Hochschule Bremen Fakultät Wirtschaftswissenschaften Internationaler Studiengang Volkswirtschaft B.A. Länderanalyse Großbritannien Sommersemester 2010 Thema: „Welches waren die wichtigsten volkswirtschaftlichen Probleme Großbritanniens in den beiden vergangenen Dekaden, wie wurden diese gelöst und welche Herausforderungen bestehen für die nähere Zukunft?“ Vorgelegt von: Stefanie Gebhardt, 217574 angefertigt bei: Prof. Dr. Hans H. Bass Datum der Abgabe: 26. März 2010 1 Abstract Great Britain’s economic performance has changed enormously during the last 30 years. During the 1970s its performance was characterized by the expression “the sick man of Europe”. Until 2008 Britain’s performance was one of the best in Europe. Unemployment and inflation were low and the growth of GDP belonged to the strongest in Western Europe. Economic reforms were essential to that change. But Britain was hit very hard by the credit crunch. Today government has to demonstrate that a market orientated social and economic system is able to fight the consequences of an economic crisis in an adequate way. This essay shows an overview of the economic performance during the last two decades, reform approaches under Thatcher and New Labour and the current economic challenges. Concerning New Labour’s approaches the essay focuses on the labour market reforms and Britain’s behaviour towards Europe and the European monetary union. Keywords: Great Britain, Thatcher, economic performance, labour market reforms, monetary union, social disparities, credit crunch, foreign policy, new deal JEL: H53, I38, J08, N34, O52 2 Gliederung Seite 1. Einleitung 3 2. Großbritanniens wirtschaftliche Entwicklung 4 3. Thatcherism: Jede Gegenwart hat ihre Geschichte 6 4. New Labor - der dritte Weg - marktliberal mit sozialem Antlitz 8 5. GB am Rande von Europa und doch mittendrin? 11 6. Herausforderungen Großbritanniens im 21. Jahrhundert 14 7. Literaturverzeichnis 18 3 1. Einleitung Großbritannien – das ist ein Land mit einer beeindruckenden ökonomischen Geschichte. Durch die Randlage in Europa und durch kluge Politik, eine handelsliberale Einstellung und ökonomisches Geschick ist England bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zu der führenden Industrienation geworden. England ist das Empire where the sun never sets, eine globale Nation und eine Handelsmacht. Dieser Einfluss schwindet unter den Folgen des ersten Weltkriegs. In den Zwischenkriegsjahren ist die britische Wirtschaft stark geschwächt und der Staat hoch verschuldet (vgl. Osterhammel, 2006, S. 89). Nach dem zweiten Weltkrieg erfährt das britische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem unter den Erfahrungen aus beiden Weltkriegen, der Zwischenkriegszeit und dem gesellschaftlichen Umbruch in Europa eine Neuorientierung. Großbritannien wird eine Mixed Economy1 sowie ein Welfare State (vgl. Kastendiek et al., 2006, S. 96). Zum Ende des 20. Jahrhunderts ist von der ehemaligen wirtschaftlichen Größe Großbritanniens nicht mehr viel zu spüren. Das Land ist mit großen ökonomischen Problemen konfrontiert. Und doch gelingt es Margret Thatcher, ab den 1980er Jahren wichtige ökonomische Reformen anzustoßen, die die Wirtschaft und die sozialen Sicherungssysteme nachhaltig beeinflussen. Die nachfolgende konservative sowie die New Labour Regierung setzen die marktliberale Wirtschaftspolitik Thatchers in kommenden zwei Dekaden fort. Am Ende des 20. Jahrhunderts hat sich das ökonomische Bild Großbritanniens erneut gewandelt. Heute ist Großbritannien wieder eine der führenden Wirtschaftsnationen mit hohem Einfluss innerhalb der europäischen Union. 1 In Großbritannien hat die Regierung nach dem zweiten Weltkrieg Kernsektoren der Wirtschaft, wie z.B. Kohleabbau und Stahlproduktion, verstaatlicht, um damit einen Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zu erlangen (vgl. Kastendiek et al., 2006, S. 96). 