Barbara Hoffmann Zwischen Integration, Kooperation und Vernichtung Barbara Hoffmann Zwischen Integration, Kooperation und Vernichtung Blinde Menschen in der „Ostmark“ 1938–1945 StudienVerlag Innsbruck Wien Bozen Gedruckt mit der Unterstützung des Austrian Science Fund (FWF): D 4303-G15 © 2012 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck E-Mail: [email protected] Internet: www.studienverlag.at Buchgestaltung nach Entwürfen von Kurt Höretzeder Satz: Studienverlag/Georg Toll, www.tollmedia.at Umschlag: Studienverlag/Vanessa Sonnewend, www.madeinheaven.at Umschlagabbildungen: Soldat: Ausschnitt aus dem Titelbild zur Kriegsblindenausstellung 1935 in Stuttgart aus: O. A., Führer durch die Ausstellung. 3000 deutsche Kriegsblinde – ihr Schicksal und ihr Schaffen, o. O. [1935]. Hakenkreuz: Titelseite der Brailleschriftausgabe von Hitlers „Mein Kampf“, gedruckt in Marburg an der Lahn, BBI Wien (Fotografie: Autorin). Registererstellung durch die Autorin Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. ISBN 978-3-7065-4979-0 Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. „Je älter ein Blinder wird, desto mehr sieht er.“1 1 Jüdisches Sprichwort. Vgl. o. A., „Je länger ein Blinder lebt, desto mehr sieht er.“ Inhaltsverzeichnis Vorwort von Univ.-Doz. Dr. Wolfgang Weber Vorwort von ao. Univ.-Prof.in Dr.in Elisabeth Dietrich-Daum Vorwort 13 15 von Barbara Hoffmann 17 Danksagung 19 I. Einleitung 21 25 27 31 1. 2. 3. 4. Forschungsfragen und Aufbau der Arbeit Quellenlage und Methode Beschreibung des aktuellen Forschungsstandes Definitionen von Blindheit und Sehbehinderung im zeitgenössischen Diskurs II. Zivilblinde 1. Ausmaß und Ursachen von Erblindungen unter der Zivilbevölkerung 1.1 Statistische Erfassung blinder Menschen 1.2 Wie wurden Erblindungen bei Zivilblinden verursacht? 1.2.1„Gonorrhöische Augenentzündung“ 1.2.2Erbliche Augenerkrankungen und ihr Anteil an den Erblindungen 1.2.3„Vermeidbare Erblindungen“ und der Rückgang der absoluten Anzahl von Zivilblinden 2. Der NS-Wohlfahrtsstaat: Öffentliche Fürsorge und gesetzliche Bestimmungen für Zivilblinde 2.1 Grundsätze der öffentlichen Fürsorge und der Gesetzgebung 2.2 Gesetzliche Grundlagen 2.2.1Einführung des deutschen Fürsorgerechts in Österreich 2.2.2Bestimmungen der „Reichsgrundsätze“ (RGS) und der „Fürsorgepflichtverordnung“ (Fürs.Pflicht.VO) 2.2.3„Invalidenbeschäftigungsgesetz“ 2.3 Versicherungsfragen 2.4 Vergünstigungen für Zivilblinde 2.4.1Steuerliche Sonderrechte 2.4.2Sondervergünstigung bei Kinderbeihilfen 38 41 41 41 45 46 47 50 52 52 53 53 56 57 59 62 62 65 2.4.3Ermäßigungen im öffentlichen Verkehr 2.4.4Vergünstigungen bei Kulturveranstaltungen und Literatur in Blindenschrift 2.5 Weitere rechtliche Bestimmungen und Schlussfolgerungen 3. Die „freie“ Blindenwohlfahrt in der NS-Zeit: NSV, Fürsorge- und Selbsthilfevereine 3.1 Überblick 3.2 Die Gleichschaltung der Vereine 3.3 Die „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ (NSV) 3.3.1Die Rolle der NSV im „ostmärkischen“ Blindenwesen 3.4 Der „Reichsdeutsche Blindenverband“ (RBV) 3.4.1Aufgaben und Ziele 3.4.2Die Entwicklung des RBV in der „Ostmark“ 3.4.3Die RBV-Gaubünde in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ 3.5 Der „Deutsche Blindenfürsorge-Verband“ (DBV) 3.5.1Aufgaben und Ziele 3.5.2Entwicklung des DBV 3.5.3Die Mitgliedsvereine des DBV in der „Ostmark“ 3.6 „Verein blinder Akademiker“ (VdBA) 3.7 Spendensammlungen in der NS-Zeit 4. Blindenschulen 4.1 Rahmenbedingungen 4.2 Unterricht und Leitbilder 4.3 Die Blindenschule und ihr Beitrag zur NS-Eugenik und Rassenhygiene 4.4 Die BlindenlehrerInnenschaft 4.5 Blindenschulen in Österreich 4.5.1„Blindenerziehungsinstitut“ in Wien 4.5.2„Odilien-Blindenanstalt“ in Graz 4.5.3Blindenschule in Innsbruck 5. Der „Reichsbann B“ in der „Hitler-Jugend“ 5.1 Gründung 5.2 Aufbau der „Hitler-Jugend“ in der „Ostmark“ 5.3 Ziele 5.4 Widerspruch zur Propaganda: Jugendliche mit einer Behinderung und „Erbkranke“ in der „Hitler-Jugend“ 6. Berufliche Möglichkeiten 6.1 Überblick über die Erwerbsmöglichkeiten blinder Menschen 6.2 Blinde HandwerkerInnen 6.3 Beschäftigungsmöglichkeiten in der Industrie 6.4 Tätigkeiten in kriegswichtigen Unternehmen und der Wehrmacht 66 67 70 71 71 72 75 76 78 78 81 85 87 87 88 89 91 93 97 97 99 102 104 106 107 108 110 113 113 115 117 118 121 121 123 126 127 6.5 TelefonistInnen und StenotypistInnen 6.6 Blinde „GeistesarbeiterInnen“ 6.7 Blinde MusikerInnen 6.8 Resümee 7. „Erholungsfürsorge“ 8. Blindheit und Eugenik 8.1 Einleitung 8.2 Zwangssterilisationen 8.2.1Gesetzgebung 8.2.2Diagnose „erbliche Blindheit“ 8.2.3Ausmaß der Zwangssterilisationen 8.2.4Durchführung 8.2.5Medizinisch-psychische Aspekte 8.2.6Die Auswirkungen der Propaganda 8.3 „Euthanasie“ 8.4 Ehegesetzgebung 9. Die Auswirkungen des Krieges 10.Die Situation blinder Frauen unter dem NS-Regime 11.Zivilblinde als AkteurInnen des NS-Regimes 11.1Die wissenschaftliche Diskussion um blinde, gehörlose und körperlich behinderte „TäterInnen“ 128 131 133 135 136 139 139 140 140 142 147 150 151 153 156 159 162 165 170 11.3Blinde Menschen im Widerstand 170 173 177 11.4Resümee: Die gesellschaftliche Stellung blinder Menschen und ihre Haltung zum Nationalsozialismus 179 11.2Blinde AkteurInnen III.Kriegsblinde 1. Ausmaß, Ursachen und medizinische Aspekte von Kriegsblindheit 1.1 Ausmaß 1.2 Wie wurden Kriegserblindungen verursacht? 1.2.1Militärische Aspekte 1.2.2Explosions- und Schussverletzungen 1.2.3Infektionskrankheiten 1.2.4Außergewöhnliche Ursachen für Kriegserblindungen 1.2.5Kriegserblindungen in der Zivilbevölkerung 1.3 Kriegsverletzungen und psychische Erkrankungen zusätzlich zur Blindheit 1.4 Die Sanitätsversorgung der erblindeten Soldaten 1.5 Resümee 2. Gesetzliche Grundlagen und Versorgung der Kriegsblinden 183 183 183 187 187 188 190 192 192 194 198 200 202 2.1 Überblick: Gesetzeslage und die Grundsätze der nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung 2.2 „Reichsversorgungsgesetz“ (RVG) 2.3 „Wehrmachtsfürsorge- und Wehrmachtsversorgungsgesetz“ (WFVG) und das „Einsatzfürsorge- und Einsatzversorgungsgesetz“ (EWFVG) 2.4 Besondere Verordnungen und Bestimmungen für erblindete Soldaten 2.5 Vergünstigungen für Kriegsblinde 2.5.1Steuergesetzgebung 2.5.2Ermäßigungen im öffentlichen Verkehr und bei kulturellen Veranstaltungen 2.5.3Die Verteilung von Rundfunkgeräten 2.6 Weitere Versorgungsansprüche und Beispiele 3. Die Organisation der Kriegsblinden 3.1 Die Vereinigungen von Kriegsblinden bis 1938 3.2 Aufbau und Ziele der NSKOV e. V. 3.3 Entstehung und Entwicklung der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ 3.4 Die NSKOV„Fachabteilung erblindeter Krieger“ in der „Ostmark“ 3.5 Die Propagandatätigkeit der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ 3.5.1Die Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ 3.5.2Die