er macht, ins Theologische verwoben, die Entstehung der Angst konkret an der Geschichte Adams deutlich. Es gibt jedoch auch eine lebensweltliche Paral­ lele, an der die Angstentstehung und ihre Entwicklung nachzuzeichnen ist. Und um hier in meinem Beitrag jene biblischen Bezüge nicht zu sehr in den Vordergrund zu stellen, werde ich im Folgenden die Entstehung der Angst am Beispiel des Kindes skizzieren. Ebenso wie Adam befindet sich auch ein Kleinkind zu Beginn seiner Entwicklung in Unschuld und Unwissenheit. Es hat keine Vorstellung, was richtig und was falsch ist, ebenso wenig kennt es den Unterschied zwischen Gut und Böse. So verhält es sich auch mit Adam, der in völliger Unwissenheit und Unschuld lebte, bevor er vom Baum der 7 30 Angst wird hier als objektiver Zustand gewählt, da Angst weder eine emotionale noch eine instinktive Reaktion ist, sondern ein Indiz des Geistes. I. Werden zum Selbst. Theologie und Anthropologie Erkenntnis aß. Konform mit der Geschichte der biblischen Genesis ist die Unschuld als Unwissenheit definiert, in welcher das Kind noch nicht als Geist definiert ist, sondern sich in einer dem vorausgehenden „seelischen“ Verfassung befindet. Das Kind ist in diesem Zustand „in unmittelbarer Einheit mit seiner Natürlichkeit“8, während sich dagegen der Geist des Kindes in einem träumenden Zustand aufhält, in welchem sich der Unterschied von Gut und Böse noch nicht herauskristallisiert hat. Dennoch herrscht neben Ruhe und Frieden bereits latent eine weitere Größe vor; das Nichts, welches Angst erzeugt. Demnach ist, so Kierke­ gaard, die Unschuld zugleich Angst. „Träumend entwirft der Geist seine eigene Wirklichkeit, diese Wirklichkeit aber ist Nichts; dieses Nichts aber sieht die Unschuld beständig außerhalb ihrer.“9 Mit der komplexen Verschlungenheit von „Seele“ – Seelenentwicklung – und „träumendem Geist“ bedient sich Kierkegaard, wie so häufig in seinem Denken, einer Figur Hegels. Angst wird demnach im Nichtwissen der Unschuld erzeugt, wenn eine Unwissenheit vorherrscht. Angst gilt, das ist ja für Kierkegaard ein entscheidender Punkt, dem Wissen, dass da wo Nichts ist, etwas sein könnte. Angst ist also eine „Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglich­ keit.“10 Am Beispiel des Kindes bedeutet dies, dass bereits 8 9 10 Sören Kierkegaard: „Der Begriff der Angst“, in: Hermann Diem/Walter Rest (Hg): Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zit­ tern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst, München 2012, S. 487. Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 487. Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 488. 31 Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts bei jedem Kind die Angst vorhanden ist, obwohl es noch keine Unterscheidung zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht erfahren hat. Die Mächtigkeit des Nichts kann aufgrund dessen wachsen, dass das Kind sich seiner eigenen Unschuld und Unwissenheit nicht bewusst ist; gerade dadurch kann sie Angst erzeugen. Da sich die Angst im Ausdruck des Unbestimmten befindet, ist sie selbst auch unbestimmt. Nach Kierkegaard ist die Angst ihrer Struktur nach doppel­ deutig, denn „Angst ist eine sympathische Antipathie und eine antipathetische Sympathie.“11 Das wird vor allem im alltäglichen Sprachgebrauch deutlich, wenn man z. B. von einer süßen Angst, scheuen Angst usw. redet. 12 Des Weiteren ist Angst, welche aus Unschuld erwächst, zunächst keine Schuld und lässt sich demnach mit der Unschuld wieder vereinen. Das wiederum wird deutlich am Beispiel des Kindes, welches sich vor Etwas ängstigt, aber im nächsten Moment von diesem Etwas mit seiner süßen Beängstigung gefesselt wird. „Wer durch Angst schuldig wird, ist ja unschuldig: denn es war ja nicht er selbst, sondern die Angst, eine fremde Macht, die ihn ergriff, eine Macht, die er nicht liebte, vor der er sich vielmehr ängstigte; – und doch ist er ja schuldig: er versank in die Angst, die er doch liebte, indem er sie fürchtete. Es gibt in der Welt nichts Zweideu­ tigeres als dies.“13 11 12 13 32 Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 488. Vgl. Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 488. Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 489. II. Möglichkeitsbewusstsein (Der Geist als Angst) Erst mit dem bewussten Wissen um die Angst erhält das Leben eine Struktur, denn sobald man dieses Wissen erlangt hat, gibt es keinen Weg mehr in die Unschuld zurück. Die Angst ist immer ein Verdacht gegen die eigene Person und trägt entscheidend zum Selbsterkenntnisprozess des Menschen bei. II. Möglichkeitsbewusstsein (Der Geist als Angst) Angst ist ihrer Bestimmung nach ein Ausdruck des Geistes. Der Mensch wird als „eine Synthese des Seelischen und Leiblichen“14 interpretiert. Diese Synthese kann jedoch nicht ohne den Geist als dritte Instanz existieren, und auch wenn der Geist im Zustand der Unschuld nur träumend vorhanden ist, so ist er doch gegenwärtig. Das führt dazu, dass er kontinuierlich als feindliche Position „das Verhältnis zwischen Seele und Leib [stört], das wohl besteht, aber doch wieder insofern nicht besteht, als es erst durch den Geist zum Bestehen kommt.“15 Der Geist über­ nimmt also auch eine positive Rolle, indem er beständig das Verhältnis von Leib und Seele bildet und er sich in diesem ambivalenten Verhältnis als Angst verhält: Angst vor sich selbst. Der Geist kann der Angst weder entkommen, noch von ihr Besitz nehmen, da er die Angst gleichzeitig liebt, aber auch vor ihr flieht. Die Unschuld ist 14 15 Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 490. Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 490. 33 Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts in diesem Zustand eine vom Geist bestimmte Unwissenheit um das Nichts und daher Angst. „Hier gibt es kein Wissen um Gut und Böse und so weiter; vielmehr entwirft sich in der Angst die ganze Wirklichkeit des Wissens als das unge­ heure Nichts der Unwissenheit.“16 In dieser, von Kierke­ gaard eröffneten Perspektive zeigt sich, dass Angst weder emotional noch unwillkürlich erfolgt, sondern vielmehr Teil der menschlichen Verfasstheit ist. Kierkegaard sieht in der Freiheit einen Zusammenhang zwischen Geist und Angst. Dies wird deutlich am Beispiel Adams, der sich im Zustand der Unschuld befand und keinen Begriff von Gut und Böse hatte, bevor er vom Baum der Erkenntnis aß. Somit konnte er das Verbot Gottes nicht einhalten, denn erst durch den Genuss der verbotenen Frucht erfuhr er einen Unterschied zwischen Gut und Böse. Ebenso verhält es sich bei einem Kind, welches im Zustand der Unschuld und Unwissenheit keinen Unterschied zwischen Richtig und Falsch kennt. Es weiß nicht, dass es falsch ist, jemanden zu schlagen, zu bestehlen oder zu beschimpfen – bis es, nachdem es dieses getan hat, von den Eltern, der Gesellschaft, seiner Umwelt darauf aufmerksam gemacht wird. Erst nach der Belehrung erkennt es, dass es vor seiner Tat eine Freiheit gehabt hatte, die es so nicht mehr erfahren wird. „Das Verbot ängstigt ihn, weil das Verbot die Möglichkeit der Freiheit in ihm erweckt. Was an der Unschuld vorbei­ ging als das Nichts der Angst, das ist nun in ihn selbst 16 34 Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 490. II. Möglichkeitsbewusstsein (Der Geist als Angst) hineingekommen, und ist hier wieder ein Nichts, die ängs­ tigende Möglichkeit zu können.“17 Die Angst verdeutlicht, dass der Mensch eine Freiheit besitzt, die keine Notwendigkeit ist, sondern die Möglich­ keit hat. Demnach signalisiert das Verbot die vorerst noch abstrakte Möglichkeit, überhaupt etwas zu können. „Angst ist nicht eine Bestimmung der Notwendigkeit, aber auch keine der Freiheit; sie ist eine in Verstrickung gera­ tene Freiheit, wobei die Freiheit in sich selbst nicht frei ist, sondern eben verstrickt ist, nicht in der Notwendigkeit, sondern in sich selbst.“18 Mit seiner Aussage, dass es sich bei der Freiheit um eine gefesselte Freiheit handelt, welche nicht in sich frei, sondern in sich gebunden ist, geht Kierkegaard dem Problem nach, wie aus einer reinen Möglichkeit eine Wirk­ lichkeit werden kann.19 Welche Folgen birgt solch eine Möglichkeit? Es ist ersicht­ lich, dass niemand die ihm gegebene Möglichkeit direkt in die Realität umsetzen und somit auf das eigene Handeln anwenden kann. Zunächst bedarf es des Bewusstseins über eben diese Möglichkeit. Doch genau hier liegt das Para­ doxe, denn die Tatsache und das Bewusstsein darüber, dass die Möglichkeit besteht, etwas tun zu können, obwohl es keine Notwendigkeit ist, sondern nur eine Möglichkeit, 17 18 19 Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 491. Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 497. Vgl. Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 497. 35 Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts äußert sich als Angst. Diese Angst verdeutlicht, dass der Mensch die Freiheit zum Handeln hat, es sich dabei jedoch nicht um die Art einer Freiheit handelt, in welcher eine freie Entscheidung möglich ist. Kierkegaards Ausdruck einer gebundenen bzw. gefesselten Freiheit verdeutlicht genau diesen Sachverhalt. Die Angst indiziert demnach eine Freiheit, die sich noch keine inhaltliche Bestimmung gegeben hat. Jedoch löst sich die Freiheit in der eingetretenen Wirklichkeit, welche zuvor nur eine Möglichkeit war, auf, sobald gehandelt wird. Auf die biblische Genesis bezogen, wird dies durch den Sündenfall verdeutlicht. Wie auch Adam nach dem Essen vom Baum der Erkenntnis diesen Schritt nicht mehr rück­ gängig machen kann, gilt dies ebenso für alle späteren Indi­ viduen. Jede Handlung zieht eine verpflichtende Konse­ quenz mit sich, welche zwar dazu führt, dass die Angst überwunden wurde, man sich jedoch bewusst wird, dass man nicht mehr über die Freiheit verfügt, wie es noch vor der Handlung der Fall war. Somit ist die Angst die einzige Form, in der Freiheit als Freiheit tatsächlich erfahren werden kann. Die Angst wird mit dem Bild des Schwindels verglichen, welche den Menschen zu dem Zeitpunkt überkommt, wenn der Geist die Synthese setzen will und der Freiheit ihre Möglichkeiten offenbart werden. Der Mensch, welcher verantwortlich für sich selbst sein soll, ist von der Fülle der Möglichkeiten überfordert und flieht vor dem schwindligen Gefühl, das die Freiheit in ihm verursacht. Und in diesem 36 III. Prekäres Selbst (Sich zu ängstigen lernen) Schwindel greift der Mensch nach etwas Handfestem und Greifbarem, um sich daran festzuhalten und Sicherheit zu gewinnen. Die Aufgabe sein eigenes Sein zu synthetisieren, welche die Freiheit dem Menschen aufbürdet, belastet ihn, da die Überwindung der Gegensätze nie vollständig gelingen wird. Die Angst und somit auch der Schwindel werden demnach immer ein Teil des Menschen bleiben. III. Prekäres Selbst (Sich zu ängstigen lernen) Angst, so Kierkegaard, ist ein Abenteuer, dass es zu bestehen gilt. Wer nicht gelernt hat, sich zu ängstigen, geht an seiner Angst zugrunde. „Wer daher gelernt hat, auf die rechte Weise Angst zu haben, der hat das Höchste gelernt“20, denn Angst ist ein Teil des Menschen, der sich seiner selbst bewusst ist. Ohne die Möglichkeiten, die dem Einzelnen zur Verfügung stehen, würde der Mensch nicht nur in seinem Dasein ersticken, er hätte auch keine Freiheit mehr und wäre in seinen Entscheidungen festgelegt und würde keine Angst verspüren. Da der Mensch aber eine Synthese aus Leib und Seele ist, besitzt er die Fähigkeit, sich zu ängstigen, denn „je tiefer seine Angst ist, desto größer ist der Mensch“21. Die Angst ist hier jedoch keine von außen kommende Kraft, sondern etwas, für das der Mensch, da er sie selbst erzeugt, allein verantwortlich ist. Ohne die Angst gäbe es 20 21 Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 631. Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 631. 37 Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts keine Möglichkeit der Freiheit und es ist auch nur diese Angst, die in Beziehung mit dem Glauben bildend ist, „indem sie alle Endlichkeiten verzehrt, all ihre Täuschungen aufdeckt“22. In seiner Unendlichkeit wird der Mensch erst dann gebildet, wenn er durch die Angst geschult wird, das wiederum ruft ein Bilden durch die Möglichkeit hervor. Nur in der Möglichkeit kann der Mensch gebildet werden, denn in ihr ist alles möglich. Der Mensch, welcher „in Wahrheit durch die Möglichkeit erzogen wurde“23, ist sich des Schönen wie auch des Schrecklichen des Lebens bewusst, das stets ein Teil des menschlichen Daseins sein wird. Über die Verzweiflung seiner Schwäche ist sich der Mensch durchaus bewusst. Er versucht sich gegen sie zu wehren, indem er mit aller Gewalt bestrebt ist ein freies Individuum zu sein, über welches nur er bestimmen darf. Dies sucht er mit Hilfe seiner eigenen Freiheit umzusetzen und macht sich aber gerade dadurch schlussendlich unfrei. Verzweiflung ist ein universelles Phänomen. Das Selbst des Menschen ist – wie Kierkegaard an einer berühmten Stelle in einer hegelianischen Ausdrucksweise schreibt – ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält.24 In diesem Kontext ist die Verzweiflung das Missverhältnis in diesem Selbstverhältnis. Dabei ist das Wesen jeder Form der 22 23 24 38 Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 631. Kierkegaard: Der Begriff der Angst a.a.O., S. 632. Vgl. Sören Kierkegaard: „Die Krankheit zum Tode“, in: Hermann Diem/Walter Rest (Hg): Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zit­ tern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst, München 2012,S. 34. IV. Flucht vor dem Selbst Verzweiflung, sich selbst loszuwerden, nicht man selbst sein zu wollen oder nicht ein Selbst sein zu wollen. Dieses Missverhältnis kann sich in verschiedenen Aspekten äußern: wie etwa sich nicht bewusst zu sein, ein Selbst zu haben oder eben das Bewusstsein darüber, dass man ein Selbst hat, aber man nicht Selbst sein will oder man verzweifelt versucht Selbst sein zu wollen bzw. sich ein neues Selbst wünscht.25 Für Kierkegaard war Angst ein fruchtbarer Kontext, welcher, versehen mit einem theologischen Rahmen, psychologisch und anthropologisch diskutiert wurde. Meine Idee ist es, Kierkegaard aus dem Theologischen herauszulösen und ihn in die Wirklichkeit einzubringen, jedoch, anders als bei Heidegger und Sartre, werde ich die existentiellen Aufgaben des menschlichen Lebens nicht aus der Betrachtung ausschließen. Die Frage, die sich hier aber besonders stellt, ist: Wie verändert sich Kierkegaards Angstanalyse angesichts unserer Wirklichkeit? IV. Flucht vor dem Selbst26 Durch den Fortschritt des 19. Jahrhunderts und dem daraus resultierenden Optimismus bzgl. der Zukunft kam es gerade zur immer weiteren Steigerung von bedrängenden 25 26 Vgl. Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode a.a.O., S. 81. Der Abschnitt „Flucht vor dem Selbst“ beinhaltet eigene Gedanken, Thesen und Theorien, welche ich in meiner Dissertation mit dem vorläufigen Arbeitstitel „Verzweiflung als Selbsterfahrung des Sub­ jekts“, weiter ausführen, belegen und/oder widerlegen werde. 39 Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts Verzweiflungsphänomenen. Wir verlieren uns zunehmend, gerade im Fortschrittsgeist. Das wiederum führt dazu, dass es immer schwieriger wird als Einzelner zu existieren. Gleichzeitig ist man einsam, trotz der Tatsache, nicht als Einzelner überleben zu können. Zudem überfordern Wissenschaft und Technik den einzelnen Menschen durch zunehmende Beschleunigung. Das ist in der heutigen Zeit nicht anders. Überforderungen und Spezialisierungen an den Menschen führen zu erhöhtem Leistungsdruck. Der Mensch hat am Ende nur noch die Aufgabe sein individuelles Selbst abzustreifen und sich anzupassen. Die Folge kann u. a. eine Depression sein, welche in bestimmten Bereichen durch die Bezeichnung „Burn-Out“ bereits gesellschaftlich anerkannt ist und den Leidenden sogar Respekt erzeugt. Es wird jedoch oft nicht bedacht, dass es sich beim „Burn-Out“ um die Krankheit Depression handelt, sondern es wird nur gesehen, dass der Betroffene viel gearbeitet hat und somit Anerkennung verdient. Die Spezialisierung und überhöhte Anforderung an den Menschen führt oft dazu, dass dem Menschen das eigen­ ständige Denken abgenommen wird, daraus resultierend beginnt der Mensch sich immer mehr zu hinterfragen. Zu keiner Zeit wie heute werden so viele Workshops, Bücher und Seminare über die Selbsterkenntnis, Selbstfin­ dung usw. angeboten. Doch statt sich seinen Ängsten und dem Verzweifeln zu stellen, flüchtet der Mensch mit Hilfe diverser Ratgeber. Dabei ist es die Verzweiflung, die dem 40 IV. Flucht vor dem Selbst Menschen Anreize gibt, über sich selbst nachzudenken, sich zu hinterfragen und sich selbst zu erkennen. In der heutigen Zeit ist das Thema Verzweiflung durch den Leistungsdruck von außen aktueller denn je; aber auch die Flucht vor dem Verzweifeln ist ein Phänomen, das uns tagtäglich begegnet. Die Frage „Wer bin ich?“ ist präsenter als es z. B. noch vor 200 bis 300 Jahren der Fall war, denn durch den Glauben sowie Gesellschaft und auch Eltern wurde dem Menschen meist vorgegeben, wer man ist und was man zu sein hat. Die Freiheit zur individuellen Entfal­ tung, wie es heute möglich ist, gab es so zur damaligen Zeit kaum. Heutzutage hat der Mensch viele Freiheiten, sich selbst zu erfahren. Doch diese Freiheit hat auch ihren Preis, da der Mensch am Ende von den Möglichkeiten, die ihm seine Freiheit bietet, überfordert ist und an seiner Freiheit und schließlich an sich selbst verzweifelt. Um die ihm gegebene Freiheit optimal nutzen zu können, muss der Mensch lernen, mit seiner Verzweiflung umzugehen. Natürlich wird Verzweiflung heute anders betrachtet, als es zu Kierkegaards Zeit der Fall war. Das liegt vor allem daran, dass sich unsere Wirklichkeit verändert und sich das Problem destruktiv zugespitzt hat. Kierkegaard beschreibt deshalb eine Wirklichkeit, die er noch nicht kennen konnte. Trotz dessen spiegeln seine Theorien sich mit der heutigen Wirklichkeit, was zeigt, wie aktuell und wichtig Kierke­ gaards Denken noch immer ist. Aktuell verhält es sich so, dass wir über Kierkegaards Theorien, wenn auch anonym, tagtäglich reden. Angst, 41 Grundangst. Verzweiflung als Selbsterfahrung des Subjekts Verzweiflung, Ernst, Ironie sind alles kierkegaardsche Themen, aber auch welche des Alltags, denn sie präsen­ tieren unsere Wirklichkeit. Eine heutige Zeit findet sich nur deshalb in seinen Theorien wieder, weil sie alltagstauglich gemacht und in unsere Umgangssprache überführt wurde. Den wahren Gehalt seiner Theorien kennen jedoch nur wenige. Das betrifft in einem besonderen Maße die Verzweiflung. Verzweiflung darf nicht nur negativ betrachtet werden, sondern sollte eine Chance sein, sich selbst zu reflektieren und gestärkt aus einer Situation herauszugehen. In einem Leben, in dem wir auf permanenter Suche nach dem eigenen Selbst sind, ist Verzweiflung ein wichtiger Schritt zur Selbsterkenntnis. 42 Das vereinzelte Dasein John Haugelands Interpretation des Daseins in Sein und Zeit Laurin Berresheim In Heidegger on Being a Person interpretiert Haugeland den Begriff ‚Dasein‘, mit dem Heidegger in Sein und Zeit eine Entität bezeichnet, die ein Seinsverständnis hat, als allgemeine Lebensform. Seine These ist, dass ein Seinsver­ ständnis erst im Rahmen einer konformistischen Gesell­ schaft entstehen kann und nicht bereits zu der individuellen Anlage des Menschen gehört. In meinem Beitrag erläutere ich in einem ersten Schritt Haugelands Modell einer normativen gesellschaftlichen Praxis, das die Vorausset­ zung eines Seinsverständnisses beschreibt. In einem zweiten Schritt erkläre ich wie Haugeland zufolge Personen in einer solchen Praxis instituiert werden. Angesichts dieser Auffassung ist es schwierig, die Frage zu beantworten, was das Subjekt eines Seinsverständnisses ist, weil sowohl einzelne Personen als auch die gesellschaftliche Praxis als ganze dafür infrage kommen. Dies sollte uns nicht davon abhalten, zu hinterfragen, ob Haugeland letztendlich das Verhältnis von Individuen und Dasein angemessen beschreibt, wenn er stets von Individuen als Institutionen ausgeht. Am Ende werde ich die Frage aufwerfen, ob es nicht doch Bestandteile des individuellen Vermögens des 43 Das vereinzelte Dasein Menschen gibt, die nicht auf strukturelle Elemente der konformistischen Gesellschaft zurückgeführt werden können und dennoch wesentlich für sein Seinsverständnis sind. In Sein und Zeit bezeichnet Heidegger als ‚Dasein‘ das Wesen, das ein Seinsverständnis hat und dessen Grund­ struktur das ‚In-der-Welt-Sein‘ ist. Diese Struktur analy­ siert er, um herauszuarbeiten, was die Bedingungen eines Seinsverständnisses sind. Dabei grenzt er sich von verschiedenen subjektivistischen Vorstellungen ab, denen zufolge ein solches bereits zu der individuellen Anlage des Menschen gehört. Für Heidegger ist es vielmehr in der Wechselwirkung zwischen mehreren Mitgliedern einer Gesellschaft verankert. Das Dasein ist in erster Linie ein „Miteinandersein“.1 Grund dafür ist, dass die wichtigen Verhaltensweisen, die unser Seinsverständnis ausmachen, niemals bloß auf individuellen Handlungen und individu­ ellen Entscheidungen beruhen, sondern im Wesentlichen durch allgemeine Regeln und gesellschaftliche Normen reguliert werden. Heidegger schreibt daher: „Das Wer ist nicht dieser und nicht jener, nicht man selbst und nicht einige und nicht die Summe Aller. Das ‚Wer‘ ist das Neutrum, das Man.“2 Gemeint ist die unpersönliche Form des dritten Personalpronomens in Ausdrücken wie ‚darüber spricht man nicht‘. In unserem alltäglichen Verständnis und 1 2 44 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 2006, S. 125. Heidegger: Sein und Zeit a.a.O., S. 126. Das vereinzelte Dasein unseren Verhaltensweisen richten wir uns die meiste Zeit nach dem, was man halt so tut. Welches Wesen hat Heidegger zufolge ein Seinsver­ ständnis? Angesichts seiner eigenen Charakterisierung des Daseins als die Seinsart des Menschen liegt es nahe, das Dasein einfach mit ‚Mensch‘ zu übersetzen. In seinem Aufsatz Heidegger on Being a Person kritisiert John Haugeland aber diese Interpretation und argumentiert, dass das Dasein keineswegs auf den Menschen eingeschränkt werden muss und schon gar nicht auf einzelne Personen. Er interpretiert das Dasein als eine gesellschaftliche Struktur, in der Normen entstehen, durch die verschiedene Seinsbe­ reiche instituiert werden können. Grundlegend für ein Seinsverständnis ist Haugeland zufolge der durch Normen geregelte Umgang mit Dingen, und dieser kann durch ganz verschiedenartige Wesen vollzogen werden, so wie wissen­ schaftliche Forschungsgemeinschaften, Sprachgemein­ schaften usw. Ich werde im Folgenden Haugelands Interpretation des Daseins und seine Auffassung des Verhältnisses von Dasein und Person erläutern. Ich denke nämlich, dass diese uns einen Anhaltspunkt liefern können, um das Subjekt eines Seinsverständnisses zu charakterisieren. Insbesondere möchte ich dabei die Frage aufwerfen, inwiefern wir einzelnen Personen ein eigenes Seinsverständnis zuschreiben können. Wenn das Seinsverständnis nämlich in erster Linie von einer umfassenden gesellschaftlichen Struktur verkörpert wird, dann muss uns die Frage beschäf­ 45 Das vereinzelte Dasein tigen, welche Rolle Individuen als elementare Bestandteile dieser Praxis spielen. Wenngleich ich aus Platzgründen in diesem Beitrag nicht darauf zu sprechen kommen kann, denke ich, dass man von dem hier skizzierten Bild ausge­ hend auch das erkennende Subjekt charakterisieren könnte. Man müsste zeigen, wie Erkennen – sowie jede weitere Tätigkeit vernünftiger Wesen – auf bestimmten Regeln beruht, deren Begründung nur in einer gesellschaftlichen Praxis liegen kann3. Da aber das richtige Befolgen von Regeln noch nicht hinreichend für die Objektivität der Erkenntnis ist, müssten noch weitere Aspekte des gesell­ schaftlichen Praxis erläutert werden, die über das hinaus gehen, was bei den ‚gewöhnlichen‘ Praktiken, in denen das Subjekt sich konstituiert, vorhanden ist. Zunächst werde ich Haugelands Auffassung des Daseins als eine gesell­ schaftliche Praxis, in der Normen des Umgangs mit Seiendem und somit entsprechende Seinsbereiche institu­ iert werden, erläutern. Anschließend werde ich erklären, weshalb wir Haugeland zufolge Personen ebenfalls als Institutionen betrachten können, welche aber eine ausge­ zeichnete Rolle in dieser Praxis einnehmen. 3 46 Einen solchen sozialpragmatischen Ansatz verfolgt Haugeland z. B. in seinem Aufsatz: „Truth and Finitude: Heidegger’s Transzendental Idealism“, in: John Haugeland: Dasein Disclosed, Cambridge/ Massachusetts/London 2013, S. 187–220. I. Haugelands Interpretation des Daseins I. Haugelands Interpretation des Daseins Haugelands Überlegungen zum ‚Dasein‘ in Heidegger on Being a Person werden von der Frage geleitet, was den Menschen als rationales Wesen von nicht-rationalen Wesen, d. h. insbesondere Tieren, unterscheidet. Üblicherweise werden als Antwort auf diese Frage zwei Merkmale des Menschen hervorgehoben: sein besonderes gesellschaftli­ ches Verhalten bzw. seine Sittlichkeit und seine Sprachfä­ higkeit. Dabei wird die Sprachfähigkeit meist als Voraus­ setzung für das Sittliche betrachtet. Eine Erklärung für die Sprachfähigkeit scheint alsdann aber schwieriger und nicht selten haben sich Philosophen dabei beholfen, indem sie auf den Geist oder die Intentionalität verwiesen haben. Für Haugeland bietet der umgekehrte Weg eine attraktivere Lösung an: Wir beobachten erst, was die Besonderheit der Handlungsfähigkeit bzw. das gesellschaftliche Verhalten des Menschen ausmacht und versuchen dann seine Sprach­ begabung daraus herzuleiten. Für dieses Vorgehen meint Haugeland, dass er sich an Heidegger und seiner Auffassung des ‚Man‘ als das ‚Wer‘ des Daseins anlehnen kann. Sein Ausgangspunkt ist die Tendenz zur ‚Abständigkeit‘4, mit der Heidegger das Man charakterisiert: „Im Besorgen dessen, was man mit, für und gegen die Anderen ergriffen hat, ruht ständig die Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen, sei es auch nur, um den 4 Haugeland bezieht sich nicht explizit auf diese Textstelle, aber es scheint offensichtlich, dass er genau diese im Sinn hatte. 47 Das vereinzelte Dasein Unterschied gegen sie auszugleichen, sei es, daß das eigene Dasein – gegen die Anderen zurückbleibend – im Verhältnis zu ihnen aufholen will, sei es, daß das Dasein im Vorrang über die Anderen darauf aus ist, sie niederzu­ halten.“5 Haugeland meint, dass das Phänomen, das Heidegger hier beschreibt, keinerlei Sprache voraussetzt und sich deshalb als Kandidat für sein Vorhaben anbietet. Er setzt es als Prinzip einer ‚konformistischen Gesellschaft‘ an, welche das spezifische gesellschaftliche Verhalten rationaler Wesen verkörpern soll. Mitglieder einer konformistischen Gesellschaft – wir nennen sie hier um der Kürze willen ‚Konformisten‘ – sind Wesen, die sich gegenseitig nachahmen, um ihr Verhalten aneinander anzupassen. Dabei bilden sich gemeinsame Verhaltensmuster heraus, die dem gesellschaftlichen Zusammenleben zugrunde liegen. Dieses Verhalten darf man nicht mit dem einer Herde von Tieren verwechseln. Wie Haugeland anmerkt: „‚Conformism’ here means not just imitativeness (monkey see, monkey do) but also censoriousness – that is, a posi­ tive tendency to see that one’s neighbors do likewise and to suppress variation.“6 Konformisten teilen ihr Verhalten weder zufälligerweise, noch entstehen die gemeinsamen Verhaltensmuster bloß 5 6 48 Heidegger: Sein und Zeit a.a.O., S. 126. Haugeland: „Heidegger On Being a Person“, in: John Haugeland: Dasein Disclosed a.a.O., S. 3–16 , S. 4. I. Haugelands Interpretation des Daseins durch Nachahmung, sondern Konformisten haben verschie­ dene Mittel, um ihre Billigung oder Missbilligung einer bestimmten Verhaltensweise auszudrücken. Haugeland beschreibt dies als eine Sanktionspraxis, in der sich Konformisten gegenseitig Sanktionen erteilen, um bestimmte Verhaltensmuster zu verstärken. Dabei können Sanktionen ebenso gut positiv als auch negativ gemeint sein, als Belohnung oder als Bestrafung.7 Haugeland versucht nachzuweisen, wie durch eine konfor­ mistische Gesellschaft Normen entstehen, durch die bestimmte Bereiche des Seienden instituiert werden. Dabei ist zunächst auffallend, dass wir seiner Auffassung zufolge das Sein der Dinge bzw. die Seinsbereiche, zu denen die Dinge gehören, nicht einfach entdecken oder wahrnehmen, sondern durch unser Verhalten konstituieren. Seiner Auffas­ sung zufolge besteht das Seinsverständnis eines Wesens in einem normativen Umgang mit den Dingen. Deswegen seine Charakterisierung des Daseins als „the anyone and everything instituted by it: a vast intricate pattern – generated and maintained by conformism – of norms, normal dispositions, customs, sorts, roles, referral relations, public institutions and so on.