4 2. Großbritanniens wirtschaftliche Entwicklung – vom kranken Mann Europas zur blühenden Wirtschaftsnation Das Bild, welches noch in den 1970er Jahren die britische Wirtschaft prägte - „der kranke Mann Europas“ - ist heute obsolet. Die beiden vergangenen Dekaden sind gekennzeichnet durch eine anhaltende Prosperität der britischen Wirtschaft, welche erst durch die Finanzkrise 2008 nachhaltig beeinträchtigt wurde. Mit dem Austritt Großbritanniens aus dem Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems (EWS), 1992, und der Entlassung der „Bank of England“, der Britischen Zentralbank, in die geldpolitische Unabhängigkeit, 1997, kann Großbritannien eine von Europa relativ unabhängige und auf die britische Wirtschaft abgestimmte Wirtschafts- und Geldpolitik betreiben. Anfang der 1990er Jahre befand sich Großbritannien in einer schweren Rezession, in deren Folge das Bruttoinlandsprodukt innerhalb von zwei Jahren um 4,5 % fiel und die Arbeitslosigkeit um 1 Million zunahm. In der Konsequenz betrieb die britische Regierung einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel. Sie betrieb eine antizyklische Geld- und Finanzpolitik, um die Wirtschaft nachhaltig zu stabilisieren (vgl. Volz, 2003). In den folgenden Jahren von 1994 bis zur Finanzkrise 2008 entwickelte sich die britische Wirtschaft ausgesprochen positiv. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs zwischen 2 % und 3 % pro Jahr (vgl. Volz, 2003, S. 198; National Statistics Online, 2010b). Die Arbeitslosenquote sank von 9,2 % in 1994 auf 5,1% in 2003 (vgl. Volz, 2003, S. 198). Auf diesem niedrigem Niveau verharrte die Quote bis zum Ausbruch der Finanzkrise 2008 (vgl. National Statistics Online, 2010a). Angesichts der Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt kam es zu deutlichen Einkommenssteigerungen, vor allem bei den Arbeitnehmerentgelten (vgl. Volz, 2003, S. 200). Mit Beginn der Finanzkrise 2008 endete das „Britische Wirtschaftswunder“ der letzten beiden Dekaden. Durch die Ausrichtung des starken Dienstleistungssektors (die wesentlichen Sparten sind Versicherungen, Finanzen und Banken) wurde Großbritannien von der Finanzkrise stark getroffen, vor allem der wirtschaftliche Motor – die Londoner City. Das Dienstleistungsniveau im Banksektor gab um 9,5 % im Dezember 2009 gegenüber Dezember 2008 nach. Insgesamt schrumpfte der Dienstleis5 tungssektor um 1,4 %. Die industrielle Produktion gab um etwa 15 % in 2009 gegenüber 2008 nach. Sowohl im Dienstleistungssektor als auch in der industriellen Produktion zeigt sich eine Stabilisierung im Verlauf des Jahres 2009 (vgl. National Statistics Online, 2010d; 2010c). Das Bruttoinlandsprodukt brach um nahezu 6 % im 3. Quartal 2009 gegenüber dem Vorrezessionsniveau ein und erholt sich seitdem leicht (vgl. National Statistics Online, 2010b). Die Arbeitslosenquote stieg innerhalb eines Jahres von knapp 5% Ende 2008 auf nahe 8 % Ende 2009 (vgl. National Statistics Online, 2010a). Um die lang anhaltende Prosperität der britischen Wirtschaft zwischen 1994 und 2007 zu erklären, vertritt Volz (2003, S. 197) die Auffassung, dass der wirtschaftspolitische Kurswechsel hin zu einer antizyklischen Wirtschaftspolitik den Grundstein für den wirtschaftlichen Erfolg Großbritanniens legte. Ein weiterer Erklärungsansatz, so Busch (vgl. Busch, 2006, S. 428), liegt in dem fortgeschrittenen sektoralen Wandel. In Großbritannien vollzog sich der Wandel von einer industriellen zu einer überwiegend auf Dienstleistungen basierenden Volkswirtschaft früher als in anderen vergleichbaren Nationen. Der industrielle Sektor hat immens an Bedeutung für die britische Wirtschaft verloren. Die große Mehrheit der Briten, rund drei Viertel, ist heute im Dienstleistungssektor beschäftigt (vgl. Sturm, 2008, S. 31). 