Procalcitonin - Kantonsspital Aarau

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Schweiz Med Forum 2008;8(21):388–390
Procalcitonin
Beat Müller a,b, Philipp Schuetz a, Mirjam Christ-Crain a
a
Bereich Innere Medizin, Universitätsspital Basel, b Medizinische Klinik, Kantonsspital Aarau
Procalcitonin ist das Pro-Hormon von Calcitonin.
Im Gegensatz zu Calcitonin, das hauptsächlich die
Schilddrüse sezerniert, wird Procalcitonin bei bakteriellen Infektionen durch den Stimulus bakterieller Toxine und Entzündungsmediatoren im ganzen
Körper von allen infizierten Organen (ubiquitär)
produziert. Parenchymatöse Zellen (u.a. Leber,
Niere, Fettgewebe und Muskel) stellen also die
Hauptquelle der Procalcitonin-Produktion bei
einer Sepsis dar. Weisse Blutzellen produzieren nur
in relativ geringen Mengen und nur vorübergehend, während der Differenzierung von Monocyten zu Makrophagen, Procalcitonin. Dies erklärt,
warum man im Blut von septischen Patienten nach
Chemotherapie und fast kompletter Eradikation
der Leukozyten unverändert hohe Procalcitoninwerte findet. Die Produktion kann abgeschwächt
werden durch Interferon-g, das unter anderem bei
viralen Infektionen produziert wird.
Präanalytik, Analytik, Krankenkassen
und Preise
Die Procalcitonin-Spiegel im Blut können bei
schweren systemischen Infektionen bis mehrere
100 000-fach ansteigen. Dabei ist der Marker in
Serum und EDTA-Plasma messbar und relativ stabil (bei Raumtemperatur über Stunden, bei 4 °C
über Tage, gefroren über Monate bis Jahre).
Diagnose
PCT
(mg/L)
Antibiotika Verschreibung?
Hausarzt
COPD
Notfall
AWI
Assay?
Intensiv
Trauma
Sepsis
Pneumonie
Bronchitis
COPD
2
JA!
1
0,5
0,25
0,1
JA!
Ja
JA
Ja
Nein
Nein
Nein
NEIN!
NEIN!
NEIN!
PCT- Q®
Schwere Sepsis
10
PCT KRYPTOR® / VIDAS®
Septischer Schock
LUMItest® / PCT LIA
100
Gesund
0,01
Nicht-bakterielle
Differentialdiagnose suchen
Abbildung 1
Sensitivität verschiedener Assays für die Messung von Procalcitonin und Cut-off-Bereiche für die
Diagnose eines bakteriellen Infektes und somit die Indikation zur Antibiotikagabe abhängig
vom Setting (ambulanter Bereich bis Intensivstation).
AWI= Atemwegsinfekt, PCT = Procalcitonin, COPD = Chronisch obstruktive Lungenkrankheit.
Als erster kommerziell erhältlicher Assay wurde
in den 1990er Jahren der LUMItest® PCT (Brahms,
Hennigsdorf, Germany) vor allem auf Intensivstationen propagiert und von den Gesundheitsbehörden teuer (80 Taxpunkte) entschädigt. Dieser
manuelle Assay ist allerdings mit einer funktionellen Assay-Sensitivität von 0,3 bis 0,5 mg/L nur
begrenzt zur Diagnose einer Sepsis auf Intensivstationen anwendbar. Bei Patienten auf Notfallstationen und im ambulanten Bereich mit beginnenden, milderen und lokalisierten Infektionen
und weniger stark erhöhten Werten ist dieser
Assay zu wenig sensitiv. Hier muss ein sensitiver
Assay verwendet werden, der bis in dem Bereich
von gesunden Individuen messen kann (funktionelle Assay Sensitivität rund 0,02 mg/L). Der sensitivere Kryptor® PCT-Assay (Brahms, Hennigsdorf,
Germany) wurde in mehreren Interventions-Studien evaluiert [10–14]. Dieser Assay ist kommerziell erhältlich, automatisiert und hat eine funktionelle Assay-Sensitivität von 0,06 mg/L, d.h. dreibis fünffach über dem Wert von gesunden Individuen [15]. Der Assay braucht 20 bis 50 mL Plasma
oder Serum zur Messung in 19 Minuten. In der
klinischen Routine im Spital sind die Resultate innerhalb einer Stunde erhältlich. Kurz vor der Einführung stehen zwei neue Assays mit einer funktionellen Assay Sensivität um 0,1 mg/L (VIDAS
PCT®, bioMérieux, Lyon, Frankreich) bzw. 0,2 mg/L
(«Point-of care»-PCT, Brahms). Die nötige Evaluation im Notfallbereich bzw. beim Hausarzt wird
dann interessant werden, falls die von der Arzneimittelkommission diskutierte Verbilligung (voraussichtlich 40 Taxpunkte) und Erweiterung der
Anwendbarkeit insbesondere bei Atemwegsinfektionen 2008 in Kraft tritt (Abb. 1 x).