“8 7 8 Dieser zweideutige Aspekt des Sanktionsbegriffs im Modell einer konformistischen Gesellschaft wurde genauer von R. Brandom her­ ausgearbeitet in seiner Version der konformistischen Gesellschaft, die er als ‚normative Pragmatik‘ beschreibt. Vgl.: Robert Brandom: Expressive Vernunft, Frankfurt am Main 2000, S. 77 f. Haugeland: „Heidegger On Being a Person“ a.a.O., S. 9. 49 Das vereinzelte Dasein Am Ende will er sogar zeigen, dass selbst Sprache und Intentionalität in einer solchen normativen Praxis gründen. Seine Erläuterungen will ich kurz skizzieren. Die Sanktionen, die sich Mitglieder einer konformistischen Gesellschaft gegenseitig erteilen, bringen bestimmte Hand­ lungsdispositionen hervor, unter gegebenen Umständen auf eine entsprechende Weise zu handeln. Haugeland spricht von Sorten von Handlungsumständen oder Verhaltens­ weisen, die miteinander assoziiert werden. So wird z. B. in der Regelung des Straßenverkehrs eine rote Ampel mit dem Stehenbleiben des Fußgängers assoziiert. Solche Normen stehen niemals bloß für sich allein, sondern immer im Zusammenhang eines ganzen Gefüges von Normen. Gegenstände, die in vielen verschiedenen Normen invol­ viert sind, erhalten eine Rolle. Diese Rollen bestimmen sich wiederum aus einem ganzen Gewebe von Rollen und stehen niemals bloß für sich allein. Eine Ampel hat z. B. die Rolle, den Straßenverkehr zu regeln, und existiert nur im größeren Zusammenhang des Straßenverkehrs. Diese Auffassung des Zusammenhangs vieler verschiedener Normen bezeichnet Haugeland selber als ‚normativen Holismus‘. Am Ende soll sie das wiedergeben, was Heidegger in Sein und Zeit als ‚Weltlichkeit der Welt‘ beschreibt – die Rolle eines Gegenstandes entspricht der ‚Bewandtnis‘ eines Gegenstandes, die sich wiederum nur innerhalb einer ‚Bewandtnisganzheit‘ bestimmten lässt.9 Die Normen, denen das Verhalten zu den Gegenständen 9 50 Heidegger: Sein und Zeit a.a.O., S. 83 f. I. Haugelands Interpretation des Daseins unterliegt, bestimmen Haugeland zufolge das Sein dieser Gegenstände. So könnte man z. B. sagen, dass das Sein der Ampel darin besteht, dass wir anhalten, wenn sie rot ist, und dergleichen. Haugeland folgert daraus: „all constitution is institution.“10 Nicht nur vom Menschen hergestellte Gegenstände sind davon betroffen, sondern selbst Dinge, die vom Tun des Menschen auf dem ersten Blick unab­ hängig erscheinen. Am Ende behauptet Haugeland, dass wir sogar Sprache und Intentionalität durch normative Praktiken erläutern können: „The important point is that linguistic forms are under­ stood as (special) equipment, and hence, the word/object reference relations are just a special case of interequip­ mental referral relations – which suggests another slogan: all intentionality is instituted referral.“11 Haugeland zufolge können wir sprachliche Einheiten wie Werkzeuge verstehen, indem wir ihre Rolle in einer norma­ tiven Praxis betrachten. Offensichtlich ist der Gebrauch von ‚sprachlichen Werkzeugen‘ komplizierter als der Umgang mit anderen Werkzeugen und sonstigen Gegen­ ständen. Die genaue Funktionsweise kann aber an dieser Stelle nicht ausgeführt werden.12 10 11 12 Haugeland: „Heidegger On Being a Person“ a.a.O., S. 8. Haugeland: „Heidegger On Being a Person“ a.a.O., S. 8. Die genauen Erläuterungen dazu kann man in Haugelands späteren, an „Heidegger On Being a Person“ angelehnten, Aufsatz finden: John Haugeland: „The All-Star Intentionality“, in: John Haugeland: Having Thought, Cambridge/Massachusetts/London 1998, S. 127– 170, S. 153 f. 51 Das vereinzelte Dasein Wichtig ist hier festzuhalten, dass Haugeland meint, jegliche Form von Seinsverständnis auf eine konformisti­ sche Praxis zurückführen zu können. Das Dasein als das Wesen, das ein Seinsverständnis hat, ist folglich nicht eine einzelne Person, sondern eher die gesellschaftliche Praxis, an der die Person teilnehmen kann. Wir müssten daraus den Schluss ziehen, dass das Subjekt eines Seinsverständnis nur eine Gesellschaft von Konformisten sein kann. Soweit mutet die Darstellung allerdings merkwürdig an: Sollen wir daraus folgern, dass Individuen selber kein eigenes Seins­ verständnis haben können? Welche Rolle spielen Indivi­ duen in der konformistischen Praxis? II. Individuen als ursprüngliche Institutionen Für Haugeland sind Personen ebenso wie andere Dinge in erster Linie Institutionen einer konformistischen Gesell­ schaft. So schreibt er: „people are primordial institutions.“13 Eine Person kann man als die Verkörperung einer Vielfalt von verschiedenen Rollen beschreiben, die gewissen Regeln unterliegen und in komplexen Zusammenhängen mit vielen weiteren Rollen stehen. Ein Student ist z. B. wesentlich dadurch bestimmt, dass er seine Zeit an der Universität verbringt, Vorlesungen und Seminare besucht usw. Darüber hinaus steht die Rolle eines Studenten in Beziehungen zu vielen weiteren gesellschaftlichen Rollen, wie z. B. Dozenten, Universitätsprofessoren, Verwaltungs­ 13 52 Haugeland: „Heidegger On Being a Person“ a.a.O., S. 10. II. Individuen als ursprüngliche Institutionen beamte usw. So sind Personen in erster Linie selber Verkör­ perungen von allgemeinen instituierten Lebensweisen. Haugeland beschreibt das Verhältnis von Dasein und Person, indem er Personen als ‚Fälle‘ des Daseins charak­ terisiert: „Dasein is the overall phenomenon, consisting entirely of its individual ‚occurrences‘, and yet prerequisite for any of them being what it is.“14 Gleichwohl haben Personen eine Sonderrolle innerhalb der Bedeutungszusammenhänge, die durch das Dasein konsti­ tuiert werden. Haugeland nennt sie deshalb ‚ursprüngliche Institutionen‘ (primordial institutions). Dafür gibt es wesentlich drei Gründe. Erstens muss es offensichtlich Wesen geben, die bestimmte Handlungsumstände und Verhaltensweisen sortieren, damit die Normen einer konformistischen Gesellschaft funktionieren. Damit eine Ampel den Straßenverkehr regelt, muss es Menschen geben, die für verschiedene Ampellichter entsprechend verschiedene Reaktionsweisen haben. Noch wichtiger ist aber zweitens, dass diese Wesen für ihr Verhalten verant­ wortlich gemacht werden können. So schreibt Haugeland weiter: „it is a distinctive institution in that it can have behavior as ‚my‘ behavior and can be censured if that beha­ vior is improper: it is a case of Dasein.“ 15 Ein anderes Wesen oder einen Gegenstand sanktionieren wir im Gegen­ satz zu Personen nicht, wenn ihr Verhalten Fehler aufweist. Wir halten sie nicht für den Fehler verantwortlich und 14 15 Haugeland: „Heidegger On Being a Person“ a.a.O., S. 10. Haugeland: „Heidegger On Being a Person“ a.a.O., S. 11. 53 Das vereinzelte Dasein suchen immer die Ursache dafür in den äußeren Umständen. Die Verantwortung, die wir Personen hingegen zuschreiben, ist grundlegend für die Sanktionspraxis, denn wenn es keine zurechnungsfähigen Akteure gäbe, könnte niemand sanktioniert werden, und dann gäbe es auch keine Normen. Der dritte und letzte Punkt, den Haugeland über Personen macht, scheint mir aber am wichtigsten zu sein: Personen sind Wesen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie exis­ tieren. Die Besonderheit von existierenden Wesen, fasst Haugeland in Anlehnung an Heidegger auf folgende Weise zusammen: „something exists if what (or ‚who‘) it is, in each case, is its own efforts to understand what (or who) it is.“16 Eine Person ist das, was sie ist, durch ihre eigenen Handlungen, Entscheidungen und Bemühungen. Dies bedeutet, dass sie sich ihre Rollen selbst aussuchen kann. Noch wichtiger ist aber, dass eine Person ein Wesen ist, für welches das eigene Sein auf dem Spiel steht und welches sich daher um ein angemessenes Selbstverständnis bemühen muss. Das Selbstverständnis einer Person drückt sich dabei wesentlich dadurch aus, dass sie selbstkritisch ist. Sie muss verstehen, was ihr angesichts ihrer selbster­ wählten Rollen erlaubt ist und was nicht. Und sie muss versuchen zu verstehen, wie sie das, was sie tut, am besten tun kann. Vor allem muss eine Person eine selbstkritische Haltung zu den verschiedenen Rollen, die sie gleichzeitig verkörpert, 16 54 Haugeland: „Heidegger On Being a Person“ a.a.O., S. 12. II. Individuen als ursprüngliche Institutionen einnehmen. Es kann nämlich sein, dass bestimmte Wider­ sprüche zwischen diesen entstehen. Eine Studentin, die zugleich Rockgitarristin sein möchte, befindet sich z. B. in einer solchen Lage, wenn die langen Nächte, die sie in Berliner Kneipen verbringt, dazu führen, dass sie ihre wichtigen Vorlesungen vernachlässigt. Eine solche Situa­ tion kann dazu führen, dass eine Person sich entscheiden muss, eine ihrer Rollen zugunsten einer anderen aufzu­ geben. Eine Person, die eine solche Entscheidung trifft, bezeichnet Haugeland als entschlossene Person, welche ein eigenes oder – mit Heidegger gesprochen – ein eigentliches Dasein führt. Der wesentliche Grund, weshalb Personen auf diese Art und Weise selbstkritisch sind, ist, dass sie anteilnehmende Wesen sind: Ihr eigenes Sein bedeutet ihnen etwas. Nur deshalb sind Widersprüche für sie nicht annehmbar. Nur deshalb sind Personen Wesen, die ihre Verhaltensweisen gegenseitig sanktionieren, wenn sie nicht mit den anerkannten Normen in Einklang stehen. Letzten Endes scheint es also falsch, oder zumindest unzu­ reichend, das Seinsverständnis allein auf die Ebene der konformistischen Gesellschaft zu setzen. Das Selbstver­ ständnis von Personen bzw. das Verstehen ihres eigenen Seins beruht zwar in erster Linie auf instituierten Lebens­ weisen, die sie ausführen. Gleichwohl sind Personen im Gegensatz zu anderen Wesen in der Lage sich ihre Rollen selber zu wählen und diese auch selber mitzugestalten. In einem gewissen Sinn ist das Verstehen ihres eigenen Seins die Ursache dieses Seins. Dieses eigene Seinsverständnis 55 Das vereinzelte Dasein ist schließlich eine wichtige Voraussetzung für das Funktio­ nieren einer konformistischen Gesellschaft. III. Fazit In diesem Beitrag habe ich eine Interpretation von Heideg­ gers Begriff des Daseins vorgestellt, die nicht davon ausgeht, dass das Dasein eine einzelne Person bezeichnet, sondern eine gesamte gesellschaftliche Struktur, die ein Seinsverständnis verkörpert. So ist nach Haugelands Auffassung das Dasein als Praxis einer konformistischen Gesellschaft zu beschreiben, in welcher Normen entstehen können, durch die verschiedene Seinsbereiche instituiert werden. Personen sind selber auch Institutionen, die sich allerdings auszeichnen, weil sie das, was sie sind, aufgrund ihrer eigenen Bemühungen sind und weil es ihnen dabei um ihr eigenes Sein geht. Abschließend können wir uns mit Hinblick auf den Titel dieses Tagungsbandes fragen, wie wir dieser Auffassung zufolge das Subjekt des Seinsverständnis auffassen sollten. Dabei lautet die Frage, wer der Inhaber des Seinsverständ­ nisses ist: die gesellschaftliche Praxis als Ganze oder die einzelne Person? Auf der einen Seite können wir sagen, dass die Praxis bzw. die konformistische Gesellschaft das Subjekt ist, weil Haugeland zufolge ein Seinsverständnis primär auf der beschriebenen Sanktionspraxis einer solchen Gesellschaft beruht. Auf der anderen Seite haben wir gesehen, dass diese Praxis von Personen getragen wird, 56 III. Fazit welche zwar selber Institutionen sind, aber dennoch ein wesentliches Vermögen zur Selbstreflexion und Selbst­ kritik, das wesentlich für das Bestehen der Praxis ist. Dieses Selbstverhältnis könnten wir bereits als eigenes Seinsverständnis, d. h. Verständnis des eigenen Seins charakterisieren. Diese verschiedenen Deutungsmöglichkeiten sollten einige Bedenken aufwerfen. Gelingt es Haugeland am Ende tatsächlich ein voraussetzungsloses Erklärungsmodell für die Vernunft des Menschen vorzuschlagen? Einige Elemente scheinen mir noch unerklärt: Woher kommt die Fähigkeit der Konformisten sich gegenseitig Sanktionen zu erteilen? Haugeland verweist hier selber auf eine Art natür­ liche Anlage, ohne weiter darauf einzugehen. Noch span­ nender scheint aber die Frage, woher Personen das Vermögen haben, sich selbstkritisch zu ihren gesellschaftli­ chen Rollen zu verhalten. Oder mit Heideggers Worten: Woher stammt das Vermögen zur Eigentlichkeit? Ist dieses auch wieder eine strukturelle Bedingung der konformisti­ schen Gesellschaft? Oder können wir sie nur als individu­ elles Vermögen begreifen? Eins scheint festzustehen: Wir können das Subjekt Haugeland zufolge nicht begreifen, wenn wir es nicht im Kontext geteilter Praktiken betrachten; allerdings geht das Subjekt als Einzelnes nicht in der Teilnahme an diesen Praktiken auf. Um ein angemes­ senes Verständnis des Subjekts zu erreichen, müssen wir stets im Auge behalten, dass es auch immer in der Lage sein muss, die gesellschaftlichen Praktiken, aus denen es 57 Das vereinzelte Dasein sein Selbstverständnis erhält, kritisch zu reflektieren. Die verschiedenen Fragen, die ich zum Abschluss aufgeworfen habe, werde ich offen lassen müssen. Ihre Auflösung scheint mir aber eine wichtige Aufgabe zu sein, wenn wir uns um ein besseres Verständnis des Subjekts bemühen wollen. 58 Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie Nina Rabuza und Martin Mettin Die Kritische Theorie thematisiert das Subjekt als histo­ risch bedingte Instanz menschlicher Erkenntnis, in der sie zum einen das Potential für die Einrichtung einer vernünf­ tigen Form menschlichen Zusammenlebens erblickt. Zum anderen stellt sich das Subjekt für Kritische Theoretike­ rinnen aber auch als eine Form des gewaltvollen und zurüs­ tenden Zugriffs auf das von ihm Verschiedene, das Objekt, dar. In der Dialektik der Aufklärung entfalten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer die Überlegung, dass das Subjekt selbst und dessen Geschichte widersprüchlich sind.1 Sie lesen die Homerische Odyssee als Urszene der bürgerlichen Subjektwerdung, die zwar kein realgeschicht­ liches Faktum erzählt, wohl aber Wesentliches über die innere Widersprüchlichkeit der Subjektform aussagt: Der Austritt des Menschen aus dem unmittelbaren Naturzusam­ menhang und dem mythischen Götterhimmel wurde durch das vernünftig erkennende Ich, das seine Umwelt erklären und handelnd in sie eingreifen kann, vollzogen. 2 Das Ende des vorsubjektiven Chaos`, so Adorno und Horkheimer, musste durch die Entwicklung des vernünftigen Subjektes vollzogen werden, dessen Fähigkeit, seine Umwelt zu 1 2 Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung (= Adorno Gesammelte Schriften Bd. 3), Frankfurt/Main 1981, S. 13. Ebd., S. 19. 59 Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie begreifen, in der Fähigkeit zum kategorialen Denken begründet sei. Andererseits wird das Subjekt als verhäng­ nisvolle Form aufgefasst, weil die Befreiung durch das Subjekt und des Subjektes aus der ersten Natur zur Verstri­ ckung in die zweite Natur geführt habe, also in eine Gesell­ schaft, die dem Subjekt als undurchdringliche, unveränder­ bare erscheint.3 Die Rekonstruktion der Dialektik des Subjektes zielt auf eine Befreiung des Subjektes aus der menschengemachten Unfreiheit. Ziel der Kritischen Theorie ist nicht die Abschaffung oder Zertrümmerung des Subjektes, sondern dessen Rettung mithilfe der eigenen Fähigkeit zur Reflexion und Erfahrung. Im Folgenden soll die Dialektik des Subjektes in der Kriti­ schen Theorie entfaltet und eine Perspektive auf die Befreiung des Subjektes eröffnet werden. I. Geschichte der Subjektform Das Individuum, wie es sich gegenwärtig darstellt als Atom der Gesellschaft, sowie seine Form, die des Subjektes, haben eine Geschichte. Diese Geschichte lässt sich ablesen am Phänomen selbst (also am eigenen Leib und Leben der einzelnen Individuen); ebenso an den Dokumenten der Kultur und an gesellschaftlichen Strukturen, welche die historische Entwicklung des Individuums bzw. Subjektes begleiten. Kritische Theorie hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Geschichte nachzuvollziehen. So stellt denn 3 60 Ebd., S. 13. I. Geschichte der Subjektform auch Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung, eine der zentralen Schriften des Instituts für Sozialforschung, den Versuch dar, die Geschichte des bürgerlichen Subjektivierungsprozesses zu rekonstruieren. Dabei soll jedoch weder eine ursprüngliche Epoche der Menschheit freigelegt werden, in der die Subjektform noch nicht ausgebildet gewesen wäre, noch wird der Versuch unternommen, ein ontologisches Fundament der Gesell­ schaft ausfindig zu machen – ein solches Programm der Ursprungsbestimmung oder aber der Seinssuche impliziert ein „zurück zu“ ebenjenen Zuständen, die dann häufig gleich als paradiesische angenommen werden. Vielmehr ist Horkheimer und Adorno daran gelegen, die Gegenwart im Licht der Geschichte zu erhellen, um die Gewalten nachzu­ zeichnen, welche in der bürgerlichen Gesellschaft wirken. 4 In diesem Sinne wird in der Dialektik der Aufklärung der Homerische Epos von der Odyssee aus dem 20. Jahrhun­ dert heraus als ein frühes Zeugnis bürgerlicher Vergesell­ schaftung interpretiert, das mit bestimmten Momenten von Aufklärung einhergeht. Für Horkheimer und Adorno lassen 4 Zurecht bestimmt Detlev Claussen Horkheimers und Adornos Dia­ lektik der Aufklärung als radikale Auseinandersetzung mit der Ge­ genwart des Zivilisationsbruches Auschwitz, der dazu nötigt, die his­ torische Perspektive der Kritischen Theorie ganz beim Wort zu neh­ men. Weder also kann das von Marx bestimmte Emanzipationspo­ tenzial der bürgerlichen Epoche auf die Zeit nach der verpassten Ver­ änderung der Welt einfach übertragen werden, noch darf der Rück­ blick Horkheimers und Adornos auf die Zeugnisse der Antike unhis­ torisch als „Einfühlung“ in jene längst vergangene Epoche gedeutet werden. Vgl. Detlev Claussen: Abschied von Gestern. Kritische Theorie heute, Bremen 1986, S. 17 f. und S. 24. 61 Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie sich bereits im antiken Epos Motive ausfindig machen, die bis in das 20. Jahrhundert hineinragen. Was sich demnach an der Erzählung über die frühbürgerlichen Subjekte, den Helden Odysseus und seine Gefährten, zeigt, ist die Dialektik von Naturbeherrschung und Naturverfallenheit, die insbesondere in der Episode der Vorbeifahrt an der Sire­ neninsel deutlich wird. Wenn Odysseus mit seiner Schiffs­ besatzung an den Sirenen vorbei segelt, sich selber an den Mast binden lässt, um dem betörenden Gesang der mythi­ schen Gestalten lauschen zu können, ohne ihm zu erliegen, den Ruderern hingegen die Ohren mit Wachs verstopft sind, damit sie das Schiff sicher an der Insel vorbei navi­ gieren, ihnen so aber der Genuss des Gesanges verwehrt bleibt – dann äußert sich hierin ein Moment von Arbeitstei­ lung und Selbstbeherrschung, das paradigmatisch ist für bürgerliche Formen von Gesellschaft.5 Um dem bloßen Naturzwang zu entkommen, müssen sich die Subjekte selber disziplinieren, ihre Triebe, ihre körperlichen (aber auch geistigen) Bedürfnisse aufschieben bzw. verdrängen, um sich selbst zu erhalten. Die List, die Odysseus hier einsetzt, damit er dem von den Göttern bestimmten Schicksal, der mythischen Natur, entkommen kann, steht für das Vermögen der Vernunft. Sie stellt hier vorrangig das Instrument dar, mit den Naturgewalten fertig zu werden, die Dinge zu handhaben und ist so Entzauberung der Natur.6 Im Gebrauch der Vernunft treten die Menschen aus 5 6 62 Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung a.a.O., S. 49–54. Ebd., S. 19. I. Geschichte der Subjektform der Natur heraus, sie werden Subjekte. Gleichzeitig können sie dies nur, weil sie bereits Subjekte sind, Vernunft besitzen. (Diese scheinbare Widersprüchlichkeit zwischen „immer schon Subjekt sein“ und „zum Subjekt werden“ wird von Adorno und Horkheimer bewusst nicht aufgelöst, da kein realgeschichtlicher Moment bestimmt werden soll, an dem das Subjekt aus dem Dunkeln des Chaos getreten wäre. Vielmehr werden aus der Odyssee wie aus anderen Dokumenten der Kultur die verschlungenen Wege der Subjektwerdung herausarbeitet.) Ebenso differenziert sich die gesellschaftliche Struktur zum Zweck der Naturbeherr­ schung aus, wird arbeitsteilig, um sich effektiv reprodu­ zieren und von der Natur emanzipieren zu können; Odys­ seus kann sich den Genuss nur leisten, weil seine Gefährten die körperliche Arbeit verrichten. Die Vernunft organisiert somit auch die Einrichtung der Gesellschaft. Mit den Mitteln der Vernunft gelang es der Menschheit, der mythischen Naturverfallenheit zu entkommen, ihr instru­ menteller Charakter war damit ein historisch notwendiger Schritt hin zur gesellschaftlichen Freiheit. Zugleich aber taten die Menschen damit den Dingen und sich selber, nicht zuletzt ihrer eigenen Naturwüchsigkeit, Gewalt an. Sie verstricken sich in Herrschaft und eine verhärtete Gesell­ schaft, die ihrerseits mythisch wird, weil sie im Namen der Aufrechterhaltung ihrer Ordnung unveränderbar erscheint und undurchsichtig wird.7 Die Spuren dieses Prozesses 7 Ebd., S. 28. 63 Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie finden sich nicht nur in der Odyssee, alle Individuen haben sie selber am eigenen Leib erfahren: „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt.“8 Aber nicht nur die griechische Aufklärung als Entzau­ berung der Natur bleibt dem Mythos verfangen. Auch die Epochen, die der bürgerlichen Aufklärung des 18. Jahrhun­ derts nachfolgen, verstricken sich mythisch in eine zweite Natur, zu der sich die bürgerliche Gesellschaft samt ihrer Produktions- und Reproduktionsbedingungen verhärtet hat, in der die ökonomische, politische und administrative Einrichtung der Welt als alternativlos und unveränderbar erscheint. Wie diese verwaltete und verhärtete Welt dann im 19. Jahrhundert aussieht, hat Karl Marx im Kapital detailliert festgehalten. Was in ihr als unveränderliches, ehernes Naturgesetz gilt, ist allem voran das Tauschgesetz der Ware, welches im Zeitalter des industriellen Kapita­ lismus sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse zu bestimmen beginnt. Eine Konsequenz der sich auswei­ tenden Warenförmigkeit ist, dass vom gesellschaftlichen und konkreten Charakter der menschlichen Arbeit abstra­ hiert wird. Nicht nur die Produkte werden zu Trägern von Tauschwerten, die Abstraktion schlägt nun zurück auf die Arbeiterinnen: Die konkrete Arbeit, die den Wert der 8 64 Ebd., S. 50. I. Geschichte der Subjektform einzelnen produzierten Ware bildet, tritt zurück hinter die abstrakte Arbeit. Der Warenwert wird nicht anhand der tatsächlich verausgabten Arbeitszeit der individuellen Arbeiterin gemessen, sondern anhand der gesellschaftli­ chen Durchschnittsarbeitszeit. Die austauschbaren Arbeite­ rinnen müssen sich dem gesellschaftlichen Durchschnitt anpassen, sonst verlieren sie ihre einzige Möglichkeit, ihre Arbeitskraft auf dem Markt zu veräußern, womit sie sich reproduzieren können.9 Dadurch treten sie in Konkurrenz zu einander. All diese Abstraktions- und Wettbewerbspro­ zesse sowie die Durchsetzung des Tauschprinzips als herr­ schendem Rationalitätsmaßstab führen zur Vereinzelung der bürgerlichen Subjekte, sie werden zu „Robinso­ naden“10, wie Marx sie im Kapital nennt, die dem Schein unterliegen, sie seien auf sich allein gestellt, für das eigene Wohl und Verderben ausschließlich selbst verantwortlich. (Zwar existiert eine formale und rechtlich verbriefte Frei­ heit der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft – die Leibeigenschaft etwa ist abgeschafft und dem Individuum wird als solchem Recht zuerkannt, wodurch es überhaupt erst verfasst ist –, weder Marx noch Horkheimer und Adorno verkennen dieses emanzipatorische Potenzial der bürgerlichen Gesellschaft, jedoch sind die Individuen genö­ tigt, ihre eigene Haut, ihre Arbeitskraft zu Markte zu tragen, sich also in Konkurrenz zu den anderen Arbeite­ rinnen zu begeben, da der formal-rechtlichen Freiheit 9 10 Karl Marx: Das Kapital, Band 1 (= Marx-Engels-Werke Bd. 23), Berlin 1986, S. 72. Ebd., S. 90. 65 Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie ebenso die „Freiheit“ von Produktionsmitteln entspricht; d. h. sie können nur existieren, wenn sie der Lohnarbeit nachgehen.) Erschwerend kommt hinzu, dass die Menschen im vorange­ schrittenen Kapitalismus zunehmend der Maschinerie unterworfen sind – seien es nun die Maschinen und Appa­ rate in den Fabriken, an den Arbeitsplätzen, in der Freizeit, sei es die gesellschaftliche Maschinerie als Ganze. 11 Das aber lässt ihre subjektiven Vermögen, ihre Erfahrungs- und Vernunftfähigkeit, nicht unberührt; so sind die bürgerlichen Subjekte nicht nur „eingespannt wie gepanzerte Tiere in ihren Verschalungen“12, sondern sie fristen ein trostloses Dasein im Dunkel der Realität, ähneln sich dem Entwick­ lungsstand der „Lurche“13 an, wie Horkheimer und Adorno 1944 schreiben: „Die Regression der Massen heute ist die Unfähigkeit, mit eigenen Ohren Ungehörtes hören, Unergriffenes mit eigenen Händen tasten zu können, die neue Gestalt der Verblendung, die jede besiegte mythische ablöst. Durch die Vermittlung der totalen, alle Beziehungen und Regungen erfassenden Gesellschaft hindurch werden die Menschen zu dem wieder gemacht, wogegen sich das Entwicklungsgesetz der Gesellschaft, das Prinzip des Selbst gekehrt hatte: zu bloßen Gattungswesen, einander gleich durch Isolierung in der zwanghaft gelenkten Kollektivität.“14 11 12 13 14 66 Ebd., S. 404. Theodor W. Adorno: Zu Subjekt und Objekt (= Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 10.2), Frankfurt/Main 1977, S. 749. Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung a.a.O., S. 53. Ebd., S. 53 f. II.Adornos Kritik am idealistischen Subjekt in der Negativen Dialektik II. Adornos Kritik am idealistischen Subjekt in der Negativen Dialektik Warum es ausgerechnet an der Subjektform hängt, ob die Individuen Erfahrungen im emphatischen Sinne machen und sich ihrer eigenen Vernunft bedienen können, kann nicht allein aus der (Sozial-)Geschichte der Subjektform abgelesen werden. Ebenso müssen die theoretischen und philosophischen Auseinandersetzungen mit dem Subjekt in den Blick genommen werden, da sie nicht einen bloßen „Überbau“ zum geschichtlichen Prozess darstellen, sondern durch die Gesellschaft hindurch mit der materiellen Ausge­ staltung der Welt vermittelt sind. Die hier geforderte Perspektive ist die der Erkenntniskritik, wie sie Adorno in der Negativen Dialektik einnimmt. Adorno weist sein letztes vollendetes Buch als das Werk aus, in dem er sein Denken und seine zahlreichen materialen Arbeiten zumin­ dest partiell in den Zusammenhang einer philosophischen Reflexion stellen wolle.15 In ihr finden sich zahlreiche methodologische Überlegungen und Gedanken, die Adornos Denken erläutern und rechtfertigen sollen. Eine der zentralen Fragen der Negativen Dialektik lautet, ob und wie an dem Versprechen von Philosophie und Aufklärung, die Welt mittels des Geistes zu erkennen und sie vernünftig einzurichten, angeknüpft werden kann – wenngleich dieses Versprechen nicht nur unerfüllt blieb, sondern zugleich das Gegenteil dessen verwirklicht 15 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, (= Gesammelte Schriften 6), Frankfurt/Main 1973, S. 9. 