Was kommt nach dem Abschluss der christlichen - RPI

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Paul Schwarzenau
Was kommt nach dem Abschluss der christlichen Theologie?1
Theologische Entwürfe
Die christliche Theologie hat in diesem Jahrhundert große, aber auch abschließende Entwürfe
hervorgebracht, von denen die Werke von Barth, Tillich, Bultmann und Rahner die namhaftesten sind.
Einen Hintergrund der Tiefe erfuhr solches Denken aus der Begegnung mit der Existenzphilosophie
und ihren Vätern Kierkegaard und Nietzsche. Wie nun die Existenz in ihrem Wesen ihrer Auslegung in
der Kultur voraus ist, so wird Offenbarung erlebt als Ursprung und Kritik jeder Form von "gegebener"
Christlichkeit und Kirchlichkeit. Trotz dieser Überlieferungskritik bleibt aber der Horizont von
Offenbarung im Rahmen der christlichen Religion. Offenbarung ist für die genannten Denker letztlich
Offenbarung Gottes in Jesus Christus, der gegenüber jeder Offenbarung in anderen Religionen der
Charakter der Letztgültigkeit abgesprochen wird.
Die Theologie hat die damit gestellten Fragen in einer Fülle von Entwürfen beantwortet und ihren
"Gegenstand" erschöpft. Sie hat, wie U. Mann einmal scherzhaft sagte, "ihre Hausaufgaben gemacht".
Man wird daher den Eindruck des Epigonalen in dem nachfolgenden theologischen Denken nicht los,
dem es schwerfällt, sich von den festgeschriebenen Denkgewohnheiten "moderner" Theologie zu
lösen. Kennzeichen der Erschöpfung sind das Ausweichen von der durchdringenden Gedankenarbeit
in die Bereiche des Ethischen, Therapeutischen, Politischen, Ökumenischen und Missionarischen.
Grenzüberschreitungen und Zusammenschau
Die genannten großen Theologen haben aus prinzipieller Gebundenheit den Umkreis der eigenen
christlichen Religion kaum überschritten. Ansätze dazu aus den eigenen Systembedingungen gibt es
bei allen, doch scheuten sie eine extensive Berührung mit den außerchristlichen Religionen. Von der
Schiefheit vieler Urteile im einzelnen einmal abgesehen. Wir dürfen darin einen, wenn auch
widerwilligen Hinweis sehen, dass die Grenzüberschreitung gewagt werden muss, wenn wir die in der
modernen Theologie aufgebrochenen Denkbewegungen wirklich fortsetzen wollen. Im Anschluss an
U. Mann wird man sagen müssen, dass nach dem Abschluss der christlichen Theologie in unserem
Jahrhundert ein synoptisches Denken gefordert ist, das zur Offenbarung als Selbstmitteilung der
Wirklichkeitstiefe durch eine Synopse oder Zusammenschau der Religionen vordringt. An die Stelle
eines bisher geübten Exklusivitätsdenkens wird dann ein Inklusivitätsdenken treten, an die Stelle einer
nur christlichen Theologie eine Theologie der Religionen.
Synopse heißt Zusammenschau. Aber Zusammenschauen ist nicht einfach Identifizieren. Es geht
nicht darum, Jesus oder Buddha als historische Gestalten einfach hin gleichzusetzen. Oder Reich
Gottes und Nirwana. Identifikation löscht das Besondere aus und macht eine eigentliche
Zusammenschau überflüssig.
Zusammenschau könnte stattdessen bedeuten, dass man ein und dieselbe Wirklichkeit von
verschiedenen Blickpunkten aus betrachtet. So zeigt sich eine Landschaft oder eine Stadt
verschieden, wenn man sie von Süden oder von Norden aus betrachtet. U. Schoen zieht in seinem
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Buch "Das Ereignis und die Antworten" zur Verdeutlichung die Vasarélyschen Bilder zu Rate, in
denen mehrere Perspektiven nach dem Prinzip der optischen Täuschung ineinanderliegen, obgleich
man mit einem Blick nur je eine Perspektive wahrnehmen kann. Aber diese Vergleiche haben auch
ihre Grenze. Sie setzen voraus, dass man ungeachtet aller Perspektivik unmittelbar Identisches
wahrnehmen kann. Eine synoptische Betrachtung ist in sich komplexer. So kommt Jesus nicht nur im
Evangelium, sondern auch im Koran vor; dort aber ganz als Muslim stilisiert. Man darf also, wenn man
die ganze Sphäre dessen wiederfinden will, die mit der Aussage Jesus-Christus-Logos im Christentum
bezeichnet ist, nicht nur auf die koranischen Aussagen über Jesus im Islam schauen. Wenn sich der
ewige Logos im Islam in der Offenbarung des Korans manifestiert, dann tut er dies in dem
Gottmenschen Jesus Christus im Christentum. Hier stehen eine impersonale und eine personale
Selbstaussage der Gottheit nebeneinander, die sich nicht ausschließen müssen, wenn sie das Eine
ewige Wort in Gott meinen. Wenn man beide Aussagen, die zunächst paradoxal nebeneinandertreten,
zusammenschaut, stellt sich vielmehr die Frage, ob sie sich nicht zu einer noch ausstehenden
Vollständigkeit ergänzen könnten.
Wie kann aber nun eine Überschreitung zu den anderen Religionen überhaupt geschehen? Ulrich
Schoen weist in seinem bereits erwähnten Buch auf Karl Barth hin. Barth unterscheidet in Band IV/3
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seiner Dogmatik zwischen dem primären Immanuel und dem sekundären Immanuel. Immanuel heißt
auf hebräisch "Gott mit uns" und ist ein Titel für den Messias. Barth ist der Meinung, dass dieser
Immanuel von Anfang an schon in Gott existent gewesen sein muss; denn sonst würde Gott oder der
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Urgrund des Seins nicht aus sich herausgehen und sich seiner Welt mitteilen, also eine Mitteilung
schaffen, in der er sich offenbart. Dieser sogenannte primäre Immanuel ist gleichsam der Wille Gottes,
sein Entschlossensein, sich zu öffnen. Dieses wesentliche Entschlossensein Gottes erscheint in der
christlichen Theologie als präexistenter Christus.
Über die Personalität hinaus – der Buddhismus
Als Barth diese Ansicht vertrat, wurde er von buddhistischer Seite darauf aufmerksam gemacht, dass
es eine Entsprechung auch im Buddhismus gebe. Ehe ich darauf eingehe, möchte ich zunächst noch
etwas anderes deutlich machen: dieser präexistente Christus wird in der traditionellen christlichen
Theologie als der Logos bezeichnet, als der sich selbst erschlossene Grund des Seins. Er hat in
dieser Bestimmung eine gründende Beziehung zum Kosmos, zur Kirche als der Geistgemeinschaft
der Menschen (ich spreche hier nicht von der Institution der Kirche, sondern von der Anlage der
Menschen, aus dem Nebeneinander in eine Geisterschlossenheit zur Einheit herauszutreten und darin
den vollständigen Daseinssinn zu entbergen) und zum Wesenskern des Menschen, zu seinem Selbst.