Zuverlässigkeit von Procalcitonin
bei Sepsis?
Vermeintlich eine ganz einfache Frage: In Observationsstudien berechnet man bei einer bestimmten Diagnose Sensitivität und Spezifität und die
positiven und negativen Vorhersagewerte. «Sepsis» ist aber keine Diagnose, sondern als «Syndrom» ein Endstadium unterschiedlich lokalisierter Infektionen (Lunge, Meningen, Harnwege,
Gastrointenstinaltrakt, Haut usw.), alle mit unterschiedlicher Physiopathologie und Biomarkerkinetik. Intesivpflegebedürftige Patienten leiden
zudem oft an multiplen zum Teil entzündlichen
Co-Morbiditäten (z.B. komplizierter Myokardinfarkt, Niereninsuffizienz), welche die Biomarkerspiegel beeinflussen. Somit ist bei der Bestimmung
der diagnostischen Zuverlässigkeit zu beachten,
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wie heterogen das studierte Patientenkollektiv
ist, welches Setting (ambulanter, stationärer oder
intensivmedizinischer Bereich) untersucht wird,
was gegen was bei welchem Cut-off und welcher
Messmethode («Assay Sensitivität») verglichen
wurde, und, last but not least, welches der Goldstandard zur Festlegung der Diagnose «Infektion»
war. Dieser Goldstandard ist bei Infektionen und
Experten umstritten, nicht zuletzt, weil die Mikrobiologie dem Kliniker in der Mehrzahl der Fälle
eine Antwort schuldig bleibt, weshalb schliesslich
«blind» auf eine bakterielle Ätiologie spekuliert
und Antibiotika verschrieben werden müssen. Je
nachdem variieren die publizierten Sensitivitäten, Spezifitäten und Vorhersagewerte von Observationsstudien erheblich. Was können wir summa
summarum aus mehreren hundert Beobachtungsstudien schliessen?
Erstens, wie jeder andere diagnostische Test sollte
Procalcitonin immer mit Verstand und im Kontext
von Anamnese und klinischer Untersuchung interpretiert werden.
Zweitens, Procalcitonin ist kein perfekter Marker
und «caveats» sind in Tabelle 1 p aufgelistet.
Gründe für «falsch» hohe PCT-Werte
(hohe Werte obwohl kein offensichtlicher bakterieller Infekt vorliegt)
1
nach grösseren Operationen, schwere Verbrennungen oder Hitzeschlag1
«Zytokin» Sturm wie z.B. bei Verabreichung von Anti-Thymozytenglobulin in der Behandlung von
Abstossungsreaktionen oder beim familiären Mittelmeerfieber
physiologisch während der ersten Phase von Neugeborenen2
akute Niereninsuffizienz2
nichtbakterielle Infektionen, z.B. Malaria, systemische Pilzinfektionen (sehr variable Werte)
Calcitoninproduzierende Tumoren (wie medulläres Schilddrüsenkarzinom, Karzinoid, Kleinzellkarzinom der Lunge mit paraneoplastischer Hormonproduktion
Gründe für «falsch» tiefe PCT-Werte
(tiefe Werte obwohl ein bakterieller Infekt vorliegt)
Verwendung einer zu wenig sensitiven Messmethode
sehr früh im Verlauf einer Infektion3
streng lokalisierte Infektionen (z.B. Abszess)
subakute Infektionen (z.B. subakute Endokarditis)
Infektion mit opportunistischen Erregern (z.B. bei ventilator-assoziierter Pneumonie, VAP)4
1
2
3
4
Drittens, Procalcitonin hat bei korrekter Anwendung eine gute bis sehr gute Aussagekraft und
kann insbesondere die «klinische» Diagnose eines
bakteriellen Infektes verbessern. Der verwendete
Cut-off-Bereich von Procalcitonin muss dabei an
die Art der Infektion und an das PatientenSetting in einem Bereich von 0,1 mg/L bis 10 mg/L
angepasst werden um eine Zuverlässigkeit von
deutlich über 90% zu erhalten.