67 Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie wurde.16 Aus der Perspektive Adornos ist es zum einen im 19. Jahrhundert nicht gelungen, die Marxsche Weiterfüh­ rung der Aufklärung in der gesellschaftlichen Realität zu verwirklichen.17 Zum anderen wurde im 20. Jahrhundert durch die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden jeglicher Glauben daran, die Welt könnte eine vernünftige werden, durch die absolute Katastrophe der Vernichtung zerstört.18 Die Aufklärung wurde zum einen zerstört, zum anderen hat sie sich aber auch auf grauenhafte Weise verwirklicht: Die vollkommene Identifikation des Einzelnen mit dem Allge­ meinen kann das, was nicht unter den Begriff gebracht werden kann, nicht dulden. In den Vernichtungslagern wurde das vermeintlich „Nichtidentische“, dass die Iden­ tität der wahnhaften deutschen Volksgemeinschaft gefährdet, in Gestalt der Jüdinnen und Juden vernichtet. Adorno interpretiert also die Shoah nicht als außerhalb einer Zivilisationsgeschichte der Menschheit zum Guten und Vernünftigen stehend, sondern als Verwirklichung der negativen Seite der Aufklärung.19 Die Negative Dialektik hat den Anspruch, sowohl Erkennt­ niskritik als auch Gesellschaftskritik zu sein. Sie kritisiert 16 17 18 19 68 Ebd., S.15. Sybe Schaap: Die Verwirklichung der Philosophie. Der metaphysi­ sche Anspruch im Denken Theodor W. Adornos, Würzburg 2000, S. 24. Albrecht Wellmer: „Model 3: Meditationen zur Metaphysik. Meta­ physik im Augenblick ihres Sturzes“, in: Axel Honneth/Christoph Menke: Theodor W. Adorno. Negative Dialektik, Berlin 2006, S.189– 206, S. 189. Adorno: Negative Dialektik a.a.O., S. 355. II.Adornos Kritik am idealistischen Subjekt in der Negativen Dialektik die Philosophie in ihrem Versuch und ihrem Scheitern, die Welt vollkommen zu erfassen, nicht nur bezüglich ihrer Kategorien, sondern stellt diese immer auch selbst als Gewordenes dar: Die idealistische Philosophie Hegels stellt darin den Höhepunkt des philosophischen Strebens danach, die Welt vollkommen mit der Vernunft zu erfassen, über­ haupt dar.20 Das Subjekt des Idealismus strebe nach abso­ lutem Wissen, also der vollständigen Identifikation des Erkannten mit dem zu Erkennenden, dem Objekt mit dem Subjekt, das sich darin selbst als Grund sowohl des Erkenntnisprozesses als auch der Erkenntnismittel erfährt. 21 Die Identität von Subjekt und Objekt im absoluten Wissen ist für Adorno zwangsläufig eine scheinhafte, da Subjekt und Objekt unmöglich realiter identisch sind.22 Die Mittel des Subjektes, auf das Objekt zuzugreifen und es zu erkennen, führen nicht dazu, dass das Objekt selbst zu einem materialen Teil des Subjektes wird. Adorno wirft nun Hegel vor, dass er die Möglichkeit von etwas jenseits des erkennenden Subjektes zugunsten der Totalität der begriff­ lichen Bestimmungen opfert. Die ganze Wirklichkeit in ihrer Heterogenität wird unter die begriffliche Totalität gestellt und behauptet, sie sei genau so, wie der Begriff sie erfasse.23 Eine Erkenntnis dessen, was eben nicht im Begriff vorkommt, wird damit verunmöglicht. Das absolute Subjekt Hegels wird vom Subjekt der Erkenntnis zum 20 21 22 23 Ebd. S. 16. Ebd. S. 161 f. Ebd. S. 162. Ebd. 69 Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie zurüstenden Subjekt der scheinhaften Erkenntnis: Aufgrund seines instrumentellen Gebrauchs von Begriffen ist ihm die Erkenntnis von Neuem verwehrt, da es keine Erfahrung von etwas machen kann, was außerhalb seiner begrifflichen Schemata liegt.24 Die Kritik am absoluten Wissen Hegels ist paradigmatisch für die grundsätzliche Kritik Adornos am erkennenden Subjekt. Dies lässt sich am Modell vom vernünftigen Erkennen verdeutlichen: Das Subjekt erkennt die Welt im Medium des Begriffs. Mittels des Begriffs und der begrifflichen Ordnung greift es auf das zu, was es erkennen will. Darin liegen sowohl Schein als auch Wahr­ heit der Identifikation begründet. Zum einen ist Denken auf den Begriff angewiesen, mit dem es die Wirklichkeit ordnen und erklären kann. Zum anderen ist die Identifika­ tion immer nur scheinhaft, denn Begriff und Sache sind nicht gleich, sie werden nur gleichgesetzt. Wird die unüber­ brückbare Trennung von Subjekt und Objekt, von Begriff und Gegenstand vergessen, wird die Identifikation zur Unwahrheit: „Der Schein von Identität wohnt jedoch dem Denken selber seiner puren Form nach inne. Denken heißt identifi­ zieren. Befriedigt schiebt begriffliche Ordnung sich vor das, was Denken begreifen will. Sein Schein und seine Wahrheit verschränken sich.“25 24 25 70 Ebd., S. 17. Ebd. II.Adornos Kritik am idealistischen Subjekt in der Negativen Dialektik Grundsätzlich sind Schein und Wahrheit also nicht vonein­ ander zu trennen. Zwar kann das Auseinanderfallen von Begriff und zu Begreifendem reflektiert werden, es lässt sich aber nicht feststellen, was vom zu Begreifenden nicht begriffen wurde. Würde man versuchen, das Nichtbestimm­ bare, Nichtidentische zu bestimmen, wäre es nicht mehr nichtidentisch. Das Modell Adornos ist auf zweifache Weise dialektisch zu lesen. Erstens ist die vernünftige Erkenntnis nicht zu trennen von einem Moment des Zwangs oder der Unterord­ nung durch den Begriff. Vernünftiges Erkennen geht einher mit einer Reduktion und Kategorisierung. Adorno versteht also die subjektive Erkenntnis selbst als einen Widerspruch von Vernunft und Erkenntnis auf der einen Seite und Gewalt und Herrschaft auf der anderen Seite. Zum zweiten wird die Dialektik als eine Logik des Einspruchs, eine Art „Prävention“, verstanden: Indem der dialektische Einspruch sich beständig gegen die falsche Identifikation wehrt und auf dem Unterschied beharrt, soll er den Umschlag in den Zwang ohne Erkenntnis verhindern. Adornos Erklärung des idealistischen Identitätsstrebens bleibt nicht bei einer erkenntniskritischen Erklärung stehen, sondern verlässt die philosophische Immanenz und stellt eine Verbindung zur Triebtheorie her. Das idealistische Gesetz der Identifikation sei die vergeistigte „Wut aufs Opfer“26. Im Idealismus habe sich die Wut des Raubtiers auf das Opfer, das es zur Selbsterhaltung erbeuten und 26 Ebd., S. 33. 71 Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie töten muss, in die Erkenntnistheorie eingeschlichen. 27 Das als minderwertig verschrieene Andere müsse durch den Gedanken verschlungen werden, da es potentiell das System als Ganzes, das absolute Durchdringen der Wirk­ lichkeit gefährdet.28 Die Natur, das Undurchsichtige, Hete­ rogene, wird also zum Feind, da sie sich nicht der kalkulie­ renden Vernunft beugt. Im vollständig vernünftigen System gilt es also, das noch nicht beherrschte Andere einzuver­ leiben, um die Vernunft selbst nicht in Gefahr zu bringen. Das Argument richtet sich gegen die philosophische Natur­ verachtung und das Denken des qualitativen Fortschritts, indem Adorno eine Ähnlichkeit von idealistischem Denken und animalischem Trieb herstellt. Adorno fasst Vernunft und Subjekt nicht als ahistorische Erkenntnisinstrumente der ewigen Wahrheit auf. Dadurch blickt er auf die Geschichte der Philosophie nicht als Fortschreiten des Geistes zu höheren Formen der Erkenntnis, sondern als eine Wiederkehr von Denkmustern, Verhaltensweisen und Reaktionen, die ihren Ursprung auch im animalischen Trieb haben. In diesen drastischen Formulierungen wird das erkennende Subjekt also zum wütenden Subjekt, das sich gegen die Natur als vermeintliche Bedrohung des eigenen Status richtet. Im Denken als Prozess der Identifikation liegt auch der repressive Charakter der zurüstenden Vernunft begründet. Wäre es nicht möglich, Denken und Erkenntnis der Welt anders zu fassen als in der für die 27 28 72 Ebd. Ebd., S. 34. II.Adornos Kritik am idealistischen Subjekt in der Negativen Dialektik Kritische Theorie unüberwindbaren Dichotomie von Subjekt und Objekt? Ohne detailliert auf die Entwicklung der Position Adornos eingehen zu können – dazu wäre es nötig, sich kleinteilig Adornos Kritik an der Phänomenologie Edmund Husserls und Henri Bergsons und der Kritik an Martin Heidegger zuzuwenden –, soll zumindest ein Argument gegen die Liquidation des Subjektes erläutert werden. In dem späten Text Zu Subjekt und Objekt, der kurz vor Adornos Tod erschien, geht Adorno zu Beginn auf die Möglichkeit ein, die Ungeschiedenheit, die vor der Tren­ nung von Subjekt und Objekt liegt, wieder herzustellen, verwirft diese aber als „romantische Sehnsucht“. 29 Der Vorstellung, es gebe einen glücklichen „adamitischen“ Zustand, der vor der Trennung von Subjekt und Objekt liegt und zu dem es zurück zu gehen gelte, wird von Adorno der grauenhafte Mythos, das Chaos, die absolute Unmündigkeit entgegengestellt.30 Wie in der Dialektik der Aufklärung ist der Ausgang aus diesem Stand einerseits ein Fortschritt. Andererseits geht der Fortschritt einher mit Zwang und Herrschaft des Subjektes gegen sich selbst und gegen Andere.31 Versuche, die Subjektform zu überwinden, haben das Subjekt vielmehr liquidiert, anstatt es aufzu­ heben.32 Diese Liquidation führt zurück in einen „unfreieren“, grauenhaften Zustand. Denn das, was das 29 30 31 32 Adorno: Zu Subjekt und Objekt a.a.O., S. 742. Ebd. Ebd. Ebd. 73 Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie Subjekt zur Freiheit führt, die Vernunft, wird darin abge­ schafft. Die Liquidation des Subjektes würde eben nicht dazu führen, die zwangvolle Identifikation hinter sich zu lassen, sondern deren vorgängige Form des Bewusstseins, die Ungeschiedenheit, in der der Mensch ohnmächtig den Naturgewalten, dem Götterhimmel etc. ausgeliefert war, wiederherzustellen33. Eine Aufhebung des Identitätsbe­ wusstseins und damit des gewaltvollen Subjektes bestünde aber nicht in der Regression zur Ungeschiedenheit, sondern in der Weiterentwicklung der Vernunft, etwa im Vermögen der Reflexion und des Differenzierens. Adorno fasst diese als Kommunikation zwischen dem Verschiedenen, in der das erkennende Subjekt sich rezeptiv zu den Objekten verhält und diese zugleich in ein Verhältnis zu seinen Begriffen setzt. Das dialektische Erkenntnismodell Adornos muss zum einen als eine Kritik des Subjektes verstanden werden, zum anderen aber auch als ein Versuch seiner Rettung, denn schließlich ist Erkenntnis zwangsläufig auf das Subjekt verwiesen. Für Adorno stellt sich dabei vorrangig die Frage, wie das Verhältnis von Subjekt und Objekt verändert werden kann, so dass die Tendenz der Herrschaft über die Dinge abgeschwächt wird. 33 74 Ebd. III. Rezeptivität und Spontaneität III. Rezeptivität und Spontaneität Nur mit der Kraft des Subjektes kann es gelingen, den Panzer der Subjektivität zu durchbrechen, die verhärteten und herrschaftsförmigen Strukturen der Gesellschaft, welche die Einzelnen bis in jede Zelle hinein erfassen, überhaupt erst als solche wahrzunehmen. Dialektische Kritik an Vernunft und Aufklärung bedeutet dementspre­ chend, nicht im Mythos zu verharren oder sich einer neuen Mythologie zu verschreiben, also etwa den vermeintlichen Tod des Subjektes zugunsten einer neuen Unmittelbarkeit zwischen den ehemals Getrennten (Subjekt und Objekt) zu affirmieren, sondern aus der Aufklärung heraus mit ihr und gegen sie am Bestreben nach Emanzipation festzuhalten. Die Fragen, die es zu beantworten gilt, lauten entspre­ chend: Wie lässt sich in der verwalteten Welt überhaupt noch denken, ohne in rein instrumenteller Vernunft zu verharren; wie also ist Kritik möglich? Und wie lassen sich Erfahrungen von Besonderem, Neuem machen, die nicht gleich von eingeschliffenen Schemata geschluckt werden? Einfache Antworten auf diese Fragen gibt es nicht – es wäre wohl kaum zu viel behauptet, dass sämtliche Texte der Kritischen Theorie um eben jene kreisen. Zumindest aber muss konstatiert werden, dass beide Fragen aufs engste verbunden sind, dass also nur erfahrungsfähige Subjekte auch erkenntnisfähig sind – und umgekehrt. So verstellt die verwaltete Welt nicht nur die sinnliche Erfah­ rung, richtet nicht nur die Körper zu, sondern affiziert 75 Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie zugleich den selbstherrlichen Intellekt, der sich von der sinnlichen Erfahrung trennt, um sie zu unterwerfen: „Die Vereinheitlichung der intellektuellen Funktion, kraft welcher die Herrschaft über die Sinne sich vollzieht, die Resignation des Denkens zur Herstellung von Einstim­ migkeit, bedeutet Verarmung des Denkens so gut wie der Erfahrung; die Trennung beider Bereiche läßt beide als beschädigte zurück.“34 Horkheimer und Adorno schließen damit an einen starken Vernunftbegriff an, der selber der Aufklärungsphilosophie entstammt, nämlich an den Vernunftbegriff Kants. In der Kritik der reinen Vernunft prägte Kant die berühmte Formulierung, dass Gedanken ohne Inhalt leer, Anschau­ ungen ohne Begriffe blind seien.35 Erkenntnis entspringt somit aus zwei Quellen, die in zwei Vermögen des Gemüts begründet sind, nämlich zum einen aus dem Vermögen der Rezeptivität, also dem Vermögen, sinnliche Erfahrungen zu machen, zum anderen aus dem Vermögen der Spontaneität, dem Vermögen also, jene Erfahrungen auf Begriffe zu bringen, sie sprachlich und denkend zu erfassen. Trotz der Aufwertung der sinnlichen Erfahrung zur Erkenntnisquelle bleiben bei Kant jedoch beide Vermögen strikt getrennt. Zudem werden sie zu apriorischen Elementen der Trans­ zendentalphilosophie; das heißt: Vor jeder empirischen Erfahrung und vor jeder denkenden Auseinandersetzung 34 35 76 Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung a.a.O., S 53. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (= Werke Bd. III), Frank­ furt/Main 1974, B 74 (S. 97). III. Rezeptivität und Spontaneität mit der historischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit stehen die reinen Formen der Anschauung und die funda­ mentalen Verstandesbegriffe (die Kategorien) bereits fest. Die Erkenntnisfähigkeit der Menschen wird damit zur historischen Invariante. Horkheimer und Adorno wenden nun die kantische Vernunftkritik noch einmal gegen sich selbst, erheben Einspruch gegen die Apriorizität der Kategorien und gegen die merkwürdige Körperlosigkeit der reinen, transzenden­ talen Anschauungsformen. Vernunft behält ihr kritisches Potential nur dann, wenn sie darauf reflektiert, dass sie selber auch Herrschaftsinstrument ist, dass im Namen der Befreiung vom Naturzwang das Subjekt von seiner eigenen Naturwüchsigkeit gewaltvoll getrennt wurde: „Das Selbst, das nach der methodischen Ausmerzung aller natürlichen Spuren als mythologischer weder Körper noch Blut noch Seele und sogar natürliches Ich mehr sein sollte, bildet zum transzendentalen oder logischen Subjekt subli­ miert den Bezugspunkt der Vernunft, der gesetzgebenden Instanz des Handelns.“36 Gegen dieses Reinheitsgebot der Vernunft ist Kritische Theorie das „Eingedenken der Natur im Subjekt“ 37. Im „zuchtlosen Gedanken“38 versucht sie, den Spuren der Körperlichkeit, dem erfahrenen Glück und dem widerfah­ renen Leid zu folgen, diese Reflexionen nun aber nicht dem 36 37 38 Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung a.a.O., S. 46. Ebd., S. 58. Ebd. 77 Die Dialektik des Subjektes in der Kritischen Theorie bloß Empirischen, Alltäglichen, Ephemeren zuzurechnen, sondern sie in das Herz der Theorie selbst zu tragen. Inso­ fern tritt neben die große Form, die philosophische Abhandlung, gleichberechtigt die kleine, der Essay, die Aphorismen und die Fragmente. In Horkheimers Dämme­ rung und Notizen, Adornos Minima Moralia, aber auch in Benjamins Einbahnstraße und der Berliner Kindheit um 1900 sind konkrete Erfahrungen und das Scheitern derselben aufbewahrt. Gleichzeitig werden diese Splitter der sinnlichen Welt stets mit theoretischen Gedanken und philosophischen Reflexionen vermittelt, werden nicht für sich stehen gelassen, sondern in Bezug zu Gesellschaft und Geschichte gesetzt. Erst so, in der intellektuellen Anschauung, der geistigen Erfahrung39, wird das Ausgeson­ derte namhaft, das Leid beredt, kommt die bedrängte Kreatur zu Wort, um die Erlösungsbedürftigkeit der Welt vor Augen und Ohren zu führen. Die Aufgabe an kritisches Denken ist, das Sensorium: Blick, Gehör und Gespür zu schärfen und für die Widersprüche in der gesellschaftlichen und geschichtlichen Wirklichkeit zu sensibilisieren, für das Unabgegoltene und Randständige aufmerksam zu sein. Instrumentelles Denken, das meint, es könne alles im Begriff erfassen, alles ließe sich mit den Mitteln der Vernunft handhaben, betrügt das Subjekt um seine eigenen Möglichkeiten. Zugleich ist es aber nur Subjekten, kriti­ schen Subjekten40 möglich, in dieser Weise Rezeptivität 39 40 78 Vgl. etwa Adorno: Negative Dialektik a.a.O., S. 41. Der Begriff des kritischen Subjektes ist von Detlev Claussen entlie­ hen: „Es läßt sich nur paradox ausdrücken, was als historischer Ma­ III. Rezeptivität und Spontaneität und Spontaneität zu verbinden; also Widerstand zu leisten und Einspruch zu erheben gegen die bestehenden Verhält­ nisse. terialismus heute praktiziert werden kann: ein Marxismus, der keiner mehr ist, theoretisch-kritische Praxis ohne organisationspraktische Verdinglichung, weder im Akademischen noch im Politischen, Ar­ beit an der Konstitution von kritischen Subjekten.“ in: Ders.: Ab­ schied von Gestern a.a.O., S. 37. 79 Das Subjekt im Spannungsverhältnis von epistemischer Struktur und Handlung Ein historisch systematischer Beitrag Eva Seidlmayer Auf der Tagung war dazu eingeladen worden, das Spannungs­ verhältnis Subjekt auszuloten und so beschäftigten sich die Vorschläge, die das versuchten, vor allem mit der Erkenntnis­ fähigkeit des Subjektes und damit wie es sich selbst sehen, verstehen und wahrnehmen könne. Bei einer solchen Eingren­ zung des Subjektes auf seine Erkenntnisfähigkeit kommt der Aspekt des Subjekts als Handelndes zu kurz. Dies ist kein Zufall, sondern typisch für die moderne Philosophie, darauf weisen nicht zuletzt pragmatistische DenkerInnen hin. Die Pragmatisten strebten die Erneuerung der Philosophie eben unter dem Vorzeichen eines konkreten Effekts, den Theorien für das Leben haben sollen, an. Dass das kein ganz neuer Gedanke ist, deutet dabei schon der Titel von William James' berühmter Vorlesung Pragmatism. A new name for same old ways of thinking an.1 1 Diesen Anspruch eines Zusammenhangs von Wissen und Leben stellt James programmatisch in seiner zweiten Vorlesung Was heißt Pragmatismus? fest: „Nirgends kann ein Unterschied sein, der nicht anderswo einen Unterschied macht. Es gibt keinen Unterschied auf der Ebene abstrakter Wahrheit, der sich nicht auch in einem Unter­ schied auf der Ebene der konkreten Tatsachen ausdrückt und in ei ­ nem daraus resultierenden Verhalten, das irgendjemandem auferlegt wird, irgendwie, irgendwo, irgendwann. Die ganze Aufgabe der Phi­ losophie sollte eigentlich darin bestehen herauszufinden, welche 81 Das Subjekt im Spannungsverhältnis Denn während das enge Verhältnis in zeitgenössischen Auseinandersetzungen von Erkenntnistheorie und Handlungs­ theorie oft verschüttet ist, stellt John Dewey im Kontrast dazu für die antike Philosophie fest, dass dort Erkenntnis und Tätig­ keit eng verbunden waren.2 Vielmehr noch: Dewey beob­ achtet, dass in der Antike gegenüber der Moderne ein viel differenzierteres Verständnis von beiden Elementen – von Erkenntnis und Tätigkeit – vorlag.3 Und so wird gerade in der historischen Dimension deutlich, wie verwoben diese Aspekte sind. Es ist wieder einmal die Antike, die einen erhellenden Blick auf einen systematischen Aspekt – in diesem Fall: das Subjekt – ermöglicht. Es lohnt sich, die Aspekte, die die antiken Debatten prägten, auf ihre Bedeutung für die modernen Subjektkonstitutionen zu überprüfen; denn der Eindruck, den wir uns von der Vergan­ genheit machen können, entsteht immer in der Spannung zur 2 3 82 konkreten Unterschiede es für Sie und mich in konkreten Situationen unseres Lebens macht, ob diese oder jene Weltformel die einzig wahre ist“. William James: Pragmatismus. Ein neuer Name für eini­ ge alte Denkweisen, Darmstadt 2001, S. 63 (Hervorhebungen vom Autor). John Dewey/Martin Suhr: Die Suche nach Gewißheit. Eine Untersu­ chung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln, Frankfurt 2013, S. 24–25. Auf zwei Ebenen war die Erkenntnis in wissenschaftliche Erkenntnis (epistêmê) einerseits und Meinung oder Glaube (doxa) andererseits unterschieden und die Tätigkeit in reine Tätigkeit und praktisches Handeln. Das griechisch-antike Denken unterschied Denken und Handeln damit eher als zwei Paare auf zwei Ebenen; im Gegensatz zur grundlegenden Trennung von Erkenntnis und Tätigkeit, die sich bis in die Neuzeit eingeschliffen hat. (Dewey/Suhr: Die Suche nach der Gewißheit a.a.O., S. 21). Das Subjekt im Spannungsverhältnis Gegenwart, zur Jetzt-Zeit.4 Damit ist nicht nur das Verstehen der Vergangenheit auf die Gegenwart verwiesen; die Gegen­ wart ist es auch auf die Vergangenheit. Für die systematische Philosophie bedeutet dies, sie muss auch immer eine histori­ sche sein; historische Philosophie ist aber auch immer syste­ matisch. Es lohnt sich, weil wir in der Antike eine Konstella­ tion haben, die das für die Subjektkonstitution wichtige Verhältnis von Erkennen und Handeln anders setzt als unsere Gegenwart und weil systematische Fragen sich eben erst zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufspannen lassen. Die Reflexion auf Subjektkonstitutionen kann daher nicht auf eine Reflexion auf Subjektkonstitutionen zu anderen Zeiten und in anderen Gesellschaften verzichten. Genauso wenig kann sie ohne Überlegungen zu dem Verhalten dieser Subjekte auskommen; auf das, was ihr Leben ausmacht, ihre Entscheidungen und Beziehungen; denn erst diese Bezie­ hungen zeigen das Subjekt nicht nur als Objekt einer Theorie, sondern in seinem Sein. Eine solche Verknüpfung von Denken und Handeln und von Geschichte und Gegenwart werde ich in diesem Aufsatz angehen. Das Spannungsver­ hältnis Subjekt wird hier also als eines zwischen Erkenntnis­ theorie und Handeln beschrieben werden. Aus dem dritten Jahrhundert v. u. Z. ist uns eine Auseinander­ setzung zwischen rivalisierenden philosophischen Schulen, den Skeptikern der Akademie, den Skeptikern des Pyrrho­ 4 Wir werden nie wirklich verstehen können, was in einer anderen Zeit, in einem andern Kontext gedacht worden ist (Walter Benjamin: Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart 2010, S. 143). 83 Das Subjekt im Spannungsverhältnis nismus sowie der Stoa, überliefert, die eine ganz intensive Diskussion über die Bestimmung der Kriterien von Wahrheit und des guten Lebens führten. Das Spannungsverhältnis Subjekt entsteht dabei zwischen den Positionen in der Debatte. Denn in der Auseinandersetzung wurden ganz unterschied­ liche Konzepte von Subjekt vertreten, die trotz oder gerade wegen der entfernten Perspektive einen sehr klaren Blick auf systematische Strukturen freigeben. Ich werde zunächst (1.) über die bedeutsame Verbindung von Denken und Handeln in der antiken Debatte sprechen, um dann (2.) einige für die Unterscheidung der unterschiedlichen Positionen wichtige systematische Bereiche zu nennen, um diese dann (3.) bis auf die Handlungsebene zu verfolgen und hier eine grobe Typisie­ rung in normative und selbstbezügliche Wahrheits- und Hand­ lungskonzeptionen vorzunehmen.5 I. Erkenntnistheorie und Handeln Neben den ganz unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Zugängen wird in den antiken Texten auch deutlich, dass diese Konzeptionen von Wahrheit mit einer Vorstellung von gutem Leben verbunden sind. Zwar verhandelten die Stoiker, die akademischen Skeptiker sowie die pyrrhonischen Skep­ 5 84 Leider ist hier nicht der Raum, um die Aspekte, die ich zeigen will, in der Länge und Intensität herauszuarbeiten, die geboten wäre. Mei­ ne Überlegungen müssen also im Status einer Skizze verbleiben. Deswegen möchte ich auf mein Dissertationsprojekt hinweisen, das sich genau mit der hier angesprochenen Spannung von unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Konzepten und ihren Auswirkungen auf der Handlungsebene beschäftigt. I. Erkenntnistheorie und Handeln tiker vordergründig die Frage, wie und ob Wahrheit – als Abstraktion von dem, auf das man sich bezieht – zu erkennen sei, doch zielte die Kontroverse darauf, wie (und ob) Werte (wie das Gute, das Schlechte), an denen sich ein gutes Leben orientieren kann, bestimmt werden können. Letztlich ging es ihnen vor allem darum, ob ein gutes Leben überhaupt möglich sein kann. Die enge Verbindung beider Bereiche lässt sich auch in den Quellen beobachten. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn Cicero gegen die akademische Skepsis wettert: „Diejenigen also, die bestreiten, dass irgend etwas begriffen werden könne [gemeint sind die akademischen Skeptiker], entreißen sowohl die Instrumentarien als auch den Schmuck des Lebens, oder vielmehr: sie zerstören sogar das ganze Leben von Grund auf und berauben das Lebewesen selbst um seinen animus [Leben/Seele/Sinn]. Im Hinblick darauf fällt es schwer, über ihre temeritas [Leichtsinn] so zu spre­ chen, wie die Sache es eigentlich erforderte (Cicero, Acade­ mica II 31).“6 Davon abgesehen, dass Cicero hier gegen die Skeptiker polemisiert, wird doch in diesem Statement die Bedeutung, die epistemischen Konzepten für das ganz alltägliche Leben zugeschrieben wird, deutlich. Gleiches können wir auch für die Vertreter der anderen Position in der Auseinan­ dersetzung beobachten. Auch den Skeptikern geht es letzt­ lich in ihrem philosophischen Streit um das gute Leben. 6 Übersetzung modifiziert nach Schäublin (Marcus Tullius Cicero: Akademische Abhandlungen Lucullus. lateinisch-deutsch, Text und Übersetzung von Christoph Schäublin, Hamburg 1995, S. 45.). 85 Das Subjekt im Spannungsverhältnis Auch der Skeptiker Sextus Empiricus gibt an, die Pyrrhoneer wollten die Menschen aus philanthrôpos – aus MenschenLiebe – von der „Einbildung und Voreiligkeit der Dogmatiker [also der Stoiker] durch Argumentation heilen (Sextus PH III 280).“7 Der Mensch, der der stoischen Lehre folgt, werde „fortwährend beunruhigt“, sein Eifer nach dem Guten und dem Vermeiden der Übel führe dazu, dass er in „große Sorgen gerät“ (Sextus PH I 26–27). Sextus bietet dagegen an, durch sein philosophisches Konzept einer konsequenten Absage an Dogmen könne die Seelenruhe (ataraxia) erreicht werden. Während einerseits deutlich wird, dass sich in allen diesen Schulen Vorstellungen für das gute Leben finden lassen8, die auf die spezifische Theorie verweisen, wird hier auch klar, wie verhärtet die ideologischen Fronten sind. Ursula Wolf nimmt wie Dewey diesen Zusammenhang des Subjekts in seiner Spannung zwischen Erkenntnis und Leben als Handeln auf, der in der antiken Philosophie präsent ist.9 Es zeigt sich, warum beide Ebenen so stark aufeinander verwiesen sind: Die Frage nach dem guten Leben enthält die Frage nach der Konstituierung der Welt und von sich selbst. 10 7 8 9 10 86 Sextus Empiricus: Grundriss der pyrrhonischen Skepsis. Mit einer Einleitung von Malte Hossenfelder, Frankfurt. 1985, S. 299. Sowohl Arkesilaos als auch Sextus haben eine Vorstellung davon, was eine richtige Handlung ist (Arkesilaos: „katorthôsis“ („gerade­ machen“) (Sextus M VII 158 (Sextus Empiricus: Gegen die Dogma­ tiker. Adversus mathematicos libri 7–11. übersetzt von Hansueli Flückiger, Sankt Augustin 1998.)); Sextus Empiricus „orthos“ („richtig“) (Sextus PH I 16–17)). Ursula Wolf: Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Hamburg 1999. Wolf: Die Philosophie a.a.O., S. 95. I. Erkenntnistheorie und Handeln Anstatt bei philosophischen Positionen anzusetzen, geht Wolf von der ganz situativen Frage Wie soll ich leben? aus. Sie mündet für Wolf aber ebenfalls in der Frage nach dem Bezug auf das Leben im Ganzen: Wie sollte ich als ein so konstitu­ iertes endliches menschliches Wesen in der so konstituierten Welt leben?11 Die Frage nach dem guten Leben beinhaltet also die Frage nach der Konstituierung des Subjekts und die der Konstituierung der Welt. Im Handeln – als Lebenspraxis – bietet sich dabei immerhin die Perspektive, den Gegensatz von Individuum und Gesellschaft aufzubrechen. Aus dem Situationsbezug wird ein Weltbezug. Diese Verbindung der Frage nach Wahrheit und nach der Erreichbarkeit des guten Lebens eint die sonst so gegen­ sätzlichen antiken philosophischen Schulen von Stoa und Skeptikern. Dabei spiegeln sich in den Vorstellungen vom guten Leben die unterschiedlichen philosophischen Konzepte. Sie gilt es nun wenigstens skizzenhaft nachzu­ vollziehen, um eine Idee von den sich so vehement abgren­ zenden Subjektbegriffen zu bekommen. 11 Eingebettet in eine fünfstufige Schichtung der Frage nach dem guten Leben, skizziert Ursula Wolf die unterschiedlichen Bezugnahmen zwischen individuellem Leben und natürlicher Umwelt, sozialer Umgebung und historischer Situation. Durch „Iteration“ oder „Ra­ dikalisierung“ gerät diese Frage immer allgemeiner, immer prinzipi­ eller; wird zu einer Frage nach dem guten Leben an sich, nicht nur für diese eine Situation, sondern im Ganzen. Für die unterste existen­ tielle Frageebene formuliert Wolf die Frage nach dem guten Leben dann folgendermaßen: Wie sollte ich als ein so konstituiertes endli­ ches menschliches Wesen in der so konstituierten Welt leben?, Wolf: Die Philosophie a.a.O., S. 78–80. 