Der sekundäre Immanuel, der historische Jesus von Nazareth, ist gewissermaßen nur eine Antwort,
eine historische Antwort, auf dieses im Grunde der Welt liegende Ereignis der Selbsterschließung
Gottes, der Erschlossenheit des Seinsgrundes.
Eine weitere Eigentümlichkeit des Buches von Ulrich Schoen besteht darin, dass er eigentlich nicht
von "Gott" spricht, sondern das Wort "Gott" vermeidet, indem er bewusst impersonell formuliert.
Schoen spricht vom "Grund der Wirklichkeit", oder er spricht vom "Ur-Sein". Das Ur-Sein erschließt
sich zu sich selber hin, worin auch die Wurzel der Personalität liegt. Entsprechungen zu dieser Weise
sich auszudrücken, sind Aussagen wie die von Tillich "das Sein selbst" oder Karl Barths Rede von
Gott als dem "Ganz Anderen". Meister Eckhart spricht von der Gottheit als dem Einen oder auch dem
Leeren mit Ähnlichkeit zu buddhistischen Vorstellungen. Plotin nennt die Ur-Wirklichkeit das Eine. Die
Buddhisten sprechen vom Nirwana. Wenn man die Beschreibungen von Nirwana genau liest, sind sie
Beschreibungen von dem, was Meister Eckhart "die Gottheit" nennt. Entsprechendes gilt von der
shunyata oder der Leere. Der Hinduismus spricht von brahman.
Barth ist, wie bereits gesagt, von buddhistischer Seite darauf aufmerksam gemacht worden, dass es
im Buddhismus eine Entsprechung zu dem gibt, was er den präexistenten Christus nennt. Diese
buddhistische Entsprechung sieht wie folgt aus: Aus dem Ur-Sein, der Shunyata, der Leere, die in sich
die potentielle Fülle, die Möglichkeitsfülle von allem enthält, erhebt sich in einem Selbstergreifungsakt
des Seins der Ur-Buddha oder Adi-Buddha, und dieser Ur-Buddha oder Adi-Buddha meditiert in sich
die Tiefe des Seins, so dass die Ur-Wesenheiten, Urgedanken, Urbilder und Urwirklichkeiten
gleichsam so aus ihm emporsteigen, dass sich darin der ideale Gehalt des künftigen Kosmos entfaltet.
Der Ur-Buddha ist zugleich aber auch der Wesenskern des Menschen, das heißt, jeder Mensch ist
offen zu diesem Ur-Buddha hin, er trägt den Ur-Buddha in sich als den diamantenen Kern seiner
Existenz. Der irdische Buddha - und das wäre jetzt die Entsprechung zum irdischen Jesus -, der
Siddhartha Gautama oder Shakyamuni, ist nur die äußere Verkleidung, hinter der sich der Ur-Buddha
hält. Der irdische Buddha öffnet sich meditierend zu dem Ur-Buddha und realisiert ihn so in
geschichtlicher Gestalt. Der gesamte kosmologische und soteriologische Prozess tritt im Buddhismus
also dadurch in die Wirklichkeit, dass sich der Ur-Grund und Adi-Buddha ausspricht und dadurch
zugleich das Welt- und Menschsein ausspricht in seinem Grund. Man könnte also sagen, im AdiBuddha ist der Ursprung und das Ziel der gesamten Wirklichkeit zur Stelle. Diese Aussage ließe sich
ohne weiteres auf den ewigen Christus als Ausdruck des ewigen Logos übertragen. Der Adi-Buddha
ist in gewisser Weise der ideelle Mensch bzw. Gott als der ideelle Mensch.
Der Buddhismus nimmt darin eine Vorstellung, die sehr im Zentrum der indischen Religion, des
Hinduismus, steht, auf. In Rigveda X, Hymnus 90 ist von dem Purusha die Rede. Purusha bedeutet
der Mensch, und zwar der Mensch als der Urname Gottes. Dieser stellt ein gleichsam riesiges
Urwesen dar, das dadurch, dass es aus sich herausging, sich zerteilte (wir würden sagen:
analysierte), ein Viertel seiner Existenz opfert, die Welt hervorbringt und gleichzeitig die Gliederung in
eine irdische und eine transzendente Sphäre. Der Purusha könnte heißen: der präexistente Immanuel.
Gleichzeitig aber ist Purusha die Bezeichnung für das Selbst, das jeder Mensch als inwendigen
Menschen in sich trägt.
Logos-Lehre und Gotteswort im Koran: Vom Samen zur Realisierung
Die Entsprechung dazu finden wir in der philosophischen und in der christlichen Logos-Idee. Gott oder
das Eine, das Ur-Sein, die Ur-Wirklichkeit ist kein toter, sich selbst nicht wissender Grund, sondern ein
solcher, der sich selbst gewahrt, sich selbst erfährt, sich selbst ergreift. Diese Selbstergreifung des
Einen ist der Logos oder in anderen Formulierungen der Nous. Ich lasse das Wort Nous bewusst
unübersetzt. Übersetzungen wie Vernunft oder Verstand bringen einfach nicht zum Ausdruck, dass es
sich dabei um die Gewahrung des eigenen Seins handelt. Gott ist gewissermaßen sein eigener Ur-
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Gedanke, und in diesem Ur-Gedanken liegen zugleich alle Gedanken, die Urbilder oder Ideen, aus
denen die Welt hervorgeht, die geistige Welt. Die Parallele zum Buddhismus oder auch zur PurushaVorstellung der Inder ist unverkennbar.
Dieser Urgedanke Gottes wird zugleich personifiziert vorgestellt als Zeus in der griechischen Religion,
etwa so bei Plotin, als himmlischer Hoherpriester im Judentum bei Philo, als himmlischer Christus
oder Sohn Gottes im Christentum. Dieser personifizierte himmlische Christus darf mit dem
historischen Jesus nicht ohne weiteres in eins gesetzt werden. Der historische Jesus ist derjenige
Mensch, der sich für den himmlischen Christus oder Logos öffnet und sich ihm opfert. Tillich hat es
einmal so ausgedrückt, dass das Verhältnis zwischen Christus und Jesus so bestand, dass Jesus sich
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ständig dem Christus opferte , damit in ihm Christus, der Logos der Welt, ständig zugegen sei. Die
alte Kirche hat aber darauf hingewiesen, dass eine solche Beziehung des ewigen Logos oder
himmlischen Geistes nicht nur in Jesus da war, sondern auch als samenhaft geteilter Logos in
Gestalten wie Herakles, Buddha, Sokrates und so weiter.