Viertens, die diagnostische Zuverlässigkeit von
Procalcitonin ist anderen Infektionsmarkern zur
Erkennung bakterieller Infektionen überlegen.
Die Vorteile gegenüber dem häufig verwendeten,
aber schlecht evidenz-basierten Entzündungsmarker C-reaktives-Protein (CRP) sind insbesondere die grössere Spezifität von Procalcitonin bei
schwerer Erkrankung mit «SIRS», die raschere
Kinetik und eine geringere Beeinflussung durch
eine Steroidtherapie.
Und schliesslich kann der Verlauf von Procalcitonin über die Prognose Auskunft geben, da sehr
hohe und im Verlauf ansteigende Werte auf einen
ungünstigen Verlauf hinweisen.
Procalcitonin-gesteuerte Antibiotikatherapie bei Atemwegsinfektionen
Tabelle 1.
schweres Trauma oder Entzündung, ARDS (Acute Respiratory Distress Syndrome)
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Bei komplikationslosem Verlauf fallen die Procalcitoninwerte am zweiten bis dritten postoperativen Tag schnell ab, persistent hohe Procalcitoninwerte sprechen für das Vorliegen eines
Infektes. Es wird auch spekuliert, dass hier die Procalcitonin-Werte nicht «falsch» hoch sind,
sondern in der Tat eine bakterielle Infektion durch Translokation der Darmflora im minderperfundierten Darm anzeigen und somit einen frühen Hinweis auf eine sich entwickelnde und
behandlungsbedürftige bakterielle Komplikation darstellt.
Der Anstieg hängt möglicherweise mit der bakteriellen Besiedelung des initial sterilen Darms
des Neugeborenen nach der Geburt zusammen. Interessanterweise ist Procalcitonin unmittelbar postpartal auch in der Muttermilch erhöht. Bei einer Patientin, die eine Mastitis entwickelte,
stiegen die Werte nach initialem Abfall am sechsten Tag postpartum erneut an. Bei Anpassung
des Cut-offs nach oben behält Procalcitonin seine diagnostische Zuverlässigkeit sowohl bei
Neugeborenen als auch bei Niereninsuffizienz.
Deshalb ist bei klinischem Verdacht auf einen bakteriellen Infekt, jedoch tiefen Procalcitoninwerten, eine erneute Messung innerhalb der nächsten 6 bis 24 Stunden wichtig, um einen
eventuell verspäteten Anstieg nicht zu verpassen.
Aufgrund einer ungünstigen «signal-to-noise-ratio» bei Patienten mit schweren SIRS,
Co-Morbidität und Infektionen mit wenig virulenten Keimen (z.B. P. aerurignosa
bei VAP).
«Einfach so» gemessen ist jeder Biomarker teuer.
Wenn er unser ärztliches Verhalten positiv beeinflussen kann, dann wird er wertvoll. Da weltweit
75% aller Antibiotika für meist virale Atemwegsinfektionen verschrieben werden – der Hauptgrund
für die steigenden Antibiotikaresistenzen – besteht
hier ein besonderer Handlungsbedarf. Wir haben
deshalb geprüft, ob Procalcitonin für die Steuerung der Antibiotikatherapie bei Atemwegsinfektionen (kein Syndrom wie die «Sepsis», sondern
ein Kontinuum!) eingesetzt werden kann. Nur eine
solche Interventionsstudie «beweist» letztendlich
die Zuverlässigkeit des Markers.
Wir haben in der ProRESP-Studie gezeigt, dass
Procalcitonin, gemessen am sensitiven Kryptor®Assay, bakterielle Atemwegsinfektionen auf der
Notfallstation identifizieren kann, die mit Antibiotika behandelt werden sollten. Dabei wurde je
nach Procalcitoninwert zwischen 0,1, 0,25 und
0,5 mg/L eine Antibiotikatherapie mehr oder weniger empfohlen oder davon abgeraten (siehe vereinfachter Algorithmus in Abb. 2 x). Wenn die
Procalcitonin-Messung in der Klinik und Praxis
so angewendet wird, können die Antibiotikaverschreibungen um fast 50% gesenkt werden, und
dies ohne dass die Patienten sich länger krank fühlen. Die ausgeprägteste Reduktion der Antibiotikaverschreibungen war bei Patienten mit akuter
Bronchitis und akuter Exazerbation einer chronischen Bronchitis zu beobachten. Bei Patienten
mit Pneumonie waren die Procalcitoninwerte
übereinstimmend mit der vermuteten bakteriellen
Ätiologie in den meisten Fällen hoch. Richtlinien
empfehlen je nach Erreger eine Antibiotikadauer
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<0,1
PCT (mg/L)
AB Therapie
0,1–0,25
AB NEIN!