87 Das Subjekt im Spannungsverhältnis II. Systematische Positionen zum Subjekt Im Verlauf ihrer erkenntnistheoretischen Auseinandersetzung setzen die historischen Schulen der Stoa, der akademischen Skepsis und der pyrrhonischen Skepsis ganz unterschiedliche Akzente. Sextus Empiricus – einer der späten Vertreter der pyrrhonischen Skepsis – bringt die Unterscheidung der unter­ schiedlichen Herangehensweisen am Anfang seiner Grundle­ gung einer pyrrhonischen Skepsis (pyrrhoniae hypotyposes) auf den Punkt:12 „Wenn jemand eine Sache sucht, dann ist der zu erwartende Erfolg entweder ihre Entdeckung oder die Verneinung ihrer Entdeckung und das Eingeständnis ihrer Unerkennbarkeit oder die Fortdauer der Suche. Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb hinsichtlich der philosophischen Forschungsgegenstände die einen behauptet haben, sie [u. a. die Stoiker] hätten die alêthês (das Wahre) gefunden, während die anderen [u. a. die akademischen Skeptiker] erklärten, es lasse sich nicht erkennen, und die dritten [nämlich die pyrrhonischen Skeptiker] noch suchen (Sextus PH I 2).“13 Sextus macht hier die verschiedene Herangehensweise an philosophische Themen zum Kriterium der Klassifizierung 12 13 88 Damit brechen die Pyrrhoneer einen gewohnten Pfad der Philosophie ab. Die qualitativ andere Ausrichtung zeigt sich auch darin, dass Sextus nicht versucht einen bestimmten Wert in einer Hierarchie ge­ genüber anderen Werten durchzusetzen, sondern dass dieser Wert formal und relativ in Abhängigkeit zu einzelnen Menschen ist (Julia Annas: The morality of happiness. Oxford 2004, www.oxfordschol­ arship.com/oso/public/content/philosophy/0195096525/toc.html (24.09.2013), S. 351). Übersetzung: Malte Hossenfelder: Grundriss a.a. O., S. 93. II. Systematische Positionen zum Subjekt von philosophischen Schulen. Vor dem Hintergrund der Verbindung von theoretischen Inhalten und der Frage nach dem guten Leben, wird Sextus' Unterscheidung der verschie­ denen Philosophien zu einer Unterscheidung unterschiedlicher philosophischer Denkströmungen und Lebensentwürfe.14 Zwar kann ich aus Gründen der Textökonomie die Positionen hier nicht an den Quellen entwickeln und so muss ich im Folgenden leider etwas schematisch und vielleicht zu monoli­ thisch die einzelnen Positionen voneinander abgrenzen, um zu zeigen, dass Sextus dennoch mit seiner Unterscheidung einen wichtigen Punkt trifft. Dazu will ich zunächst einen groben Überblick über die gegensätzlichen Strukturen geben: Die Unterschiede betreffen vor allem die Konzeption von Wahr­ heit, die dann Bedeutung für die Handlungsebenen und damit für die Konzeptionen von Subjekt bekommen. Die Stoiker verstanden die Wahrheit als ein externes Prinzip. Dieses Prinzip stellten sie sich zwar so vor, dass es alles durchzieht, alles durchdringt, an dem sie also auch teilhaben, das ihnen aber äußerlich ist und daher bloß verwirklicht werden kann. Die stoische Vorstellung von Wahrheit war dabei die eines Dogmas, einer klaren eindeutigen Erkennbar­ keit dessen, was wahr ist. Die Wahrheit galt als abgeschlossen, 14 Sextus nennt hier, was er für den obersten Unterschied der Philoso­ phien (hê anôtatô diaphora tôn philosophôn (Sextus PH I 1)) hält, nämlich ihre Auffassung der alêtheia. Trotzdem ist es weniger das Wahre, was seinem Grundriss zu folge den Pyrrhonismus interes­ siert, sondern dies ist vielmehr die Seelenruhe, die ataraxia. Sie gilt es zu erreichen, nicht die Erkenntnis des Wahren (Stéphane Mar­ chand: „Le sceptique cherche-t-il vraiment la vérité?“, in: Revue de Métaphysique et de Morale, (1), 2010, S. 123–141.). 89 Das Subjekt im Spannungsverhältnis als eindeutig begreifbar (katalêptos), im wahrsten Sinne des Wortes. Dagegen lehnte es die akademische Skepsis ab, eine Gewiss­ heit darüber haben zu können, ob eine Vorstellung wahr ist oder ob man einer Täuschung erliegt. Sie gingen stattdessen von der Plausiblität (eulogon (Arkesilaos)) oder der Glaub­ würdigkeit (pithanon (Karneades)) aus. Was die akademi­ schen Skeptiker glaubhaft fanden, war es aber immer nur innerhalb einer Situation.15 Die einzelnen Situationen und das, was darin als glaubhaft gelten konnte, waren unverbunden, Wahrheit war also keine Vorstellung, die einzelne Situationen überstieg und durchzog. Die pyrrhonische Skepsis setzte noch einen etwas anderen Akzent und stufte Wahrheit als in jeder einzelnen Situation lediglich subjektiv erfahrbar ein. Von Sextus Empiricus wissen wir, dass die pyrrhonische Skepsis damit eine Relati­ 15 90 Seine Differenzierung des Vorstellungsbegriffs in eine für ihn un­ glaubhafte Vorstellung (im Sinne u. a. der Stoiker) und eine glaub­ hafte Vorstellung ermöglichte es Karneades auch, einen differenzier­ ten Zustimmungsbegriff anzudeuten (Sextus Adv. Math. VII 166– 173). Eine starke Zustimmung, wie die der Stoiker, lehnt Karneades ab, während er offenbar eine schwache situative Zustimmung zu Glaubhaftem zugibt (z. B. Anthony A. Long/David N. Sedley: Die hellenistischen Philosophen Texte und Kommentare. Sonderausgabe, Stuttgart 2006, S. 549; Katja M. Vogt: „Scepticism and action“, in: Richard A. H. Bett (Hg.): The Cambridge companion to ancient scepticism, Cambridge, UK/New York 2010, S. 165–180, S. 170; Harald Thorsrud: „Arcesilaus and Carneades“, in: Bett (Hg.): The Cambridge companion to ancient scepticism a.a.O., S. 58–80, S. 73– 74). Der schwache situative Zustimmungsbegriff ist für die Akade­ miker auch deswegen systematisch notwendig, weil er auf die von den Stoikern fortgesetzte Kritik, die Akademiker könnten ohne einen Begriff gar nicht handlungsfähig sein, reagiert. II. Systematische Positionen zum Subjekt vität von Wirklichkeit und der Situation, aber auch dem jewei­ ligen Subjekt und seiner Sinnlichkeit feststellte (Sextus PH I 175, II 37). Wahrheit war damit für die Pyrrhoneer ein Erleben, eine Lebensform (agogê). Anders als die Stoiker, und in gewisser Weise auch die Akademiker16, verorten sie Wahr­ heit damit intern, orientiert an der eigenen Wahrnehmung. Wahrheit entsteht für die pyrrhonischen Skeptiker erst in der Situation, in der Erfahrung durch die Sinne, in der ewigen Suche nach Wahrheit (Sextus PH I 1–3). Sie ist damit nie abgeschlossen, sondern prozessual. Die schematische Abgrenzung der unterschiedlichen Schulen, wie sie hier geleistet wurde, kann nur eine grob gezogene Skizze sein. Dennoch hoffe ich, wurde dabei immerhin der Gedanke deutlich, dass es letztlich um alternative Zugänge zum Problemfeld Subjekt geht. Dabei lassen sich also offenbar einige Aspekte zusammenfassen, anhand derer sich die Richtungen unterscheiden lassen und die auch für Subjekt­ konstitutionen generell bedeutsam sein können. Da ist zum einen die Frage, (a.) ob eine wahre Vorstellung abge­ schlossen, unveränderbar und gewissermaßen vollständig ist, wie sie jetzt ist; oder ob sie jetzt eben noch nicht abge­ schlossen ist und sich noch verändern wird. Unterschiedliche Positionen gibt es auch dazu, ob die Wahrheit überhaupt irgendwann abgeschlossen sein wird. Oder ob sie eben unab­ geschlossen bleibt und sich immer weiter verändert. Ein anderer wichtiger Aspekt ist (b.) der der Verortung von Wahr­ 16 Jonathan Barnes: „Some ways of scepticism“, in: Stephen Everson (Hg.): Epistemology, Cambridge/New York 1990, S. 204–224, S. 223. 91 Das Subjekt im Spannungsverhältnis heit. Dabei kann Wahrheit extern verortet sein und von einem von der eigenen Wahrnehmung äußeren Kriterium abhängig sein. Oder sie wird in sich selbst begründet, entsteht in der eigenen Wahrnehmung. Dies kann als eine interne Verortung von Wahrheit gelten.17 III. Einstellungen zur Welt Welche konkreten Unterschiede ergeben sich auf der Hand­ lungsebene aus diesen Erklärungen zur Wahrheit und diesen Versuchen einer Klassifikation von internen und externen Verortungen und abgeschlossenen und prozessualen Vorstel­ lungen von Wahrheit? Sie haben mit den Subjekten und ihrem konkreten Leben zu tun, weil sie auf die Konzepte vom Ich im Verhältnis zum Außen, zum Anderen und zu Anderen reflek­ tieren und auch mit den Handlungsmöglichkeiten – also den Potentialen – der Menschen verknüpft sind.18 Mit den Bezug­ 17 18 92 Jonathan Barnes stellt heraus, dass die meisten Theorien der Er­ kenntnis sich durch das Kriterium für Erkenntnis, also durch ihr Be­ gründungsschema unterscheiden und somit eine bestimmte Position in einem „foundationalist' approach to knowledge“ einnehmen. Er versucht, die verschiedenen Ansätze in einem generellen Schema der Epistemologie zu fassen, in das er zwei Begründungsmuster eines Externalismus und eines Internalismus einordnet (Jonathan Barnes: Some ways a. a. O., S. 217–222). In Ciceros De fato – über das Schicksal – wird das klar (Cicero, De fato XVII 39–40 (Marcus Tullius Cicero: Über das Schicksal. De fato. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Karl Bayer, Düsseldorf/Zürich 2000.)). Es gab unter den alten Philoso­ phen zwei Lehrmeinungen: die einen vertraten die Ansicht, alles sei durch das Schicksal bestimmt. Die anderen waren der Ansicht, die Seele sei ohne jeden Einfluss des Schicksals durch den Willen be­ stimmt. Die Stoa unter Chrysipp wollte in dieser Diskussion eine III. Einstellungen zur Welt nahmen des Subjekts auf ein Außen steht aber auch die Bezugnahme des Subjekts auf sich Selbst in Verbindung.19 Philosophie ist „Lebensform“20, ein „Darinnensein im Leben“21. Noch deutlicher wird das, wenn man sich klar macht, welche ganz lebensweltlichen Konsequenzen für die einzelnen Menschen sich aus den skizzierten Wahrheitskon­ zepten ergeben: Die Stoiker operieren mit der begreifenden Vorstellung (phan­ 19 20 21 Mittelstellung einnehmen, bestätigte dann aber laut Cicero die Zwangsläufigkeit des Schicksals ohne es zu wollen (Cicero, De fato XVII 39). Die „Zustimmung“ („synkatathesis“) zu einer Vorstellung ist in der Diskussion über das Schicksal einer der zentralen Begriffe. Auf diesen Zusammenhang geht Frauke A. Kurbacher in ihrem Bei­ trag in diesem Band ein. Alexander Nehamas: The art of living. Socratic reflections from Pla­ to to Foucault, Berkeley 2000. Alexander Nehamas stellt dieses Zu­ sammendenken von Leben mit seinen ganz individuellen Zügen an den Beispielen Sokrates, Foucault, Montaigne und Nietzsche vor. Wilhelm Dilthey: „Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbil­ dung in den metaphysischen Systemen“, in: Wilhelm Dilthey: Welt­ anschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie. Gesammelte Schriften VIII, Leipzig 1931, S. 73–118, S. 99. Aus die­ sem „Darinnensein im Leben“ (Wilhelm Dilthey: Typen der Weltan­ schauung a. a. O., S. 99), aus dem Zusammenspiel von individuellen Momenten und allgemein gemachten Lebenserfahrungen entstehen verschiedene Typen der Weltanschauung. Die Menschen erleben also ihre Individualität durch ihre konkreten Erfahrungen und haben au­ ßerdem Anteil an einer allgemeinen Lebenserfahrung, die sie mit an­ deren gemeinsam haben (Wilhelm Dilthey: Typen der Weltanschau­ ung a. a. O., S. 79). So erklärt Dilthey auch den Widerspruch zwi­ schen den Systemen der Philosophie durch unterschiedliche Lebens­ erfahrungen (Wilhelm Dilthey: Typen der Weltanschauung a. a. O., S. 98). Der gemeinsame Grundstock an Erfahrungen als Menschen sorgt dabei aber dafür, dass diese Positionen nicht extrem unter­ schiedlich sind, sondern dass sich diese in einige wesentliche Grup­ pen untergliedern lassen. 93 Das Subjekt im Spannungsverhältnis tasia kataleptikê) im Sinne eines aktiven Vermögens.22 Denn zu einer wahren Vorstellung muss für sie außerdem noch die bewusste Zustimmung (synkatathesis) der Menschen hinzu­ treten, diese Vorstellung zu akzeptieren. An diesem Punkt des Erreichens von Erkenntnis, aber auch an dem der Überprü­ fung, der Evidenz und ihres Konzepts des Weisen23, erhält das eigene Handeln, das Diskutieren und Nachvollziehen einen hervorgehobenen Stellenwert. Das Gestalten steht hier im Zentrum, während der Einzelne mit seinen Bedürfnissen in den Hintergrund tritt. Während die stoische Position also Orientierung für das gute Leben gab und Werte formulierte, die es umzusetzen galt, forderten die skeptischen Positionen24 mit ihrer Absage an eine klar erkennbare Wahrheit und an ein umfassendes Prinzip von den Menschen ein großes Maß an selbständiger Positionierung ein. Während die Menschen in der stoischen Philosophie inner­ halb eines gewissen vorgegebenen Rahmens handeln konnten, mussten sich die Menschen, die den skeptischen Positionen 22 23 24 94 Michael Frede: „Stoic epistemology“, in: Keimpe Algra (Hg.): The Cambridge history of Hellenistic philosophy. Cambridge, U.K./New York 1999, S. 295–322, S. 301. Der Weise ist für die Stoiker jemand, der zwar alles weiß, dessen Wissen aber vor allem ein Umgehen- und Bewerten-Können von wahren und falschen Vorstellungen ist (DL VII 47 (Diogenes Laerti­ os: Leben und Lehre der Philosophen. Aus dem Griechischen über­ setzt und herausgegeben von Fritz Jürß, Stuttgart 2010.); Frede: Epistemology a. a. O., S. 322). Hier wäre eigentlich eine differenziertere Sichtweise auf die skepti­ sche Position der Pyrrhoneer und Akademiker wichtig; auch hier rächt sich die vorgegebene Kürze des Textes. III. Einstellungen zur Welt folgten, diesen Rahmen selbst geben. Einige Interpreten spre­ chen deswegen von einer Art Überforderung, durch die bei den Menschen eine „tiefe Verunsicherung“ ausgelöst wurde.25 So erklärt sich etwa Malte Hossenfelder das Verschwinden der Pyrrhonischen Schule im 3. Jahrhundert n. u. Z. und das Populärwerden des Christentums.26 Die philosophische Herauslösung oder Alleinstellung des Subjekts aus der dogmatischen Ordnung etwa der Stoiker führte dabei offenbar nicht nur zu einer Stärkung des Willens zur Vergrößerung der Verantwortung, sondern dazu, dass jeder Einzelne auf die eigene Wahrnehmung beschränkt blieb. Es wird schwer über irgendetwas zu sprechen, wenn jede Wahrnehmung nur noch auf die Einzelnen bezogen ist und vermittelt und erklärt werden muss. Die Überbetonung der eigenen Perspektive droht in den Kontaktabbruch zu anderen Menschen zu münden: in „Schweigen“27. Mit dem Problem der Kommuni­ kation wächst auch das Problem mit Anderen zu handeln.28 25 26 27 28 Hossenfelder: „Einleitung“, in: Sextus Empiricus: Grundriss a.a.O., S. 9–88, S. 29. Hossenfelder geht so weit, die Überforderung durch die skeptischen Positionen so groß einzuschätzen, dass sie einer der Gründe war, weswegen sich das Christentum in der Folge so stark durchsetzen konnte. (Hossenelder: „Einleitung“ a. a. O., S. 88). Vittorio Hösle: Wahrheit und Geschichte. Studien zur Struktur der Philosophiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwick­ lung von Parmenides bis Platon, Stuttgart/Bad Cannstatt 1984, S. 663. Auf diesen Rückzug ins Private weisen uns auch historische Quellen hin, wie ein Bericht Ciceros. Er erzählt von Kleitomachos, der nach der Zerstörung Karthagos ein Buch für die in der eroberten Stadt ge­ fangenen Mitbürger geschrieben hatte. In diesem Buch argumentiert er im Sinne der Philosophie Karneades' dagegen, darüber zu trauern, dass die Stadt von Feinden erobert worden ist (Cicero Tusc. Disp. III 95 Das Subjekt im Spannungsverhältnis Mit Anderen etwas zu organisieren, etwas zu gestalten, abseits von den eigenen positiven Erfahrungen, ist, auf Grundlage der pyrrhonischen Theorie, massiv erschwert. Die Skeptiker sind eben keine „social reformers“29. Die Unterschiedlichkeit der Denkformen auf epistemischer Ebene hat somit unterschiedliche Konsequenzen für das Leben der Menschen. Die normative Haltung der Stoiker, die systematisch offenbar eng mit ihrer externen und abgeschlos­ senen – ja vorgängigen – Konzeption von Wahrheit verbunden ist, steht gegen die selbstbezügliche Haltung der Skeptiker, die Wahrheit vom Individuum aus denken und diese relative Wahrheit als unabgeschlossen und sich verändernd betrachten. Diese systematische Verbindung von Erkenntnis und Handeln scheint mir auch im Hintergrund moderner Diskussionen wichtig zu sein, bei denen in der Regel Handlungsaspekte weniger deutlich diskutiert werden. IV. Schluss und Ausblick Ich möchte abschließend die wichtigen Thesen des Aufsatzes noch einmal zusammenfassen: Der leitende Gedanke dieses Aufsatzes war die These (1.), dass es quali­ 29 96 54 (Marcus Tullius Cicero: Gespräche in Tusculum. Hrsg. Und übers. Von Olof Gigon, Düsseldorf 1998.)). An solchen Anekdoten lässt sich der geringe Stellenwert erkennen, den öffentliche Struktu­ ren wie eine Stadt offenbar für die akademischen Skeptiker hatten. Richard Bett trifft diese Einschätzung für die akademischen Skepti­ ker, sie lässt sich aber auf die Pyrrhoneer übertragen (Richard A. H. Bett: „Scepticism and ethics“, in: Bett (Hg.): The Cambridge companion to ancient scepticism a.a.O., S. 181–194, S. 192.). IV. Schluss und Ausblick tativ unterschiedliche Denkströmungen gibt, in denen sich unterschiedliche Konzeptionen von Subjektverhältnissen ausdrücken und in denen Wahrheitskonzeptionen und Handlungen in Spannung zueinander stehen. Auf der Ebene der Subjektkonstituierung wirken die Wahrheitskonzep­ tionen somit auch auf die Einstellungen oder Haltungen zur Welt zurück. Dabei gibt es (2.) offenbar zumindest zwei Aspekte, die diese Wahrheitskonzepte prägen: (a) die Vorstellung von Wahrheit oder Erkenntnis als abgeschlossene und statische oder unabgeschlossene und sich verändernde; (b) der Ort dieser Wahrheit oder das Verhältnis des Subjektes zu dieser Wahrheit als externer oder interner. (3.) Die Unterschiede auf der erkenntnistheoretischen Ebene können sich damit – zumindest so weit wie die Überlegung hier ging – zum einen (a) in einer normativen, politisch etwas umsetzenden Einstellung äußern. Oder aber (b) in einer, die vom einzelnen Individuum ausgeht, in der das einzelne Subjekt mit sich authentisch zu werden versucht und sich zum Zentrum seiner Konzeption von Welt macht. Vor dem Hintergrund dieses Zusammenhangs lässt sich überlegen, ob die unterschiedlichen Ansätze notwendig als sich ausschließende Alternativen verstanden werden müssen, die jeweils Anspruch auf Richtigkeit erheben. Denn einerseits wirkt der aktive normative Ansatz der Stoiker innerhalb seines Kontextes einer Bezugnahme auf ein Gemeinwesen angemessen. Gleichzeitig stellt aber auch der situative und vom Einzelnen ausgehende Ansatz der 97 Das Subjekt im Spannungsverhältnis Skeptiker im Rahmen eines Bewusstwerdens der Einmalig­ keit und individuellen Vereinzelung eine adäquate Subjekt­ konstitution dar.30 Die Angemessenheit für ihren jeweiligen Kontext lässt fragen, ob sie nicht auch als alternative Optionen verstehbar sein könnten. Gerade der festgestellte systematische Unterschied verschiedener in ihren Subjekt­ konstitutionen begründeter Einstellungen zur Welt kann so zum Argument für die Aufhebung der vermeintlichen Konkurrenz der Ansätze werden. Die Theorierichtungen könnten somit vielmehr als Optionen für ihr jeweiliges Anliegen gelten und damit als korrespondierende31 Haltungen zur Welt. Dieser Gedanke wird dadurch unter­ strichen, dass beide Ansätze in einer Art symbiotischem Verhältnis zu einander stehen.32 Karneades, einer der zentralen Vertreter der akademischen Skepsis, macht eine solche Bemerkung, die bei Diogenes Laertius überliefert 30 31 32 98 Dies ließe sich noch deutlicher am Sorites-Paradox herausarbeiten und belegen. Mit dem Begriff der „Korrespondenz“ ist hier nicht auf die „Korrespondenztheorie“ als die Entsprechung von Überzeugung und Wirk­ lichkeit angespielt! Dietmar Heidemann kennzeichnet dieses gegenseitig konstituierende Verhältnis von Skeptizismus und Dogmatismus als einen „integrati­ ven Antiskeptizismus“ (Dietmar Heidemann: Der Begriff des Skepti­ zismus. Seine systematischen Formen, die pyrrhonische Skepsis und Hegels Herausforderung, Berlin 2007.). Ausgehend von der antiken Debatte entwickelt er einen systematischen Begriff des Skeptizis­ mus, der als integrativer Bestandteil der menschlichen Rationalität konstituierend für jeden Wissensbegriff sein muss (Dietmar Heide­ mann: Begriff des Skeptizismus a. a. O., S. 349, 355). Es ist demnach kein Zufall, dass dem Dogmatismus der Stoa mit einer skeptischen These begegnet wird oder dass sich die Skepsis an einem Dogmatis­ mus abarbeitet. Beide Richtungen entwickelten sich also aneinander. IV. Schluss und Ausblick ist: „Hätt's nicht Chrysipp gegeben, dann gäb's wohl auch nicht mich (DL IV 62)“. Wenn es also weniger um ein Festschreiben einer Dominanz von theoretischen Gegensätzen geht, eröffnet sich die Möglichkeit, den Gegensatz vielmehr als das Auslösen einer Denkbewegung zwischen den als gegensätzlich erscheinenden Polen zu denken. Die Gegensätze könnten somit vielmehr als Optionen, statt als sich gegenseitig ausschließende Gegen­ sätze verstanden werden. Der Necker-Würfel kann dazu ein gutes Bild sein.33 Er ist ein Vexierbild, bei dem zwei Eindrücke nacheinander entstehen und ineinander umklappen können.34 Es überwiegt eben einmal der Eindruck des einen Würfels, der nach hinten gekippt ist, und einmal der Eindruck des nach vorn gekippten Würfels. Dieses Umklappen der Perspektive könnte für das theoreti­ sche Umklappen der Theorien vom Individuum zum Außen stehen. Der Necker-Würfel löst den Gegensatz also nicht auf; vielmehr besteht er weiter fort. Die widersprüchlich schei­ nenden Ansätze werden ernst genommen, aber in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt und so zu korrespondie­ 33 34 Kathrin Stengel beschreibt das Verhältnis der Philosophien Wittgen­ steins und Merleau-Pontys mit dieser Figur des Necker-Würfels (Ka­ thrin Stengel: Das Subjekt als Grenze. Ein Vergleich der erkenntnis­ theoretischen Ansätze bei Wittgenstein und Mereau-Ponty, Berlin/New York 2003.). Die Abbildung Necker Würfel ist entnommen aus: Stengel: Subjekt als Grenze a. a. O., S. 154. 99 Das Subjekt im Spannungsverhältnis renden Aspekten oder, wie ich vorhin überlegte, zu Optionen. Im Sinne der pragmatischen Überlegungen William James' wären das keine privilegierten Strukturen, sondern einfach Strukturen, die auf dieselbe Wirklichkeit unterschiedlich reagieren würden und damit unterschiedliche konkrete psychologische Effekte haben.35 Der Necker-Würfel ist damit zwar vor allem eine Illustration, kann aber vielleicht program­ matisch für einen Subjektbegriff werden, wie er sich zwischen Selbstbezug und normativem Weltbezug aufspannt. Mein Beispiel ist also eine Auseinandersetzung über episte­ mische Verortungen des Selbst, die vor 2000 Jahren geführt wurde, in einer ganz anderen Kultur als die, in der wir heute leben. Trotzdem, oder gerade darum, können wir aber viel daraus lernen, was unterschiedliche Selbstverhältnisse und Selbstverortungen des Menschen (in epistemischer Hinsicht) auch heute heißen können: Denn der weite Blick eröffnet eine Perspektive, um zu verstehen, wie auch in anderen Debatten Subjektverhältnisse zu einander in Span­ nung geraten können. 35 Philip Kitcher: „Der andere Weg“, in: Martin Hartmann/Jasper Lip­ tow/Marcus Willaschek: Die Gegenwart des Pragmatismus, Berlin 2013, S. 35–61, S. 51. 100 Das Ich und sein Subjekt Oder warum ich nicht mein Gehirn bin. Thorsten Streubel Ich möchte im Folgenden einige zentrale Gedanken meiner Habilitationsschrift Kritik der philosophischen Vernunft. Die Frage nach dem Menschen und die Methode der Philo­ sophie vorstellen. In dieser Schrift unterziehe ich zwei Paradigmen des Philosophierens einer kritischen Prüfung: einerseits den (metaphysischen sowie den methodischen) Naturalismus und andererseits diejenige Denktradition, der es um die Realisierung der platonischen Idee der Philoso­ phie (Platon, Descartes, Kant, Husserl etc.) ging. Während der Naturalismus die Natur, so wie sie von den Naturwis­ senschaften beschrieben wird, als grundlegenden bzw. als alleinigen Seinsbereich ansetzt, besteht der Kern der plato­ nischen Idee der Philosophie (die nicht mit Platons Philoso­ phie überhaupt gleichzusetzen ist) unter anderem im Gedanken der begründungslogischen Vermeidung unausge­ wiesener metaphysischer Voraussetzungen und in der Idee einer strengwissenschaftlichen Philosophie, die nur durch Reflexion der eigenen Möglichkeitsbedingungen ins Werk gesetzt werden kann. Die erste Frage einer wirklich wissen­ schaftlichen Philosophie muss daher lauten: ‚Ist Philoso­ phie als strenge Wissenschaft überhaupt möglich – und wenn ja, wie ist sie möglich?‘. Leitfaden meiner Untersu­ 101 Das Ich und sein Subjekt chung, die diese Frage wieder aufnimmt, ist dabei das Gehirn-Geist-Problem, so wie es gegenwärtig diskutiert wird, weil sich hieran besonders gut einsichtig machen lässt, inwiefern die theoretische Übernahme vermeintlicher Selbstverständlichkeiten die erfolgreiche Behandlung philosophischer Probleme erschwert oder gar unmöglich macht. Eine strengwissenschaftliche Philosophie muss zunächst alle Geltungsansprüche einklammern und darf nicht etwa unkritisch von der Existenz der Natur und insbe­ sondere des Gehirns als Grundlage, Bedingung oder gar Ursache mentaler Prozesse ausgehen. Ich muss im Folgenden aus Platzgründen allerdings auf die Darstellung der methodologischen Grundlegung einer strengwissenschaftlichen Philosophie verzichten. Statt­ dessen möchte ich die Grundzüge der von mir entworfenen Fundamentalanthropologie darstellen, die ein unverkürztes Bild vom Menschen zu zeichnen trachtet. Ich beginne hier mit einer Sortierung verschiedener subjektbezogener Begriffe (1.), gehe dann auf das paradoxale Gehirn ein (2.) und skizziere zum Abschluss die Grundzüge einer Funda­ mentalanthropologie (3.). I. Differenzierung relevanter Begriffe Das „Ich und sein Subjekt“ – mit diesem etwas merkwür­ digen Titel möchte ich andeuten, dass die gegenständlichen Korrelate der Begriffe ‚Ich‘ und ‚Subjekt‘ nicht identisch sind. Das Ich und das Subjekt sind nicht identisch, wenn­ 102 I. Differenzierung relevanter Begriffe gleich möglicherweise das Ich ein wesentliches Moment des Subjekts als eines Ganzen ausmacht. Das Ich kann m. E. nur als Subjekt des Subjekts sinnvoll gedacht werden, also als diejenige Instanz, welche subjektiv erlebt, von Erlebnisgehalten affiziert wird und auf diese Affektionen reagiert und die weder mit den Inhalten des Erlebens (und damit auch nicht mit dem Körper) noch mit dem logischen Ich oder einem erworbenen Ichkonzept zusammenfällt. Ich beobachte immer wieder, dass Psychologen, Hirnforscher, ja selbst manche Philosophen nicht hinreichend klar zwischen den verschiedenen auf das Subjekt bezogenen Begriffen differenzieren. Das Geschäft der Philosophie besteht aber zu einem nicht unwesentlichen Teil darin, begriffliche Unterscheidungen vorzunehmen. Ich möchte daher folgende Begriffe voneinander abgrenzen: (i) Das ‚Ich‘ als Subjektkern: das Ich des Erlebens sowie der Affektionen und Reaktionen, das als volunta­ tiv-geistiges Zentrum zu denken ist. (ii) Das kantische „Ich denke“, das nur eine logische und gedachte Größe ist. Es ist selbst eine Denksetzung. Logisches Subjekt und logisches Objekt sind nach Kant keine substantiellen Entitäten, sondern Konstitutions­ produkte bzw. Setzungen des Verstandes. Das Denken setzt denkend ein Ich, welches ein Objekt denkt. Das Ich (i), das (wirklich) denkt, ist aber nicht das vom Denken gesetzte Ich (ii), das zum Denken nur hinzuge­ dacht wird, um die Einheit des Bewusstseins zu stiften. 