Es ist in diesem Zusammenhang interessant, einen Blick auf den Koran zu werfen. Nach der Lehre
des Korans und des Islams beziehen sich die heiligen Schriften der Offenbarungsreligionen auf einen
Ur-Koran, wörtlich: "Die Mutter des Buches". "Der Koran als das Wort Gottes", so Rudi Paret, "ist für
den islamischen Theologen al-Baqillani (+ 1013) allerdings von Ewigkeit her existent und somit nicht
geschaffen. Aber diese Feststellung gilt nur für den Koran als das eigentliche Wort Gottes - wenn man
so sagen will: für den Ur-Koran -, während die den Menschen vorliegende schriftliche oder mündliche
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Wiedergabe des Korans zeitgebunden und der Sphäre des Irdischen zuzurechnen ist." Es kommt
also zu einer Unterscheidung zwischen dem Koran und dem Wort Gottes (kalam Allah). Koran wäre in
diesem Fall der arabische Koran, das Wort Gottes der Ur-Koran. Vom Wort Gottes oder Ur-Koran sagt
al-Baqillani:
"Dem ewigen Wort Gottes kommen nicht Buchstaben und Laute zu, noch sonstige Prädikate der
Kreatur, Gott bedarf bei seinem Wort keiner (Sprach-Organe noch Werkzeuge. In seiner Heiligkeit ist
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er über dies alles erhaben und sein ewiges Wort nimmt nicht Platz in etwas Kreatürlichem."
Logos – Buddha – Atman – Purusha
Als Vermittler aus dem Ewigen in das Zeitliche dient Gabriel. Zur Vermittlung gehört auch die
Sprachform des Arabischen. Denn Gott spricht weder Arabisch noch irgendeine menschliche
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Sprache. "Das eigentliche Wort (Gottes) ist der Sinngehalt, der sich im (göttlichen) Selbst befindet."
Wir haben also hier wieder eine genaue Beschreibung des Logos, des Adi-Buddha, des ewigen
Christus, des Purusha, nämlich die Selbsterschließung Gottes und die Zuwendung zur Welt. Gott läßt
die "Urschrift", das ewige Wort, in der jeweiligen Sprache eines Volkes übermitteln, den Arabern in
Arabisch, den Hebräern in Hebräisch, das heißt, alle offenbarten Schriften, insbesondere die Thora
der Juden, das Evangelium der Christen und der Koran der Moslems gehen auf das ewige Wort
Gottes, den Ur-Koran, zurück. Der ewige Ur-Koran, das eigentliche Wort Gottes, ist den Menschen
nach al-Baqillani nur mittelbar zugänglich und verständlich, nämlich in einer durch die jeweilige
Umwelt bedingten sprachlichen Verkleidung. Dann stehen auf der irdischen Ebene der historische
Buddha, der historische Jesus, der arabische Koran, der Veda als Schrift nebeneinander. Der UrKoran entspricht hingegen dem ewigen Logos, dem ungeschaffenen Wort Gottes, das mit Gott
gleichzeitig ist, dem himmlischen Christus oder primären Immanuel.
Es wurde schon darauf hingewiesen, dass in den Religionen eine Beziehung besteht zwischen dem
primären Immanuel und dem eigentlichen Wesenskern des Menschen. Dieser Wesenskern trägt in
der indischen Überlieferung die Bezeichnung Selbst oder Atman. Dieser Begriff Selbst ist streng vom
Ich zu unterscheiden. Er meint nicht so sehr eine menschliche Immanenz, als besitze der Mensch das
Göttliche, das im Selbst in ihm ist, sondern es meint das Hineinragen der Transzendenz in die
Immanenz. Es meint daher letztlich auch nicht ein Eingesperrtsein des Göttlichen in der menschlichen
Innerlichkeit, sondern das Vorstoßen des Göttlichen oder des Seinskerns in die Innerlichkeit des
Menschen. Das Selbst ist, wenn ich so sagen darf, nicht in man, sondern into man.
Die menschliche Innerlichkeit ist zum Selbst hin offen oder wird vom Selbst zum Göttlichen hin
geöffnet. Es handelt sich um ein transpersonales und transsubjektives Phänomen. Der vedische
Purusha-Hymnus bringt das in sehr schöner Form zum Ausdruck: Sahasra-shirsha purushah:
"Tausendköpfig ist der Purusha". Die Zahl Tausend will die Unendlichkeit besagen. Das heißt, in
diesen Selbstkeimen ist gleichsam eins von den unendlich vielen Häuptern des Seinsgrundes in uns
selbst, wirkt in uns hinein und öffnet uns zur Tiefe unserer Psyche. Das Selbst ist der geheime
Mittelpunkt, über den eine Wirkung des Transpersonalen zum Ich hin vorstößt.
Das Selbst ist der Logos als das Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in die Welt kommt
(Johannesevangelium 1,9), und zwar vor Christus, zur Zeit Christi, neben Christus und nach Christus.
Es ist das innere Licht, der innere Christus in diesem Sinne. Es ist der Purusha, wie wir auch sagen
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können, es ist der Adi-Buddha als der innere Buddha oder Kristallkern unseres Wesens, oder es ist
das Mohammed-Licht, das als Inspirationslicht (nur muhammadiya) die Propheten erleuchtete. Es ist
der Nous von Römerbrief 7,22f., der mit dem inwendigen Menschen, dem eso anthropos, identisch ist.
Wägt man die strukturellen Entsprechungen, die wir an buddhistischen, hinduistischen, christlichen,
islamischen und platonischen Beispielen aufgezeigt haben, ab, dann hat man den Eindruck, es in den
verschiedenen Religionen im Grunde genommen nur mit Einer Religion zu tun zu haben, die je nach
dem Kulturraum, dem Volkstum, der geschichtlichen Zeit und der Gesellschaftsform unterschiedlich
gewandet ist. Alle Religionen wären dann Lichter aus dem ewigen Licht.
Religion in den Religionen
Diese Einsicht verdient einen Hinblick auf den Koran. Sure 5 enthält die letzte, dem Propheten
Mohammed mitgeteilte Offenbarung. "Heute habe ich euch eure Religion vollendet", heißt es V. 5.