6 3. Thatcherism: jede Gegenwart hat ihre Vergangenheit Thatchers Regierungsperiode war zu Beginn durch die desolate Situation der britischen Volkswirtschaft geprägt. Großbritannien litt unter hohen Inflationsraten, einem Dauerdefizit im Außenhandel sowie häufigen Streiks der Gewerkschaften (vgl. Sturm, 2008, S. 5). Schwerpunkt der wirtschaftspolitischen Neuausrichtung durch die Regierung Thatcher war die Bekämpfung der hohen Inflationsraten. Indem die Regierung die Reduzierung der Inflation durch die Kontrolle der Geldmenge anstrebte, griff sie neue wirtschaftspolitische Leitideen auf. Thatcher begann die Staatsausgaben, z.B. durch den Abbau staatlicher Leistungen an Arbeitslose, zu begrenzen. Sozialpolitik orientierte sich nicht mehr an der Bedürftigkeit sondern an der Finanzierbarkeit der Leistungen (vgl. Sturm, 2008, S. 5). Die Privatisierungspolitik war zu Beginn von Thatchers Regierungszeit nicht vorgesehen. Das Konzept ließ sich jedoch gut in die marktorientierte und an Deregulierung interessierte Wirtschaftspolitik integrieren (vgl. Busch, 2006, S. 421). Die stringente Finanzpolitik und Privatisierungspolitik verbesserte die Effizienz der öffentlichen Einrichtungen, aber auch der privatisierten Unternehmen. Sie führten zu einer Entlastung der öffentlichen Kassen (vgl. Hartley, 1989, S. 105). Neben der Privatisierungspolitik ist Margret Thatcher vor allem für ihr Vorgehen gegenüber den Gewerkschaften bekannt. Ab 1982 werden in mehreren Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen zur Demokratisierung der Gewerkschaften, zur geheimen Wahl einer auf Zeit eingesetzten Führung, sowie zur Streikdurchführung nur nach Urabstimmung durchgesetzt (vgl. Busch, 2006, S. 421). Der Umbau der Mixed Economy Großbritanniens beschleunigte den Prozess der Deindustrialisierung in den 1980er Jahren. In der Folge verdoppelten sich die Arbeitslosenzahlen innerhalb weniger Jahre von 4,2 % in 1979 auf 11,2% in 1982 (vgl. Busch, 2006, S. 422). Der Wandel führte auf der anderen Seite zu einer Steigerung der Produktivität und des Investments innerhalb des privaten Sektors. Rund 3 Mio. neue Arbeitsplätze entstanden (vgl. Hartley, 1989, S. 105). Innerhalb des von jeher in 7 Großbritannien wenig regulierten Finanzsektors wurde 1986 der London Stock Exchange liberalisiert. Damit wurde der Grundstein für das anhaltende Geschäfts- und Beschäftigtenwachstum in der Finanzindustrie gelegt. London wurde zum größten Versicherungs- und Eurobondmarkt der Welt und zum zweitgrößten Devisenmarkt und finanziellem Innovationszentrum (vgl. Busch, 2006, S. 422). Die Wirtschaftspolitik Thatchers hat in den Sprachgebrauch unter dem Begriff „Thatcherism“ Eingang gefunden. Anthony Hartley beschreibt es folgendermaßen: „“Thatcherism“ has not been merely a series of political measures. ..., it has created, ..., a social and economic revolution, the results of which will continue to be felt for many years to come and cannot be reversed by subsequent governments.“ (Hartley, 1989, S. 103) 8 4. New Labor - der dritte Weg - marktliberal mit sozialem Antlitz Thatchers Reformen ebneten den Weg für den ökonomischen Erfolg Großbritanniens. Im Zuge der wirtschaftlichen Reformen der 1980er Jahren und der Idee der Reduzierung des staatlichen Einflusses wurden die Leistungen der Sozialversicherung eingeschränkt. Damit gelang es Thatcher zwar nicht, das Ausmaß des Wohlfahrtsstaats zu verringern, allerdings nahmen soziale Ungleichheit, Armut und soziale Ausgrenzung massiv zu (vgl. Annesley, 2006, S. 481). Lebten 1979 rund 10% der britischen Bevölkerung in Armut, so war 1995/96 jeder Fünfte von Armut2 betroffen (vgl. Rugg, 2007, S. 317). Ihre Sozialpolitik unter der Maßgabe einer gesellschaftlichen Neuorientierung, bei der jeder Einzelne mehr Eigenverantwortung übernehmen muss, war unter der