103 Das Ich und sein Subjekt (iii) Das Selbst als Selbstkonzept oder als Selbstbild, das aus dem logischen Ich und den Selbstzuschrei­ bungen (und übernommenen Fremdzuschreibungen), die im Laufe des Lebens gemacht werden, besteht. (Ich bin der, für den ich und andere mich halten.) (iv) Das ‚Subjekt‘ als eine Ganzheit, das (wie ich im zweiten Teil ausführen werde) aus sechs Grundmo­ menten komponiert ist: Ich, Bewusstsein, Geistigkeit, Leib, Körper, Umwelt. – Der große Mensch! (Hiermit ist zugleich impliziert, dass das Subjekt wesentlich mehr ist als ein Diskurseffekt.) (v) Die ‚Subjektivität‘: Wie es ist, ich selbst zu sein. (vi) Die ‚Person‘: Hierbei handelt es sich um einen besonders vagen Terminus; es ist unklar, was darunter genau zu verstehen ist. Oft wird ‚Person‘ synonym mit ‚vollverantwortliches Rechtssubjekt‘ oder einfach mit ‚erwachsener Mensch‘ gebraucht. (vii) Der ‚Geist‘ im Sinne von ‚mind‘: Konzept des cartesischen Paradigmas: Eine Art Weltinnenraum und zugleich intentionaler Akteur. (viii) Der (kleine) ‚Mensch‘: denkendes Lebewesen. Für Biologen eine Primatenart. Auch wenn ich nicht alle der hier aufgelisteten Begriffe für sinnvoll halte, so kann man doch den meisten derselben unterschiedliche Aspekte unseres Seins zuweisen. Auf gar 104 I. Differenzierung relevanter Begriffe keinen Fall sollte man aber diese Begriffe durcheinander werfen oder in eins setzen. Was uns bis heute fehlt, ist immer noch eine überzeugende Idee vom Menschen. Und dies führt mich zu einem viel grundsätzlicheren Problem. Das Haupthindernis einer angemessenen Beschreibung unseres Menschseins oder einer sachadäquaten Anthropo­ logie besteht nämlich m. E. darin, dass wir gewohnt sind, die Phänomene von vornherein mittels eines bestimmten, historisch überkommenen Begriffsapparats zu deuten. Dieser Begriffsapparat mit seinen fundamentalen binären Kategorien von Körper und Geist, Leib und Seele, Soma und Psyche, Gehirn und Geist wird in der Regel selbst nicht weiter kritisch hinterfragt. Er stellt ein historisches Apriori dar, welches das philosophische und wissenschaft­ liche Denken bestimmt – ich möchte sogar sagen: gefangen hält und unseren Verstand verhext. Auch alle naturalisti­ schen Reduktionsprogramme, die versuchen das ärgerliche Phänomen der Subjektivität aus der Welt zu schaffen, arbeiten zunächst einmal mit dem dualistischen Denk­ schema. Ich möchte dagegen dieses dualistische Grundschema, welches unser aller Denken so sehr beherrscht, selbst in Frage stellen. Ich glaube, man kann hier ohne sonderliche Übertreibung von einem cartesisch-naturalistischen Verblendungszusammenhang sprechen, der selbst noch das Denken des poststrukturalistischen Diskursivismus prägt. Man kann sich zwar hinter der Unhintergehbarkeitsthese von Sprache und Diskurs verstecken. Aber um die Aner­ 105 Das Ich und sein Subjekt kennung eines diskursiven Jenseits, wie auch immer man das dann bezeichnet – ob als Natur, Materie oder Sein, wird man nicht herumkommen, will man die Phänomene nicht gänzlich ignorieren. Auch der Diskurs ist ja ohne materi­ elle Zeichen unmöglich. Allerdings bestreite ich nicht, dass der Dualismus sich auf Evidenzen bzw. Erfahrungen berufen kann, die ihn scheinbar beglaubigen. Diese Evidenzen, wie sie schon Descartes mit seiner Unterscheidung von Ausdehnung und Denken begrifflich fasst, leugne ich keineswegs. Ich würde nur behaupten, dass gewissermaßen das Ganze das Wahre ist – will heißen: Körper und ‚Geist‘ sind unselbständige Momente eines viel umfassenderen Phänomens, und ihre einseitige Herauslösung aus diesem Gesamtphänomen lässt allererst die metaphysischen Fragen, wie eben das LeibSeele-Problem oder das Problem der Welterkenntnis, entstehen. Dieses einheitliche Phänomen möchte ich den ‚Großen Menschen‘ nennen, von dem der kleine Mensch nur ein Teil ist. Was ich damit meine, werde ich im zweiten Teil erläutern. Zunächst möchte ich zeigen, dass die konsequente Anwen­ dung des Naturalismus auf das Gehirn-Geist-Problem sowohl den Naturalismus als auch den cartesischen Dualismus aufhebt. Meine folgenden Überlegungen glie­ dern sich daher in zwei Teile: Zunächst geht es mir um eine Destruktion des cartesisch-naturalistischen Verblendungs­ zusammenhangs. Im Anschluss hieran werde ich dann kurz ein alternatives Konzept skizzieren. 106 II. Das reale und das wirkliche Gehirn II. Das reale und das wirkliche Gehirn – eine Auseinandersetzung mit Gerhard Roth Der Dualismus kann sich auf zahlreiche empirische Befunde berufen: So führt die Schädigung bestimmter Hirnbereiche zu kognitiven, emotionalen oder senso-moto­ rischen Beeinträchtigungen und Ausfällen. Sogenannte ‚mentale‘ Ereignisse können auch einfach mittels elektri­ scher Stimulation der Hirnrinde hervorgerufen werden, von einfachen willentlichen Körperbewegungen über Halluzi­ nationen bis hin zu Nahtoderfahrungen. Ebenso scheint es umgekehrt so etwas wie eine mentale Beeinflussung des Gehirns zu geben: Ein willentlicher Entschluss terminiert in bestimmten Körperbewegungen, ohne dass der Handelnde wüsste, wie er das macht. Allerdings kann man letztere Erfahrung, wie überhaupt die Erfahrung von Selbsttätigkeit und Spontaneität, bestreiten und als Täuschung des Gehirns zu entlarven versuchen. Man braucht dabei subjektives Erleben nicht gänzlich zu leugnen, sondern es nur als Epiphänomen zu fassen. Wenn man eine Zweiweltentheorie vermeiden möchte, ohne das Offensichtliche in Abrede zu stellen, nämlich Subjektivität, dann ist der Epiphänomenalismus eigentlich eine ganz kommode Position. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die meisten Studie­ renden, wenn sie anfangen über den Zusammenhang von Gehirn und Geist nachzudenken, schnell von Cartesianern zu Epiphänomenalisten werden. Plötzlich denken, wollen und perzipieren nicht mehr sie selbst, sondern ihre Gehirne: 107 Das Ich und sein Subjekt Das Gehirn denkt, schließt, fühlt, will, macht Fehler, inter­ pretiert auf bestimmte Weise etc. Ich will das keinesfalls ins Lächerliche ziehen. Denn es scheint ja offensichtlich zu sein, dass es ohne Gehirn keinen Geist, keine Wahrneh­ mung und kein Erleben gäbe. Schon der Schlag auf den Kopf, der uns ohnmächtig werden lässt, oder die Narkose­ spritze, die unser Bewusstsein aussetzt, sind doch Beweis genug, könnte man sagen. Oder auch die morgendliche Tasse Kaffee, die uns stets von neuem davon überzeugt, dass der Geist ein Gehirnphänomen oder eine Hirnfunktion ist. Ich werde nun im Folgenden nicht die These vertreten, wir könnten ohne Gehirn denken, aber ich werde zu zeigen versuchen, dass es nicht unser Gehirn ist, welches denkt. Das empirische Gehirn ist, so meine These, in Wahrheit kausal impotent. Und dies folgt letztlich auch, wie ich nun anhand der Überlegungen des Philosophen und Gehirnfor­ schers Gerhard Roth zeigen möchte, aus einem zu Ende gedachten Naturalismus, der sich in einem widersinnigen neurobiologischen Konstruktivismus selbst aufhebt.1 Die Vorstellung, unser empirisches Gehirn sei die Grundlage, Bedingung oder gar Ursache von Subjektivität, wird sich sowohl von einem naturalistischen wie von einem transzen­ dentalphänomenologischen Standpunkt aus als unhaltbar erweisen. 1 Teile der folgenden Überlegungen wurden bereits veröffentlicht in: Thorsten Streubel: „Was ist der Mensch? – Das Gehirn-Geist-Pro­ blem aus kantischer Sicht. Plädoyer für eine transzendentale Anthro­ pologie.“ In: Kant-Studien 3 (2012), 370–377. 108 II. Das reale und das wirkliche Gehirn Die Argumentation Roths ist zusammengefasst diese: Das Gehirn ist von der Umwelt isoliert und räumlich getrennt. Es empfängt lediglich körpereigene chemische und elektri­ sche Signale, nicht aber Licht oder gar Farbe, nicht Schall oder gar Töne etc. Die von der Umwelt einlaufenden Infor­ mationen werden in den einheitlichen neuronalen Code umgewandelt. „Die Sinneszellen“, so Roth, „übersetzen das, was in der Umwelt passiert, in die ‚Sprache des Gehirns‘, nämlich die Sprache der Membran- und Aktionspotentiale, der Neurotransmitter und Neuropeptide. Diese Sprache besteht aus chemischen und elektrischen Signalen, die als solche keinerlei Spezi­ fität haben, also neutral sind. Dies ist das Prinzip der Neutralität des neuronalen Codes, und dieses Prinzip hat für das Verständnis der Funktionsweise des Gehirns die größte Bedeutung.“2 Dem Gehirn sind also weder der eigene Körper noch die Umwelt noch es selbst gegeben. Es ist zunächst einmal nur ein komplexes biologisches System, in dem bestimmte körpereigene Signale einlaufen und ‚weiterverarbeitet‘ werden. In einem erkenntnistheoretischen Sinne ist dem Gehirn nämlich überhaupt nichts gegeben: Es ist nicht das Ich des bewussten Wahrnehmens. – Wäre es dies, dann würde es direkt durch ‚mentale‘ Wahrnehmungsinhalte beeinflusst werden, was mit einer naturalistischen Sicht­ weise kaum zu vereinbaren sein dürfte. 2 Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neuro­ biologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt a.M. 1994, S. 80. 109 Das Ich und sein Subjekt Wenn wir aber trotzdem Geist und Bewusstsein als Produkte neuronaler Prozesse denken wollen, wenn wir also an der Gehirnthese festhalten wollen, dann folgt hieraus, dass das Gehirn eine großartige Scheinwelt produ­ ziert, deren Funktion unklar ist und die jedenfalls nicht darin bestehen kann, das Gehirn als zentrales Datenverar­ beitungs- und Steuerungsorgan selbst von ‚oben‘, also mental zu steuern. Das wäre also wieder der epiphänome­ nalistische Standpunkt. Und wenn wir diesen akzeptieren, dann müssen wir auch noch den letzten Schritt mit Roth mitgehen, der diese ganze Sichtweise radikal unterminiert und den metaphysischen Naturalismus als solchen zum Einsturz bringt: Wenn nämlich das empirische Gehirn beständig diese phänomenale Scheinwelt produziert, also die Tatsache, dass wir uns als geistig-leibliche Wesen in der Welt erleben, dann folgt hieraus auch, dass das empirische Gehirn selbst ein Gehirnphänomen sein muss. Das ist aber in höchstem Maße paradox: Das empirische Gehirn kann doch wohl kaum Weltsimulator und zugleich Teil eben dieser Simulation sein. Das Selbst und Welt konstruierende Gehirn und das konstruierte Gehirn, also das empirische, können schon aus begrifflichen Gründen nicht in einem ontologischen Sinne identisch sein. Ursache und Wirkung, Bedingung und Bedingtes, Konstrukteur und Konstruiertes fallen niemals schlechterdings zusammen. Und das ist frei­ lich auch Roths Standpunkt. Roth sieht sich daher gezwungen, das reale vom wirklichen Gehirn zu unter­ scheiden, wobei das reale Gehirn der Simulator und das 110 II. Das reale und das wirkliche Gehirn wirkliche Gehirn (also das empirisch erfahrbare Gehirn) Teil der Simulation ist. Das reale Gehirn bringt also die phänomenal-empirische und zugleich virtuelle Welt hervor, die Roth in drei Bereiche gliedert: die Außenwelt, die Welt unseres Körpers und die Welt unserer geistigen und emotio­ nalen Zustände.3 „Wenn ich aber annehme“, so Roth, „dass die Wirklichkeit ein Konstrukt des Gehirns ist, so bin ich gleichzeitig gezwungen, eine Welt anzunehmen, in der dieses Gehirn, der Konstrukteur, existiert.“4 Und konsequent folgert Roth: „Wir sind damit zu einer Aufteilung der Welt in Realität und Wirklichkeit, in phänomenale und transphänomenale Welt, Bewusstseinswelt und bewusstseinsjenseitige Welt gelangt. Die Wirklichkeit wird in der Realität durch das reale Gehirn hervorgebracht.“5 Die Wirklichkeit, also die Welt, die wir erfahren und in der wir leben (Husserls Lebenswelt), ist ein Konstrukt, die von einem Ding-an-sich-Gehirn in einer Ding-an-sich-Welt hervorgebracht wird. Die ganze Erklärung sei jedoch, so Roth, nur eine plausible Annahme, da sich mit ihr das Rätsel von Bewusstsein und Welthabe befriedigend erklären lasse. 3 4 5 Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit a.a.O., S. 278. Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit a.a.O., S. 288. Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit a.a.O., S. 289. 111 Das Ich und sein Subjekt Ich halte die Argumentation Roths für in sich stringent, und doch ist sie in ihrer Ganzheit widersinnig. Widersinnig ist sie deshalb, weil die konstruktivistischen Konsequenzen die empirischen Prämissen und damit letztlich sich selbst aufheben. Denn der rothsche Konstruktivismus beruht auf empirischen Befunden, die durch Untersuchungen am empirischen Gehirn gewonnen wurden. Die These war ja zunächst, dass das empirische Gehirn im empirischen Körper sitzt und von der Umwelt getrennt ist; dass es die einlaufenden Informationen verarbeitet und dabei das subjektive Erleben einschließlich der Wahrnehmung der Umwelt, des eigenen Körpers und – im Falle des Hirnfor­ schers – des fremden oder sogar des eigenen Gehirns hervorbringt. Hieraus folgt aber nun, dass das empirische Gehirn, das Gehirn, welches der Hirnforscher mittels bestimmter technischer Apparaturen beobachtet und nach dem Tod des Patienten evtl. entnimmt, präpariert und analysiert, selbst nur ein Konstrukt ist. Es ist eine Simula­ tion, die als solche kausal völlig impotent ist, vergleichbar mit Gehirnen in filmischen Dokumentationen. Auch das Gehirn auf dem Bildschirm denkt nicht, auch es ist kausal impotent – es ist ja nur ein Bild (ein Bildobjekt). Meine These ist also: Immer dann, wenn wir behaupten, dass es letztlich das empirische Gehirn ist, welches Wahr­ nehmung und sonstige subjektive Erlebnisse und Akte hervorbringt, verwickeln wir uns notwendig in Widersinn. Denn wir enden immer im neurobiologischen Konstrukti­ vismus, der jedoch seine Überzeugungskraft größtenteils 112 II. Das reale und das wirkliche Gehirn aus empirischen Befunden speist, die er allesamt als Täuschungen disqualifizieren muss. Im Rahmen der Simu­ lation gibt es keine internen kausalen Beziehungen. Es ist wie im Film. Auch wenn im sonntäglichen Tatort Person A Person B erschießt, so handelt es sich in Wahrheit um rein zeitliche Bildabfolgen. Die filmisch dargestellten Personen und Handlungen sind ja nur dargestellt, nicht wirklich originär anwesend. Die Ursache des Filmes ist dagegen nicht Teil des Filmes. Im Kino ist es der Filmprojektor, ansonsten der Fernseher, der Rechner etc. Mit Roth muss man nun aber sagen, dass auch alle wirklichen Prozesse Scheinprozesse sind. Ihre wahre Ursache ist nicht Teil dieser Welt, sondern wird darin nur durch einen Repräsen­ tanten dargestellt: das empirische Gehirn. Natürlich gilt auch weiterhin, dass mich eine Kugel in den Kopf töten, jedenfalls schwer verletzen kann. Aber was sich beob­ achten lässt, ist nicht die wahre Ursache, sondern nur deren Repräsentation. Die empirische Kugel ist genauso virtuell wie mein Körper. Auch nach Roth kann sich die dualistische Unterscheidung zwischen Gehirn und Geist auf entsprechende anschauliche Gegebenheiten berufen. Sie ist keine unbegründete speku­ lative Verstiegenheit. Aber diese Unterscheidung bzw. die Unterscheidung zwischen Außenwelt, eigenem Körper (einschließlich des Gehirns) und Geist ist eine, die vom Standpunkt des subjektiven Erlebens getroffen wird – und das wird von ihm eben als Gehirnsimulation gedeutet. Aber nicht das empirische Gehirn, sondern ein Ding-an-sich-Ge­ 113 Das Ich und sein Subjekt hirn simuliert diese phänomenale Wirklichkeit und deren Erleben. Roths empirisch begründeter neurobiologischer Konstrukti­ vismus ähnelt sehr stark der transzendentalen (präziser: kritischen) Konzeption Kants, nur dass Kant gerade auf die metaphysisch-naturalistischen Voraussetzungen verzichtet und sich daher in keinen Widersinn verstrickt. Seine theore­ tische Grundlage ist die unbezweifelbare Präsenz von Selbst und Welt (zu der prinzipiell auch das empirische Gehirn gehört) und nicht der cartesische Dualismus (der freilich auch von Descartes nicht vorausgesetzt wurde, sondern das Ergebnis seines Begründungsgangs auf der Grundlage des methodischen Zweifels war). Auch Kant unterscheidet zwischen der phänomenalen Welt und einer Ding-an-sich-Welt, nur dass Kant – anders als Roth – ledig­ lich formal von einem oder mehreren Dingen an sich und einem intelligiblen Ich spricht. Dass unserem Erleben, Erkennen und Handeln ein metaphysisches Gehirn zugrunde liegt, ist eine unbegründete Annahme, die durch keine Befunde der Hirnforschung gedeckt ist. Nichtsdesto­ trotz ist aber auch Kant (so wie Roth) der Auffassung – und ich möchte ihm hierin folgen –, dass es im phänomenalen Bereich keine echte Kausalität zwischen den Phänomenen gibt. Es gibt zwar ein zeitliches Nacheinander und ein räumliches Nebeneinander, aber keine kausalen Verknüp­ fungen zwischen den Erscheinungen in einem ontologi­ schen Sinne – auch nicht zwischen empirischem Gehirn und Geist. Der ‚Geist‘ (im Sinne von geistigen Akten), die 114 II. Das reale und das wirkliche Gehirn Umwelt, der Körper und das Gehirn sind ja allesamt Teile des phänomenalen Bereichs. Erst durch die logischen Verknüpfungen unseres ‚Verstandes‘ deuten wir zeitliche Verhältnisse nach bestimmten Kriterien als kausale Verhält­ nisse. Aber es bleibt eine kausale Zuschreibung, die man nicht ontologisieren darf. Und das gilt auch für die Korrela­ tionen von neuronalen und mentalen Prozessen (eine Rede­ weise, die freilich noch dem cartesischen Verblendungszu­ sammenhang angehört). Wenn es nun aber stimmen sollte, dass Gehirn und Geist gleichberechtigte, gleichsam parallel angeordnete Bereiche der virtuellen Erlebniswelt sind, wie geht man dann jedoch mit den auffälligen Korrelationen zwischen Gehirn und Geist um? Wie sind sie zu verstehen? Es wird ja wohl kaum Zufall sein, dass es diese Korrelationen gibt. Wenn der Naturalismus angewandt auf das Gehirn-GeistProblem sich im neurobiologischen Konstruktivismus selbst ad absurdum führt, dann bleibt m. E. nur übrig, von den Phänomenen auszugehen, genauer von der Anschauung oder dem Erleben von Selbst und Welt, um von hier aus eine von metaphysischen Voraussetzungen möglichst freie Anthropologie und darauf aufbauend Erkenntnistheorie und Ontologie zu entwickeln. Nur so wird man auch das para­ doxale Gehirn verständlich machen können, das prima facie zugleich Teil und Ursache der phänomenalen Welt zu sein scheint. 115 Das Ich und sein Subjekt III. Grundriss einer Fundamentalanthropologie Sieht man sich an, was alles Teil unseres Erlebens ist, dann kommt man auf mindestens sechs Grundmomente, die unser Menschsein ausmachen: Anschauung oder Erleben, Ich, Geistigkeit, Leib, Körper und Umwelt. Diese Momente sind nicht atomistisch als selbständige Entitäten misszuver­ stehen, sondern sie bilden zusammen das anthropologische Grundphänomen, das „anthropologische Sextett“ (wie ich es auch bezeichne) oder den großen Menschen. Ich nenne diese sechs Momente Anthropoialien, weil sie eben Grund­ momente des vollen Menschseins sind und zugleich funda­ mentaler als Heideggers Existenzialien6. Der Mensch ist gewissermaßen die Einheit und in zeitlicher Perspektive das Zusammenspiel dieser Momente. Der große Mensch ist das Spiel des anthropologischen Sextetts. Das Entscheidende an dieser Fundamentalanthropologie ist die Tatsache, dass sie nicht nur mit einer oder zwei Katego­ rien arbeitet (Körper oder Geist bzw. Körper und Geist), sondern eben mit sechs. Und das heißt beispielsweise: Das Ich ist nicht das Gleiche wie Geistigkeit, Geistigkeit etwas anderes als Erleben oder Bewusstsein, ebenso sind Leib und Körper begrifflich auseinanderzuhalten. Und die Umwelt wird selbst zu einem Teil unseres Seins. Letzteres ist besonders entscheidend, weil nur unter konsequenter 6 Heideggers Existenzialien würde ich als Effekte der menschlichen Welthabe bzw. seiner Geistigkeit und Sprachlichkeit verstehen. Dies wird durch das Denken Heideggers nach Sein und Zeit im Grunde bestätigt, nur dass das Anthropoial der Geistigkeit von Heidegger zu einer geschicklichen Macht namens „das Ereignis“, das Sein und Zeit gibt, hypostasiert wird. 116 III. Grundriss einer Fundamentalanthropologie Einbeziehung der Umwelt ins Menschsein das carte­ sisch-naturalistische Paradigma radikal überwunden werden kann. Wer den Geist oder das Bewusstsein im Gehirn lokalisiert, arbeitet immer noch mit einem Konzept von Bewusstsein als einem Weltinnenraum. Dies ist aber phänomenologisch unhaltbar: Schon Kant hat darauf hinge­ wiesen, dass der größte Teil unserer Bewusstseinsinhalte die Erscheinungen in der Welt sind. Und so ist ja auch die Innen-Außen-Unterscheidung eine räumliche Unterschei­ dung: Innen ist nicht der Geist, sondern höchstens dasje­ nige, was ich Leib nennen würde. Dieser ist aber nicht im Kopf lokalisiert, sondern er ist dasjenige, was ich unmit­ telbar von mir spüre. Der Leib deckt sich räumlich unge­ fähr mit dem sicht- und tastbaren Körper. Die Wahrnehmung wird völlig falsch beschrieben, wenn man sie als Ansammlung von Qualia konstruiert. Wenn ich wahrnehme, dann sehe, höre und taste ich Dinge in der Welt, die ich räumlich mehr oder weniger weit von mir entfernt erfahre: Mir sind die Dinge in der Welt und nicht in einem privaten Kämmerchen im Gehirn gegeben. Sie sind mir anschaulich als außer mir, das heißt außerhalb meines Körpers, gegeben! – Und das heißt: Das anschau­ ende Bewusstsein ist nichts anderes als die Präsenz von Selbst und Welt. Oder mit Kant gesprochen: Das anschau­ ende Bewusstsein ist die Form – die Anschauungsform – der Welt. Ich würde sagen (ohne dass ich dies in gebotener Kürze begründen kann), es ist allein die Anschauungsform der Zeit. Bewusstsein (Erleben) und Welt sind somit keine 117 Das Ich und sein Subjekt separaten Bereiche, sondern verhalten sich zueinander wie Zeit-Form und Zeit-Inhalt bzw. wie Präsenz und Präsentes. Die Umwelt ist Teil des Bewusstseins und das Bewusstsein ist der formale Aspekt der Welt. Und weil die (Um-)Welt Teil unseres Erlebens ist, ist sie ein wesentlicher Teil unseres Seins. Selbst wenn ich meine Augen schließe, meine Ohren abdichte, ja selbst wenn ich noch von allen taktilen Empfindungen abstrahiere, bleibt aufgrund der Räumlichkeit meines Leibes stets ein räumliches Jenseits des Leibes mitgesetzt. Mein In-der-Welt-sein ist zuunterst ein Im-Raum-sein, genauer ein Mich-im-Raum-erleben. Die Umwelt ist dementsprechend ein Grundmoment meines Seins, ein Anthropoial. Nur weil ich als großer Mensch meine Umwelt bin, kann ich mich als kleiner Mensch in der Umwelt wahrnehmend vorfinden. Auch das Ich ist ein Anthropoial, nämlich das Moment, das ich im strengen Sinne bin. Das Ich ist dabei kein originäres phänomenales Datum, sondern kann nur indirekt aufge­ wiesen werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zunächst vor allem, dass das Subjekt mehr ist als das Ich, nämlich die Einheit von Ich, Bewusstsein, Geistigkeit, Leib, Körper und Umwelt. Das Ich hat dabei Bewusstsein, Geist, Leib, Körper und Welt und steht den anderen Anthropoialien gleichsam polar gegenüber, ohne von ihnen real getrennt zu sein. Und insofern verliert nun mein Vortragstitel hoffentlich seine Merkwürdigkeit: Das Ich ist das eigentliche Subjekt aller sonstigen Grundmomente des großen Subjekts – und daher spreche ich vom Ich und 118 III. Grundriss einer Fundamentalanthropologie seinem Subjekt. Das Ich steht zu den sonstigen Momenten in einer Art possessiven Beziehung, was weder mit einer absoluten Verfügungsgewalt des Ich noch mit einem gewöhnlichen Besitzverhältnis zu verwechseln ist. (Denn in einem weiteren Sinne bin ich ja auch die anderen fünf Grundmomente.) Wir hätten also das Ich und die restlichen fünf Momente, die dem Ich zugehören, aber nicht seine Teile sind. Und die Einheit dieses Sextetts wäre der große Mensch. Zum Abschluss möchte ich nun noch kurz erläutern, wieso das Ich nicht mit dem Gehirn zusammenfällt und ich daher nicht mein Gehirn bin. Das Verhältnis von Ich und Gehirn denke ich analog dem Verhältnis von Leib und Körper: Der Körper ist nichts substanzielles, sondern entsteht als Erscheinungsreihe je neu, wenn der Leib seine Sinnesorgane auf sich selbst richtet. Der Leib ist das, was ich unmittelbar spüre, ohne dass ich die fünf Sinne zu Hilfe nehme. Wenn ich aber meinen Leib mittels meines Leibes betrachte, dann objekti­ viert sich dieser als gesehener, getasteter, gehörter etc. Körper. Hieraus folgt: Der Leib ist keine mentale Reprä­ sentation des Körpers, sondern gewissermaßen dessen Original. Der Leib liegt dem Körper bedingend zugrunde. Der Leib ist mein eigentliches Wahrnehmungsorgan, der Körper aber das Korrelat der kinästhetischen Vollzüge des Leibes. Das Ich hat seinen Ort aber dort, wo von außen betrachtet das Gehirn vorfindbar ist. Meine These ist nun, dass das 119 Das Ich und sein Subjekt Ich das Ansich des Gehirns ist und das Gehirn die leiblich vermittelte Erscheinung meines Ich. Hierdurch lässt sich das Gehirn-Geist-Problem und das Gehirnparadoxon aufklären: Das Gehirn ist zwar eine kausal impotente Erscheinungsreihe (hierin stimme ich Roth zu), aber es repräsentiert mein Ich. Und phänomenale Scheineinwir­ kungen auf das Gehirn repräsentieren reale Einwirkungen auf mein Ich. Daher haben Manipulationen der Gehirnfunk­ tionen oder gar der Hirnstrukturen oft signifikante Auswir­ kungen auf unser bewusstes Erleben und Leisten. Nicht weil das Gehirn dieselben bedingt oder hervorbringt, sondern weil Eingriffe ins Gehirn zugleich Eingriffe in unser Ich sind. Daher kann ich zugleich sagen: 1. Ohne Gehirn gibt es keinen Geist und kein Bewusstsein. 2. Das Gehirn ist nicht die Grundlage unseres Bewusstseins. – Dies gilt also deshalb, weil kein Gehirn zu besitzen bedeuten würde, kein Ich zu haben. Bleibt noch einem letzten Einwand zu begegnen: Ist die Setzung eines substanziellen Ichs nicht ein Rückfall in die längst überwundene Substanzontologie aristotelischer und cartesischer Provenienz? Das substanzielle Ich ist in der Tat kein unmittelbar beob­ achtbares Datum. Es gibt nichts in mir noch außer mir, auf das ich deuten oder meine Aufmerksamkeit richten könnte und das ich als Ich bezeichnen könnte. Normalerweise refe­ riert das Personalpronomen ich auf den Sprecher, also auf einen bestimmten empirischen Menschen in der Welt. Davon spreche ich aber hier nicht. Ich spreche hier von der 120 III. Grundriss einer Fundamentalanthropologie Instanz, die einen Leib, einen Körper, Bewusstsein und Umwelt hat, die denkt, will, agiert und von Tatsachen des Bewusstseins affiziert wird. Dieses großgeschriebene Ich lässt sich nur indirekt phänomenologisch aufweisen. Und zwar über das Phänomen der Ichaffektion. Normalerweise wird hierunter die Affektion des empirischen Subjekts durch Umweltbestandteile verstanden. So wird angeblich unsere Netzhaut durch reflektiertes Licht affiziert, wobei diese Lichtreize in den neuronalen Code ‚übersetzt‘ werden, der vom Gehirn dann in bewusste Farbwahrneh­ mung umgewandelt wird. Das ist die altbekannte Geschichte, die in den widersinnigen Konstruktivismus führt. Ich meine mit Ichaffektion dagegen keine Affektion unseres Bewusstseins, sondern eine Affektion des Ich durch Tatsachen des Bewusstseins, beispielsweise durch Wahr­ nehmungsinhalte wie einen schrillen Pfiff, ein leckeres Stück Torte oder einen interessanten Gedanken. Gäbe es kein voluntativ-geistiges Ich, hätten alle Erlebnisgehalte keinerlei Bedeutung. Sie gingen uns nichts an, denn uns gäbe es ja nicht. Ichaffektion ist die Affektion des Ichs durch etwas anschaulich Gegebenes und setzt dieses Ich daher notwendig voraus. Etwas affiziert immer etwas. Das Ich reagiert auf diese Affektionen auf unterschiedliche und situationsspezifische Weise: attentional, emotional, delibe­ rativ, sprechend und/oder handelnd. Dabei kann das Ich auch von solchen Gegebenheiten affiziert werden, auf die es gerade nicht aufmerksam ist. Selbst wenn ich tief und fest schlafe, kann mich jemand durch Rufen meines 121 Das Ich und sein Subjekt Namens affizieren und so aufwecken. Das Ich ist dabei der räumliche Nullpunkt meiner Wahrnehmung. Es ist dort, wo von außen betrachtet das Gehirn sitzt. Daher sage ich: Das Gehirn ist die Erscheinung meines Ichs. Ich bin das Ding an sich meines Gehirns. Ich bin ein Ich an sich. Virtuelle Manipulationen meines Gehirns repräsentieren reale Manipulationen meines Ichs. Deshalb kann man zwar ohne Gehirn nicht denken und wahrnehmen, ohne dass dies jedoch bedeutet, dass das Gehirn denkt und wahrnimmt. Ich bin es vielmehr, der denkt und wahrnimmt und der sich von außen als Gehirn erscheint. Ich bin daher nicht mein Gehirn, sondern erscheine mir höchstens als solches. Ich möchte abschließend die Grundzüge der von mir im Anschluss an Kant, Schopenhauer und Husserl entwi­ ckelten Fundamentalanthropologie nochmal in einer Über­ sicht darstellen: 1. Bewusstsein als erlebte Präsenz von Selbst und Welt ist kein Weltinnenraum, der im Gehirn lokalisiert ist, sondern es überschreitet die Körpergrenzen. Bewusst­ sein ist wesentlich (auch) Bewusstsein von Dingen und Subjekten in der Welt. 2. Bewusstsein als Präsenz ist weder ein mentales noch ein somatisches Phänomen. Geist und Bewusstsein sind begrifflich streng zu unterscheiden. 3. Der Leib ist nicht identisch mit dem Körper, sondern gewissermaßen das Ansich des Körpers. 122 III. Grundriss einer Fundamentalanthropologie 4. Der Leib ist Weltleib: Die Welt ist Korrelat leiblicher, d. i. kinästhetischer Wahrnehmungsvollzüge. 5. Das Ich ist nur ein Moment des Subjekts; und es ist nicht mit dem Gehirn identisch. Vielmehr ist das Gehirn die mundane Erscheinung des Ichs. 6. Das Ich ist zwar der zentrale Akteur, aber nur inner­ halb einer komplexen subjektiven Infrastruktur, die zugleich Ermöglichungsbedingung und Beschränkung seiner Handlungsfreiheit ist. 123 Der „Absolutismus des Anderen“ als Paradigma der Subjektkonstitution Henning Nörenberg Dieser Beitrag ist aus urheberrechtlichen Gründen in der online-Version nicht enthalten. Wir bitten um Ihr Verständnis. 