Rolle von Kriegsblinden in der NS-Propaganda 3.5.3Der Personenkult um Adolf Hitler 3.6 Resümee 4. Die Rehabilitation erblindeter Soldaten 4.1 Reservelazarette für Kriegsblinde 4.2 Der Ablauf der Rehabilitation in den Sammellazaretten für Kriegsblinde 4.2.1Grundausbildung 4.2.2Berufsausbildung 4.2.3Das Ende der Berufsausbildung und die Entlassung aus der Wehrmacht 4.2.4Sonderfälle 4.3 Hilfsmittel und Führhunde 4.4 Resümee 5. Die berufliche Situation Kriegsblinder 5.1 Einführung 5.2 Kriegsblinde HandwerkerInnen 5.2.1Umschulung von Trafikanten nach dem „Anschluss“ 5.2.2Berufliche Situation der kriegsblinden HandwerkerInnen 5.3 Die Beschäftigung Kriegsblinder in Industriebetrieben 5.4 Schwierigkeiten bei der Integration Kriegsblinder in die Berufswelt 5.5 Trafikanten 5.6 Resümee 202 204 207 211 213 213 213 214 217 220 220 221 222 225 227 227 229 231 233 234 234 237 237 239 242 243 245 247 248 248 250 250 250 251 253 255 258 6. Ausrichtung der Freizeitgestaltung 7. Ehefrauen als Faktor der Versorgung 8. Kriegsblinde Angehörige der Waffen-SS 9. Kriegserblindungen von Zivilpersonen: Ein Forschungsdesiderat 10.Kriegsblinde Akteure des NS-Regimes 10.1Kriegsblinde als „illegale“ Mitglieder der NSDAP und der ihr angeschlossenen Organisationen 10.2Kriegsblinde und die Verfolgungen von „Kameraden“ jüdischer Herkunft 10.3Resümee: Täter, Opfer und Akteure IV.Blinde Menschen jüdischer Herkunft 260 262 266 272 276 276 279 281 2. Aspekte des Antisemitismus gegen blinde Jüdinnen und Juden vor 1938 3. Die Verfolgung blinder Menschen jüdischer Herkunft 1938–1942 285 285 285 286 288 291 296 3.1 Die antijüdische NS-Gesetzgebung und ihre Auswirkungen auf den Alltag blinder Menschen jüdischer Herkunft 296 1. Einleitung und Problematisierung 1.1 Problematisierung von Begrifflichkeiten 1.2 Quellenlage und inhaltlicher Überblick 1.3 Probleme der Quantifizierung und namentlichen Erfassung 3.2 Die Vertreibung von blinden Menschen jüdischer Herkunft aus Wiener Gemeindewohnungen 3.3 Die Verfolgung von Kriegsblinden jüdischer Herkunft 3.3.1Besonderheiten bei der Vertreibung von Kriegsblinden aus Wiener Gemeindewohnungen 3.3.2Die Kündigung von Trafiklizenzen 3.3.3Die Behandlung Kriegsblinder durch das NS-Regime 3.3.4Sonderfall: Hans Hirsch (24.5.1898–2.8.1970) 3.4 Resümee 4. Die Vertreibung blinder Menschen jüdischer Herkunft 5. Die Zerstörung des jüdischen Blindenwesens und die Versorgung blinder Menschen jüdischer Herkunft 1938–1942 5.1 Überblick 5.2 „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ 5.2.1Die Nachfolgeorganisation: „Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden“ 5.3 Das „Israelitische Blindeninstitut“ auf der Hohen Warte 5.3.1Gründung und Entwicklung bis 1938 5.3.2Die Zerstörung durch das NS-Regime 5.4 Unterstützung blinder Menschen durch die IKG Wien 5.5 Weitere jüdische Vereine für blinde Menschen 5.6 Resümee 298 302 302 304 307 311 314 315 320 320 321 324 326 326 329 334 339 341 6. Die Vernichtung blinder Menschen jüdischer Herkunft 6.1 Versuch einer Quantifizierung 6.2 NS-„Euthanasie“ – Opfer jüdischer Herkunft 6.3 Deportationen in die Vernichtungslager aus Wien 6.4 Theresienstadt 6.4.1Quellenlage 6.4.2Theresienstadt: Ein als „Altersghetto“ getarntes Konzentrationslager 6.4.3Blinde Menschen in Theresienstadt 6.4.4Blinde Menschen in den Zeichnungen von Häftlingen und Überlebenden 6.5 Resümee 7. Überlebende 342 342 343 345 349 349 349 351 357 359 361 V. Resümee 365 Verzeichnis der Abkürzungen 377 Quellen- und Literaturverzeichnis 379 379 380 380 Archivalien Gesetzestexte Gedruckte Quellen und Literatur Abbildungsnachweis 413 Namensregister 415 Ortsregister 421 Anhang Namentliche Erfassung blinder und sehbehinderter Menschen jüdischer Herkunft in der „Ostmark“ 425 Vorwort von Univ.-Doz. Dr. Wolfgang Weber Das Eruieren und Auswerten von bis dato in staatlichen National- und Landesarchiven zwar seit langem zugänglichem, aber von der NS-Forschung nicht berücksichtigten Schriftgut behördlicher Provenienz ist einer der zentralen Verdienste der vorliegenden Studie von Barbara Hoffmann. Sie legt damit nicht nur eine bisher ausstehende Geschichte blinder Menschen und ihrer privaten und staatlichen (Fürsorge-)Institutionen, sondern auch zen­ traler staatlicher Archivbestände in Deutschland ebenso wie in Österreich vor. Deren staatliches Schriftgut in National- und Landesarchiven in Berlin und in Wien ergänzt sie durch Schriftgut aus privatrechtlichen Überlieferungen wie den „Central Archives of the History of Jewish People“ in Jerusalem, dem „Archiv und Internationale Dokumentationsstelle für das Blinden- und Sehbehinderten-Wesen“ in Marburg an der Lahn, dem „Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes“ sowie Überlieferungen im Besitz österreichischer Blindenselbsthilfevereine und Blindenschulen. Ihre Darstellung zeichnet sich durch großes Detailwissen und eine sehr reflektierte Sprache aus, die zeitgenössische und gegenwärtige Bewertungen problematisiert und hinterfragt und bei Bedarf neue, nach Möglichkeit neutrale, Begrifflichkeiten vorschlägt und anwendet. Sie verweist dort, wo es notwendig ist, auf aktuelle Diskurse der österreichischen Gesundheitspolitik und verortet diese im historischen Längsschnitt. Das ist nicht nur eine mutige, sondern vor allem eine notwendige Vorgangsweise, um aufzuzeigen, wie lange gerade in der österreichischen Politik für Menschen mit Handicaps Ideologeme wirkungsmächtig waren, die sich auf den NS-Staat zurückführen lassen. Durch das Verweisen auf gegenwärtige Diskurse und Praktiken in der österreichischen Blindenpolitik gelingt es Barbara Hoffmann zudem, die longue durée dieser spezifischen gesellschaftlichen Tätigkeit deutlich zu machen. Es ist zu wünschen, dass diese Arbeit dazu beiträgt, die Disability Studies auch in Österreich nicht nur in der Wissenschaft, sondern in der Gesellschaft zu verankern. Hohenems, im September 2011 Univ.-Doz. Dr. Wolfgang Weber Mag. et MA et MAS et akademischer Politischer Bildner 13 Vorwort von ao. Univ.