Bevölkerung jedoch nicht sehr beliebt. Die große Mehrheit war nicht bereit, die negativen Folgen des Thatcherismus zu tragen. Diese Stimmung konnte die Labour Party in ihrem Wahlkampf 1997 geschickt aufgreifen. Sie stand für einen Dritten Weg ein (vgl. Sturm, 2008, S. 6). Das Programm des Dritten Weg ist keine neue politische Erfindung. In dem Konzept von New Labour ist es eine Strategie, die versucht die Ansprüche der Globalisierung und das individuelle Interesse nach Wohlstand in Einklang zu bringen. Dies basiert auf zwei Säulen: soliden öffentlichen Finanzen und öffentlichen Investition, vor allem in Bildung und Qualifizierung (vgl. Romano, 2006, S. 11f.). New Labour bleibt in der Ausrichtung am Markt orientiert und knüpft damit an die Politik der Konservativen an. Auf der anderen Seite steht New Labour für die soziale Verantwortung des Staates dem Einzelnen gegenüber ein (vgl. Maurer, 2007, S. 476). Das bedeutet unter anderem, dass niemand aus Wirtschaft und Gesellschaft ausgegrenzt werden und jeder, unabhängig vom sozialen Hintergrund, ähnliche Startchancen haben soll (vgl. Sturm, 2008, S. 6). New Labour hat die Probleme Armut und soziale Ausgrenzung in den Mittelpunkt der Sozialreformen (welfare to work) gestellt. Der Ansatz ist arbeitszentriert, d.h. der bes- 2 eine Definition von Armut ist, dass dem Haushalt weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens im Land zur Verfügung steht (OECD, 2008). Von Armut sind Haushalte ohne Einkommen bzw. Niedrigeinkommen, Alleinerziehende, Kinder und Rentner insbesondere betroffen. Arbeitslosigkeit und niedrige Bezahlung können als Ursachen für Armut gesehen werden (vgl. Nickell, 2004, S. C2f). 9 te Weg aus der Armut und zur Reintegration in die Gesellschaft ist eine bezahlte Arbeit (vgl. Annesley, 2006, S. 482; Ball et al., 2004, S. 188). Kernpunkt der aktiven Arbeitsmarktpolitik New Labours ist der New Deal. Die beinhalteten Programme richten sich an unterschiedlichen Zielgruppen, wie Jugendliche, Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende, Behinderte sowie die Partner von Arbeitslosen. Der New Deal wurde 1998 initiiert und finanziert sich über eine einmalige Sondersteuer (windfall tax), welche auf die Gewinne der privatisierten Unternehmen erhoben wurde. Alle, die den New Deal in Anspruch nehmen, werden von einem persönlichen Berater bei der Arbeitssuche betreut. Finden sie innerhalb von drei Monaten keine Arbeit, so kann ihnen ein subventionierter Arbeitsplatz, eine Aus- und Weiterbildung in Vollzeit, ein Job im Umweltschutzbereich oder ein Praktikum im ehrenamtlichen Bereich zur Verfügung gestellt werden (vgl. Annesley, 2006, S. 483; Ball et al., 2004, S. 188f.). Die Beteiligung an den Programmen ist für Langzeitarbeitslose und jugendliche Arbeitslose verpflichtend. Sanktionen, wie die Kürzung der Leistungen, sind die Konsequenz, wenn die Auflagen nicht erfüllt werden (vgl. Rugg, 2007, S. 316). Neben dem New Deal sind auch die finanziellen Anreize zur Arbeitsaufnahme, welche durch den Staat gewährt werden, ein Teil der Welfare to Work – Agenda. Sie stellen eine Antwort auf die „unemployment trap“3 (Ball et al., 2004, S. 209) dar. Zur Entlastung von Niedrigverdienern ist die Einkommenssteuer und die National Insurance Contribution reformiert worden. Über Steuergutschriften (Working Tax Credit, Working Families Tax Credit, Child Tax Credit) wird ein Mindesteinkommen bei Arbeitsaufnahme garantiert (vgl. Ball et al., 2004, S. 209ff.). Ein weiteres Element ist der 1999 eingeführte Mindestlohn (National Minimum Wage), der ein wichtiges Gegenstück zu den Steuergutschriften für Geringverdiener darstellt. Er soll verhindern, dass die Anreize, die durch die Steuergutschriften gegeben werden, nicht durch geringere Verdienste ausgehebelt werden (vgl. Ball et al., 2004, S. 216). 