125 Subjektivation und Selbstsein Susann Köppl In meinem Beitrag werde ich der Frage nachgehen, was wir unter „Selbstsein“ bzw. „Authentizität“ verstehen können, wenn wir die Theorie der Subjektivation in ihren Grund­ zügen ernst nehmen.1 Beide Vorstellungen scheinen sich nicht einfach ineinander überführen zu lassen, sondern eher in einem Spannungsverhältnis zueinander zu stehen. Ich bevorzuge hier den Begriff des „Selbstseins“ vor dem der „Authentizität“, da mir letzterer facettenreicher und proble­ matischer erscheint.2 I. Subjektivation Die Theorie oder besser die Theorien der Subjektivation besagen in ihren Grundzügen, dass das Subjekt nicht als vorrangig existent gedacht werden kann, sondern erst in einem Prozess, eben dem der Subjektivation, entsteht. In 1 2 Ich beziehe mich im Folgenden vorwiegend auf die Theorie von Ju­ dith Butler, die an Gedanken von Michel Foucault anschließt. Der Begriff der Authentizität scheint Momente der Natürlichkeit, der Wahrhaftigkeit, der Originalität und Einzigartigkeit zu beinhalten, die der Begriff des „Selbstseins“ vielleicht nicht zwangsläufig impli­ ziert. Ich verstehe jedoch das „Selbstsein“ bzw. das „Ganz-manselbst-Sein“ als eine Bedeutungsnuance des Begriffs der Authentizi­ tät. Zur Bedeutungsvielfalt des Begriffs „Authentizität“ siehe bspw.: Susanne Knaller: Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität, Heidelberg 2007, S. 7–35. 147 Subjektivation und Selbstsein dem Prozess der Subjektivation unterwirft es sich bestimmten Diskursen und Normen, einem gemeinsam geteilten Bedeutungshorizont wie es Charles Taylor nennen würde, in dem es sich immer schon befindet und aus dem es auch nie in Gänze heraustreten kann.3 Durch diese Unterwerfung (oder vielleicht besser Anpassung) wird der Mensch erst und ständig zum Subjekt. Doch nicht nur die Diskurse und Normen bestimmen das Subjekt in seinem Werden, sondern auch die konkreten Anderen. Erst durch die Anderen, die mich als Subjekt anerkennen (und zwar im Rahmen der Diskurse und Normen, die das Feld des Aner­ kennbaren überhaupt erst bestimmen), werde und bleibe ich Subjekt. Nun ist der Prozess der Subjektivation nicht nur ein Akt der Unterwerfung, sondern auch der Prozess, der ein Subjekt erst ermöglicht, der mich zu einem Subjekt der Anerken­ nung wie auch der Rechte, der Moral und der Handlung macht. Er ist die Bedingung der Möglichkeit überhaupt Subjekt zu werden und zu sein. So schreibt Judith Butler in Psyche der Macht: „Subjektivation ist buchstäblich die Erschaffung eines Subjekts, das Reglementierungsprinzip, nach dem ein Subjekt ausformuliert oder hervorgebracht wird. Diese 3 Vgl. Charles Taylor: Das Unbehagen der Moderne, Frankfurt am Main, 1995, S. 40–51. Taylor versucht in seinem Buch die Vorstel­ lungen von Authentizität und sozialem Sein im Sinne einer Exi stenz eines „unentrinnbaren Horizonts“ zusammen zu denken. Ebenso kann man hier auf Heideggers „In-der-Welt-Sein“ verweisen. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 2001. 148 II. Das Subjekt der Subjektivation Subjektivation ist eine Art von Macht, die nicht nur einseitig beherrschend auf ein gegebenes Individuum einwirkt, sondern das Subjekt auch aktiviert oder formt.“4 Wenn wir nun die Idee der Subjektivation, die von ihren Autor_innen im Detail durchaus verschieden ausformuliert wird, in ihrer Grundstruktur ernst nehmen: Was bedeutet das für die Vorstellung eines „Selbstseins“? Im Anschluss daran stellen sich weitere Fragen: (1) Was bezeichnet das Subjekt der Subjektivationstheorie eigentlich genau? (2) Was verstehen wir unter „Selbstsein“? (3) Sollte man zwischen dem Begriff des „Subjekts“ und dem des „Selbst“ unterscheiden und wenn ja wie? (4) Und inwiefern ist die „Sehnsucht“ danach, „ganz man selbst“ (authentisch) zu sein, Produkt des Diskurses und somit als normatives Ideal (auch) ein Herrschaftsinstrument? Diese Fragen werde ich in meinem Beitrag nicht gänzlich beantworten können, doch möchte ich sie gern ein wenig näher beleuchten und zur Diskussion stellen. II. Das Subjekt der Subjektivation Der Begriff des „Subjekts“ erfährt in den Theorien der Subjektivation eine Verschiebung. Das Subjekt wird hier nicht mehr als ein (gänzlich) autonomes, souverän agie­ rendes und sich selbst transparentes gedacht, sondern vermehrt in seinen Abhängigkeiten und Bedingungen 4 Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main 2001, S. 81–82. 149 Subjektivation und Selbstsein betrachtet. Dem Subjekt wird durch Diskurse und Normen ein Bedingungs- wie Möglichkeitsfeld gegeben, das nur begrenzt übertreten oder geweitet werden kann. Zudem wird es als (alleinige) Instanz oder Quelle des Denkens und Handelns zurückgewiesen und vermehrt als ein soziales Wesen, als ein „Ensemble von Verhältnissen“5 gedeutet. Was wir denken und wie wir etwas tun, ist immer abhängig von der Zeit und dem Umfeld, in der und dem wir leben und von dem, was dort als richtig und falsch, als normal und anerkennungswürdig verstanden wird. In den Theorien der Subjektivation scheint das Subjekt einen fragilen, veränderbaren, historischen Status zu bezeichnen, der von „außen“ zu- wie abgesprochen wird. Nun wird jeder Mensch in dieses Bedingungsgefüge hinein geboren und scheint nicht anders zu können, als sich (zunächst und auch ständig) anzupassen. Die Bezüge zu Anderen gehen der eigenen Selbstbezüglichkeit (in einem „anspruchsvollem Sinn“) immer schon voraus, angefangen von der bedingungslosen Liebe eines Kindes zu den Eltern bis hin zur Anerkennung, die mir als einer bestimmten Person erwiesen wird.6 5 6 Judith Butler: „Subjekt“, in: Stefan Gosepath, Wilfried Hinsch, Bea­ te Rössler (Hg.): Handbuch der Politischen Philosophie und Sozial­ philosophie, Bd. 2, Berlin 2008, S. 1303. Unter Selbstbezüglichkeit in einem „anspruchsvollen Sinn“ verstehe ich bspw. sich selbst zu definieren, sich kritisch zu betrachten oder auch das Nachdenken über sich selbst. Es gibt diverse andere For­ men der Selbstbezüglichkeit, von denen ein Teil (vermutlich) auch den Beziehungen zu Anderen vorrangig ist, man denke bspw. an die Homöosthase oder auch allgemeiner gesagt an Selbstorganisation. 150 II. Das Subjekt der Subjektivation Das „Subjekt“ der Subjektivationstheorien gilt als „Bezeichnung des politischen Status eines Menschen“ 7, als „eine technische Angelegenheit“8, als „Subjekt-Position“9, als „Modalität der sich auf sich selbst zurückwendenden Macht“10 wie auch als „Vorbedingung der Handlungsfähig­ keit“11. Kurz: Das Subjekt gilt als etwas Formales. Es wird als eine Variable, als ein „Knotenpunkt in einem komplexen Netz wechselseitiger Beziehungen“12 verstanden. Zudem weist Butler darauf hin, dass die Bildung des Begriffs „Subjekt“ bedingt ist durch den Ausschluss des Unbewussten.13 Sie stellt dem Begriff „Subjekt“ deshalb den der „Psyche“ gegenüber, der das Unbewusste mit einschließt. Auch unterscheidet sie die Begriffe „Subjekt“ und „Individuum“. Das Subjekt ist, so Judith Butler,: „nicht mit dem Individuum gleichzusetzen, sondern viel­ mehr als sprachliche Kategorie aufzufassen, als Platz­ halter, als in Formierung begriffene Struktur. Individuen besetzen die Stelle, den Ort des Subjekts (als welcher »Ort« das Subjekt zugleich entsteht), und verständlich 7 8 9 10 11 12 13 Butler: „Subjekt“ a.a.O., S. 1306. So Reckwitz, der schreibt: „Folgt man Foucault, erscheint das Sub­ jekt letztlich nicht als eine geistige, sondern als eine ›technische‹ An­ gelegenheit. Es sind bestimmte scheinbar profane Techniken, in de­ nen eine bestimmte Subjektform immer wieder neu hervorgebracht wird“. Andreas Reckwitz: Subjekt, Bielefeld 2008, S. 24. Judith Butler: „Gewalt, Trauer, Politik“, in: Dies.: Gefährdetes Le­ ben, Frankfurt am Main 2005, S. 63–64. Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 12. Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 19. Butler: „Subjekt“ a.a.O., S. 1304. Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 191. 151 Subjektivation und Selbstsein werden sie nur, soweit sie zunächst in der Sprache einge­ führt werden. Das Subjekt ist die sprachliche Gelegenheit des Individuums, Verständlichkeit zu gewinnen und zu reproduzieren, also die sprachliche Bedingung seiner Existenz und Handlungsfähigkeit.“14 III. Das Selbstsein Die Rede vom „Selbstsein“ oder von „Authentizität“ ist derzeit populär. Das „authentische Subjekt“ bzw. „Selbst“ (in der weiten Bedeutung von Authentizität) gilt als norma­ tives Ideal, als Träger von Würde, Anerkennung und Verantwortung. Auch wenn man zumeist zugesteht, dass die damit verbundene Einzigartigkeit eine sozial konstitu­ ierte ist, so geht man doch langläufig davon aus, dass das „authentische Selbst“ ein autonomes ist, dem es möglich ist, sich selbst zu betrachten, zu bestimmen, zu verwirkli­ chen, zu „erschaffen“.15 Dabei vermischen sich heutzutage die Vorstellungen von Autonomie und Authentizität. Oftmals wird vorausgesetzt, dass man nur dann autonom agiert, wenn man dabei auch authentisch ist, d. h. wenn man aus Wünschen und Motiven heraus agiert, die auch wirklich die eigenen sind, die mir in einem starken Sinne entsprechen.16 Die Frage nach Authentizität (Wer und wie 14 15 16 Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 15. Zur Thematik der sozial konstituierten Einzigartigkeit siehe bspw.: Taylor: Das Unbehagen der Moderne a.a.O.; Alessandro Ferrara: „Authenticity and the Project of Modernity“, in: European Journal of Philosophy, 2:3, Basil Blackwell Ltd. 1994, 241–273. Für eine Verbindung von Authentizität und Autonomie siehe bspw. Harry G. Frankfurt: „Willensfreiheit und der Begriff der Person“, in: 152 III. Das Selbstsein bin ich eigentlich?) greift somit die Probleme der Frage nach Autonomie (Wie frei bzw. selbstbestimmt bin ich?) mit auf. Das „authentische Selbst“ gilt als eine Zuschreibung oder Seinsweise, die (im Gegensatz zu einem Status des Subjektseins) nicht von „außen“, sondern nur von „innen“ (und das auch nicht ohne paradoxe Züge) gegeben bzw. gelebt werden kann. Dabei wird sich verschiedentlich auf die Natürlichkeit, die Selbstbestimmung und/oder die Selbstverwirklichung, die Art der Selbstbezüglichkeit (bspw. in der Bildung eines inneren Konsens) oder auch auf die Einzigartigkeit und Originalität eines Menschen bezogen.17 Somit scheint die Rede von „Authentizität“ in einem Spannungsverhältnis, wenn nicht sogar in einem Widerspruch zu den Theorien der Subjektivation zu stehen, 17 Monika Betzler/Barbara Guckes (Hg.): Freiheit und Selbstbestim­ mung, Berlin 2001, S. 65–83 oder im Anschluss daran: Beate Röss­ ler: Der Wert des Privaten, Frankfurt a.M. 2001, S. 83–126. Dage­ gen sprechen, gerade mit Blick auf normative Konzepte der Authen­ tizität bspw.: Taylor: Das Unbehagen an der Moderne a.a.O., S. 37; Ferrara: Authenticity a.a.O. und Christoph Menke: Tragödie im Sittli­ chen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt a.M. 1996, S. 137–201. Sie plädieren für ein eigenständiges (normatives) Kon­ zept der Authentizität. So bspw. bei: Jean-Jaques Rousseau: „Über die Ungleichheit“, in: Ders.: Schriften zur Kulturkritik, Hamburg 1971, S. 61–269; Axel Honneth: „Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Indivi­ dualisierung“, in: Ders: Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt/New York 2002, S. 141– 158; Heiner Keupp: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek bei Hamburg, 1999, S. 263–266; Taylor: Das Unbehagen der Moderne a.a.O. S. 39, S. 65–81. 153 Subjektivation und Selbstsein die diese auf verschiedene Arten und Weisen verwerfen. Doch was kann „Selbstsein“ bedeuten, wenn wir den prozessualen Charakter der Subjektivation, die Abhängig­ keit und Bedingtheit des Subjekts, ernst nehmen? Klar zu sein scheint, dass die Rede von einem vorrangigen, stabilen oder unveränderlichen „Wesen“ oder „Kern“ des Menschen nicht zu halten ist. Widerspricht die Vorstellung eines „stän­ digen Werdens“ oder prozessualen Seins der Idee eines „Selbstseinkönnens“? Schließen sich „Selbstsein“ und „ein soziales Wesen sein“ kategorisch aus? Kann man „Selbst­ sein“ als eine „sozial konstituierte Einzigartigkeit“ beschreiben? Und worin unterscheiden sich die Begriffe „Subjekt“ und „Selbst“? IV. Identität, Authentizität und Selbsttransparenz Um das Verhältnis von „Subjektivation“ und „Selbstsein“ etwas näher auszubuchstabieren, möchte ich mich im Folgenden kurz drei Vorstellungen widmen, die mit der Idee der Authentizität (im weiten Sinne) verbunden zu sein scheinen, von den Theoretiker_innen der Subjektivation jedoch verworfen werden. So wenden sich die Theoretiker_innen der Subjektivation bspw. gegen die Vorstellung von Identität.18 Aus Sicht der Subjektivatons­ theorien gibt es kein Subjekt, das mit sich selbst identisch 18 Die Vorstellung der Identität erwähne ich an dieser Stelle nur, da sie oftmals mit der Vorstellung des „Selbstseins“ verbunden wird. Ich möchte damit nicht behaupten, dass sie in irgendeiner Weise gleich­ zusetzen wären. 154 IV. Identität, Authentizität und Selbsttransparenz wäre. Das Subjekt ist durch seine sozialen Verhältnisse bestimmt, durch die Diskurse und Normen, denen es unter­ worfen ist. Identität erscheint hier als etwas von der Gesell­ schaft Gefordertes, als ein Effekt der Macht. So schreibt Judith Butler mit Bezug auf Michel Foucault: „Wenn der Diskurs Identität produziert, indem er ein Reglementierungsprinzip bereitstellt und durchsetzt, das das Individuum zutiefst durchdringt, totalisiert und verein­ heitlicht, dann scheint jede »Identität« als totalisierende genau als eine solche »den Körper einkerkernde Seele« zu fungieren.“ 19 Der Prozess der Subjektivation zeitigt diskursive Identitäts­ erzeugungen, die das Subjekt in sein „Inneres“ übernimmt. Die psychische Identität, die Kohärenz als normatives Ideal und diskursive Forderung (in Form einer „Seele“) bildet ein Gefängnis, so Foucault. Die Forderung von Identität erscheint folglich als eine Disziplinierungsmaßnahme. Zudem wird die Vorstellung von Identität, etwa von Butler, als Ausschlussverfahren kritisiert. Sie wird dem Menschen nicht gerecht, zumal man sich mit ihr zumeist in einem bipolaren Feld bewegt. Man ist Mann oder Frau, Kind oder Erwachsene_r, gesund oder krank, In- oder Ausländer_in. Die Vorstellung von Authentizität (in seiner weiten Bedeu­ tung) wird kritisiert, da man sich mit ihr, so scheint es, auf die Vorstellung eines „wahren mit sich identischen Selbst“, einer ontologischen Natürlichkeit oder aber auch auf die 19 Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 83. 155 Subjektivation und Selbstsein Vorstellung eines (gänzlich) autonomen Subjekts zu beziehen scheint. So plädiert Foucault etwa für eine krea­ tive Praxis „uns selbst als ein Kunstwerk zu schaffen“ 20, statt uns auf einen moralischen Begriff der Authentizität zu beziehen, auf die Vorstellung, dass wir ganz wir selbst sein müssen. Auch Butler verwirft die Vorstellung von Authenti­ zität. Es gibt für sie kein „wahres Selbst“ jenseits der sozialen Bezüge, das sich durch Souveränität oder Selbst­ transparenz auszeichnet. Auf der anderen Seite geht sie jedoch davon aus, dass das Subjekt durchaus es selbst sein will. Diesen Zustand kann es jedoch nie erreichen, da es bspw. seine Abhängigkeiten verleugnet, die es permanent wiederholt. So schreibt sie: „Durch das unbewußte Betreiben seiner eigenen Auflö­ sung in neurotischen Wiederholungen jener Urkonstella­ tionen [gemeint sind die Abhängigkeitsverhältnisse, S.K.], die es nicht nur nicht sehen will, sondern auch nicht sehen kann, will es es selbst bleiben. Das bedeutet natürlich, daß es, gebunden an das, was es nicht wissen will, von sich selbst geschieden ist und nie ganz es selbst werden oder bleiben kann.“21 20 21 Michel Foucault: „Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über laufende Arbeiten“, in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt am Main 1987, S. 265–294, S. 274. Dabei hat er natürlich kein auto­ nomes „Selbst“ im Auge, sondern sieht die Selbstverhältnisse als sol­ che als schöpferische Tätigkeiten an. Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 15. 156 IV. Identität, Authentizität und Selbsttransparenz Das Subjekt kann nicht „es selbst“ werden oder bleiben, da ihm ein Teil seiner selbst stets unzugänglich ist. Zudem arbeitet es, so Butler, auf paradoxe Weise gegen sich selbst. Es wiederholt seine Abhängigkeiten, die es sich nicht eingestehen will und kann, eben um es selbst zu bleiben. Und da ihm immer ein Teil eigen ist, der ihm unzugänglich bleibt, ist es immer geschieden von sich selbst. Das Subjekt ist dazu gezwungen die gesellschaftlichen Normen wie auch seine Abhängigkeitsverhältnisse zu wiederholen, durch die es hervorgebracht wurde (eben als permanenter Prozess der Subjektivation).22 Wir übernehmen die Vorstellungen des Diskurses, müssen sie übernehmen, um als Subjekte anerkannt zu werden. Diese Übernahme bzw. Wiederholung ist jedoch keine genaue Reproduktion von Machtverhältnissen, sondern geht immer mit einer Verschiebung einher. Diese Verschiebung birgt die Gefahr der Existenzbedrohung bei „falschem“ Vollzug, denn der könnte zum Ausschluss führen. Sie ermöglicht jedoch auch „performativ die Umrisse der Lebensbedingungen neu zu zeichnen“23. Butler spricht sich gegen die Vorstellung eines „Wesens“ aus und plädiert für eine Vorstellung der Perfor­ manz, einer Existenz als Möglichkeit.24 Zu der Vorstellung von „Selbstsein“ oder „Authentizität“ gehört die Idee, dass wir uns selbst suchen, finden, bestimmen, ändern oder verwirklichen können (je nach Theorie). Zu ihr scheint eine gewisse Art der Selbsttrans­ 22 23 24 Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 32. Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 32. Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 123. 157 Subjektivation und Selbstsein parenz zu gehören. Nun geht bspw. Butler davon aus, dass wir uns als Subjekte nie transparent sind oder auch je sein könnten. Wir kennen unsere Einflüsse nicht, wissen demzu­ folge nicht, warum wir so geworden sind, wie wir sind. Wir sind uns immer schon enteignet und unverfügbar. 25 Da uns unsere Vergangenheit nicht bekannt ist, fehlt auch immer ein Teil der Rechtfertigungkette (bspw. der Begründung unserer Taten) wie auch ein Teil unserer Lebensgeschichte. Wir können nie genau sagen, warum wir etwas gefühlt, gedacht, getan oder gewollt haben. In diesem Sinne sind wir alle verantwortungslos.26 So schreibt Butler in der Kritik der ethischen Gewalt: „Wenn wir nun aber feststellen, dass dieses Subjekt so verfasst ist, dass es sich selbst immer – bis zu einem gewissen Grad jedenfalls – undurchschaubar, unbekannt bleibt, so folgt daraus, dass es niemals vollständig erklären kann, weshalb es so und nicht anders gehandelt hat und es folgt auch, dass sich dieses Subjekt niemals für seine Selbstidentität im Verlauf der Zeit verbürgen kann. So ist das Subjekt, das sich nicht durch und durch kennt und das nicht voll für sich einstehen kann, ein fragiles und fehlbares Subjekt der Ethik, charakterisiert eher durch seine Grenzen als durch seine Souveränität. Ethische Systeme oder Moralcodes, die von der Selbsttransparenz des Subjekts ausgehen oder die uns die Verantwortung für eine uneingeschränkte Selbstkenntnis zuschreiben, neigen dazu, fehlbaren Geschöpfen eine Art »ethischer Gewalt« anzutun. Wir müssen uns zwar um Selbstkenntnis bemühen und Verantwortung für uns übernehmen, wir 25 26 Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt am Main 2003, S. 20. Butler: Kritik der ethischen Gewalt a.a.O., S. 88. 158 IV. Identität, Authentizität und Selbsttransparenz müssen zwar mit Einsicht über unser Tun und Lassen entscheiden, aber ebenso wichtig ist, dass wir verstehen, dass all unser Bemühen, einen Einklang mit uns selbst zu erreichen, stets durchkreuzt werden wird.“27 Die Rede von einem „authentischen Selbst“ im (engeren) Sinne von „Selbstsein“ erhält nun jedoch Sinn, wenn man an die Phänomene des „Nicht-man-selbst-Seins“ denkt, etwa an das Gefühl der Fremdbestimmung, der Indifferenz oder auch der Selbsttäuschung. Nun scheint es so, dass man das Gefühl des „Nicht-manselbst-Seins“ haben kann, ohne den Status des Subjekts zu verlieren. Folgt man Butler, scheint das ein Zustand zu sein, in dem wir uns zumeist befinden, da wir immer einen Rest unserer selbst ausschließen und zwar den, der nicht in das Raster der Kategorie „anerkennbares Subjekt“ passt. Wenn das Raster der Anerkennbarkeit auf einer bipolaren Unterscheidung beruht, müssen wir einen Teil von uns ausschließen, etwas an uns verwerfen, um uns in dieses Raster zu fügen. Dieser abgeschnittene Teil bleibt als „unbewusster Rest“ jedoch vorhanden. Wir sind immer mehr, als uns der Status „Subjekt“, die „in Formierung begriffene Struktur“28 zugesteht. Der „nicht anzueignende Rest“, den Butler als Melancholie beschreibt, markiert „die Grenzen der Subjektivation“.29 Unsere eigene Inauthenti­ zität, verstanden als das „Gerade-nicht-man-selbst-seinKönnen“ wäre so gesehen eine Brutstätte der Kritik, die 27 28 29 Butler: Kritik der ethischen Gewalt a.a.O., S. 10 f. Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 15. Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 33. 159 Subjektivation und Selbstsein uns ermöglicht nach Autonomie, politischer Veränderung oder auch nach Selbstverwirklichung zu streben. V. Subjektivation und Selbstsein In welchem Verhältnis stehen nun „Selbstsein“ und „Subjekt“ bzw. „Subjektivation“? Kann es einen Begriff des „Selbstseins“ ohne ein mit sich identisches, (gänzlich) souveränes und sich selbst transparentes „Wesen“ oder „Subjekt“ geben? Dass man bedingt ist, scheint nicht zwangsläufig in einem Widerspruch dazu zu stehen, man selbst zu sein.30 „Selbstsein“ heißt immer auch in einem sozialen und historischen Rahmen geworden zu sein, sich in einem solchen zu bewegen und diesen auch nicht gänz­ lich in Frage stellen zu können. Der Rahmen ist die Grund­ lage unseres Fühlens, Denkens, Wollens und Handelns. Er wird jedoch auch von Seiten der Subjektivationstheorien nicht als deterministisch verstanden, sondern eben als ein Feld der (vorgegebenen) Möglichkeiten. So schreibt Butler: „Wenn ich frage, wer ich für mich sein könnte, muss ich auch fragen, welchen Platz es in dem diskursiven Regime, in dem ich lebe, für ein ›Ich‹ gibt. Und welche Arten, sich mit dem Selbst zu befassen, wurden als diejenigen zuge­ lassen, die ich praktizieren könnte? Ich bin nicht an schon feststehende Formen der Subjektbildung oder an vorgege­ 30 Man denke etwa an die bedingte Freiheit bei Peter Bieri: Hätten wir keine Bedingung, keine Grundlage unserer Vorlieben, Entscheidun­ gen etc. wären wir nicht frei, sondern würden zufällig agieren. Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, München/Wien 2001. 160 V. Subjektivation und Selbstsein bene Konventionen des Selbstbezugs gebunden, aber ich bin sehr wohl an die Gesellschaftlichkeit dieser möglichen Beziehungen gebunden. Ich mag meine Verständlichkeit aufs Spiel setzen und der Konvention trotzen, aber in diesem Falle handle ich in oder an einem sozio-histori­ schen Horizont, den ich zu durchbrechen oder zu verän­ dern suche.“31 Was ich fühle, denke, will und tue trägt in sich immer auch den Bezug zur Welt und zu Anderen, was jedoch nicht zwangsläufig bedeutet, dass ich nicht selbst agiere. Viel eher wird die Vorstellung eines gänzlich einzelnen Wesens (im Sinne eines Souveräns) in Frage gestellt und zwar zu Gunsten eines intersubjektiven, eines immer schon und immer neu in Bezügen stehenden sozialen Wesens. Dass ich selbst ein „Ensemble von Verhältnissen“ bilde, einen „Knotenpunkt in einem Netzwerk“, stellt nicht zwangs­ läufig die Vorstellung eines „Selbstseins“ in Frage. Kein Mensch ist mit sich selbst identisch, sondern jede_r verän­ dert sich: durch Bezüge zur Welt und zu anderen Menschen, durch Erfahrungen, die sie oder er macht. Doch gerade wenn man an Erfahrungen des „Nicht-man-selbstSeins“ denkt, scheint es Weisen zu geben, mehr oder weniger man selbst zu sein. Doch wie verhalten sich nun die „Subjektivation“ und das „Selbstsein“ zueinander? Sollte man den Begriff des „Subjekts“ (als Status oder formale Kategorie) von dem des „Selbst“ (etwa im Sinne einer inneren Bezüglichkeit) trennen, der vielleicht nicht nur historisch in verschiedenen 31 Butler: Kritik der ethischen Gewalt a.a.O., S. 121. 161 Subjektivation und Selbstsein sozio-kulturellen Diskursen bestimmt, sondern auch (sozio-)biologisch verankert ist? Die Theorien der Subjekti­ vation sprechen von dem Subjekt als einem Status, als einer Position im Diskurs oder einer sprachlichen Kategorie. Der Begriff des „Selbst“ hingegen betont die intrasubjektive Perspektive eines Menschen, die Selbstbezüglichkeit, die vermutlich durch den Diskurs geprägt ist, aber vielleicht nicht in ihm aufgeht. Zudem kann man ihn so beschreiben, dass er die unbewussten Seiten des Menschen mit umfasst, eben weil auch sie zu ihm selbst gehören. 32 Das „Selbst“ würde so ein „Mehr“ beschreiben, über den Begriff des „Subjekts“ hinausgehen. Ansätze für eine Trennung der Begriffe finden sich auch in den Subjektivationstheorien. So spricht bspw. Butler in Anschluss an Spinoza von „Grundbegehren“, so etwa dem Begehren im eigenen Sein zu beharren (also zu überleben) oder im Anschluss an Hegel dem Begehren nach Anerken­ nung. Dieses Begehrens ist zwar in seinem Gehalt ebenfalls durch den Diskurs bestimmt, doch scheint es selbst „tiefer“ verortet zu werden.33 Das Begehren danach, im eigenen Sein zu verharren, wie auch das nach Anerkennung führen nun mit Blick auf das „Selbstsein“ zu einem Paradox: Ich kann nur ich selbst sein, wenn ich mich anpasse, denn nur durch Anpassung 32 33 Statt von der Psyche spreche ich an dieser Stelle lieber vom „Selbst“. Die Vorstellung der Psyche, gerade auch in einem psychoanalyti­ schen Verständnis, scheint mir theoretisch sehr aufgeladen. Für mei­ ne Zwecke reicht ein einfacheres Verständnis des „Selbst“. Butler: Psyche der Macht a.a.O., bspw. S. 11–15, S. 31 f. 162 V. Subjektivation und Selbstsein wird meine Existenz überhaupt gesichert. So schreibt Butler: „Das Streben nach Beharren im eigenen Sein erfordert die Unterwerfung unter eine Welt von anderen, eine Welt, die von Grund auf nicht unsere eigene ist (eine Unterwerfung, die nicht erst später statt hat, sondern schon das Begehren zu sein einrahmt und möglich macht). Nur indem man in der Alterität beharrt, beharrt man im »eigenen« Sein. Bedingungen ausgesetzt, die man nicht selbst geschaffen hat, beharrt man immer auf diese oder jene Weise mittels Kategorien, Namen, Begriffen und Klassifikationen, die eine primäre und inaugurative Entfremdung im Sozialen markieren. Wenn solche Bedingungen eine primäre Unter­ ordnung, ja Gewalt bedeuten, dann entsteht ein Subjekt, um für sich selbst zu sein, paradoxerweise gegen sich selbst.“34 Die Frage ist folglich: Kann man „Selbstsein“ und „Sozia­ lität“ zusammen denken oder stehen beide im Widerspruch zueinander? Wie oben schon angedeutet, würde ich dafür plädieren, beide zusammen zu denken. Dass ich ein bedingtes Wesen bin, dass ich beeinflusst werde von Anderen, in Gemeinschaft lebe (mit allem, was dazu gehört), selbst Andere beeinflusse etc. bedeutet nicht zwangsläufig, dass ich „entfremdet“ wäre, denn diese Rede setzt in gewisser Weise ein ursprüngliches „Kernselbst“ voraus. Wenn wir das „Selbst“ jedoch prozessual verstehen, wie das ja auch die Subjektivationstheorien andeuten, ändert sich das „Selbst“ durch die Verhältnisse (zu sich, zur 34 Butler: Psyche der Macht a.a.O., bspw. S. 32. 