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Man hat sie daher das Testament des Korans genannt. Diese Sure bringt dann in den Versen 52 und
53 den Gotteswillen zum Ausdruck: "Einem jeden von euch haben wir eine klare Satzung gegeben
und einen deutlichen Weg vorgeschrieben. Und hätte Gott es gewollt, er hätte euch alle zu einer
einzigen Gemeinde gemacht. Doch er wünscht euch auf die Probe zu stellen durch das, was er euch
gegeben. Wetteifert daher miteinander in guten Werken." Der Koran vertritt einen
religionsökumenischen Standpunkt; Gott will nicht Eine Religion, er will viele; aber in den vielen
verkündet er die Eine. Der Übersetzer des Korans Sadr-ud-din sagt in diesem Sinne zur Stelle: "Die
Menschheit teilte sich in verschiedene Gruppen und Gemeinschaften. Ihre Umstände, ihre
Notwendigkeiten und der Stand ihrer Geistesverfassung waren verschieden. Alle riefen sie nach
Gesetzen, die ihren Lebensbedingungen entsprachen und je nach der Stufe ihres geistigen
Fortschritts eingerichtet waren. So entstanden die verschiedenen Religionsgesetze. Aber wirkliche
Religion bleibt immer dieselbe. Ihre Wurzel ist das Gefühl der Abhängigkeit von Gott, in dessen Willen
man sich gern und ganz schickt, und die Liebe zur Menschheit, der man das Möglichste an guten
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Diensten leisten will, und für die man, da sie ein Werk Gottes ist, tiefinnerste Neigung hegt." Dabei
unterscheidet Sadr-ud-din zwischen Frömmigkeit und Kirchlichkeit, zwischen Religion und Orthodoxie.
Die strukturelle Entsprechung weist, um den Ausdruck von Ulrich Mann zu gebrauchen, auf die
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"Religion in den Religionen" hin. Das wirft aber sogleich eine neue Frage auf. Wie ist eine wirkliche
Wechselwirkung zwischen den Religionen möglich, wenn alle im tiefsten Grunde nur das Gleiche
verkündigen? Lohnt es sich dann überhaupt, sich mit einer anderen Religion zu beschäftigen, wenn
ich ja schon in der eigenen alles vorfinde? Man wird zunächst dazu sagen müssen: In den
verschiedenen Religionen sind die Aspekte unterschiedlich akzentuiert. Ulrich Schoen weist, wie
schon erwähnt, auf die Bilder von Vasarély hin. In diesen Bildern liegen mehrere Perspektiven
ineinander, obgleich man mit einem Blick nur je eine Perspektive wahrnehmen kann. Dieser Vergleich
hilft uns natürlich auf dem Wege nicht weiter, wie eine wirkliche Wechselwirkung zwischen den
Religionen entstehen kann. Ulrich Schoen meint: "Die Religionen müssen sich wechselseitig einander
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aussetzen."
Carl Gustav Jung und die Archetypik: Amplifikationen
Ich möchte an dieser Stelle auf eine Erkenntnis der Tiefenpsychologie C.G. Jungs zurückgreifen.
Jeder Traum, sagt C.G. Jung, stellt eine Offenbarung aus dem Unbewussten dar, insbesondere der
große, der archetypische oder urbildliche Traum. In diesem manifestiert sich das Selbst und verhält
sich darin komplementär zur bewussten Einstellung des Träumers. Der Traum enthält also eine
wichtige Botschaft des Selbst an das Ich. Will ich diese Botschaft in ihrem Umfang und in ihrer Tiefe
einigermaßen erfassen, dann muss ich ihre Bildelemente mit analogen Vorstellungen aus dem
Mythos, dem Märchen, der Kunst, der Folklore und ähnlichem anreichern oder, wie Jung es nennt,
amplifizieren. Träume ich also von einem Schloss auf einem Berge, dann wäre es zu amplifizieren mit
dem Grals-Schloss, dem himmlischen Jerusalem oder der Stadt auf dem Berge von Matthäus 5,14.
Das Schloss oder die Burg auf dem Berge ist, wie ich wenigstens hinzufügen will, ein Bild für das
Selbst, das dem Menschen einen Aufstieg zu einer Bewusstseinserweiterung und einer
umfassenderen Ganzheit zumutet. Selbstverwirklichung ist Verwirklichung des Selbst, nicht IchInflation.
Diese tiefenpsychologische Einsicht bedeutet, auf die Religion angewandt: Jede Religion kann oder
muss mit jeder amplifiziert werden. Dabei ist die folgende Erkenntnis von leitender Bedeutung: Der
Adi-Buddha, der Purusha, der ewige Christus, das Wort Gottes als tiefenpsychisch erfahrenes
Inspirationswort sind Archetypen des Geistes oder Sinns im Umkreis des Archetyps des Selbst. Wo
diese Bilder oder Symbole zu wirken beginnen, wird der Mensch auf den Weg der
Selbstverwirklichung gestellt. Er bekommt aus der seelischen Tiefe die dahingehenden Impulse. Ich
möchte das im folgenden an drei Beispielen wenigstens andeuten und in einem vierten ausführlicher
erläutern.
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Der Adi-Buddha ist in der buddhistischen Lehre und Kunst von vier Dhyani- oder Meditationsbuddhas
im Sinne der vier Himmelsrichtungen umgeben. Sie werden zugleich in einen hegenden Kreis, ein
Mandala, eingefügt. Ein so gestaltetes Mandala dient der Meditation und bildet einen Ausdruck der
Ganzheit. Wir können von dort aus einen Hinweis auf die Christusdarstellungen gewinnen, die ihn in
die Mitte der vier Evangelistensymbole versetzen, die in dreien als Tiere (Löwe, Stier, Adler), im
vierten als Mensch dargestellt sind und auf den Gotteswagen der Ezechielvision zurückweisen. Auch
dies ist ein Ausdruck der Ganzheit, ein umfassendes Symbol.
Hier zeigt sich aber schon die Meditationsschwäche des traditionellen Christentums. Sehe ich den
ewigen Christus in einem symbolischen Zusammenhang mit dem Adi-Buddha, dann drängt eine
solche Amplifikation in die Richtung der Meditation. Es entsteht dann die Frage nach einem
christlichen Yoga, der sich ohne die Hilfe der östlichen Religionen nicht entwickeln kann. Jedenfalls
lernen heute einige Franziskaner unbefangen bei buddhistischen Lehrern Zen-Meditation. Ich habe
mich immer über die Teilnahmslosigkeit gewundert, mit der christliche Theologen an der
Anthroposophie Rudolf Steiners vorübergehen; denn hier haben wir einen christlichen Yoga als
Ausdruck eines esoterischen Christentums.
Amplifizieren wir, drittens, die Purusha-Vorstellung mit der des Christus, dann tritt in kosmischer
Umfassung das Symbol "Christus das Alles in Allem" in den Blick. Der Blick wird dann frei für den
Gottes- oder Christuskern in allem, den zu erkennen, die eigentliche Liturgie des Daseins ausmacht.
Alles leuchtet auf aus seinem Kern, darin zugleich das zentrale Symbol der Religion aufglänzt. In den
Zusammenhang dieser Amplifikation gehört das Forschungswerk von Teilhard de Chardin, das in
einer kosmischen Liturgie aufgipfelt.