3 Das erzielte Einkommen auf dem Arbeitsmarkt ist niedriger als die durch staatliche Leistungen erreichten Einkünfte. Damit sinkt der Anreiz in den Arbeitsmarkt einzutreten (vgl. Ball et al., 2004, S. 209f.). Ursache ist nicht das hohe Leistungsniveau des britischen Staates, sondern die Tatsache, dass die Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor trotz Arbeit arm bleiben (working poor) (vgl. Annesley, 2006, S. 484). 10 Die Gestaltung der Löhne und Gehälter oberhalb des Mindestlohns obliegt den Gewerkschaften und Unternehmerverbänden bzw. einzelnen Unternehmern. Unter der New Labour Regierung sind die von Thatcher durchgesetzten und gegen die Gewerkschaften gerichteten Gesetze nicht wieder rückgängig gemacht worden (vgl. Ludlam, 2006, S. 460f.). Allerdings wurden mit der Durchsetzung des Mindestlohns, neuer gesetzlicher Regelungen zu Arbeitnehmerrechten und zur betrieblichen Anerkennung von Gewerkschaften sowie der Unterzeichnung der Sozialcharta der EU die drei wichtigsten Forderungen der Gewerkschaften an New Labour umgesetzt (vgl. Ludlam 2006, S. 466). Trotz der neuen positiven Aspekte im Gewerkschaftsund Individualarbeitsrecht führte das nicht zu einer Belebung der Situation der Gewerkschaften. Der Organisationsgrad der Gewerkschaften geht weiterhin zurück (vgl. Ludlam, 2006, S. 475). Ebenso nahm die Anzahl der Arbeitsplätze, welche durch Tarifverträge abgesichert sind, zwischen 1998 und 2004 um rund ein Drittel ab. In der Folge wendete nur noch einer von zehn Betrieben Tarifverhandlungen an, um Entgelte für die Beschäftigten bzw. einen Teil der Beschäftigten festzulegen (vgl. Addison et al., 2009, S. 31). Insbesondere die branchenbezogenen Regelungen waren betroffen. Ein beachtlicher Anteil des Rückgangs ist auf den Wandel der Arbeitsplätze zurückzuführen. Meist sind die Arbeitsplätze, die im Rahmen des Wandels verloren gingen, durch tarifliche Regelungen abgesichert gewesen. Diejenigen, die seit 1998 entstanden sind, besitzen dergleichen in der Regel nicht (vgl. Addison et al., 2009, S. 43). 11 5. Großbritannien am Rande von Europa und doch mittendrin? Großbritanniens neue wirtschaftliche Größe und die erfolgreiche Politik auf dem Arbeitsmarkt finden in Europa innerhalb der Politik eine große Beachtung und haben ein entsprechendes Gewicht. Großbritannien gilt in der EU jedoch als schwieriger Partner. In sozialen und ökonomischen Angelegenheiten liegen die Positionen auf Grund der unterschiedlichen ökonomischen und gesellschaftlichen Meinungen zwischen Großbritannien und dem Kontinent auseinander. Wiederholt haben die Briten Sonderregelungen bei entscheidenden Verträgen für sich heraushandeln können (u.a. beim Maastricht - Vertrag die britischen Ausstiegsklauseln für die Europäische Währungsunion als auch für das Sozialkapitel des Vertrags) (vgl. Bulmer, 2006). Die Europapolitik der Briten beruht auf Skepsis gegenüber dem supranationalen Charakter der europäischen Union. Sowohl die europaskeptisch eingestellte Regierung Thatcher als auch die eher europafreundliche New Labour Regierung sehen in der EU in erster Linie eine wirtschaftliche Interessengemeinschaft. Einer weitergehenden Vertiefung der politischen Integration steht Großbritannien eher ablehnend gegenüber (vgl. Sturm, 2008, S. 29f.). Trotzdem lässt sich in wirtschaftlicher Hinsicht eine gewisse Kontinuität in der europäischen Außenpolitik Großbritanniens erkennen. In der Vergangenheit fanden viele Aspekte europäischer Integration Unterstützung, die im Interesse der marktliberalen britischen Regierung gewesen sind. Dazu zählt der Aufbau eines gemeinsamen europäischen Binnenmarktes, die Erweiterung der EU, als auch die liberale Position der Briten in Bezug auf die Außenhandelspolitik der EU. Einer Reihe von ökonomischen Diskussionen und Praktiken der EU steht Großbritannien eben auf Grund ihrer marktliberalen