163 Subjektivation und Selbstsein Welt, zu Anderen), in denen es steht, durch die Erfah­ rungen, die es in ihnen macht. Es gibt kein „Selbst“ ohne Bezüge. Das „Selbst“ ist in gewisser Weise „Resultat“ dieser Bezüge, die jedoch nicht nur Bezüge zu Anderen und Anderem, sondern eben auch solche zu sich selbst sind. Alles zusammen bildet erst ein „Selbst“. Und die Vielfältig­ keit der Bezüge und Verhältnisse ist natürlich nicht reibungslos. „Selbstsein“ und „Sozialität“ stehen also nicht im Wider­ spruch zueinander, sondern bedingen sich vielmehr gegen­ seitig. Was aber zeichnet dieses „Selbstsein“ dann aus? Mir scheint es verlockend und aussichtsreich, den Begriff des „Selbst“ aus einer basalen Selbstbezüglichkeit heraus zu denken, als „Organisationsprinzip“ eines Lebewesens.35 Diese Selbstbezüglichkeit steht natürlich in einem Bezugs­ rahmen zur Welt und zu Anderen, in Interaktionen. Der Gedanke des „Selbst als Organisationsprinzip“ oder viel­ leicht besser im Sinne einer „Selbstorganisation“ impliziert jedoch, dass der Mensch es immer selbst ist, der sich „von innen“ heraus organisiert. Auch wenn er „von außen“ (durch eine Umwelt, durch Interaktionen) beeinflusst wird, diese ihm den Möglichkeitsrahmen seiner Entwicklung, seines Seins vorgeben, so geschieht die Umformung doch durch ihn selbst und zwar durchaus auch im Sinne einer 35 Den Begriff des „Selbst“ als Organisationsprinzip übernehme ich von Daniel C. Dennett: Philosophie des menschlichen Bewußtseins. Hamburg 1994, S. 533. Siehe dazu auch: Susann Köppl: „Das Selbst als Organisationsprinzip. Vom „wahren Selbst“ zur Konsensbildung“, in: Rainer Adolphi (Hg.): Identitäten des Selbst. Beiträge zu einem transdisziplinären Problemfeld. Münster (im Erscheinen). 164 V. Subjektivation und Selbstsein Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Selbstwerdung. Das „Selbst“ (im Sinne des ich selbst, du selbst etc., der Selbstbezüglichkeit) agiert also in einem ihm vorgegebenen Möglichkeits- und Verständnisrahmen (den konkreten Vorstellungen des Diskurses und der Normen), hat aber vielleicht das Potential, eben über diesen hinaus zu gehen und zwar als „Ort“ der sich verschiebenden Wiederho­ lungen, als „Ort“ des unbewussten Rests dessen, was wir neben den bipolaren Identitätszuordnungen eben auch noch sind, als „Ort“ des Individuums, das immer mehr ist als sein Status als Subjekt. Die bzw. der Einzelne ist eine Schnittstelle, ein Knotenpunkt verschiedener Diskurse oder kultureller Subjektcodes, deren Überlagerungen, so Reck­ witz, „unberechenbare Subjektivierungseffekte zeitigen können“36. Zudem scheint der Begriff des „Selbst“ nicht auf die Vorstellung einer totalen Transparenz angewiesen zu sein, sondern sich im Gegenteil gerade auch durch seine nicht bewussten Seiten auszuzeichnen. Zum einen ist uns ein großes Spektrum organischer Selbstbezüglichkeit nicht bewusst, zum anderen stellen wir Bezüge zu uns (bspw. zu unserer Lebensgeschichte) immer wieder neu her, passen sie an, deuten sie neu. Wenn man nun „Subjekt“ und „Selbst“ unterscheidet, ließe sich vielleicht das kritische Potential, die Eigenständigkeit, das „Selbstsein“ des Menschen besser fassen. So schreibt auch Butler in Bezug auf den späten Foucault (und in Bezug auf dessen Kritik 36 Reckwitz: Subjekt a.a.O., S. 91. Er schreibt an dieser Stelle über die Theorie Judith Butlers. 165 Subjektivation und Selbstsein der staatlichen Formen der Individualisierung und der Forderung nach einer neuen Subjektivität): „Die Vorstellung einer neuen Subjektivität setzt die Fähig­ keit voraus, neue Formen des Ausdrucks für das Selbst zu erfinden oder zu finden. Weder »Subjektivität« noch »Selbst« wären demnach auf das »Subjekt« zu reduzieren oder durch den Begriff des Subjekts adäquat zu erfassen.“37 VI. Das Ideal der Authentizität, eine Herrschaftstech­ nik? Eine letzte Frage soll in diesem Rahmen noch gestellt werden: Inwiefern kann man die „moderne Sehnsucht nach Authentizität“, das Streben wie die Forderung nach „Selbstsein“ auch als eine Art der Ideologie, Herrschafts­ technik oder Disziplinarmaßnahme (im Sinne Foucaults) verstehen? Authentizität als normatives Ideal scheint die derzeitige Spitze des modernen Individualismus zu bilden. Sie gilt als Garant von Autonomie und Demokratie, als Träger von Würde, Anerkennung und Verantwortung. Sie scheint das kritische Potential eines (politischen wie ethi­ schen) Subjekts zu bilden. Das Streben nach Authentizität erscheint als eine Errungenschaft der Moderne, als eine Form der Emanzipation und als Selbstverwirklichung. Kritiker dieses Ideals konstatieren jedoch, dass der emanzi­ patorische Anspruch auf Autonomie und Authentizität in 37 Butler: „Subjekt“ a.a.O., S. 1302–1303. 166 VI. Das Ideal der Authentizität, eine Herrschaftstechnik? einen Zwang umgeschlagen ist, in eine institutionalisierte Forderung. So spricht bspw. Axel Honneth davon, dass das Ideal der Authentizität zu einer Legitimationsgrundlage des Systems geworden sei und somit seinen ursprünglichen inneren Zweck verloren habe.38 Den Menschen wird (so auch Foucault) eine dauerhafte Introspektion abverlangt, eine Selbstdisziplinierungsmaßnahme auferlegt, die sie nicht zu leisten vermögen, jedoch übernehmen. Auch die Last der Verantwortung wird von der Gesellschaft auf die bzw. den Einzelne_n abgewälzt, so die Kritik. Wenn das eigene Leben scheitert, ist man höchst selbst dafür verant­ wortlich. Die Gründe sollen nicht mehr in den gesellschaft­ lichen und politischen Strukturen gesucht werden, sondern im eigenen Leben und Sein.39 Dem Menschen scheint eine Art „ethischer Gewalt“ angetan zu werden (so Butler im Anschluss an Adorno), wenn wir sie als fehlbare Geschöpfe an dem Maßstab eines souveränen und sich transparenten Wesens messen. Diese Gewalt wird jedoch praktiziert, wobei sich natürlich fragen ließe von wem oder was und zu welchem Zweck. Handelt es sich also bei der „Selbsttechnik“ des Strebens nach Authentizität bzw. der Suche nach sich selbst um ein modernes (oder auch altes) Instrument der Herrschaft, dass 38 39 Honneth: „Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Indivi­ dualisierung“ a.a.O., S. 154, S. 146; Siehe auch Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegen­ wart, Frankfurt a.M. 2008. Andreas Hetzel: „Verkenne dich selbst! Paradoxien der Psychologie“, in: Jörg Martin (Hg.): PsychoManie. Des Deutschen Seelen­ lage, Leipzig 1996, S. 145–177, 173 f. 167 Subjektivation und Selbstsein uns zu einer Selbstdisziplinierung und -identität auffordert, ohne dass wir das merken würden? Die Frage muss an dieser Stelle offen bleiben. Festzuhalten bleibt jedoch, dass Authentizität vermutlich nicht nur ein kritisches Potential in sich birgt (wie es im Sinne des „Selbstseins“ oben skiz­ ziert wurde), sondern (gerade in ihrem weiten und unklaren Sinne) durchaus auch als Machtinstrument oder Diszipli­ nierungsmaßnahme fungieren kann und als solche/s auch gebraucht wird.40 VII. Fazit Was kann also die Rede vom „Selbstsein“ meinen? Wenn man die Grundzüge der Subjektivationstheorien ernst nimmt, kann man sich mit ihr nicht mehr auf ein natürli­ ches, gänzlich autonomes Subjekt (oder auch „Selbst“) beziehen, das sich vollkommen transparent wäre. Das Subjekt, so sagten wir, gilt als Struktur, in die sich der Mensch einpasst. Das „Selbst“ hingegen bestimmten wir als prozessuale Selbstbezüglichkeit einer konkreten Person, die immer auch und immer schon in Bezügen zur Welt und zu Anderen und somit in bestimmten Diskursen und norma­ tiven Kontexten steht. 40 Zu dieser Thematik siehe: Susann Köppl: „Sei ganz du selbst! Ge­ danken über die Authentizität als normatives Ideal in Zeiten des mo­ dernen Individualismus“, in: Cédric Duchêne-Lacroix, Felix Heiden­ reich und Angela Oster (Hg.): Individualismus – Genealogie der Selbst(er)findungen. Berlin (im Erscheinen). 168 VII. Fazit Das „Selbst“ verändert sich ständig und kann sich nicht (in einem gänzlichen Sinne) transparent sein, da es auch das Unbewusste umfasst. Es überschreitet den Rahmen des Subjekts, da es immer mehr „beinhaltet“ oder „ist“ als Subjektsein zulässt. „Selbstsein“ bezieht sich folglich nicht auf einen Wesenskern oder die Identität einer Person, da das „Selbst“ sich in ständiger Transformation befindet. Aber sind wir so gesehen dann nicht immer wir selbst? Ja und Nein. Es scheint Formen zu geben mehr oder minder stark „man selbst“ zu sein, man denke an Selbsttäu­ schung oder Indifferenz, an verschiedene Arten der Anpas­ sung. Zum „Selbstsein“ gehört ein gewisses Streben nach Selbst(er)kenntnis, auch wenn diese in Gänze nicht erlangt werden kann, da uns immer etwas an, von oder auch in uns selbst unzugänglich bleibt. Man könnte es als ein Ideal des „Eigenen“ beschreiben, das sich nicht im Subjekt selbst finden lässt, sondern im ständigen Werden des „Selbst“. Das Eigene (im Sinne eines Selbstseins) wäre so gesehen kein fester Kern mehr, sondern ein ständiger Prozess, der durch die Erfahrungen und Begegnungen befeuert wird. Selbstsein, als eine gewisse Stimmigkeit mit sich, meint dann gerade nicht einen total störungsfreien Einklang, sondern eher etwas durchaus Plurales, Momenthaftes, sich Transformierendes. Die Frage danach, wer wir denn eigentlich sind bzw. sein wollen, danach, was wir wirklich wollen, fühlen, denken und tun (gerade auch innerhalb eines Beziehungsgeflechts mit Anderen) scheint ein kritisches Potential unserer selbst 169 Subjektivation und Selbstsein zu benennen. Es kann uns den Diskurs ein wenig übertreten oder zumindest hinterfragen lassen. Auch wenn wir immer schon in Identitätskategorien eingeordnet sind, sind diese doch befragbar, bespielbar, annehm- oder ablehnbar, wenn auch nur innerhalb eines bestimmten Rahmens. Auf der anderen Seite kann man die Forderung nach Authentizität (gerade in ihrem weiten Sinne) auch als Herrschaftstechnik und Selbstdisziplinierungsmaßnahme auslegen, was ich in diesem Artikel nur andeuten konnte. Dabei wird jedoch zumeist auf eine Identität und Kohärenz der Einzelnen gepocht, die dem Begriff eines „Selbstseins“ als ständiges Werden zuwider laufen und weniger ein kritisches Potential als eine Überforderung benennen. Es scheint vielversprechend, im Anschluss an die Theore­ tiker_innen der Subjektivationstheorien, für neue Formen und Vorstellungen des „Selbstseins“ zu plädieren, die sich eben von den alten Vorstellungen von Identität, Kohärenz, Transparenz und Souveränität (in einem sehr starken Sinne) verabschieden und mehr das „inter- wie intrasubjektive Selbst“ in seinen Abhängigkeiten und seiner Verletzlich­ keit, aber auch in seinen Potentialen und Möglichkeiten thematisieren. Vielleicht werden wir so dem Menschen als solchem gerechter. 170 Autonomie und Verwahrlosung Das Subjekt zwischen zwei Formen des Selbstverlusts Anne Clausen In dem vorliegenden Text möchte ich mich der Frage nach dem Subjekt von der anderen Seite her nähern, von dort, wo das Subjekt nicht bzw. das „Nicht-Subjekt“ ist. Der Begriff des Nicht-Subjekts geht dabei wesentlich auf Judith Butler und ihre Rede von Auslöschungen, Ausschlüssen und nicht-betrauernswertem Leben zurück. 1 Ich schlage den Begriff „Verwahrlosung“ als eine der Subjektivierung entgegen-gerichtete (Nicht-)Bewegung vor, die zu jener Spannung zwischen Selbst und dem/den Anderen, in der das Subjekt zumeist gedacht wird, gewissermaßen quer liegt: In der Verwahrlosung gibt es das Eigene ebenso wenig wie das Andere, es gibt nur Beziehungslosigkeit und Indifferenz. Es geht mir also nicht um die Auseinanderset­ zung von einander entgegen-gesetzten Subjektpositionen, sondern um die Spannung zwischen Subjekt, Intelligibilität und dem, was nicht bestimmt, was unvermittelte Alterität ist. Anhand des verwahrlosten Individuums möchte ich dabei ein Verständnis für die psychische Verfasstheit und das Selbstverhältnis des Nicht-Subjekts entwickeln und im Anschluss daran eine Spannung des Subjekts zwischen 1 Vgl. Judith Butler: Gefährdetes Leben, Frankfurt am Main 2005, S. 36. 171 Autonomie und Verwahrlosung zwei Arten des Selbstverlusts darstellen, wobei sich zeigen wird, dass hier gerade das äußerst disziplinierte Individuum mit dem verwahrlosten Nicht-Subjekt auf unerwartete Weise zusammenfällt. I. Subjekt und Begehren Ich verstehe Subjektivierung als einen Prozess der Begeg­ nung und Auseinandersetzung mit Fremdem und Anderem, der gleichermaßen die Aneignung und Erfassung dieses Anderen in den eigenen Strukturen wie auch die Transfor­ mation ebendieser Strukturen bedeutet. Seine Erfahrungen und Bindungen verändern das Individuum und das Subjekt als das Strukturierte geht überhaupt erst aus diesen hervor, womit Selbst- und Weltverhältnis in einem konstitutiven Zusammenhang stehen. Subjektivierung erfordert immer Anderes, Fremdes, Nicht-Eigenes, mit dem das Individuum in Beziehung tritt; es kann sich nicht aus sich selbst heraus individuieren. Eigenes – „Identität“ – entsteht dabei durch die Aneignung und Abgrenzung von Fremdem, die sowohl das Eigene wie auch das Fremde erst hervorbringt. Das Begehren des Individuums fungiert dabei als Triebkraft, die diese Subjektivierung motiviert, indem es gleichermaßen geformt und formbar ist und einen – entsprechend gerich­ teten – Antrieb dazu darstellt, auf die Welt Bezug zu nehmen. Das Subjekt besteht auf der Grundlage von primären Eindrücken und Verwerfungen,2 die diesen 2 Vgl. Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt 2002, 172 I. Subjekt und Begehren Prozess begründen und damit konstitutiv sind. Als „Gesetz des Begehrens“ strukturieren sie die Bezugnahmen des Individuums auf die Welt, die weiterhin das Subjekt/Selbst hervorbringen: Indem das Subjekt einmal in die (diskur­ siven, sozialen) Strukturen eingelassen ist, wirkt sein Begehren in fortschreitendem Maße subjektivierend, da es weitere Erfahrungen und Handlungen motiviert und regu­ liert. Im Prozess der Subjektivierung werden damit nicht bloß äußere (Macht-)Wirkungen „erlitten“, sondern das Subjekt konstituiert sich – vermittelt durch soziale und kulturelle Rahmungen – in seinen Bindungen und Identifi­ kationen. Als „autonom“ gilt das Subjekt in dem Maße, wie es die Fähigkeit ausbildet, sein Wollen selbst zu bestimmen und nicht nur unmittelbar auf äußere Reize und Einflüsse zu reagieren. Diese Fähigkeit der Selbstbestimmung stellt eine Disziplin des Subjekts dar, die sich ihrerseits als eine Art Begehren zweiter Ordnung (nach Selbstbestimmung, Selbstwirksamkeit etc.) begreifen lässt. Das in diesem Sinne autonome Subjekt hält sich selbst trotz äußerer Anfechtungen durch, wobei andersherum das „Selbst“ erst aus dieser Disziplinierung hervorgeht. Es bezeichnet gerade jene Einstellungen, Prinzipien und Werte mit denen sich das Individuum in einer Weise identifiziert, dass es nicht durch äußere Umstände von ihnen abgebracht wird. In diesem Sinne kann man sagen, dass das Subjekt in S. 81 und Judith Butler: „Psychische Anfänge“, in: Dies.: Psyche der Macht, Frankfurt am Main 2001, S. 157–184. 173 Autonomie und Verwahrlosung doppelter Weise auf seinem Begehren basiert: Über seine Disziplin (sein Begehren, sich durchzuhalten, spinozistisch: in seinem Sein zu verharren) und über die Formung (d. h. jene Belange, auf die es diese Disziplin anwendet). Wenn es aber in so entscheidender Weise das Begehren ist, das das Subjekt hervorbringt, es für Machtwirkungen affi­ zierbar macht und seine Subjektivierung vorantreibt, so ist es die Idee dieses Textes, einen Zustand bzw. Vorgang zu betrachten, in dem die disziplinierende Wirkung des Begehrens ausgesetzt ist. Im Folgenden möchte ich deshalb Verwahrlosung als einen der Subjektivierung entgegenge­ setzten Prozess in den Blick nehmen. II. Identität und Verwahrlosung Assmann unterscheidet zwischen zwei Polen kultureller Distinktionsbildung mittels derer Gesellschaften sich inner­ lich stabilisieren und äußerlich abgrenzen. In dem einen Fall bedeutet Kultur die (selbstbezügliche) Abgrenzung gegen das „Chaos“ oder die „Wildnis“. Am anderen Pol geht es um die Abgrenzung von der anderen Kultur, dem (äußeren) „Feind“.3 Schmutz, Verwahrlosung und Asozia­ lität stellen in diesem Sinne ein innerhalb der Gesellschaft Verworfenes dar, das zur Alterität stilisiert und pathologi­ siert, kriminalisiert, eliminiert etc. wird. Die Gesellschaft, deren wesentliche Funktion es ist, Subjekte hervorzu­ 3 Vgl. Aleida und Jan Assmann: „Theorie unkommunikativen Verhal­ tens“, in: Jan Assmann und Dietrich Harth (Hg.): Kultur und Kon­ flikt, Frankfurt am Main 1990, S. 11–48, hier S. 28 f. 174 II. Identität und Verwahrlosung bringen, die sie reproduzieren, erzeugt mit dem gleichen Mechanismus der Subjektivierung, gewissermaßen als seine Kehrseite, Verwahrlosung, die sie dann jedoch als ein ihr Fremdes auf ein „Außen“ projiziert. Der zur Alterität stilisierte „Penner“ ist in diesem Sinne die Manifestation einer Delegation von Fremdheit, die das Fremde ebenso wie das Eigene erst hervorbringt. Verwahrlosung bezeichnet gleichermaßen einen Zustand wie auch den zugehörigen (Verfalls-)Vorgang; beides hängt zusammen, weil es wesentlich das „Nicht-Handeln“ oder „Nicht-Sorgen“ eines Individuums ist, das den Zustand markiert und auch den Prozess der Verwahrlosung bewirkt bzw. ihm nichts entgegen setzt. Verwahrlosung ist das, was gewissermaßen „von selbst“ passiert; Zivilisation stellt dagegen ein ständiges Bemühen um und Herstellen von Struktur und Ordnung dar. Dennoch wird Verwahrlosung nicht als „natürlich“ aufgefasst, im Gegenteil läuft das verwahrloste Individuum Gefahr, seine Menschlichkeit – d. h. seine „menschliche Natur“ – zu verlieren. Direkt asso­ ziiert mit Verwahrlosung ist die physische Verschmutzung (das ungepflegte Individuum, die heruntergekommene Wohnstätte), aber Verwahrlosung kann auch als psychische, soziale, moralische etc. vorgestellt werden. Verwahrlosung bezeichnet einen Zustand, in dem ein Individuum Belange vernachlässigt, um die es sich kümmern „sollte“. Scheinbar hat es gewisse Ansprüche nicht oder hat sie aufgegeben – Ansprüche gleichermaßen für-sich wie auch an-sich.4 4 Gemeint ist eine Unterscheidung zwischen Ansprüchen, die das Indi­ 175 Autonomie und Verwahrlosung Während das Begehren den Prozess der Subjektivierung vorantreibt, steht das verwahrloste Individuum der Welt (scheinbar) unempfänglich und indifferent gegenüber; es wird durch kein Begehren veranlasst, seinen Zustand zu verändern. Wenn ich im vorigen ausgeführt hatte, dass Identität auf Trennung (Unterscheidung) und Beziehung beruht, so liegt Verwahrlosung zu dieser Bestimmtheit quer. Verwahrlosung heißt gleichermaßen, sich nichts anzu­ eignen, sich in nichts durchzuhalten, wie auch (sich von) nichts zu trennen – es existiert im strengen Sinne gar kein Selbst. Damit ist die der Subjektivierung zugrunde liegende identitätslogische Unterscheidung und Gegenüberstellung von Eigenem und Fremdem ausgesetzt. Das verwahrloste Individuum nimmt keine intelligible Subjektposition ein, was zum einen soziale Sanktionen nach sich ziehen kann, insbesondere aber auch eine Konsequenz für die innere Verfasstheit oder das Selbstverhältnis des Individuums hat: Verwahrlosung bedeutet wesentlich Selbstverlust. viduum bezüglich seiner Umwelt hat (Ansprüche für-sich), und je­ nen teilweise korrespondierenden Ansprüchen, die es an sich selber stellt. Beide Arten von Ansprüchen wirken – vermittelt über das Rea­ litätsprinzip – regulierend aufeinander ein, wobei jedoch die Um­ weltbedingungen der Kontrolle des Individuums letztlich entzogen sind und es mit seinen Ansprüchen an-sich scheitern kann (und im­ mer wieder wird). Wenn dennoch ein (genügend gutes, befriedigen­ des etc.) Gleichgewicht zustande kommt, erlebt das Individuum sich als handlungs- und wirkmächtig. Dies ist beim verwahrlosten Indivi­ duum gerade nicht der Fall: Ansprüche sind entweder nicht vorhan­ den oder sie sind von der Realität entkoppelt und werden deshalb nicht sichtbar; d. h. das verwahrloste Individuum hat entweder keine Ansprüche an-sich oder es kann ihnen nicht genügen; es hat entwe­ der keine Ansprüche für-sich oder es kann sie nicht durchsetzen. 176 III. Selbstverlust III. Selbstverlust Wenn es kein vom Individuum unabhängiges Selbst gibt, kein substantielles „Ich“ als „Träger“ eines Selbst ange­ nommen wird – welchen Sinn könnte es da machen, von „Selbstverlust“ zu sprechen? Gemäß dem oben Gesagten gehe ich nicht von einem irgendwie vorgängigen oder von dem tatsächlichen Individuum unabhängigen „Selbst“ aus, das verloren oder auch verfehlt werden könnte, oder etwa als „wahres Selbst“ erst gefunden werden müsste. 5 Ist also trotzdem von Selbstverlust die Rede, so heißt das, dass jene Bindungen und Identifikationen ausgesetzt, unterbrochen oder nicht vorhanden sind, die das Selbst erst ausmachen. 6 Indem das Subjekt sich in seinen Bezugnahmen auf die Welt konstituiert, macht dieses Verhältnis zur Welt sein Selbstverhältnis aus. Das gleiche Subjekt ist nicht einmal in Beziehungen und einmal ohne denkbar. Mit einer Störung oder einem Verlust dieser Bezugnahmen ist damit gleicher­ maßen das Selbstverhältnis beeinträchtigt; das Individuum erleidet nicht etwa einen ihm äußerlichen Verlust, sondern es ist unmittelbar selbst betroffen: Es wird sich selber fremd, was wiederum Auswirkungen auf seine Handlungs­ fähigkeit etc. hat. Deutlich wird dies bei Butler: „Wenn ich dich (...) verliere, betrauere ich nicht bloß den Verlust, sondern ich werde mir selbst unergründlich. Wer 5 6 Vgl. Rahel Jaeggi: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphiloso­ phischen Problems, Frankfurt am Main 2005, S. 64. Im zweiten Fall müsste strenggenommen nicht von „Verlust“ die Rede sein, da das Individuum nie ein Selbst ausgebildet hatte. 177 Autonomie und Verwahrlosung ‚bin‘ ich ohne dich? Wenn wir einige dieser Bindungen verlieren, durch die wir konstituiert sind, wissen wir nicht, wer wir sind oder was wir tun sollen.“7 Ein Individuum kann in unterschiedlich starkem Maße mit seiner Umwelt in Beziehung treten und dies hat entspre­ chend Auswirkungen auf sein Selbstverhältnis: Man könnte sagen, dass jemand, der in vielen/vielfältigen und inten­ siven Beziehungen zu seiner Umwelt steht, sich in einem größeren Netz an Bedeutungen/Bedeutsamkeiten erfährt (sich in diesen zugänglich ist) und damit über ein „größeres“ Selbst verfügt als ein Individuum, das nur wenige und schwache Bindungen unterhält. Und in eben diesem Sinne kann man auch sagen, dass mit einer Einschränkung oder dem Wegfall dieser Bezugnahmen auf die Welt auch (das) Selbst verloren geht. Und dies heißt eben nicht, dass es gewissermaßen jenseits der tatsächli­ chen Existenz des Individuums ein Selbst gäbe, das ihm nicht zugänglich ist,8 sondern es bedeutet, dass ein solches Selbst nicht hervorgebracht wurde bzw. wird. Indem das verwahrloste Individuum keine Beziehungen zur Welt unterhält, wird es seiner selbst nicht gewahr; in dem Maße, wie es der Welt unverbunden und indifferent gegen­ über steht, ist es sich selbst intransparent, denn „sich trans­ parent sein“ bedeutet offenbar gerade, Zugang zu haben zu eigenen Vorlieben, Wünschen und Abneigungen, die eigenen Dispositionen und Tendenzen zu kennen etc. 7 8 Butler. Gefährdetes Leben a.a.O., S. 39. Vgl. Jaeggi: Entfremdung a.a.O., S. 64. 178 III. Selbstverlust Selbstverlust ist damit nicht nur gleichbedeutend mit Welt­ verlust (der ja auch nicht bedeutet, dass die Welt nicht mehr existiert – sie verliert aber ihre Bedeutsamkeit für das Indi­ viduum), sie stellen ebenfalls einen Verlust an Sinn(haftig­ keit) dar: Die Bezugnahmen auf die Welt spannten ja gerade das Netz der Bedeutsamkeiten auf. Wenn ich vorher den Prozess der Subjektivierung beschrieben hatte, in dem Welt angeeignet wird, sich dabei für das Subjekt entfaltet und ihm bedeutungsvoll wird, so stellt sich Verwahrlosung als die gegenläufige Bewegung dar. Die Welt verengt sich und verliert an Bedeutsamkeit und der Selbstverlust markiert das Individuum als handlungsunfähig: In seiner Beziehungslosigkeit fehlt ihm eine (affektive) Grundlage für Entscheidungen (eine kognitive Strukturierung kann vorhanden sein). Das verwahrloste Individuum kann damit nur unmittelbar auf Ereignisse und Gegebenheiten reagieren; es verfügt über keine überdauernde motivatio­ nale Struktur. Mit dem Selbst geht damit auch die Grund­ lage für Autonomie verloren. Es ergibt sich damit das Modell einer Zirkel- bzw. Spiral­ bewegung, die in die eine oder in die andere Richtung ausgeführt werden kann: Wenn das Begehren Bindungen motiviert und ein Selbst und damit Bedeutsamkeit hervor­ gebracht wird, geschieht Subjektivierung; ist andererseits dieser Prozess ausgesetzt, erfolgt ein der Subjektivierung gegenläufiger Vorgang, den ich im Folgenden unter dem Begriff der ausgesetzten Performanz fassen möchte. 179 Autonomie und Verwahrlosung IV. Ausgesetzte Performanz Performativ wird ein Akt genannt, der „etwas“ als das hervorbringt, was es scheinbar („angeblich“) ist. (Geschlechts-)Identität ist bei Butler in diesem Sinne performativ. Performanz funktioniert in diesem Sinne rekursiv und das Konzept eignet sich dazu, zu erklären, wie Fremdes zuallererst angeeignet werden kann, wie über­ haupt eine erste Strukturierung geschehen und Bedeutung gesetzt werden kann, wenn noch keine „Anschlüsse“ bestehen. Man kann insofern sagen, dass sie „den Anfang erklären“ könne – aber vielleicht sollte man sagen: Es gibt im Sinne der Performanz gerade gar keinen Anfang. Perfor­ manz basiert darauf, dass das Subjekt in gesellschaftliche Bezüge eingebunden ist, die seine Zeitlichkeit über­ schreiten.9 Seine Performativität setzt nicht zu irgendeinem Zeitpunkt im Dasein des Subjekts ein, sondern vielmehr geht das Subjekt aus ihr hervor. Sinnbildlich steht hierfür bei Butler die reflexive Wende als performativer Akt, der das Subjekt inauguriert.10 Indem das Subjekt sich in die Strukturen einschreibt und dabei performativ Identität hervorbringt, schließt es andere Möglichkeiten aus; gleich­ zeitig eröffnen sich neue, entstehen neue Notwendigkeiten oder Gelegenheiten, die den Rahmen für Anschlusshand­ lungen bilden.11 Anschlussfähigkeit ist dabei zu verstehen 9 10 11 Vgl. Judith Butler: Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt am Main 2006, S. 51. Vgl. Butler: Psyche der Macht a.a.O., 63–70. Anschlusshandlungen sind hier nicht nur in zeitlicher Folge, sondern auch im Kontext von Handlungs- oder Sinnzusammenhängen zu ver­ stehen, die gewissermaßen als „Gefüge“ (Deleuze) fungieren, in de­ 180 IV. Ausgesetzte Performanz als die Disposition, auf (bestimmte, vorhandene) Identi­ täts-, Handlungs-, Kommunikations- etc. „Angebote“ eingehen zu wollen und zu können, d. h. Situationen und Möglichkeiten wahrzunehmen, sie überhaupt als bedeut­ same zu erfahrenen und sich sozial „angemessen“ in ihnen zu verhalten.12 Diese Angemessenheit oder auch Gültigkeit oder Intellegibilität des Handlungsvollzugs stellt insofern ein relevantes normatives Kriterium dar, da von ihr abhängt, was für Möglichkeiten sich dem Subjekt weiterhin eröffnen und inwiefern es ihm gelingen kann, sein Begehren fortzuschreiben. Eine solche Anschlussfähigkeit weist das verwahrloste Individuum gerade nicht auf; Verwahrlosung bedeutet, dass die performative Aneignung von Welt und Selbst (an irgendeiner Stelle) ausgesetzt ist. „Ausgesetzte Performanz“ bedeutet in diesem Sinne, dass der performative Vollzug derart unterbrochen oder sogar von Anfang an nicht vorhanden ist, dass Identität und damit Anschlussfähigkeit nicht (oder nicht mehr) hervorgebracht werden, was dazu führt, dass gleichfalls Anschlusshand­ 12 nen sich das Begehren formt. Schrage beschreibt Foucaults Konzept der „Subjektivierung durch Normalisierung“ mit der „These, dass fungible Subjektivität heute sich im Wunsch nach Anschlussfähigkeit manifestiert“ (Dominik Schrage: „Subjektivierung durch Normalisierung: zur Aktualisierung eines poststrukturalistischen Konzepts“, in: Karl-Siegbert Rehberg/ deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) (Hg.): Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Ge­ sellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Frankfurt am Main 2008, S. 4127, http://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/18569 (21.10.2013)), d. h. Anschlussfähigkeit bewirkt nicht nur Subjekti­ vierung, sondern ist wesentlich ihr Ziel: Wenn es erreicht ist, „läuft der Rest“ von selber. 