Insbesondere aber möchte ich noch eingehen auf das Phänomen der Gegensatzvereinigung.
Buddhistische Mandalas stellen zuweilen die Dhyanibuddhas in sexueller Vereinigung mit ihren
weiblich verstandenen Bodhisattvas dar. Diese Vorstellung ist tantrisch vermittelt. Der Kosmos beruht
auf der sexuellen Vereinigung der Göttin Kali mit Mahakala, beziehungsweise der von Shiva und
Shakti. Dabei muss man bedenken, dass das Wort Shakti soviel wie Energie bedeutet. Die männliche
Potenz erfährt ihre Gestaltungsmöglichkeit, das eigentlich Schöpferische, aus dem Zuströmen der
weiblichen Seinsenergie. Will man diesen Zusammenhang weiter amplifizieren, muss man nach China
zum I Ging und zum Judentum der Kabbala gehen, wie hier wenigstens angedeutet sein soll. Ansätze
für ein christliches Tantra finden wir im Hohenlied, in der Kabbala und im Chassidismus, in der
Brautmystik des Mittelalters und gewissen Elementen der spirituellen Schäferspiele im Herrnhutertum.
Es muss zu denken geben, dass Marc Chagall die Hälfte seiner Bilder zur Bibel ausschließlich
Szenen aus dem Hohenlied gewidmet hat, als wollte er damit sagen, dass diese ebenso sinnenhafte
wie religiöse Erotik den eigentlichen Gehalt der biblischen Religion ausmache. Die erotische
Meditation ist heute dringend gefordert und sollte nach Offenbarung 19,7 die Erfüllung des christlichen
Heilsmysteriums bringen: die Hochzeit des Lammes ist gekommen, und seine Frau hat sich bereitet.
Die weibliche Seite des Göttlichen: Vielfalt Gottes
Nach der Tiefenpsychologie von C.G. Jung gilt die Vereinigung des Männlichen und des Weiblichen
als Ausdruck der Selbstverwirklichung. Der mann-weibliche oder androgyne Mensch fordert aber eine
Repräsentation im Gottesbild, das bisher ausschließlich den männlichen Menschen vertritt. C.G. Jung
sieht daher in dem 1950 von Papst Pius XII. im heiligen Geist ex cathedra verkündeten Dogma von
der Assumptio oder leibhaften Aufnahme Mariens in den Himmel eine Entscheidung, die in diese
Richtung geht. Mit nicht zu überhörender Eindringlichkeit wendet sich Jung daher an den
Protestantismus, wenn er in "Antwort auf Hiob" schreibt: "Die Konsequenz der päpstlichen Deklaration
ist nicht zu überbieten und überlässt den protestantischen Standpunkt dem Odium einer bloßen
Männerreligion, die keine metaphysische Repräsentation der Frau kennt; ähnlich dem Mithraismus,
welchem dieses Präjudiz sehr zum Nachteil gereicht hat. Der Protestantismus hat offenbar die
Zeichen der Zeit, die auf die Gleichberechtigung der Frau hinweisen, nicht genügend beachtet." Jung
sagt dann weiter: "Wie man die Person Christi nicht durch eine Organisation ersetzen kann, so auch
nicht die Braut durch die Kirche. Das Weibliche verlangt eine ebenso personhafte Vertretung wie das
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Männliche."
Es bildet daher einen in die Zukunft weisenden Höhepunkt der neutestamentlichen Offenbarung, wenn
in der Johannes-Apokalypse Kapitel 12 der zweite Erlöser von der Frau des Lammes, der Sonnenfrau,
geboren wird, der ganz im Zeichen der Ganzheitskonstellation einer Gegensatzvereinigung steht:
"Und es erschien ein großes Zeichen im Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet, und der Mond
unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen. Und sie war schwanger und
schrie in Kindesnöten und hatte große Qual zur Geburt. Und sie gebar einen Sohn, und ihr Kind ward
entrückt zu Gott und seinem Thron." Es ist ein Symbol von Tag (Sonne) und Nacht (Mond), von
bewusstem und unbewusstem Sein, von Männlichem (Sonne) und Weiblichem (Mond). Ein neues
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Gottesbild und, darin enthalten, ein neues Menschenbild ist in diese Schau von Offenbarung 12
hineingestellt.
Das Unbewusste des modernen Menschen scheint in besonderem Maße vom Geheimnis der
Gegensatzvereinigung und der Erweiterung des traditionellen Gottesbildes erregt zu sein. Die
christliche Religion bedarf offenbar, worauf manches im Neuen Testament hinweist, einer
Nachoffenbarung. C.G. Jung spricht von einer Erweiterung der rein männlich akzentuierten Trinität
durch Hineinnahme des Weiblichen zur Quaternität. Vierheit und Mandala, im Buddhismus, wie wir
sahen, ein geläufiges Bild der Ur-Wirklichkeit, zeigen sich nicht selten in modernen Träumen an. Auf
die Gegensatzvereinigung weisen moderne Träume, wie sie Helmuth Hark in seinem Buch "Der
Traum als Gottes vergessene Sprache" veröffentlicht hat.13 Insbesondere das Unbewusste moderner
Frauen ist von diesem Motiv der Ganzwerdung konstelliert und drängt auf Aufnahme ins Bewusstsein.
Unter Betonung ihres fraulichen Seins schreibt eine Träumerin: "Mir als Frau ist eine intuitive Schau
gegeben, und ich erlebe und erleide in meiner Person die Wandlung des Gottesbildes, wie es wohl
viele Menschen erleben."14 So sieht sie eine Gestalt, die sie zuerst als "den ewigen Menschen"
bezeichnet, dann aber als Zen-Priester erkennt. Sie begreift diesen Traum als Ergänzung Christi und
des christlichen Bildes vom Menschen. Sie spricht in diesem Zusammenhang von der "Rückseite
meines Christusbildes".15 "Die christliche Botschaft", so schreibt sie in ihr Tagebuch, "betont das
Wort, das Geistige, das Aktive. Dieser östliche Priester dagegen ist in seine Imaginationen versunken
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und ruht ganz in seinem Leibe. Er ist passiv und läßt die Dinge geschehen."