Haltung allerdings auch ablehnend gegenüber. So wird die Agrarpolitik der EU als protektionistisch und teuer kritisiert. Die Steuerharmonisierung als auch Arbeitsmarktregulierungen, die Einfluss auf die Lohnkosten in Großbritannien haben könnten, wurden tabuisiert (vgl. Bulmer, 2006). Mit dem Amtsantritt New Labours 1997 kam es zu einer Annäherung zwischen Großbritannien und Kontinentaleuropa. Die New Labour Regierung stand der Union offener gegenüber, bereit eigene Ideen und Reformansätze voranzutreiben. Britische 12 Initiativen fanden Eingang in die Beschäftigungsstrategie der EU und setzten sich in der Lissabon - Strategie4 fort (vgl. Bulmer, 2006, S. 565). Großbritannien nutzte die Gelegenheit, die sich aus der Krise um die Ratifizierung der EU Verfassung ergab, um eine alternative Version von der Zukunft des Reformprozesses vorzustellen (vgl. Hyde - Price, 2005, S.7). Schwerpunkt der britischen Ratpräsidentschaft 2005 war die Verbesserung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit. Großbritannien ist es gelungen, marktliberale Ideen in Europa zu verankern, da seine Meinung auf Grund der wirtschaftlichen Entwicklung in den vergangenen beiden Dekaden Gewicht in der EU hat. Kritiker bezweifeln jedoch die Übertragbarkeit der britischen Erfolge auf andere EU Staaten (vgl. Bulmer, 2006, S. 565f.). Die britische Bevölkerung steht der EU zurückhaltend gegenüber. Die Unterstützung der europäischen Integration ist im Vergleich zu anderen Staaten sehr gering. Nur 30% der Briten standen der EU Mitgliedschaft Großbritanniens 2008 positiv gegenüber (vgl. Sturm, 2008, S. 30). Die Ablehnung durch die Bevölkerung, die negativen Erfahrungen mit dem europäischen Wechselkursmechanismus in der Krise 1992 als auch Bedenken gegenüber einer Beschränkung der parlamentarischen Budgethoheit im Zuge des Maastricht - Vertrages sind entscheidend für die Haltung, die Großbritannien gegenüber dem Euro einnimmt. Mit der Unabhängigkeit der „Bank of England“ gab es nach 1997 keinen verfassungsmäßigen Grund mehr, nicht an der Währungsunion teilzunehmen. Die Mitgliedschaft wurde im Grundsatz positiv beurteilt. Schatzkanzler Brown präsentierte in diesem Zusammenhang fünf ökonomische Kriterien, damit der Beitritt im ökonomischen und nationalen Interesse Großbritanniens ist. Einem Beitrittsantrag soll ein Referendum durch die Bevölkerung vorangehen (vgl. Busch, 2006, S. 425). Sowohl Horn und Volz (2002) als auch Rollo (2002) sehen die Maastricht - Kriterien durch Großbritannien als erfüllt an. Das ökonomische Risiko des Beitritts wird sowohl für Großbritannien als auch für die anderen EU Mitglieder als gering eingeschätzt. Laut Horn und Volz (2002) und Rollo (2002) sind die politischen Rahmenbedingungen innerhalb Großbritanniens das entscheidende Hindernis. Auf Grund der ablehnenden Haltung der Bevölkerung gegenüber der EU ist es fraglich, ob ein Referendum positiv ausfallen würde. Nach Rollos Einschätzung ist der Ausfall des Referen- 4 Ziel der Lissabon - Strategie ist es die EU zur wettbewerbsfähigsten Region der Weltwirtschaft zu machen. 13 dums entscheidend von der Popularität der Regierung und der Bereitschaft der Wähler dem Urteil dieser in Hinsicht auf den Euro zu vertrauen abhängig (vgl. Horn et al., 2002; Rollo, 2002, S. 236f.) 14 6. Herausforderungen Großbritanniens im 21. Jahrhundert Großbritannien ist sowohl wirtschaftlich als auch in europapolitischer Hinsicht erstarkt. Die Reformen, angestoßen durch Thatcher und fortgesetzt durch New Labour, tragen ihren Teil zu dieser Entwicklung bei. Allerdings ist diese nicht unproblematisch. Das starke Wachstum der britischen Wirtschaft in den vergangen Dekaden fußt auf einer starken Binnennachfrage, die in Großbritannien durchaus kritisch zu betrachten ist. Die Binnennachfrage beruht auf einem Absinken der Sparquote der