-Prof.in Dr.in Elisabeth Dietrich-Daum Nach derzeitigem Forschungsstand lebten 1938 rund 4.000 Kriegs- und Zivilblinde in Österreich. Blinde waren im Zweiten Weltkrieg, wie die Autorin ausführt, nicht nur besonders schwierigen Lebensbedingungen ausgesetzt, sondern wurden durch die Bestimmungen verschiedener NS-Gesetze spezifisch behandelt: Sie waren in unterschiedlichem Maße privilegiert, wurden diskriminiert und persönlich verfolgt. Blinde Menschen jüdischer Herkunft, rund 200 Personen, hatten ohne Zweifel am meisten unter dem Terror-Regime zu leiden. Die soziale Segregation der Blinden in „Klassen“ während der NS-Zeit zeigt darüber hinaus, dass die Grenzen nicht allein entlang zeitgenössischer Kriterien wie „Rasse“ oder „Arbeitsfähigkeit“ gezogen wurden, was letztendlich auch darüber entschied, ob eine Person unterstützt oder getötet wurde. Auch das Geschlecht der Betroffenen bestimmte über das Ausmaß der gewährten Unterstützung. Aufbauend auf die bereits veröffentlichte Studie der Autorin „Kriegsblinde in Österreich 1914–1934“ erfährt der Forschungsgegenstand mit der nun vorliegenden Arbeit eine erhebliche zeitliche Erweiterung sowie problemorientierte Vertiefung. Erwartungsgemäß stieß die Rekonstruktion der Lebensverhältnisse und Überlebenschancen von blinden Menschen während der NS-Zeit aus verschiedenen Gründen auf zum Teil erhebliche Forschungsprobleme. Als größte Schwierigkeit stellte sich die Quellenlage selbst dar. Aus diesen nachvollziehbaren Gründen müssen verschiedene Einzelergebnisse der Autorin als Erstbefund bewertet werden und bedürfen weiterer Vertiefung. Generell ist zu bemerken, dass die österreichische Geschichtswissenschaft zwar intensiv zu Fragen der „Eugenik“, „Euthanasie“ und Vernichtung gearbeitet, die Gruppe der blinden Menschen bisher aber kaum Berücksichtigung gefunden hat. Ein Grund mag wohl in der Kleinheit der betroffenen Gruppe liegen. Fraglich ist aber auch, ob nicht auch die langjährige Abstinenz bzw. Weigerung der Blinden(nachfolge)organisationen selbst, sich der eigenen Geschichte zuzuwenden, hemmend auf eine systematische Erforschung der Geschichte der blinden bzw. sehbehinderten Menschen während der NS-Zeit gewirkt haben. Hinzu kommt, dass es gerade im Bereich „Disability History“ in Österreich noch dringenden Forschungsbedarf gibt. Die Stärken der Arbeit liegen in der sorgfältigen und umfassenden Erschließung der archivarischen, gedruckten und ungedruckten Quellen, der erstmaligen Beschreibung der normativen Rahmenbedingungen für blinde Menschen im Kontext der NS-Gesundheitspolitik, der institutionellen Entwicklung des „Blindenwesens“ als solchem und in der Differenziertheit der Darstellung verschiedener Teilaspekte. Die Verfasserin urteilt nicht vorschnell, vielmehr streicht sie Forschungsdesiderate deutlich heraus und bietet einen Leitfaden für weitere Forschungen. Innsbruck, im September 2011 ao. Univ.-Prof.in Dr.in Elisabeth Dietrich-Daum Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie Universität Innsbruck 15 Vorwort von Barbara Hoffmann „Die allgemein übliche Vorstellung von der Größe des Blindheitsleides ist […] ungeheuer übertrieben. Das Lebensglück des Einzelnen hängt von seiner anlagemäßigen Glücksbegabung ab und wird daher durch den Mangel der Sehkraft nicht berührt.“2 Einen Großteil der Umwelteindrücke nehmen sehende Menschen visuell war. Für viele ist es daher unvorstellbar, wie blinde Menschen ohne dieses Sehvermögen ihren Alltag bewältigen. Auch ich konnte mir das lange nicht vorstellen. Allerdings beschäftigte ich mich damit gar nicht, da es in meinem Umfeld, abgesehen von Verwandten mit altersbedingten Sehbeeinträchtigungen, überhaupt keine Menschen mit einer Behinderung gab. Dies änderte sich im Alter von 16 Jahren, als ich auf einer Skipiste in Hochgurgl (Tirol) von einem blinden Skifahrer mit Begleitläufer überholt wurde. Wie war das möglich? Damals war ich schon eine sehr gute Skifahrerin, aber dass es Menschen gab, die steile Abfahrten quasi im Blindflug absolvierten, war mir bis dato unbekannt gewesen und weckte meine Neugierde. Im Rahmen meiner Tätigkeit als freie Journalistin ab 1997 bekam ich den Auftrag, einige Reportagen über blinde Menschen zu schreiben. Daraus entwickelten sich persönliche Kontakte. Inzwischen begleite ich selbst seit rund neun Jahren blinde Menschen in der Freizeit und speziell beim Skifahren. 2003 begann ich neben meinem Studium als Verantwortliche für Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising beim Tiroler Blinden- und Sehbehinderten-Verband (TBSV), einer Landesgruppe des Österreichischen Blinden- und Sehbehinderten-Verbandes (ÖBSV), zu arbeiten. Als angehende Historikerin ging ich parallel dazu der Frage nach, wie blinde Menschen im 20. Jahrhundert lebten. Auf Grund meines persönlichen Kontaktes zu ausschließlich Zivilblinden und der damit verbundenen Befürchtung, mir würde eine zu große Nähe zum Untersuchungsobjekt vorgeworfen werden, widmete ich mich zunächst der Geschichte der Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges. Im Zuge dieser wissenschaftlichen Recherchen fiel mir auf, dass insbesondere die Rolle blinder Menschen unter der NS-Diktatur in der „Ostmark“ bisher nicht aufgearbeitet ist. In diesem Vorwort erfolgte eine ausführliche Darstellung meiner Beziehung zu blinden Menschen, um allen Leserinnen und Lesern die Möglichkeit zu geben, selbst darüber zu entscheiden, inwieweit diese Tatsache meine wissenschaftliche Arbeit positiv oder negativ beeinflusst hat. Aus meiner Sicht schreibe ich über blinde Menschen, nicht obwohl ich sie persönlich kenne, sondern gerade weil ich sie kenne. Die Kenntnisse über ihre potentiellen Möglichkeiten, Fähigkeiten, Strategien zur Alltags- und Freizeitbewältigung, Hilfsmittel usw. ermöglichen es mir, bestimmte zeitgenössische Aspekte z. B. in der Fürsorgegesetzgebung besser zu verstehen. 2 Kraemer, Blindheitsleid und Glückgefühl, S. 310–341, hier S. 341. [Vgl. Kapitel II.8.2.6.] 17 Meine Arbeit soll darüber hinaus als Appell verstanden werden, Menschen mit einer Behinderung differenzierter als bisher zu betrachten.3 Die Sichtweise von blinden Menschen als auf ständige Hilfe angewiesene, unser Mitleid bedürfende Personen verhinderte, meiner Meinung nach, in vielen Fällen eine umfassende historische Auseinandersetzung mit ihnen. Es gibt Tendenzen, Menschen mit einer Beeinträchtigung auch im 20. Jahrhundert nicht als selbständig denkende und handelnde Persönlichkeiten, sondern als passive Objekte öffentlicher sowie privater Fürsorge wahrzunehmen. Außerdem wird häufig von den „Behinderten“ im Generellen gesprochen, obwohl die Facetten von Beeinträchtigungen mannigfaltig sind. Blinde, gehörlose, körperbehinderte, geistige oder mehrfachbehinderte Menschen haben zum Teil völlig unterschiedliche Fähigkeiten und Anliegen in ihrem alltäglichen Leben. Berücksichtigt werden sollte außerdem, dass Behinderung als eine sozial konstruierte Kategorie betrachtet werden kann.4 Eine diesen Umständen Rechnung tragende Forschungsarbeit bedeutet, sie einmal mehr nicht weiter zu diskriminieren. Bei dieser Arbeit galt es, nicht nur die Opferrolle blinder Menschen unter dem NS-Regime zu beleuchten, sondern auch Fragen nach ihrer Beteiligung zu stellen. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine überarbeitete und gekürzte Fassung meiner 2010 fertig gestellten Dissertation. Ich danke dem FWF Wissenschaftsfonds für die Unterstützung bei der Drucklegung. Barbara Hoffmann 3 4 18 Weiterführende Literatur zu einer zeitgemäßen, historischen Auseinandersetzung mit Menschen mit einer Behinderung: Bösl, Klein, Waldschmidt, Disability History. Vgl. hierzu die Theorien und Modelle aus dem Bereich Disability Studies z. B. Davis, Disability Studies Reader; Bösl, Klein, Waldschmidt, Disability History. Danksagung Dass diese Arbeit beendet werden konnte, verdanke ich der Hilfe vieler Menschen. Viele haben mehr getan, als ihre Pflicht gewesen wäre. Frei nach Ewald Balser lebt die Welt ja bekanntlich von solchen Menschen. Ihnen allen gebührt mein aufrichtiger Dank: Elisabeth Dietrich-Daum (Betreuerin); Wolfgang Weber (Zweitbegutachter); Martin Kofler und allen MitarbeiterInnen des Studienverlags Innsbruck; Claudia Andrea Spring; Klaus Guggenberger; Verena Krausneker; Herbert Exenberger; Wolfram Dornik; Thomas Wendling und seinen KollegInnen vom AIDOS (Archiv und internationale Dokumentationsstelle für das Blinden- und Sehbehinderten-Wesen); Berthold Konrad, Roman Eccher, Hana Keller und ihren KollegInnen vom Österreichischen Staatsarchiv; Beatrix Rupp und ihren KollegInnen vom Bundes-Blindeninstitut Wien; Heinz Vogel und seinen Mit­ar­bei­ terIn­nen von der „Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs“; WolfErich Eckstein; Margit Oppl vom Sonderpädagogischen Zentrum für blinde und sehbehinderte Kinder Innsbruck; Eva Němcová vom Terezin Memorial Archives; Denise Rein und ihren KollegInnen vom Central Archives for the history of the jewish people in Jerusalem; den MitarbeiterInnen des Wiener Stadt- und Landesarchivs, des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, Odilien-Instituts Graz und der Wissenschaftlichen Bibliothek zum Blindenwesen – Deutsche Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig; denjenigen Funktionären und MitarbeiterInnen des ÖBSV, die meine Recherchetätigkeiten vorbehaltlos unterstützt haben; Bernhard Lindmayr (Kriegsblinder Zweiter Weltkrieg); Emma Leichter; Prof. Dr. med. Reinhard Dannheim (Sohn von Helmut Dannheim 1907–1993); Reuben Kaufmann (Neffe von Gisela Kaufmann); Dietmar Graff sowie meinen ArbeitskollegInnen; Bettina Handle; Miriam Dornik; meinen FreundInnen; meinem Lebensgefährten, Christian Ammann; meinen Eltern, Doris und Armin Hoffmann; Hiltrud und Franz Ebhard (†). Barbara Hoffmann 19 I. Einleitung „Körperlich erblindet, aber seelisch sehend, vermögt ihr noch Großes zum Besten Eures Volkes zu schaffen!“5 Die Europäische Blindenunion geht in einer im Juni 2004 publizierten Broschüre davon aus, dass in den Mitgliedsländern eine unter 30 Personen blind oder sehbehindert ist.6 Laut dem Behindertenbericht 2008 der Bundesregierung haben in Österreich 318.000 Menschen eine dauerhafte Sehbeeinträchtigung, die nicht durch optische Brillen, Kontaktlinsen oder andere Sehbehelfe verbessert werden kann. Das entspricht 3,9 Prozent der Bevölkerung.7 Unter den verschiedenen Gruppen von Menschen mit einer Beeinträchtigung stellen sie damit die drittgrößte Gruppe dar. Elf Prozent der Bevölkerung haben eine Beeinträchtigung der Beweglichkeit und sieben Prozent eine Hörbeeinträchtigung.8 Von den Personen mit einer dauerhaften Sehbehinderung sind allerdings nur wenige blind. Das „Österreichische Statistische Zentralamt“ erhob zuletzt 1995 im Rahmen einer Mikrozensuserhebung, dass von insgesamt 407.400 sehbeeinträchtigten Personen 4.600 auf beiden Augen blind waren.9 7.800 galten als praktisch blind, das bedeutet, die Betreffenden verfügten zwar noch über einen Sehrest, dieser war allerdings so gering, dass sie sich nicht ohne Hilfe in einer unbekannten Umgebung zurechtfinden konnten.10 Diese Angaben können allerdings nicht mit den Zahlen aus dem hier zu behandelnden Untersuchungsraum verglichen werden. Anfang 1938 lebten laut einer Schätzung des Reichsdeutschen Blindenverbandes (RBV) in Österreich rund 4.000 blinde Menschen.11 Während diese Angaben also lediglich auf einer Annahme beruhen, basieren die Zahlen von 1995 aus einer Stichprobenerhebung, die etwa ein Prozent der österreichischen Wohnungen erfasste. Allerdings ist auch das Ergebnis dieser Erhebung kritisch zu hinterfragen, unter anderem deshalb, weil die Teilnahme daran freiwillig war und die Auskünfte demnach dem subjektiven Empfinden der Befragten entsprachen.12 Problematisch ist die Erfassung der Anzahl blinder Menschen darüber hinaus deswegen, weil den unterschiedlichen Erhebungen zumeist verschiedene Definitionen von „Blindheit“ zugrunde liegen. Kapitel II.1.1 geht auf diesen Aspekt, der eine spezifische Schwierigkeit in der wissenschaftlichen Aus­ ein­an­der­set­zung mit blinden Menschen darstellt, weiter ein. Dementsprechend kann nicht belegt werden, ob es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Rückgang oder einer Zunahme der absoluten Anzahl blinder Menschen auf Grund des medizinisches Fortschritts, beispielsweise durch verbesserte Operations- und 5 6 7 8 9 10 11 12 O. A., Bericht über die Arbeitstagung der Leiter und Lehrer deutscher Blindenschulen vom 12. bis 13. August 1940 in Halle, S. 3, S. 68. [Angebliches Zitat von Hermann Göring und Motto der Arbeitstagung.] Vgl. European Blind Union, Integration – eine Vision. Vgl. Bundesministerium, Behindertenbericht 2008, S. 10. Vgl. Bundesministerium, Behindertenbericht 2008, S. 10. Vgl. Österreichisches Statistisches Zentralamt, Personen mit körperlichen Beeinträchtigungen, S. 33. Vgl. Österreichisches Statistisches Zentralamt, Personen mit körperlichen Beeinträchtigungen, S. 67–68. Vgl. BAB, Reichsverkehrsministerium, R 5/3048, Auszug 194. Sitzung der ständigen Tarifkommission der Deutschen Eisenbahnverwaltung in München vom 6., 7., 8.12.1938, S. 141. Vgl. Österreichisches Statistisches Zentralamt, Personen mit körperlichen Beeinträchtigungen, S. 285. 21 Behandlungsmöglichkeiten und/oder dem Ausbau präventiver Gesundheitspraktiken, kam.13 Auf internationaler Ebene gilt die Auffassung, die Zahl von Erblindungen könnte reduziert werden, allerdings als gesichert. 1999 initiierten die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die „International Agency for the Prevention of Blindness“ (IAPB) und einige Nichtregierungsorganisationen (NGO’s) die internationale Initiative „Vision 2020 – The right to sight“14 mit dem Ziel, durch entsprechende Präventionsmaßnahmen und kuratives Engagement, insbesondere in Entwicklungsländern, die Häufigkeit von Erblindungsursachen bis in das Jahr 2020 zu verringern.15 Nicht zu den Schwerpunkten dieser Initiative gehört allerdings die Verhinderung von Kriegserblindungen.16 Weltweit erblindete aber eine nicht bekannte Anzahl von Soldaten und Zivilpersonen durch die Auswirkungen von Kampfhandlungen, unter anderem infolge explodierender Landminen.17 International eine verstärkte mediale Aufmerksamkeit erhielt das Thema Kriegserblindungen 1986,18 als auf Betreiben von Schweden und der Schweiz auf einer internationalen Konferenz des Roten Kreuzes in Genf auf den Einsatz moderner Laserwaffen hingewiesen wurde, die zu Erblindung führen