Das Symbol der „Großen Mutter“
Eine andere Frau sieht sich im Traum an das Ufer eines großen Stromes hinabgeführt. In feierlicher,
man möchte sagen, hieratischer Sprache schildert sie: "Und ich sah - und siehe, eine große Gestalt
stieg empor aus den Wassern, der Leib war der Leib einer Frau und das Haupt eines Mannes Haupt,
die Arme waren ausgebreitet wie der Querbalken eines Kreuzes. Um das Haupt kreisten die Gestirne,
die Arme umspannten nicht nur die Rosstrappe und den Hexentanzplatz, sie umfassten die ganze
Erde, ja das All." Hier taucht aus dem Strom des Lebens der Gekreuzigte als mannweibliches Wesen
empor. Ein Bote erscheint im Traum und erläutert ihr: "Das ist der ICH BIN. Der Leib ist die große
Mutter, die ausgebreiteten Arme sind der Vater, das Haupt ist der Sohn . . Gott ist der ICH und der
Heilige Geist ist der BIN!" Das auftauchende Bild vereinigt das uralte Symbol der großen Mutter mit
der männlichen Gottesvorstellung der christlichen Trinität, es zeigt den Ganzheitsaspekt des Kreuzes
und schließt durch den Hinweis auf Rosstrappe und Hexentanzplatz den Aspekt der Vitalität und des
Dämonischen mit ein. Ein neuer Mensch soll geboren werden, der das Getrennte wieder vereinigt.
Gott will sich darin neu verleiblichen. "Und da mich nun alle Kraft verließ, neigte (der Bote) sich zu mir
und rührte mich an und stärkte mich. Sein Gewand aber war wie das Silber des Mondlichts. Und da er
mich aufgerichtet hatte, fragte ich ihn: 'Und wer bist du?' - 'Dein Engel und dein Dämon', antwortete er
mir, 'da du liefest auf der Teufelsmauer, war ich die höhnische Stimme. Ihr törichten Menschen wisst
nur nicht, dass wir beides sind, Wasserquelle und Feuerflamme. Du aber musst nun eingehen in den
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Schoß der großen Mutter. Dort lernst du die rechte Anatomie, dort sind auch deine Kindlein.'"
Tiefe der eigenen Seele und Menschheitsseele
Die Phantasie und das Phantastische verbergen tiefere Wirklichkeitsschichten und verlangen eine
eigene Zugangsart des Erkennens. Beim Hinabsteigen in die Tiefe der Seele stoße ich auf eine
Schicht, die nicht mehr "meine" Seele, "meine" Psyche ist. Es ist die Kollektivseele, die ich dann
erreiche, die Menschheitsseele, die das enthält, was immer schon war, ist und sein wird. Es ist die
Welt der Archetypen oder Urbilder, in denen die Kräfte sich spiegeln, darstellen und gegebenenfalls in
mein Leben eingreifen, die die Religionen als höhere Wesenheiten - Engel, Götter, Dämonen kennzeichnen und beschreiben. Gegenüber der "subjektiven Psyche" stellen sie eine tiefere,
umfassendere "objektive Psyche" dar, die sich zur Weltseele weitet. Es gibt darüber hinaus Grund zu
der Annahme, dass diese Archetypen ursprüngliche Anordner darstellen, die nicht nur das psychische
Leben, sondern auch dessen materielle Spiegelung, das physische Sein, konstellieren, impulsieren
und anordnen. C.G. Jung und der Physiker Wolfgang Pauli haben diesen Zusammenhang bei
Erforschung der sogenannten Synchronizitätsphänomene wahrscheinlich gemacht. Darauf kann hier
nur hingedeutet werden. Die Welt des Archetypischen bildet den Wurzelboden des Wirklichen und
spricht sich in der Evolution aus, die in der Geschichte der Religionen weitergeht; denn in den
Religionen nimmt der Mensch seine Behausung in den Urbildern, die zugleich den Quellgrund für jede
sich entwickelnde Kultur bilden, selbst da, wo man sich von dieser Welt der Urbilder, der Welt des
Transpsychischen und Transphysischen zu emanzipieren sucht. Das Archetypische hat daher nicht
nur eine Innenstruktur und eine Tiefenstruktur; es ist zugleich das Innen und Außen Umgreifende.
Weil immer nur ein Teil der Wirklichkeit bewusst, der andere hingegen unbewusst ist, sind letztlich nur
paradoxale Aussagen wahr. Das Unbewusste verhält sich komplementär bzw. kompensatorisch zur
jeweils bewussten Einstellung. Man sollte sich darum nicht wundern, wenn Gott in den Religionen bald
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als Person, bald als reines Sein, bald transzendent, bald immanent vorgestellt wird. Dogmatische
Entscheidungen nach der einen oder der anderen Seite werden der vollen Wirklichkeit nicht gerecht.
Die Tiefenpsychologie C.G. Jungs stellt eine Brücke zu Erkenntnissen dar, die das normale
(eurozentrische) Bewusstsein übersteigen. Wesentliche Einsichten verdankt Jung für seinen Zugang
zur Tiefe der Seele der Begegnung mit der fernöstlichen Mystik und Yoga-Technik. Wenn er sich auch
dagegen aussprach, dass der abendländische Mensch die indischen Meditationswege einfach
übernimmt, ist es heute notwendig, sich mit den Grundlagen derselben vertraut zu machen.
Psychischer Leib – spiritueller Leib: Transzendenz und Kosmologie
Alle Erkenntnisse der westlichen Naturwissenschaft, auf die unser Bild vom Kosmos zurückgeht,
beruhen auf der Verarbeitung von Daten, die der Mensch seinen Sinnesorganen verdankt. Auch wenn
er die Wahrnehmungsfähigkeit derselben durch Vorschalten hochempfindlicher Instrumente (z.B.
Elektronenmikroskop) um ein Gewaltiges verstärkt, so bleibt er doch im Umkreis dieser Organe, wie er
durch informationsverarbeitende Maschinen nur sein normales Bewusstsein verstärkt. Die YogaErkenntnis
hingegen
entwickelt
durch
meditative
Übungen
neue,
übersinnliche
Wahrnehmungsorgane, mit deren Hilfe der Mensch befähigt wird, in eine hinter der physischen Welt
liegende geistige Welt hineinzuschauen. Diese übersinnlichen Wahrnehmungsorgane werden
Chakras oder Lotusblumen genannt.
Es ist auch dem Neuen Testament bekannt, dass der Mensch aus einem stofflichen, einem seelischen
(soma psychikon) und einem geistigen Leib (soma pneumatikon) besteht. Nach dem Apostel Paulus
hat nur der geistige Leib Anteil am ewigen Leben.18 Die indische Erkenntnis unterscheidet zwischen
einem physischen Leib (sthula-sharira), einem Ätherleib (linga-sharira), einem Astralleib (sukshmasharira) und einem Ich-Bereich (aham-kara). Der Mensch besteht also aus verschiedenen leiblichen
Hüllen, denen eine entsprechende physische, seelische und geistige Welt zugeordnet ist. Alles, was
der Inder über diese Hüllen und Welten aussagt, sind nicht Phantasien oder Spekulationen, sondern
Wahrnehmungen. Es handelt sich dabei auch nicht um Glaubensgegenstände, sondern um objektive
Wahrheit auf einer höheren Stufe. Sie zu ignorieren oder zu leugnen, macht das Defizit der westlichen
wissenschaftlichen Weltanschauung aus, an dem die christliche Theologie teilhat. So glaubt der
indisch Erleuchtete nicht an die Wiederverkörperung, sondern er nimmt sie wahr.