Nach 6–12 h
Tag 3–7
AB nein
0,25–0,5
AB ja
>0,5
AB JA!
Bei tiefem PCT Wert
erneute PCT Messung
AB weiter oder Stopp je nach PCT Wert (siehe oben)
und klinischem Verlauf
Abbildung 2
Darstellung des Algorithmus zur Procalcitonin-gesteuerten Anbiotikatherapie bei Atemwegsinfektionen.
PCT = Procalcitonin, AB = Antibiotika.
von 7 bis 21 Tagen, wobei die optimale Dauer der
Therapie nie umfassend geprüft wurde. In der
ProCAP-Studie konnte die Antibiotikadauer mittels Procalcitonin-Steuerung von dreizehn Tagen
in der Kontrollgruppe auf unter sechs Tage in der
procalcitoningesteuerten Gruppe gesenkt werden.
Die ProCOLD-Studie hat gezeigt, dass eine Antibiotikasteuerung mittels Procalcitonin auch bei Patienten mit eingeschränkter Lungenreserve, i.e.
mit akuter Exazerbation einer chronischen Bronchitis, möglich und im Langzeitverlauf über sechs
Monate sicher ist. Der Hauptverbrauch von Antibiotika bei Atemwegsinfektionen findet aber in der
Hausarztpraxis statt. In diesem Setting mit Einschluss von Patienten mit Infektionen der oberen
und unteren Atemwege konnten der Antibiotikaeinsatz aufgrund der Procalcitoninsteuerung in der
PARTI/ProDOC-Studie um 75% reduziert werden
mit gleicher Krankheitsdauer in beiden Gruppen.
Dabei litten die Patienten in der Kontrollgruppe
vermehrt an Durchfall, einer antibiotika-assozierten Nebenwirkung.
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Zuverlässigkeit bei «anderen»
Infektionen?
Unsere Resultate konnten durch anderen Forschungsgruppe in kleineren Studien bei Sepsis
auf der Intensivstation sowie bei Meningitis bestätigt werden [26]. Eine bessere diagnostische
Zuverlässigkeit für Procalcitonin für die Differentialdiagnose von bakteriellen und nichtbakteriellen Infektionen wurde auch in Observationsstudien bei anderen nichtpulmonalen Infektionen
aufgezeigt: bei bakterieller Meningitis, infizierter
Pankreatitis und Pyelonephritis; bei akuter Endokarditis war die diagnostiche Zuverlässigkeit
vergleichbar mit der Zuverlässigkeit von BNP bei
Herzinsuffizienz (Vorsicht bei subakuten «lenta»
Formen!); bei bakterieller oder Gicht-Arthritis
[33], bei Infektion vs. Kontamination von koagulasenegativen Staphylokokken und möglicherweise bei infiziertem diabetischem Fuss.
Bei anderen Infektionen wie dem einfachen Harnwegsinfekt, bei Divertikulitis, Appendizitis, Adnexitis und vielen anderen Infektionen, liegen
bisher keine qualitativ hochstehenden Daten zur
diagnostischen Aussagekraft von Procalcitonin
vor.
Epilog
Die inhärente Unsicherheit aller Observationsstudien sollte sowohl bei «euphorischen» als auch
«desaströsen» Berichten über Procalcitonin im
Auge behalten werden. Nur Interventionsstudien
können dieses Dilemma lösen.
Liebe Leserinnen und Leser, unterstützt aktiv
diese Interventionsstudien und die unabhängige
klinische Forschung in der Schweiz.
Empfohlene Literatur
Korrespondenz:
Prof. Dr. med. Beat Müller
Medizinische Klinik
Kantonsspital Aarau
Tellstrasse
CH-5001 Aarau
[email protected]
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Die vollständig numerierte Literaturliste können Sie unter
www.medicalforum.ch einsehen.
Procalcitonin
Beat Müllera, Philipp Schuetz, Mirjam Christ-Crain
a
Bereich Innere Medizin, Universitätsspital Basel, Medizinische Klinik, Kantonsspital Aarau
Literatur
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Korrespondenz:
Prof. Dr. med. Beat Müller
Medizinische Klinik
Kantonsspital Aarau
Tellstrasse
CH-5001 Aarau
[email protected]
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