können.19 Die UnterstützerInnen dieser internationalen Kampagne befürchteten, durch den Einsatz dieser Waffen würde es zu einem starken Anstieg der Zahl von Kriegserblindungen kommen. Ein Protokoll20 zum Verbot dieser Waffen kam unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen allerdings erst am 13. Oktober 1995 zustande. Bisher ratifizierten 94 der 129 UNOMitgliedsstaaten dieses Papier. Zuletzt unterzeichneten am 21. Jänner 2009 die USA.21 Auch von den NS-Machthabern gab es intensive Bemühungen, die Ursachen für als vermeidbar angesehene Erblindungen zu minimieren.22 Allerdings führten der Zweite Weltkrieg und seine unmittelbaren Begleitumstände zu einem Ansteigen der Zahl von Erblindungen.23 Dies ist ein Hinweis darauf, dass im Zuge der Auseinandersetzung mit der Sozial- und Gesundheitspolitik des NS-Regimes Tendenzen aufgezeigt werden können, die sich, wie 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 22 Vgl. weiterführend Kapitel II.1.1. Vgl. Pichler, Prävention von Blindheit, S. 14–15. Vgl. Pichler, Prävention von Blindheit, S. 14–15. Vgl. Pichler, Prävention von Blindheit, S. 15. 30 Prozent aller Opfer von Explosionen durch Landminen oder anderer Kriegshinterlassenschaften sind Kinder. Vgl. UNICEF, Landmines an explosive remants of war continue to threaten children vom 3.4.2009. Vgl. Doswald-Beck, Blinding Laser Weapons, S. 2. Schätzungen gehen davon aus, dass der Anteil von Augenverletzungen mit 13 Prozent aller Verwundungen 2006 im Irak so hoch war wie in keiner anderen Kampfhandlung zuvor. Absolute Zahlen werden nicht bekannt gegeben. Vgl. Zoroya, Blinded by war. Dabei handelt es sich um das Protokoll IV zu der 1983 in Kraft getretenen Konvention über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventioneller Waffen. Vgl. International Comitee of the Red Cross, International Humanitarian Law. Die USA unterzeichneten das Protokoll erst am 21. Jänner 2009. Laserwaffen galten in den USA lange Zeit als Waffengattung der Zukunft. Vgl. International Comitee of the Red Cross (Ed.), Protocol on Blinding Laser Weapons; Morton, The Legal Status, pp. 697–705, hier p. 701; Hoffmann, Kriegsblinde, S. 223–224. Vgl. Kapitel II.1.2.3. Vgl. Kapitel III.1. Nicht einschätzbar ist, wie viele Menschen auf Grund ungenügender medizinischer Versorgung dem Ausbleiben entsprechender fachmedizinischer Untersuchungen erblindeten. Eine DiabetesErkrankung kann beispielsweise zu einer Erblindung führen, insbesondere dann, wenn sie nicht entsprechend behandelt wird. Ebenfalls nicht festgestellt werden kann, inwieweit es infolge der Schwächung der allgemeinen körperlichen Widerstandsfähigkeit zu Erblindungen in der Zivilbevölkerung kam. Christoph Sachße und Florian Tennstedt bereits 1992 bemerkten, „bereinigt um die rassistischen Prämissen“24 in der Nachkriegssozialpolitik und Nachkriegsgesundheitspolitik bis zum heutigen Tag fortsetzen. Ein weiteres Beispiel sind die bis heute aufrechten Maßnahmen zur Verhinderung der Geburt von Menschen mit einer Behinderung. Die moderne pränatale Gendiagnostik und entsprechende Untersuchungsmethoden ermöglichen es in vielen Fällen, schon vor der Geburt bei einem Säugling eine Beeinträchtigung zu diagnostizieren. Da eine Behinderung als eine schwerwiegende Belastung für die Betroffenen, ihre Angehörigen und die Gesellschaft gilt, ermöglichten die Gesetzgebung in Deutschland und Österreich eine straffreie Abtreibung aus eugenischer Indikation bis zur Geburt. In Österreich erlaubt der Paragraph 97 des Strafgesetzbuches Schwangerschaftsabbrüche über die geltende Fristenlösung hinaus, wenn das Kind „geistig oder körperlich schwer geschädigt sein werde.“25 In der Praxis bedeutet dies, dass bereits lebensfähige Föten, dies ist etwa ab dem sechsten Schwangerschaftsmonat der Fall, straffrei abgetrieben werden dürfen, wenn eine Beeinträchtigung diagnostiziert wurde. Damit ist die aktuelle Gesetzgebung sogar noch weitreichender als die Bestimmungen des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN), das nach einer Novelle vom Juni 193526 die Abtreibung nach eugenischer Indikation bei schwangeren Frauen, die zwangssterilisiert werden sollten, zwar legalisierte, aber dies ausdrücklich dann nicht erlaubte, wenn die Frucht schon als lebensfähig galt. In der Praxis erfolgte die Umsetzung dann allerdings nicht gesetzeskonform.27 Nach eigener Definition ist heutzutage das Bundessozialamt mit seinen neun Landesstellen die „zentrale Anlaufstelle für Menschen mit einer Behinderung“28 in Österreich: „Der Schwerpunkt des Amtes liegt im Bereich der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderung.“29 Dies bedeutet, dass hauptsächlich Angebote aus dem Bereich der beruflichen Rehabilitation mit Mitteln des Bundessozialamts gefördert werden. Für Einrichtungen, die blinde und sehbehinderte Menschen unterstützten, stellt diese Einschränkung ein finanzielles Problem dar, denn auf Grund der ständigen steigenden Zahl von altersbedingten Augenerkrankungen ist ein nicht unerheblicher Teil der KlientInnen auf Grund ihres Alters bereits aus dem Berufsleben ausgeschieden. Beratungs- und Rehabilitationsangebote für ältere Menschen mit einer Sehbehinderung oder Erblindung müssen dementsprechend anderweitig finanziert werden. Dafür gibt es allerdings sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene nur geringe finanzielle Unterstützung. Dieses Beispiel zeigt, dass auch in heutiger Zeit der volkswirtschaftliche Nutzen ausschlaggebend dafür sein kann, ob ein Angebot für Menschen mit einer Beeinträchtigung mit öffentlichen Geldern finanziert wird oder nicht. Eine utilitaristische Prägung ist demnach nicht nur in der NS-Wohlfahrtspolitik erkennbar, sondern unter anderen Rahmenbedingungen auch in der heutigen Sozialpolitik. Ein weiteres Indiz dafür, dass sich Kosten-Nutzen-Rechnungen in der Sozialpolitik des ausgehenden 20. Jahrhunderts und beginnenden 21. Jahrhunderts etabliert haben, ist der neue Begriff für Sozialvereine, die ausgehend aus dem angloamerikanischen Raum nicht 24 25 26 27 28 29 Vgl. Sachße, Tennstedt, Der Wohlfahrtsstaat, S. 7. Vgl. Klenk, Herzstich für Behinderte. [D] RGBl., Teil I, Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 26. Juni 1935, S. 773. Vgl. Kapitel II.8.2.1. Vgl. Bundessozialamt – BSB (Hrsg.), Organisation und Aufgaben des Bundessozialamtes. Vgl. Bundessozialamt – BSB (Hrsg.), Organisation und Aufgaben des Bundessozialamtes. 