Die Lotusblumen sind Wahrnehmungsorgane des Astralleibes, die sich an der Grenze zum Ätherleib
befinden. Sie bilden Schwingungszentren der Lebensenergie.
Der Mensch stirbt nicht nur mit seinem physischen Leib, sondern bald darauf auch mit seinem
Ätherleib. Er tritt nach Verlassen desselben in die Astralwelt, den Ort der Begierden, ein und
durchleidet das, was traditionell Fegefeuer genannt wird. Eine "ewige" Hölle gibt es nicht. Der Mensch
ist in der Astralwelt gleichsam sich selbst ausgeliefert. Nach dem Tode des Astralleibes erreicht der
geistige Kern des Menschen, sein Selbst oder höheres Ich, die geistige Welt, die in der traditionellen
Sprache Himmel oder Paradies heißt. Er schaut in ihr die Ur-Gestalten der Schöpfung, die reinen
Ideen, und betritt von dort aus die übergeistige Sphäre des reinen Seins, die zugleich das Nichts oder
das Leere der Gottheit ist, daraus alles stammt.
Der Mensch trägt diese Bereiche in seinen leiblichen Hüllen und seinem Wesenskern bereits in sich,
sie werden ihm durch den Tod nur enthüllt. Wenn daher der Mensch in die Tiefe seines Seins
hineingeht, geht er damit zugleich in die Tiefe des Kosmos, ja der Gottheit hinein. Der Mensch ist
nach dem Bilde der Gottheit und nach dem Bilde des Kosmos geschaffen. Der Mensch ist der kleine
Gott der Welt und Mikrokosmos, der Kosmos ist der große Mensch oder Meganthropos.
Göttlicher Wesenskern des Menschen: Exoterik und Esoterik
Diese Erkenntnisse stehen stärker, als man es im allgemeinen wahrhaben will, im Hintergrund der
christlichen Religion. Es ist unzutreffend, dass das Christentum mit diesen Einsichten unvereinbar sei.
Das Neue Testament ist voller Hinweise. Sie werden meist mit dem Gnosisverdacht abgelehnt oder,
wenn es sich um Worte Jesu oder des Paulus handelt, umgedeutet. So enthalten die Reden Jesu
deutliche Hinweise auf das Selbst, den geistig-göttlichen Wesenskern des Menschen. So in den
Gleichnissen vom Samenkorn, das in den Acker, das heißt in uns, gesät worden ist als zu
entfaltendes Göttliches in uns. Nicht die synoptischen Evangelien, sondern das gnostische
Thomasevangelium gibt den ursprünglichen Sinn der Gleichnisse wieder. Das Markusevangelium
macht ja schon durch die Zwischenschaltung einer Geheimnistheorie, die auf eine Beziehung der
Gleichnisse zum Golgathaopfer verweisen soll, deutlich, dass es den ursprünglichen Sinn nicht mehr
versteht, deutet aber noch einen Unterschied zwischen exoterischem und esoterischem Verständnis
an. Die exoterische Deutung geht auf ein irdisches Reich Gottes im Sinne der apokalyptischen
Erwartung, die esoterische auf die Findung des Selbst als Reich Gottes in uns. In diese Richtung
weist auch Lukas 17,21: "Das Reich Gottes ist inwendig in euch." Das ist die sprachlich genauere
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Übersetzung und der ursprüngliche Sinn der Stelle, die ein selbständiges Jesuswort bildete, ehe sie
bei Lukas aus der theologischen Zielsetzung seines Evangeliums eine neue Bedeutung annahm: "Das
Reich Gottes ist mitten unter euch", mit Beziehung auf Christus als Mitte der Zeit. Der Raum reicht
hier nicht aus, den Spuren einer christlichen Gnosis im Neuen Testament nachzugehen, die man nicht
mit der häretischen Gnosis gleichsetzen darf. Es gab offenbar eine Geheimlehre Christi, die er den
Jüngern kata monas (allein, esoterisch) mitteilte.
Vom Unbewussten zum Bewusstsein: Bewusstwerdungsgeschichte des Menschen
Der Apostel Paulus spricht davon, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt der Menschheitsentwicklung
der Glaube kam (Galater 3,23). P. Althaus schreibt zu der Stelle: "Die Zeit des Glaubens als Heilsweg
war nicht von Anfang an da (obgleich ein Mann wie Abraham geglaubt hat); der Glaube ist erst in
einem bestimmten Zeitpunkte 'gekommen', nämlich (V.24) als Christus kam, auf den er gerichtet ist.
Da erst wurde der Heilsweg des Glaubens, den Gott schon von Ewigkeit her vorgesehen, aber noch
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als Geheimnis verhüllt hatte, 'geoffenbart'." Der Mensch schaute ursprünglich in die Welttiefe hinein;
er sah in einer Art von Traumbildsehen die Wesenheiten, Götter, Engel und Dämonen, die den
Hintergrund unserer Welt bilden. Unter diesen Bedingungen hatte der Glaube keinen Sinn.
Unser Bewusstsein ist nicht immer so gewesen, wie wir es heute erfahren, und es wird sich auch in
Zukunft nicht immer so darstellen, wie es sich uns heute kundgibt. Unser Bewusstsein ist
hineingenommen in eine Bewusstseinsgeschichte. Der Verlust des ursprünglichen Traumbildsehens
hängt zusammen mit der Entwicklung des Zentrums des Bewusstseins, des Ich. In einem langen,
notwendigen Prozess der Bewusstseinsgeschichte hat sich dieses Ich von dem traumbildhaft
erfahrenen Welthintergrund abgelöst und verdeckt nun denselben. Es hat sich von ihm "emanzipiert"
und, in der Folge davon, atomisiert. Jeder einzelne Mensch, jedes Ich, erfährt sich als eine abgelöste
Entität, abgelöst vom Hintergrund der Welt und von der Tiefenverbundenheit mit dem Mitmenschen
und den Mitgeschöpfen. Es ist insbesondere R. Steiner, der auf diese Zusammenhänge der
Bewusstseinsgeschichte hinweist. Nur der Glaube überbrückt den Verlust der unmittelbaren
Verbundenheit mit dem Grund des Seins.