Haushalte und einem Boom des Immobilienmarktes. Die Zinskonditionen sind für die Haushalte und Unternehmen in der Vergangenheit sehr günstig gewesen. Die Verschuldung der Haushalte ist stark gewachsen, zum Teil auch da auf Grund der günstigen Situationen am Immobilienmarkt mit stetigen Wertsteigerungen zusätzliche Hypotheken auf Grundstücke aufgenommen werden konnten (vgl. Busch, 2006, S. 428f.; Sturm, 2008, S. 35). Trotz der guten konjunkturellen Situation der vergangenen Jahre ist die internationale Wettbewerbsfähigkeit durch die im Vergleich schlechte Produktivität der britischen Wirtschaft unzureichend (vgl. Sturm, 2008, S. 32; Ball et al., 2004, S. 23ff.; Volz, 2003, S. 201). Ursachen können in dem Mangel an entsprechend ausgebildeten Fachkräften und in geringer Förderung von Forschung und Entwicklung seitens des Staates gesehen werden (vgl. Sturm, 2008, S. 32). Der Sachkapitalbestand sowie der Bestand an öffentlicher Infrastruktur waren in der Vergangenheit geringer als in den Hauptkonkurrenznationen. Der Kapitaleinsatz pro Arbeitsstunde lag niedriger und hat sich zwischen 1970 und 1999 nicht verändert (vgl. Ball et al., 2004, S. 29f.). Großbritannien weist ein Leistungsbilanzdefizit aus, welches vor der Krise zwischen etwa 3,5% in 2006 und 3 % in 2007 gelegen hat. Dieses Leistungsbilanzdefizit ist unter anderem auch auf die beiden oben genannten Problematiken zurückzuführen. Auf Grund der schlechteren internationalen Wettbewerbsfähigkeit und der parallel wachsenden Binnenwirtschaft hat Großbritannien zunehmend mehr Güter und Dienstleistungen aus dem Ausland bezogen als es selbst exportiert hat. Die niedrige Sparquote führt dazu, dass die Investitionen nicht mehr durch die Ersparnis im Inland 15 gedeckt werden können und dazu Kapital aus dem Ausland herangezogen worden ist (vgl. Horn et al., 2009, S.6). Neben diesen Einschätzungen zur ökonomischen Situation fällt auch die Bewertung der Reformen am Arbeitsmarkt zwiespältig aus. Mit dem Mindestlohn ist der Regierung ein Erfolg gelungen. Die Einkommen am unteren Rand der Einkommensverteilung sind seit der Einführung des Mindestlohns stärker gestiegen als die mittleren Einkommen. Für einen Rückgang der Beschäftigung bzw. der geleisteten Stunden gibt es keinen deutlichen Hinweis. Ebenso gibt es keinen Hinweis auf eine Veränderung der Produktivität. Allerdings sind positive Hinweise auf eine Reduzierung der Gewinne vorhanden (vgl. Low Pay Commission Report, 2009, S.55). Die Bewertung des New Deal zur Verringerung der Arbeitslosigkeit fällt gemischt aus. Die Quote der Jugendarbeitslosigkeit ist um rund 8% zwischen 1993 und 2000 auf 10 % gesunken. Damit ist sie rund doppelt so hoch wie die Gesamtarbeitslosenquote von rund 5%. Die Einschätzungen durch Studien sind laut Annesley (2006, S. 483) widersprüchlich. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen geht bereits seit Mitte der 1990er Jahre zurück. Seit der Einführung des New Deal ist diese Zahl um weitere 10% reduziert worden. Allerdings stellen Langzeitarbeitslose weiterhin rund 25 % der Arbeitslosen in Großbritannien (vgl. Annesley, 2006, S. 484). Insgesamt, so folgert Romano, lässt sich eine jedoch Zunahme der Ungleichheit feststellen. So sind die Einkommen der ärmsten Haushalte unter der Blair Regierung gestiegen, aber die reichen Haushalte haben mehr profitiert. Ursache ist die Anbindung der staatlichen Transfers an die Inflation und nicht an die Lohnentwicklung sein. Dadurch wird der Anteil der ärmsten Haushalte an der Einkommensverteilung gedrückt, wenn die Realeinkommen steigen (vgl. Romano, 2006, S. 93f.). Auch die schlechte arbeitsrechtliche Situation der Niedriglohnbezieher ist unverändert. Den Gewerkschaften ist es nicht gelungen, die tarifliche Absicherung der Beschäftigten auszubauen. Nach der guten wirtschaftlichen Situation der