23 mehr als Non Profit, sondern Social Profit Organisationen (SPO) bezeichnet werden.30 Diese Bezeichnung soll verstärkt darauf hinweisen, welchen volkswirtschaftlichen Gewinn SPO’s erwirtschaften, beispielsweise durch die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Investition von Fördergeldern in Hilfsmittel, deren Herstellung und Verkauf wiederum einen eigenen Wirtschaftszweig aufrechterhält. Die Aufarbeitung der Lebensbedingungen und Überlebenschancen einer Gruppe von Menschen mit einer Behinderung unter dem NS-Regime, wie dies in dieser Studie anhand blinder Menschen erfolgt, ist vor diesem Hintergrund also von besonderer Aktualität. Als ein Charakteristikum des NS-Regimes muss allerdings angenommen werden, dass sich blinde Menschen auf die drei verschiedenen Gruppen – Zivilblinde, Kriegsblinde und blinde Menschen jüdischer Herkunft – aufteilten. Diese Feststellung basiert auf der Tatsache, dass es bereits seit dem Ersten Weltkrieg ein Zweiklassensystem von Zivil- und Kriegsblinden gab.31 Auf Grund der antijüdischen Politik des NS-Regimes wurden zivilund kriegsblinde Menschen jüdischer Herkunft verfolgt. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die Lebensbedingungen blinder Menschen, abhängig von ihrer Herkunft und der Ursache für ihre Erblindung, unter dem NS-Regime sehr unterschiedlich gewesen sein dürften. Bis dato erfolgte daher eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen stets unabhängig voneinander. Die in dieser Studie erfolgte parallele Darstellung aller drei Gruppen von blinden Menschen ermöglicht es aber, neue Erkenntnisse über die nationalsozialistische Gesellschafts- und Sozialpolitik zu gewinnen und bisher nicht bekannte Zusammenhänge aufzuzeigen. 30 31 24 Vgl. Gaudiani, Let’s put the word ‘nonprofit’ out of business. Vgl. Hoffmann, Entstehung eines „Zwei-Klassen-Systems“, S. 75–84; Hoffmann, Kriegsblinde. 1.Forschungsfragen und Aufbau der Arbeit Ziel dieser Studie ist es, die Lebensumstände blinder Menschen in der „Ostmark“ unter dem NS-Regime in verschiedenen Teilaspekten zu schildern. Ökonomische, soziale, rechtliche, medizin- und geschlechterspezifische Gesichtspunkte werden mitberücksichtigt. Ursachen von Erblindungen sind dementsprechend ebenso Untersuchungsgegenstand wie die NSGesetzgebung. Es soll, soweit der zugängliche Quellencorpus dies zuließ, ein möglichst detailliertes Bild der Lebensbedingungen blinder Menschen rekonstruiert werden. Dezidiert Teil der wissenschaftlichen Aufgabenstellung ist es dabei, offene Fragestellungen, die sich zum Teil aus der lückenhaften Quellenlage32 ergaben, sowie mögliche weiterführende herauszuarbeiten.33 Um den Lesefluss nicht zu beeinträchtigen, befinden sich diese Hinweise häufig im umfangreichen Fußnotenapparat. Die Untersuchung erfolgte zeitlich begrenzt und beginnt mit den Anfängen der NSHerrschaft in der „Ostmark“ 1938 und endet mit der endgültigen Kapitulation des NS-Regimes im Mai 1945. Auf Entwicklungen außerhalb dieses Zeitraums wird dann eingegangen, wenn dies zur Interpretation und Einordnung notwendig ist, erfolgt aber, mit Ausnahme der Darstellung der spezifischen Aspekte von antisemitischen Ressentiments gegen blinde Jüdinnen und Juden vor 1938 in Kapitel IV.2, nicht im Rahmen eigenständiger Kapitel, sondern an den entsprechenden Stellen in den einzelnen Abschnitten. 1. Wichtiges Ziel dieser Studie ist es, die Hauptentwicklungsstränge der Behandlung blinder Menschen unter der NS-Diktatur herauszuarbeiten und aufzuzeigen, welche Rückschlüsse dies auf das NS-Regime und seine Ideologie zulässt. Durch die parallele Darstellung der Lebensbedingungen zivil-, kriegsblinder und blinder Menschen jüdischer Herkunft sollen Charakteristika der NS-Sozialpolitik aufgezeigt werden. 2. In einem folgenden Schritt sollen die Faktoren, von denen die Lebensbedingungen blinder Menschen unter dem NS-Regime abhingen, aufgezeigt werden und der Frage nachgegangen werden, ob die Annahme einer Dreiklassengesellschaft blinder Menschen unter der NS-Diktatur haltbar ist. 3. Von erkenntnisleitendem Interesse ist es herauszuarbeiten, inwieweit blinde Menschen zu Opfern des NS-Terrors wurden und ob auf Grund der von blinden Menschen bekleideten Funktionen im NS-Blindenwesen auch von einer aktiven Rolle blinder Menschen ausgegangen werden muss. 4. Ein weiteres Ziel dieser Studie ist es, Probleme, die sich bei der Aufarbeitung ergaben, herauszuarbeiten und aufzuzeigen, inwieweit die Notwendigkeit weiterführender Forschungsarbeiten zu diesem Thema besteht. 5. Damit zusammenhängend soll geklärt werden, inwieweit die Erkenntnisse dieser Studie für eine Bearbeitung des Themas Menschen mit Beeinträchtigungen unter dem NSRegime relevant sind. Der Aufbau der Arbeit orientiert sich an den drei Gruppen blinder Menschen, den Zivilblinden, Kriegsblinden und blinden Menschen jüdischer Herkunft. Unterteilt ist diese Studie in fünf Abschnitte. In Abschnitt I. erfolgen die Einleitung, die Beschreibung der Fragestellungen, der Methodik, der Quellenlage und des Forschungsstandes sowie eine 32 33 Vgl. u. a. Kapitel I.2, II.3.1, II.4.2, II.9; III.1.2.5, III.4.4, III.9; IV.1.3, IV.3.2, IV.6.1, IV.7. Vgl. Kapitel I.3. 25 Problematisierung der Definition von Blindheit. Kapitel II setzt sich mit der zahlenmäßig größten Gruppe blinder Menschen, den Zivilblinden, auseinander. In Abschnitt III werden die Lebensbedingungen Kriegsblinder, beginnend mit einer ausführlichen Beschreibung der Ursachen von Kriegserblindung, geschildert. Die Verfolgung und Vernichtung von kriegs- und zivilblinden Menschen jüdischer Herkunft wird in Abschnitt IV behandelt. Zur Einführung in diesen Themenkomplex erfolgt eine Einleitung, in der Begrifflichkeiten problematisiert, Informationen über den Quellenstand gegeben sowie die Schwierigkeiten der Quantifizierung und namentlichen Erfassung ausgeführt werden. Eine Studie über die NS-Zeit in deutscher Sprache zu verfassen, birgt eine „Reihe von Herausforderungen“34, da dabei die Muttersprache der NS-TäterInnen verwendet wird. Um nicht den Duktus der TäterInnen zu übernehmen, wurde bei der Verschriftlichung der Arbeit die verwendeten Begrifflichkeit kritisch hinterfragt.35 Entsprechende Hinweise zu den verwendeten Formulierungen finden sich in den Fußnoten sowie in eigenen Kapiteln an den entsprechenden Stellen. Zeitgenössische Begriffe, insbesondere abfällige Wertungen von Menschen mit einer Beeinträchtigung, werden in Anführungsstriche gesetzt. Dies dient dazu, sich von dem Wortschatz der NS-Machthaber, der immer auch „zum Ausdruck der Ideologie“36 diente, sichtbar zu distanzieren. Alle wortwörtlichen Zitate, die aus direkten Textstellen übernommen wurden, werden in Anführungsstriche und kursiv gesetzt. Aus datenschutzrechtlichen Gründen wurde in dieser Arbeit darauf verzichtet, Namen von blinden Menschen vollständig anzugeben, wenn es sich um Privatpersonen, das heißt nicht um FunktionsträgerInnen und damit RepräsentantInnen der NS-Diktatur gehandelt hat und ihre Daten aus behördlichen Dokumenten entnommen wurden. Im Abschnitt IV wird von dieser Praxis abgegangen und die Namen blinder Menschen, die als Jüdinnen und Juden galten, stets ausgeschrieben. Dies diente dem Ziel, dieser Gruppe von Verfolgten ihre Namen und damit ihre Identität wiederzugeben, und entspricht einem wichtigen Anliegen der Aufarbeitung des Holocaust in Israel.37 34 35 36 37 26 Vgl. Spring, Zwangssterilisationen in Wien 1940–1945, S. 17. [Publikation: Spring, Zwischen Krieg und Euthanasie.] Vgl. u. a. Kapitel IV.1.1. Vgl. Vorbemerkungen zu: Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus [ohne Seitenangabe]. Vgl. Gutterman, Shalev, Zeugnisse des Holocaust. 