Die Welttiefe, in die der Mensch ursprünglich hineinschaute, ist in das menschliche Unbewusste
gefallen. C.G. Jung nennt dies den Sternenfall. "Seitdem die Sterne vom Himmel gefallen und unsere
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höchsten Symbole verblasst sind, herrscht geheimes Leben im Unbewußten." Die geistig-göttlichen
Wesenheiten, die den Kosmos durchdringen und tragen, wirken durch das archetypische Geschehen
in der Tiefe der Seele. Der Mensch besteht nach dem "Sternenfall" aus Bewusstem und
Unbewusstem. Seine Aufgabe ist es, beide Bereiche zu vereinigen. Das Ich-Prinzip, der aham-kara
(Ich-Macher), das den Menschen von der Welt und ihrer Tiefe getrennt und so das Ego zum zentralen
Bezugssystem gemacht hat, gilt es als das Integrationsprinzip zu erkennen, das das Bewusstsein um
die Tiefenbereiche des Unbewussten erweitert. Der Mensch wird darüber zur Person. Es scheint so zu
sein, als habe es im Interesse der Tiefe der geistig-göttlichen Welt gelegen, im Ich des Menschen eine
Instanz hervorzubringen, in der sie sich selbst in Bewusstsein und Freiheit erscheine. Das Ich wird
zum Spiegel und Sprecher des göttlichen Wesenskerns des Menschen, des Selbst, das aus den
Tiefen des Unbewußten auftaucht.
Vereinigung von Unbewusstem und Bewusstem oder: Menschwerdung als komplementäre
Vervollständigung auf dem Weg zur Religion in den Religionen
Wir haben uns die Frage gestellt: Was kommt nach dem Abschluss der christlichen Theologie? Es
sind drei Dimensionen des Fragens und der neuen Erfahrungen, die sich uns zeigten. Es ist, erstens,
die synoptische Begegnungsart im Blick auf die Welt der Religionen. Es handelt sich dabei nicht so
sehr um die Feststellung von Identitäten oder bloßen Parallelen, sondern um komplementäre und
paradoxale Vervollständigungen. Zweitens geht es darum, die Tiefe der menschlichen Seele selber
als Quelle der religiösen Wirklichkeit zu erfahren, die zugleich die eigene, historisch gegebene
Religion übergreift. Im kollektiven Unbewussten und seiner Archetypik ist ein Fundament gegeben,
das alle Religion in sich vereint. Schließlich führen die östlichen Meditationserkenntnisse in einen
Zusammenhang von astralen und mentalen Welten, der den Rahmen unseres westlichen, traditionellchristlichen Weltbildes sprengt. Es geht bei diesen Einstellungen nicht um eine künstlich zu
schaffende Superreligion (Synkretismus), sondern um einen Erfahrungs- und Erlebnisaustausch, in
dem sich wirkliche Religionen begegnen. Aus allen Religionen bricht göttliche Tiefe hervor, die sich in
der menschlichen Person individuieren will. Es kommt heute wahrscheinlich mehr darauf an, die
Beiträge der Religionen von den Erfordernissen der Individuation als von denen der Reproduktion
religiöser Gemeinschaften aus zu werten. Im nie abschließbaren Individuationsprozeß wird jede
kollektive Religion dann durchsichtig für die "Religion in den Religionen", die Ulrich Mann, der den
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Ausdruck geprägt hat, bei anderer Gelegenheit die "Religion ohne Namen" nannte. In ihr erfüllt sich
erst eigentlich das Streben nach einer persönlichen Religion.
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Anmerkungen
1.
2.
3.
4.
5.
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7.
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10.
11.
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14.
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17.
18.
19.
20.
21.
Der Beitrag stellt eine Zusammenfassung der beiden in der Zeitschrift "Religion heute" erschienenen
Aufsätze dar: "Von der Theologie der christlichen Religion zur Theologie der Religionen" (1/1986) und
"Was kommt nach dem Abschluss der christlichen Theologie?" (4/1988)
Ulrich Schoen, Das Ereignis und die Antworten, Auf der Suche nach einer Theologie der Religionen
heute, Göttingen 1984
K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, 4. Band, 3. Teil, 1.Hälfte, Die Lehre von der Versöhnung, ZollikonZürich, 1959; siehe zu dem Ausgeführten die Seiten 115-153, aber auch U. Schoens Ausführungen auf
S. 88ff. seines Buches "Das Ereignis und die Antworten", in denen auch auf den Dialog mit dem
Buddhismus angespielt wird.
Tillich wörtlich: "(Jesus) bestätigt seinen Charakter als Christus gerade dadurch, dass er sich als Jesus
preisgibt an sich als den Christus" (Systematische Theologie, Band II, Stuttgart 1958, 3. Aufl., Seite 134
Rudi Paret, Der Standpunkt al-Baqillani's in der Lehre vom Koran (1956), in: Rudi Paret, Der Koran,
Wege der Forschung Bd. 326, Darmstadt 1975, S. 422
Ebd., S. 423
Ebd., S. 424
So mündlich M. S. Abdullah
Der Koran, Arabisch-Deutsch, Übersetzung, Einleitung und Erklärung von Maulana Sadr-ud-din, Berlin
1964, 2. Aufl., Seite 197
Titel eines Buches von Ulrich Mann, Stuttgart 1975
So dem Sinn nach in dem Abschnitt "Theologie der Religionen in interreligiöser Existenz", in: "Das
Ereignis und die Antworten", Seite 112ff.
C.G. Jung, Antwort auf Hiob, Gesammelte Werke 11, Olten 1973, 2. Aufl., Seite 498f.
Helmut Hark, Der Traum als Gottes vergessene Sprache, Olten 1982
Ebd., S. 164
Ebd., S. 177
Ebd., S. 178
Ebd., S. 161
1. Kor. 15,49f.
Das Neue Testament Deutsch, Teilband 8, Die kleineren Briefe des Apostels Paulus, Göttingen 1962, 9.
Aufl., Seite 30
C.G. Jung, Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten, Gesammelte Werke 9/1, Olten 1978, 3.
Aufl., Seite 35
Ulrich Mann, Lutherische Monatshefte 3/1964, Seite 58ff.
In dieser Form zuerst veröffentlicht in: Gemeinsam vor Gott. Religionen im Gespräch (JIB 1), E.B.-Verlag Rissen,
Hamburg 1991, hrsg. von Reinhard Kirste, Paul Schwarzenau und Udo Tworuschka. (Zusammenfassung der
beiden in der Zeitschrift "Religion heute" erschienenen Aufsätze: "Von der Theologie der christlichen Religion zur
Theologie der Religionen" (1/1986) und "Was kommt nach dem Abschluss der christlichen Theologie?" (4/1988),
nun erschienen in: Paul Schwarzenau: Welt-Theologie. Gesammelte Aufsätze. Interreligiöse Horizonte Band 3 (IH
3). Köln u.a.: Böhlau 1998, S. 219–235
Die Zwischenüberschriften sind nachträglich redaktionell eingefügt, Überarbeitung vom 17.11.08 (R.K.)
TU-DO/WS 08-09/Schwarzenau-Abschluss, 17.11.08
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