181 Autonomie und Verwahrlosung lungen fehlen. In diesem Fall greift ein der Subjektivierung entgegen gerichteter Mechanismus: Das Individuum, das nur über wenige (oder wenig intensive) Bezüge zur Welt verfügt, erfährt nur wenig Bedeutsamkeit und ist auch nur wenig anschlussfähig; andersherum fällt es ihm mit geringer Anschlussfähigkeit schwerer, Bedeutsamkeit zu erfahren und Bezüge zu etablieren. Verwahrlosung ist damit ein ebenso sich selbst fortschreibender Prozess wie Subjektivierung. Die Entstehung oder Herstellung eines solchen Zustandes der Verwahrlosung ist mit dem bisher Gesagten aus zwei Richtungen denkbar: Bereits vorhandene Bindungen könnten von außen verunmöglicht und unterbrochen werden oder das Individuum könnte bereits an der Ausbil­ dung von Bezugnahmen gehindert worden sein. Verwahrlo­ sung ist damit als hochgradig resignative Haltung vorstellbar, das Individuum hat sich im wahrsten Wortsinn aufgegeben. In beiden Fällen kennzeichnet der Mangel an motivationaler Struktur die innere Dimension des NichtSubjekts, das im Sinne eines identitätslogischen „Selbst“Verständnisses tatsächlich nicht „ist“. Dabei stellt seine Strukturlosigkeit aber gerade nicht eine fortwährende und grenzenlose Offenheit gegenüber der Welt dar, sondern sie bedeutet wesentlich, dass überhaupt keine Empfänglich­ keit, keine Durchlässigkeit gegenüber Anderem/Anderen besteht, dass alles ausgeschlossen ist. Dieser Selbstverlust des verwahrlosten Individuums ist die Kehrseite seiner sozialen und diskursiven „Auslöschung“. Anstatt Identität 182 V. Verwahrlosung als Bedrohung hervorzubringen und „sich Selbst“ zu konstituieren und repräsentierbar zu machen, ist das verwahrloste und bezug­ lose Individuum Alterität, d. h. es ist nicht-intelligibel und für sich selbst ebenso intransparent wie für andere. V. Verwahrlosung als Bedrohung Verwahrlosung erscheint gesellschaftlich als bedrohlich, weil sie einen Bereich kennzeichnet, der nicht von der Macht durchdrungen und folglich nicht von ihr kontrolliert und kontrollierbar ist. Das Entscheidende ist dabei nicht das tatsächliche Verhalten des verwahrlosten Individuums, sondern der wesentliche Punkt ist, dass die Verwahrlosung das Individuum als ein Fremdes markiert, das nicht an die geteilten gesellschaftlichen Werte gebunden ist. Das aber ist gerade die Funktion der Sozialisierung: Einen gemein­ samen Werte- und Bedeutungshorizont zu etablieren und damit Sicherheit zu erzeugen. Wenn es also die wesentliche Rolle von Gesellschaft ist, Subjekte hervorzubringen, so ist das Nicht-Subjekt im wörtlichen Sinne a-sozial. Das Nicht-Subjekt ist also gefährlich, weil es nicht an der „Seele“13 zu packen ist, weil der Diskurs bei ihm nicht greift: Indem das Individuum nicht begehrt (oder nicht in einer diskursiv verfassten Weise begehrt), erweist es sich als nicht von der Macht affizierbar. Man könnte sagen, dass das verwahrloste Individuum die „Anrede“ (interpellation) 13 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Ge­ fängnisses, Frankfurt am Main 1994, S. 41 f. 183 Autonomie und Verwahrlosung verweigert, die bei Althusser das Subjekt begründet, 14 und sich damit dem Prozess der Identifikation und Subjektivie­ rung entzieht. Da mit ihm auf diese Weise keine „Koopera­ tion“ möglich ist, muss es auf andere Art „beseitigt“ oder „eliminiert“ werden.15 Das aber ist der Zwangscharakter einer auf Identität basierenden Gesellschaftlichkeit: Dass sie Freiheit darin gewährt, welche Identität angeeignet wird, aber keine Freiheit darüber besteht, ob dies überhaupt geschieht. Für das Individuum erscheint Verwahrlosung als bedroh­ liche Alternative – wegen der sozialen Sanktionen, aber eben auch, weil es fürchtet, sein Selbst und damit seine (Selbst)Wirksamkeit zu verlieren. In diesem Sinne wird es unter Umständen eine abwertende oder sonst wie unlieb­ same Anrufung annehmen, um überhaupt zu figurieren. Verwahrlosung stellt in gewissem Sinne einen Widerstand gegen die Macht dar, indem das Individuum dort, wo es verwahrlost/indifferent ist, ihrer regulierenden Funktion entgeht. Verwahrlosung ist damit als Modell einer (parti­ ellen) „Entunterwerfung“16 denkbar; man könnte sich vorstellen, dass sich ein Individuum hinsichtlich eines bestimmten Bereiches bewusst von diskursiven Regulie­ 14 15 16 Vgl. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg 1977, S. 140–145. Ein bekanntes literarisches Beispiel hierfür ist Camus’ Figur des Fremden: Meursault wird vom Gericht zum Tode verurteilt – nicht weil er einen Mord begangen hat, sondern weil die Jury urteilt, dass er keine „menschliche Seele“ habe. Auch hier steht also die Mensch­ lichkeit in Frage. Vgl. Michel Foucault: Was ist Kritik?, Berlin 1992, S. 18. 184 V. Verwahrlosung als Bedrohung rungen frei macht. Als Ort der Kritik scheint sie jedoch nur bedingt geeignet, denn es entspricht der inhärenten Logik des Diskurses, dass das Individuum nur in dem Maße, wie es unterworfen ist, auch am Diskurs partizipiert; (diskur­ sive) Unterwerfung und Ermächtigung gehen Hand in Hand. In der Angewiesenheit der Individuen auf gesell­ schaftliche Teilhabe und die Erfahrung von Sinn/Bedeut­ samkeit werden die Ausschlüsse der Ordnung für sie zwin­ gend. Wenn Foucault über die „Seele“ schreibt, dass sie den Körper gefangen hält,17 so ist der Verwahrloste gegen diese Form der seelischen oder psychischen Machtwirkung immun. Er ist in diesem Sinne frei – gleichzeitig fehlen ihm jedoch jene Bindungen und Motive, von denen man sagen könnte, dass sie Freiheit erst bedeutsam machen. Man könnte sagen: seine Freiheit „nützt ihm nichts“; er könnte zwar alles tun, aber er hat keine spezielle Veranlas­ sung. Es sind die Bindungen und Festlegungen, die Abhän­ gigkeit und Verletzbarkeit schaffen, aber auch erst Sinn und Bedeutsamkeit stiften. Das aufgrund seiner Indifferenz „freie“ Individuum ist nicht autonom – es besitzt zwar die Freiheit zu Hand­ lungen, aber ohne „Selbst“, ohne durchgehaltene Struktur, verfügt es über keine Entscheidungsgrundlage. Es ist damit zwar nicht so sehr von der diskursiven Macht affiziert, gleichzeitig aber hat es äußeren Einwirkungen und Kontin­ genzen nichts entgegen zu setzen, ist ihnen ohne reflexive 17 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen a.a.O., S. 42. 185 Autonomie und Verwahrlosung Distanz ausgesetzt. Indem sie eine kritische Haltung erst ermöglicht, ist Subjektivierung – bei Foucault auch die „Sorge um sich“ – paradoxerweise sowohl Machtwirkung wie auch „Entunterwerfung“, d. h. Schutz vor Fremdbe­ stimmung und Manipulation. VI. Verwahrlosung als Querschnittsphänomen Wenn ich im Vorherigen gesagt hatte, dass Verwahrlosung zur gesellschaftlichen Alterität stilisiert wird, so möchte ich im Folgenden dafür argumentieren, dass diese Stilisierung eine Projektion darstellt und dazu dient, eigene Fremdheit abzuwehren und zu verleugnen. Die grundlegende „Technik“ dieses Abwehr-Mechanismus ist es, Individuen in ihren Eigenschaften zu totalisieren. Das kann bedeuten, dass man z. B. aufgrund des verwahr­ losten Erscheinungsbildes eines Menschen auf seine mangelnde moralische Integrität etc. schließt. Aber das wäre eine sehr vereinfachte Darstellung, die gesellschaft­ liche Reaktion auf das Erscheinungsbild eines Menschen ist sicherlich wesentlich komplexer und hängt von vielen sozialen Faktoren und situativen Voraussetzungen ab (z. B. könnte Verwahrlosung auch gerade zu einem bestimmten Image gehören). Der Punkt hier ist ein anderer. Um ihn vorzubereiten ist zunächst einmal die Feststellung nötig, dass es offenbar sehr viele Bereiche gibt, denen jemand sich widmen kann, denen er seine Aufmerksamkeit zuwenden kann und hinsichtlich derer er sich disziplinieren 186 VI. Verwahrlosung als Querschnittsphänomen kann. Es muss also notwendig eine Selektion stattfinden. Menschen, Subjekte kümmern sich um bestimmte Bereiche ihrer Existenz und vernachlässigen – indem sie das tun – andere. Das ist schlichtweg eine Notwendigkeit ihres end­ lichen Daseins – es fällt bloß nicht so stark ins Auge, weil es kulturell einen Konsens über Anforderungen an die Selbstdisziplin (Selbstführung, Selbstregulation, Verant­ wortung etc.) des Einzelnen gibt. Welche Bereiche das betrifft, was erwartet wird, damit ein Individuum nicht unter die Kategorie „verwahrlost“ fällt, hängt dabei entscheidend von der Gesellschaft ab, in der es sich befindet. Nun wird es so sein, dass Individuen sich in unterschiedlichem Maße regulieren und Verschiedenes in ihre Existenz integrieren, immer aber wird es sich um eine Selektion handeln und sie werden – mehr oder weniger explizit – anderes aus ihrem Leben ausschließen. Sich gegen Bereiche zu verschließen, sie nicht zu „kultivieren“ bedeutet aber, an diesen Stellen verwahrlost zu sein. Damit lässt sich sagen, dass Verwahrlosung nicht ein klar abge­ grenztes Phänomen ist, das einige marginalisierte Indivi­ duen betrifft, sondern dass sie zum einen graduell verläuft und zum anderen jeden betrifft. Offensichtlich muss ein Individuum gerade in dem Maße, wie es sich spezialisiert und konzentriert, anderes außer Acht lassen, und so ist paradoxerweise gerade das besonders zielstrebige, diszipli­ nierte Individuum, das seine Aufmerksamkeit stark fokus­ siert, gegenüber Anderem verschlossen und in Bezug auf dieses folglich als verwahrlost zu bezeichnen. Man kann 187 Autonomie und Verwahrlosung spekulieren, ob das weniger zielgerichtete Individuum, das sich schneller ablenken und sich leicht von anderen Dingen einfangen lässt, „weniger“ verwahrlost ist als das sehr disziplinierte. Andererseits besteht doch nur durch die Richtung von Aufmerksamkeit (und damit notwendig den Ausschluss) überhaupt ein bestimmter Zugang zur Welt. Während das Nicht-Subjekt der Welt fremd und gewisser­ maßen monolithisch gegenübersteht, ist das Subjekt durch­ zogen von Fremdheit; mit der Strukturierung, gewisser­ maßen an ihren Rändern, verbreiten sich neue „Schatten der Fremdartigkeit“18. VII. Zwei Arten des Selbstverlustes Bereits herausgestellt hatte ich die Durchdringung von Fremdbezug und Autonomie, die sich daraus ergibt, dass das Individuum paradoxerweise nur da „autonom“ sein kann, wo es strukturiert ist und über ein Selbst verfügt, so dass das angeblich autonome Subjekt tatsächlich radikal heteronomen Ursprungs ist. Aber mehr noch: Seine Auto­ nomie droht dann in ihr Gegenteil umzuschlagen, wenn das Subjekt diese konstitutive Fremdheit verleugnet, wenn es sich als tatsächlich unabhängig imaginiert und das „Selbst“, das „sich durchhält“, zum Panzer wird, der es gegenüber der Umwelt abschottet. Wenn das verwahrloste Individuum vorgestellt ist als Alterität, die der Welt undurchlässig 18 Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden, Frankfurt am Main 1990, S. 70. 188 VII. Zwei Arten des Selbstverlustes gegenüber steht, so weist das rigide oder starr seinen Regeln und Prinzipien folgende Individuum ebenfalls keine Durchlässigkeit gegenüber Anderem und Fremdem auf. Der scheinbare Gegensatz von Verwahrlosung und (Selbst-)Disziplin fällt dort ineinander, wo Autonomie auf der Grundlage eines einmal etablierten, statischen Gerüstes gedacht wird; wo das Subjekt sich als „fertig“ begreift und aufhört, für weitere (und neue) Erfahrungen offen zu sein. Entlang der Ränder seiner Strukturierung ist das Subjekt dann ebenso undurchlässig für Fremdes wie das verwahr­ loste Individuum insgesamt. Es handelt sich damit gewis­ sermaßen um ein bloß erweitertes narzisstisches Indivi­ duum, das jenseits des einmal etablierten Rahmens ebenso beziehungslos ist, wie jenes. Tatsächlich erfüllt dieses „gepanzerte“ und abgeschottete Subjekt damit nicht die grundlegenden Anforderungen an ein autonomes Subjekt – Autonomie erfordert immer das Hinterfragen der eigenen Grundsätze und Bedingungen. Die Rechenschaft, die ich von mir selber gebe, ist ein stets unabgeschlossener Prozess, da ich meine Bedingungen nie vollständig einholen kann, ich mir nie endgültig transparent bin. 19 Tatsächliche Autonomie (die ihrem Namen nach immer ein Paradox oder zumindest irreführend bleibt) erfordert stän­ dige Aktualisierung; sie bedeutet, den eigenen heteronomen Ursprung anzuerkennen und sich als notwendig stets unvollständig und unabgeschlossen zu begreifen. Es kann sich immer nur um ein transitorisches und vorläufiges 19 Vgl. Butler: Kritik der Ethischen Gewalt a.a.O., S. 31. 189 Autonomie und Verwahrlosung Selbstverständnis handeln, das als Anhaltspunkt für weitere Entscheidungen und Erfahrungen dient – durchgehalten werden kann konsequenterweise gerade nur die Offenheit selbst. Logisch auf die Spitze getrieben würde dies jedoch ein Hintergehen oder Hinterfragen der eigenen Bedin­ gungen bis hinter die ursprünglichen konstitutiven Verwer­ fungen bedeuten. Indem der dort gesetzte Sinn aufgehoben würde, hätte dies den Verlust des Selbst zur Folge und wird von Butler entsprechend als „Auslöschung“ bezeichnet, die das Subjekt bedroht, wenn es seiner konstitutiven Bedin­ gungen oder Setzungen gewahr wird.20 Diese Gefahr erklärt das Beharren des Subjekts in seiner Verleugnung: „Seine scheinbar in sich selbst begründete Autonomie versucht, die Verdrängung zu verschleiern, die zugleich der Grund des Subjekts wie die fortwährende Möglichkeit seiner Grundlosigkeit ist.“21 In der Öffnung für das Andere, Fremde ist das Subjekt durch den Verlust seiner selbst/seines Selbst bedroht. Wer die ursprünglichen Setzungen von Sinn und Bedeutung in Frage stellt, steht der Welt in ähnlicher Weise unent­ schieden oder ambivalent gegenüber wie der Verwahrloste. Je größer also seine Angst vor einer solchen Uneindeutig­ keit ist, desto strenger muss das Subjekt offenbar seinen heteronomen Ursprung verleugnen und an seinen Überzeu­ gungen festhalten. 20 21 Vgl. Butler: Psyche der Macht a.a.O., S. 13. Butler: Unbehagen der Geschlechter a.a.O., S. 77. 190 VIII. Umgang mit Fremdheit Mit dem bisher Gesagten habe ich dargestellt, dass einer­ seits Verwahrlosung und Disziplinierung in einer gewissen Hinsicht zusammenfallen und andererseits tatsächliche Autonomie in letzter Konsequenz ebenso wie Verwahrlo­ sung den Verlust eines (stabilen) Selbst bedeutet. Das Indi­ viduum ist damit von zwei Seiten von Selbstverlust bedroht und muss sich in dem Spannungsfeld von Pseudoauto­ nomie22 und Verwahrlosung positionieren. Meine Idee dabei ist, dass es sich bei Verwahrlosung wie auch bei Subjektivierung um unterschiedliche Weisen handelt, mit einer tatsächlich unhintergehbaren Fremdheit (in der Welt, gegenüber der Welt) umzugehen. VIII. Umgang mit Fremdheit Hatte ich Subjektivierung eingangs als Vorgang der Begeg­ nung und Auseinandersetzung mit Fremdheit gedeutet, so ist dem nun hinzuzufügen, dass jedes Erkennen gleicher­ maßen ein Verkennen ist und jede Strukturierung an ihren Rändern notwendig neue Fremdheit(en) erzeugt. Dieses „vertraute Andere“, die Fremdheit in mir selbst, stellt gerade den „Preis“ der heteronomen Subjektivierung dar. Ich handle mir – um bei der Metapher zu bleiben – statt der Gegenüberstellung mit jener gewissermaßen monolithi­ schen und absoluten Fremdheit Fremdheiten ein, die durch mich hindurchgehen, die mich quer durchziehen. Diese 22 D. h. jener abgeschotteten Form der Autonomie, in der sich das Indi­ viduum als völlig eigenständig imaginiert. 191 Autonomie und Verwahrlosung Offenheit und das „Hineinnehmen“ des Fremden sind gefährlich, weil ich mich damit verletzlich mache, mich gewissermaßen ausliefere. Gleichzeitig liegt genau hier auch die ethische Wertigkeit, wie sie von Butler dargestellt wird: Meine Verletzlichkeit bedeutet, dass ich mich einlasse, dass ich mich affizierbar, empfänglich für Andere/Anderes mache, dass ich mich nicht abschotte. Ich möchte nicht verletzt werden, aber ich riskiere es, weil die Offenheit und die Verbindungen mir wichtiger sind als die Gefahr, der ich mich aussetze. Der Schmerz einer Verlet­ zung fungiert dann als eine Art Nachweis: „Meine Verletzung selbst belegt, dass ich offen für Eindrücke, dass ich dem Anderen auf eine Weise ausgelie­ fert bin, die ich nicht vollständig vorhersagen oder kontrollieren kann.“23 Gleichzeitig wird die Fremdheit meiner Selbst, diese Intransparenz, die aus meiner heteronomen Konstitution erwächst, zur Grundlage meiner ethischen Verpflichtung für den Anderen. Indem ich begreife, dass seine „Identität“ ebenso unabgeschlossen und unvollständig ist, wie meine Kenntnis meiner selbst, setzte ich das Urteil über ihn aus und bewahre ihm gegenüber Offenheit: „Ich spreche als ein ‚Ich‘, aber ich glaube nicht irriger­ weise, mein gesamtes Tun zu kennen, wenn ich so rede. Ich stelle fest, dass schon mein Entstehungsprozess den Anderen in mir impliziert, dass meine eigene Fremdheit 23 Vgl. Butler: Kritik der ethischen Gewalt a.a.O., S. 114. 192 VIII. Umgang mit Fremdheit mir selbst gegenüber paradoxerweise die Quelle meiner ethischen Verbindung mit anderen ist.“24 Andersherum heißt das: Sich dem Anderen gegenüber abzuschotten, der Welt undurchlässig gegenüber zu stehen, keine leidenschaftlichen Beziehungen zu ihr zu unterhalten bedeutet, die Grundlage aufzugeben, aus der Verantwort­ lichkeit, ethisches Verpflichtetsein und Menschlichkeit überhaupt erst resultieren. Wenn Verwahrlosung keine Trennung vornimmt und für Eindrücke unempfänglich ist und andererseits das Subjekt affizierbar ist auf der Grundlage von Grenzziehungen, so ergibt sich für das Individuum die scheinbar paradoxe Forderung, affizierbar, berührbar und durchlässig zu sein und gleichzeitig das Urteil auszusetzen, keine (starren) Abgrenzungen zu vollziehen. Erforderlich ist eine „Doppel­ bewegung [...] in der wir moralische Normen geltend machen und zugleich die Autorität in Frage stellen, mit welcher wir diese Normen geltend machen.“25 Ein solches Vorgehen impliziert den Verzicht auf (stabile, unveränder­ liche, abgeschlossene) Normen, Identitäten und Selbste. Auch wenn ich meine Aufmerksamkeit auf etwas richte, mich auf etwas konzentriere, mich für etwas entscheide, muss ich mich fragen, was ich dadurch ausschließe, was ich vernachlässige. Ich werde dann gewahr, dass der Augenblick der Entscheidung ein Wahnsinn ist.26 24 25 26 Ebd. S. 114. Ebd. S. 139. Vgl. Sören Kierkegaard: Furcht und Zittern, zitiert nach Jacques 193 Autonomie und Verwahrlosung Die ethische Herausforderung aber besteht meiner Ansicht nach darin, das Begehren nach dem Anderen, nach dem, das ich nicht bin, dauerhaft aufrecht zu erhalten. Gerade weil Identität nur ein Instrument und eine Näherung und immer vorläufig und unabgeschlossen ist, ist das Begehren, den anderen zu erkennen, „verpflichtet (...), sich als Begehren am Leben zu erhalten und sich nicht in der Befriedigung aufzulösen.“27 27 Derrida: „Den Tod geben“, in: Anselm Haverkamp (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin. Frankfurt am Main 1994, S. 331–445, hier S. 392. Butler: Kritik der Ethischen Gewalt a.a.O., S. 60. 194 Haltung Zu einer kritischen Reformulierung des Personbegriffs in drei Thesen Frauke A. Kurbacher Dieser Beitrag ist aus urheberrechtlichen Gründen in der online-Version nicht enthalten. Wir bitten um Ihr Verständnis. 195 Autor_innen- & Herausgeberinnenverzeichnis Laurin Berresheim, geboren 1992 in Lindenberg (im Allgäu), beendete 2012 sein Bachelor-Grundstudium im Kernfach Philosophie an der Freien Universität Berlin. Der Titel seiner Abschlussarbeit lautet: Naturrecht und Sittlich­ keit in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts. Seit dem Wintersemester 2012 studiert er im Masterstudiengang Philosophie an der Freien Universität von Berlin. Anne Clausen studierte Komparatistik, Spanisch, Geschlechterforschung und Interkulturelle Germanistik in Göttingen. Ihre Magisterarbeit trug den Titel Fremdheit und Wahnsinn. In Göttingen gab sie Seminare zur Fremd­ heitsthematik wie zur Medientheorie und der Kritischen Theorie. Zurzeit arbeitet sie an einer Promotion über das Subjekt, Verletzlichkeit und Verantwortung im Anschluss an Judith Butler. Interessensschwerpunkte: Postkoloniale Theorie, Herrschafts-/Unterdrückungsstrukturen, Verletz­ lichkeit, das (marginalisierte) Subjekt, Kontinentale Philo­ sophie, Poststrukturalismus, Phänomenologie, Kritische Theorie, Gender Theorie und Psychologie. Karen Koch studierte im Bachelor-Studium Philosophie, Geschichte und Kultur des Vorderen Orients und Griechi­ sche Literatur an der Freien Universität Berlin und schloss 2009 mit einer Arbeit über Heideggers Sein und Zeit ab. 209 Autor_innen- & Herausgeberinnenverzeichnis Während ihres Masterstudiums, ebenfalls an der Freien Universität Berlin, absolvierte sie ein Auslandssemester an der Sorbonne IV, Paris. Sie beendete ihr Studium 2014 mit einer Arbeit über Kants Kritik der reinen Vernunft, welche den Titel trug: Kants Kritik der Metaphysik. Eine Analyse seines systematischen Gedankengangs. Derzeit bereitet sie ihre Promotion über den Zweckbegriff bei Kant und Hegel vor. Sie ist seit 2011 aktives Mitglied des IiAphR. Veröf­ fentlichungen: mit Johanna Lang: „Flussers Technikbegriff“, in: Flusser Studies 16, 2013, www.flus­ serstudies.net. Susann Köppl studierte Philosophie und Musikwissen­ schaft in Berlin und arbeitet derzeit an ihrer Promotion über Selbst und Selbstsein. Seit 2008 ist sie Mitglied des IiAphR. Veröffentlichungen (Auswahl): „Das ,Selbst‘ als Organisa­ tionsprinzip. Vom ,wahren Selbst‘ zur Konsensbildung“, in: R. Adolphi (Hg.): Identitäten des Selbst. Beiträge zu einem transdisziplinären Problemfeld. Münster (im Erscheinen); „Sei ganz du selbst! Gedanken über die Authentizität als normatives Ideal in Zeiten des modernen Individualismus“, in: C. Duchêne-Lacroix, F. Heidenreich, A. Oster (Hg.): Individualismus – Genealogie der Selbst(er)findungen. Berlin (im Erscheinen) . Frauke A. Kurbacher, Gründung und Leitung des IiAphR, Philosophiestudium an der WWU Münster, Promotion über „Urteilskraft“, gefördert im DFG-GK Subjekt und Person 210 Autor_innen- & Herausgeberinnenverzeichnis in der Philosophie der Neuzeit, Lise-Meitner-Habilitationsstipendium des Landes NRW für eine Philosophie der Haltung, 2014 Habilitation an der Bergischen Universität Wuppertal; Publikationen (Auswahl): Selbstverhältnis und Weltbezug. Urteilskraft in existenz-hermeneutischer Perspektive. Hildesheim 2005; „Was ist Haltung?“, in: www.theomag.de (Dez. 2006); „Liebe zum Sein als Liebe zum Leben“, in: Hannah Arendt: Der Liebesbegriff bei Augustin. Hg. F.A. Kurbacher, Hildesheim 2006; „Liebe und Person. Liebesphilosophien als Interpersonalitätstheo­ rien“ in: ZPDE, Heft 4, Hannover 2011; „,Haltungs­ wechsel‘. Zur Interpersonalität und Interkulturalität des philosophischen Liebesbegriffs“, in: Die Welt der Liebe. Liebessemantiken zwischen Globalität und Lokalität. Hg. T. Morikawa, Bielefeld 2014; „Selbst und Haltung. Zu einer kritischen Reformulierung des Personbegriffs“, in R. Adolphi (Hg.): Identitäten des Selbst. Beiträge zu einem transdisziplinären Problemfeld. Münster (im Druck). Johanna Lang hat von 2007 bis 2011 Philosophie und Sozialwissenschaften in Leipzig studiert und absolviert seit 2011 den Master Philosophie in Berlin. Ihr Schwerpunkt ist praktische Philosophie. Veröffentlichungen: „Über das Verhältnis von Eudaimonia und Erziehung“, in Philokles Heft 19, Leipzig 2012; mit Karen Koch: „Vilém Flussers Technikbegriff“, in: Flusser Studies 16, 2013, www.flusserstudies.net. Derzeit schreibt sie an ihrer Masterarbeit über die Authentizität bei Charles Taylor. 211 Autor_innen- & Herausgeberinnenverzeichnis Martin Mettin studierte Rechts- und Sozialwissenschaften sowie Philosophie in Leipzig und schloss den Master der Philosophie an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über das Echo im Werk Walter Benjamins ab. Zurzeit promoviert er zum Versuch einer Kritischen Theorie des Hörens im Anschluss an Ulrich Sonnemann. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Gesellschafts­ theorie, Epistemologie, Religionsphilosophie und Ästhetik. Henning Nörenberg studierte Philosophie, Germanistik und Informatik an den Universitäten Rostock und Kopen­ hagen und promovierte 2013 im Fach Philosophie. Seit 2012 ist er Mitarbeiter in Projekten des "Studium Optimum" an der Philosophischen Fakultät Rostock und Mitglied im Redaktionskollegium der FUGE | Journal für Religion & Moderne. Veröffentlichungen (Auswahl): „Existenzphilosophie als Ontologie moralischer Phäno­ mene?“, in: Hans Feger, Manuela Hackel (Hg.): Existential Philosophy and Ethics. Berlin 2013; mit Michael Groß­ heim: „Die Paulinische Anthropologie aus Sicht der Leib­ phänomenologie von Hermann Schmitz“, in: Christian Strecker, Joachim Valentin (Hg.): Paulus unter den Philo­ sophen. Stuttgart 2013. Nina Rabuza studierte Philosophie und Politikwissenschaft in Halle/Saale und Berlin. In ihrer Masterarbeit mit dem Titel Dialektik, Tod und Utopie befasste sie sich mit Theodor W. Adornos Kritik an Martin Heideggers Funda­ 212 Autor_innen- & Herausgeberinnenverzeichnis mentalonotologie. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen Kritische Theorie, Erkenntnistheorie und Sozialphiloso­ phien des 19. und 20. Jahrhunderts. Ruth Eva Seidlmayer hat Philosophie und Alte Geschichte in Hannover, Paris und Frankfurt am Main studiert. Seit 2012 promoviert sie als Stipendiatin der Rosa-LuxemburgStiftung in Frankfurt an der Schnittstelle von antiker Philo­ sophie und Sozialphilosophie über konkurrierende und korrespondierende epistemische Modelle und Handlungs­ theorien. 2013 erfolgte ein Forschungsaufenthalt an der AUC in Kairo. Der (Arbeits-)Titel ihrer Dissertation ist: Wirklichkeit und Möglichkeit. Als unterschiedliche Zugänge zur Welt. Ihr systematisches Projekt zielt darauf, über die Erarbeitung unterschiedlicher Zugänge zur Welt und die Verknüpfung von antiker und zeitgenössischer Theorie, Handlungsspielräume im Alltag zu eröffnen. Thorsten Streubel, geb. 1975, war zunächst Lehrbeauf­ tragter und wiss. Mitarbeiter an der Universität Würzburg und danach Lektor und wiss. Mitarbeiter an der FU Berlin. Zuletzt bekleidete er im WiSe 2013/14 eine Gastprofessur an der FU Berlin. Promoviert wurde er 2005 an der Univer­ sität Würzburg. (Titel der Dissertation: Das Wesen der Zeit. Zeit und Bewusstsein bei Augustinus, Kant und Husserl.) Die Habilitation erfolgte 2013. (Titel der Habilitations­ schrift: Kritik der philosophischen Vernunft. Die Frage nach dem Menschen und die Methode der Philosophie.) 213 Autor_innen- & Herausgeberinnenverzeichnis Zudem liegen zahlreiche Aufsätze zur Leib-Körper-Proble­ matik, zum Verhältnis von Bewusstsein, Körper und Welt sowie zur Wahrheitsfrage, aber auch zur Ethik vor. Z. B.: „Der Leib. Ein merkwürdiges ,Ding‘. Zum Leib als Werk­ zeug und Vorstellung“, in: Philosophisches Jahrbuch 1, 2014; „Wahrheit als methodisches Problem der phänome­ nologischen Deskription“, in: Husserl Studies (2), 2011; „Anschauung als Fundament, Gegenstand und Rechtsquelle der Phänomenologie“, in: Phänomenologische For­ schungen, 2008. Nikolaos Tzanakis-Papadakis studierte Politikwissen­ schaft und Geschichte an der Panteion Universität Athen und zurzeit Philosophie auf Master an der Freien Univer­ sität Berlin. Er schreibt seine Abschlussarbeit über Marx' Geschichtsdenken. Seit 2012 ist er Stipendiat der Rosa Luxemburg Stiftung und leitete 2013 die Tagung „Span­ nungsverhältnis Subjekt?“ wissenschaftlich mit . Christine Witt, geboren 1983 in Frankfurt/Oder, studierte zunächst Pharmazie und später, von 2006 bis 2009 Kultur und Technik in Berlin und schrieb ihre Bachelorarbeit zum Thema Differenzierungen der Freiheit. Die Herausforde­ rung der modernen Hirnforschung unter dem Gesichts­ punkt des Naturalismus A. Schopenhauers. Von 2009 bis 2012 studierte sie Philosophie des Wissens und der Wissen­ schaften an der TU Berlin und beendetet dies mit der Masterarbeit Der Schwindel der Angst. Das Erbe S. Kierke­ 214 Autor_innen- & Herausgeberinnenverzeichnis gaards im Selbstverständnis der modernen Freiheit. Derzeit promoviert sie an der TU Berlin im Fachbereich Philoso­ phie. Schwerpunkt: Sören Kierkegaards Analysen der Angst und Verzweiflung im Bezug zur Gegenwart. 215 Universitätsverlag der TU Berlin Susann Köppl, Johanna Lang, Karen Koch (Hrsg.) SPANNUNGSVERHÄLTNIS SUBJEKT? Tagung des Internationalen interdisziplinären Arbeitskreises für philosophische Reflexion (IiAphR) 06. bis 08. Juni 2013 an der Technischen Universität Berlin ISBN 978-3-7983-2702-3 (Druckversion) ISBN 978-3-7983-2703-0 (Onlineversion) ISBN 978-3-7983-2702-3 www.univerlag.tu-berlin.de Umschlag für Gesamtauflage_einzeilig m Zusatztitel oben.indd 1 Susann Köppl * Johanna Lang * Karen Koch Das Subjekt ist einer der zentralsten Begriffe in der Philosophie und den Geisteswissenschaften überhaupt, gleichzeitig jedoch auch einer, der besonders schwierig zu fassen ist. Nicht nur lassen sich philosophiehistorisch stark variierende Bedeutungen dieses Begriffes ausmachen, darüber hinaus stellt es eine besondere Herausforderung dar, das Subjekt ins Verhältnis zu anderen zentralen Begriffen der Philosophie zu setzen, wie etwa Person, Selbst, Ich, Substanz, Gehirn und Individuum. Die weit verbreitete Unklarheit über diesen Begriff und seine doch nicht zu leugnende Relevanz gaben uns Anlass zu diesem Projekt – die ihm inne liegenden Spannungsverhältnisse den Ausgangspunkt. Spannungsverhältnis Subjekt? Spannungsverhältnis Subjekt? Universitätsverlag der TU Berlin 30.10.2014 10:56:15