vergangenen Jahre hat die internationale Finanzkrise die britische Wirtschaft, insbesondere die Londoner Finanzwelt 16 schwer getroffen. Entgegen der bisherigen marktliberalen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik hat die britische Regierung Banken verstaatlicht und ein 400 Mrd. Pfund Hilfspaket für die britischen Banken geschaffen. Im Vordergrund stand damit eine pragmatische Lösung. Allerdings ist die Staatsverschuldung über die für Großbritannien magische Grenze von 40 % des BIP hinaus ausgedehnt worden (vgl. Sturm, 2008, S. 34). Die Arbeitslosigkeit ist sprunghaft angestiegen und hat zu einer deutlichen Reduzierung der Einkommen geführt. Die Vermögen der privaten Haushalte sind deutlich gesunken, da neben den Verlusten bei Wertpapieren im Rahmen der Finanzkrise die Preise für die Immobilen zurückgegangen sind. Der private Konsum auf dem Binnenmarkt ist nachhaltig beeinflusst, was Auswirkungen auf den Import von Konsumgütern hat (vgl. Horn et al., 2009). Die Verschuldungslage der privaten Haushalte ist problematisch. Zwar hat die Regierung den verstaatlichten Banken zur Unterstützung der Hausbesitzer günstige Hypothekenfinanzierungen auferlegt, doch ist für viele Hausbesitzer die Hypothekenlast größer als das Haus durch den Fall der Immobilienpreise wert ist (vgl. Sturm, 2008, S. 35). Die Herausforderung für die britische Regierung wird es nun sein, der Krise der produzierenden Wirtschaft und des Dienstleistungssektors, vor allem des Finanzsektors zu begegnen. Es stellt sich die Frage nach der wirtschaftlichen Ausrichtung des Landes. Die Deindustrialisierung ist sehr weit fortgeschritten. Der industrielle Sektor in Großbritannien ist bereits sehr klein, hat aber unter der Krise mehr gelitten als der Dienstleistungssektor. Auch dieser ist durch die Finanzindustrie nachhaltig getroffen, verfügt jedoch über Bereiche, die auch in der Krise prosperierten (vgl. National Statistics Online 2010c; 2010d). Ist der bisherige Weg der richtige? Wie viel Industrie braucht Großbritannien in Zukunft, um erfolgreich sein zu können? Wie geht Großbritannien in Zukunft mit dem wenig regulierten Bankensektor um? Großbritanniens Wettbewerbsposition ist durch die zurückliegende Produktivität international eingeschränkt. Es importiert wesentlich mehr als es exportiert. Bisher ist Großbritannien mit seiner eigenständigen Geldpolitik wirtschaftlich sehr gut gefahren. Wird es das auch in Zukunft können? Die Krise hat beinahe zu einer Verdopplung der Arbeitslosigkeit geführt. Der britische Arbeitsmarkt ist einer der dynamischsten unter den industrialisierten Ländern. Schafft 17 es der britische Arbeitsmarkt der Krise zu begegnen? Oder hat er sich nur bewährt, da die wirtschaftliche Situation in Großbritannien in den vergangenen Jahren so gut gewesen ist? Die Fähigkeit der kommenden Regierung mit diesen Problemen umzugehen und neue Lösungen zu entwickeln, wird über den weiteren ökonomischen Weg Großbritanniens entscheiden. Der „kranke Mann“ – oder – doch eher eine ökonomisch prosperierende Nation? 18 7. Literaturverzeichnis Addison, John T.; Bryson, Alex; Teixeira, Paulino; Bellmann, Lutz (2009). The Extent of Collective Bargaining ans Worksplace Representation: Transitions between States and their Determinants. A Comparative Analysis of Germany and Great Britain. NIERS Discussion Paper No. 341. London: National Institute of Economic and Social Research. Annesley, Claire (2006): Sozialpolitik. In: Kastendiek, Hans; Sturm, Roland (Hrsg.). Länderbericht Großbritannien. 3. Auflage. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Band 543. S. 478 - 494. Ball, Ed; Grice, Joe;O’Donnell, Gus (2004). Microeconomic Reform in Britain: Delivering Oppertunities for All. Basingstoke, UK: Palgrave Macmillan Bulmer, Simon (2006). 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