2.Quellenlage und Methode Die Studie basiert auf einem umfangreichen Quellenkorpus, der in Österreich, Deutschland und Israel eingesehen wurde. Der Wert dieser Arbeit liegt darin, dass neue Bestände erschlossen und bereits bekanntes Archivmaterial unter neuen Gesichtspunkten interpretiert werden konnte. Gleichzeitig werden vorhandene Bestandslücken aufgezeigt. Viele Dokumente gingen unter nicht näher bekannten Umständen verloren, etwa die Vereinsakten der NS-Blindenorganisationen, wie dem RBV, dem DBV und der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“. Darüber hinaus gab es innerhalb der heute noch tätigen Organisationen im Blindenwesen fallweise Vorbehalte gegenüber einer Forschungsarbeit über die Situation blinder Menschen unter dem NS-Regime. Diese ablehnende Haltung könnte die Bereitschaft, eventuell noch erhaltene Dokumente zur Verfügung zu stellen, unter Umständen gehemmt haben.38 So gaben die heute noch tätigen Blindenschulen, namentlich das „Bundesblindenerziehungsinstitut“ (BBI) Wien, das „Odilien-Institut“ in Graz und das „Sonderpädagogische Zentrum für blinde und sehbehinderte Kinder“ in Innsbruck, beispielsweise an, die Akten von SchülerInnen aus dieser Zeit seien nicht mehr erhalten. In Wien sind laut Auskunft des Direktorats diese erst 2006 zerstört worden, ohne eine vorherige wissenschaftliche Aufarbeitung zu ermöglichen.39 Wenn auch keine Schülerakten, so konnten in den Bibliotheken des BBI und des Odilien-Instituts allerdings einige gedruckte Quellen eingesehen werden. In Graz befindet sich darüber hinaus als einzige Archivalie ein Klassenbuch der „Allgemeingewerblichen Fachlichen Fortbildungsschule für Blinde in Graz“ aus dem Schuljahr 1941/42. Der umfangreichste Bestand von gedruckten Quellen über blinde Menschen, zum Teil von blinden AutorInnen selbst erstellt, befindet sich im „Archiv und Internationale Dokumentationsstelle für das Blinden- und Sehbehinderten-Wesen“ (AIDOS) in Marburg an der Lahn, einer Einrichtung der dort ansässigen „Blindenstudienanstalt“.40 Im „Archiv der Republik“ (AdR) im Österreichischen Staatsarchiv (ÖSTA) wird ein für die Fragestellungen zu den Lebensbedingungen der Kriegsblinden des Ersten und Zweiten Weltkrieges umfangreicher Bestand verwahrt, der zum Teil bereits im Rahmen der von der Autorin publizierten Studie „Kriegsblinde in Österreich 1914–1934“41 bearbeitet wurde. Es handelt sich dabei um die Akten des Hauptversorgungsamtes „Ostmark“ zu 252 Kriegsblinden des Ersten und Zweiten Weltkrieges.42 Problematisch für die Auswertung war allerdings, dass in diesem Bestand nur ein Bruchteil der Kriegsblinden, 1945 lebten noch rund 200 Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges und rund 1.000 Männer, Frauen und Kinder erblindeten infolge des Zweiten Weltkrieges,43 erfasst sind. Außerdem waren die vorhandenen Unterlagen zum Teil unvollständig. Aufschluss über für blinde Menschen relevante Vereine und Organisationen gab eine Einsicht von Akten aus dem Bestand des Stillhaltekommissars für Vereine, Organisationen und Verbände, der für die Neuregelung des Vereinswesens im Sinne der Interessen der NS-Machthaber zuständig war. Ergänzt wurden diese Informationen durch den erhaltenen 38 39 40 41 42 43 Vgl. Malmanesh, Blinde, S. 7 [publizierte Dissertation]. Vgl. Kapitel II.4.3. Vgl. Malmanesh, Blinde, S. 135. Hoffmann, Kriegsblinde. Eine ausführliche Beschreibung dieser Akten erfolgt in Kapitel III.1.1. Vgl. Kapitel III.1.1. 27 Bestand der Polizeidirektion Wien im ÖStA.44 Der Stillhaltekommissar war dem Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem „Deutschen Reich“ unterstellt. In den Dokumenten dieses Bestandes („Bürckel-Materie“) ließen sich relevante Informationen über die Einführung der Bestimmungen im Sozialbereich und Vereinswesen, das NS-Fürsorge- und Wohlfahrtswesen, das NS-Gesundheitswesen, die Einführung des GzVeN sowie über die Verfolgung blinder Menschen jüdischer Herkunft in der „Ostmark“ eruieren. In dem Register zur „Bürckel-Materie“ fand sich außerdem ein Hinweis auf eine Mappe mit dem Betreff „Blindenwesen“45, allerdings war darin lediglich ein Fehlblatt enthalten.46 Die Archivalien zur „Volksgesundheit“ im Bestand des „Ministeriums für soziale Verwaltung“ aus den Jahren 1938 bis 1940 im AdR, der 60 Akten umfasste, wurde dagegen vollständig eingesehen. Dadurch erhielt die Autorin Einblicke in die so genannte „Krüppelfürsorge“47 sowie die Verbreitung von Infektions- und Geschlechtskrankheiten, insbesondere über die Trachomendemie in der „Ostmark“. Darüber hinaus enthielten diese Kartons keine weiterführenden Informationen über die Ursachen und Verbreitung von Erblindungen oder blindenspezifische Einrichtungen und Vereine. Ab 1940 wurde die Verwaltung dieses Bereiches von Berlin aus vorgenommen. Die Dokumente aus dem Zeitraum 1941 bis 1945 werden daher nicht im ÖStA verwahrt. Aufschluss über den Ablauf der Gleichschaltung der zahlreichen Vereine und Einrichtungen von und für Zivilblinde, Kriegsblinde und blinde Menschen jüdischer Herkunft unter dem NS-Regime und der Einführung der NS-Blindenorganisationen in der „Ostmark“ geben die Dokumente der aufgelösten Organisationen und Vereine blinder Menschen der Magistratsabteilung 119, die im Zeitraum 1920 bis 1974 gelöscht worden waren, im „Wiener Stadt- und Landesarchiv“ (WStLA). Insgesamt konnten durch die Recherchen in den Akten des Stillhaltekommissars im ÖStA, im WStLA sowie in der Polizeidirektion Wien vereinsrechtliche Unterlagen von 28 verschiedenen relevanten Selbsthilfe- und Fürsorgevereinen ausfindig gemacht werden.48 Im WStLA befindet sich auch der Bestand des Erbgesundheitsgerichtes Wien, aus dem 14 Verfahrensakten von Personen mit der angenommenen GzVeN-Diagnose „erbliche Blindheit“ eingesehen wurden.49 Im Wiener „Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes“ (DÖW) konnten diverse Primär- sowie gedruckte Quellen und Sekundärliteratur über die Verfolgung blinder Menschen jüdischer Herkunft aufgefunden werden. Dort ebenfalls archiviert sind Dokumente der Wiener Magistratsabteilung 21 zur Vertreibung blinder MieterInnen jüdischer Herkunft aus Gemeindewohnungen in Wien. Im WStLA waren diese nicht auffindbar.50 Eine Durchsicht der Ausgaben des „Jüdischen Nachrichtenblattes“ zwischen 1939 und 1944, das in Wien erschien, gab weitere Einblicke in die schwierigen Lebensbedingungen 44 45 46 47 48 49 50 28 Vgl. weiterführend: o. A., Vorbemerkung, in: Pawlowsky, Leisch-Prost, Klösch, Vereine im Nationalsozialismus, S. 13–25. Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 56, Sg. 1943, Betreff: Blindenwesen. Trotz intensiver Bemühungen der zuständigen Archivarin, Hana Keller, konnte der Verbleib der Dokumente nicht ausfindig gemacht werden. Zur Begriffsdefinition vgl. die Ausführungen in den Fußnoten von Kapitel II.1.2. Vgl. Kapitel II.3.2. Claudia Spring hat den Bestand des Wiener Erbgesundheitsgerichts für ihre Dissertation, die 2009 publiziert wurde, bearbeitet und der Autorin freundlicherweise die Aktenzahlen von 14 Verfahren auf Grund der GzVeN-Diagnose „erbliche Blindheit“ zur Verfügung gestellt. Vgl. Kapitel II.8. Vgl. Kapitel IV.3.2, 3.3.1. blinder Menschen jüdischer Herkunft unter dem NS-Regime. Über die vom DÖW erstellten Deportationslisten und der Datenbank mit den österreichischen Opfern des Holocausts ließ sich fallweise das Schicksal blinder Menschen jüdischer Herkunft, die namentlich bekannt waren, eruieren. Am umfangreichsten dokumentiert wird die Versorgung blinder Menschen jüdischer Herkunft zwischen 1938 und 1942 durch den erhaltenen Bestand der IKG Wien im „Central Archives of the history of jewish people“ (CAHJP) in Jerusalem. 51 Die dort archivierten Listen über blinde Menschen ermöglichten, ergänzt durch entsprechende Dokumente aus dem WStLA und des ÖStA, eine namentliche Erfassung von blinden und sehbehinderten Menschen jüdischer Herkunft. Ob betreffende Personen „blind“ oder „sehbehindert“ waren, konnte auf Grund fehlender Angaben dazu, allerdings nicht unterschieden werden.52 Im „Bundesarchiv Deutschland“ am Standort Berlin Lichterfelde (BAB) konnten durch die digitale Registrierung der Bestände der Abteilung R „Deutsches Reich“ viele relevante Dokumente verschiedenster NS-Ministerien wie dem Reichsverkehrsministerium, Reichsfinanzministerium, Reichsministerium für Volksaufklärung, Reichswirtschaftsministerium und der Reichstheaterkammer eingesehen werden. Während die im ÖStA aufbewahrten Quellen in erster Linie Auskunft über den Zeitraum 1938 bis 1940 gaben, informierten diese Bestände über die Versorgung Kriegsblinder und Zivilblinder im „Deutschen Reich“ darüber hinaus bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Besonders aussagekräftig waren dabei Unterlagen aus dem Bestand des „Deutschen Gemeindetags“ (DGT). Nach der Machtübertragung an Adolf Hitler 1933 hatten die bis dahin in Deutschland bestehenden sechs kommunalen Spitzenverbände ihre Selbständigkeit verloren. Der DGT wurde zur einzigen von der NSDAP anerkannten, korporativen Vertretung aller deutschen Städte- und Gemeindeverbände. Diese Studie zeigt, dass dieser Bestand nicht nur für kommunale und regionale Fragestellung relevant ist. 1940 wurde im DGT etwa eine „Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung“ eingerichtet, in der auch VertreterInnen aus der „Ostmark“ eingebunden wurden.53 Die diversen Schreiben von und an den DGT sowie erhaltene Protokolle der verschiedenen Gremien verdeutlichen zeitgenössische Probleme in der Versorgung blinder Menschen, ihre Integration in die Arbeitswelt, Bestimmungen bezüglich der Bildungsmöglichkeiten, die Arbeitsweise des „Reichsbann B“ für blinde Kinder und Jugendliche in der „Hitler-Jugend“ sowie versorgungsrechtliche Grundsätze des NS-Regimes in Bezug auf blinde Menschen im gesamten „Deutschen Reich“. Allerdings weist auch der Bestand im BAB erhebliche Lücken auf. Vom „Hauptamt für Volkswohlfahrt“ ist beispielsweise kein für diese Studie relevantes Schriftgut erhalten. Auch die Dokumente der Reichsjugendführung der „Hitler-Jugend“ sind im Laufe des Zweiten Weltkrieges vernichtet worden. Eine weiterführende Recherche über den „Reichsbann B“ der „Hitler-Jugend“ war deshalb im BAB nicht möglich. 51 52 53 Die Mikroficheablichtungen dieses Bestandes sind zwar ebenfalls in Wien archiviert, waren aber nach Anfrage der Autorin zum erforderlichen Zeitpunkt für die Fragestellung dieser wissenschaftlichen Arbeit nicht zugänglich. Abgesehen von wenigen Ausnahmen gestattet das CAHJP keine Einsicht der Originaldokumente. Deshalb erfolgte lediglich die Sichtung von Mikrofiche-Bändern, die stellenweise auf Grund mangelnder Qualität schwer lesbar, zum Teil gänzlich unleserlich waren. Vgl. Kapitel IV.1.3. Vgl. Kapitel II.3.5.2. 29 Weiter ergänzt wurde die Quellenrecherche für diese Studie durch von der „Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs“ und den „Österreichischen Blinden- und Sehbehinderten-Verband“ zur Verfügung gestellten Dokumente aus dem Besitz dieser Vereine. Im Zuge der Quellenarbeit konnten also vor allem Dokumente die Umsetzung fürsorgerechtlicher Vorschriften und Beschlüsse betreffend, erstellt von NS-Behörden, NSOrganisationen, AutorInnen, die der NS-Ideologie zuzuordnen waren, oder beispielsweise der von den NS-Machthabern gelenkten IKG, konsultiert werden. Diese Archivalien sowie gedruckten Dokumente zeigen die Lebensumstände blinder Menschen also aus der Per­ spek­ti­ve der Akteure und nicht die Sichtweise der Betroffenen. Die eingesehenen Akten und gedruckten Dokumente geben daher keine Auskunft darüber, wie blinde Menschen selbst ihr Leben unter dem NS-Regime beurteilten. Soweit vorhanden, wurden daher publizierte Aussagen blinder ZeitzeugInnen herangezogen, auf die im folgenden Kapitel eingegangen wird. Außerdem wurde mit Hilfe der Oral-History-Methode ein Interview mit dem Kriegsblinden Bernhard Lindmayr am 15. September 2006 in Kapfenberg und mit der Zivilblinden Emma Leichter am 7. Juni 2010, die 1940 aus Sterzing an die Blindenschule in Innsbruck kam, geführt. Auf Grund des hohen finanziellen sowie zeitlichen Aufwandes für eine Oral-History-Studie mit blinden Menschen aus ganz Österreich musste von weiteren ZeitzeugInnenbefragungen abgesehen werden. Dem hier erläuterten Quellenbestand entsprechend handelt es sich bei dieser wissenschaftlichen Arbeit um eine quantitative Studie. Die Erschließung und Auswertung des Quellenmaterials erfolgte nach der hermeneutisch-kritischen Methode. Die Interpretationen ergaben sich aus dem eingesehenen Material, das zuvor entsprechend quellenkritisch hinterfragt wurde. Mit einbezogen in die Erkenntnisfindung wurde auch der im Folgenden beschriebene Forschungsstand und Fachdiskurs. 30 3.Beschreibung des aktuellen Forschungsstandes Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden in der „Ostzone“ Deutschlands sowie der späteren DDR einige Publikationen, die sich nicht wissenschaftlich fundiert und zum Teil tendenziös mit der Rolle blinder Menschen unter dem NS-Regime auseinandersetzten, veröffentlicht.54 Erst 1968 erschien dann, ebenfalls in der DDR, erstmals eine wissenschaftliche Arbeit zur Geschichte des Blindenwesens von 1800 bis 1945.55 Der Verfasser dieser Dissertation war Martin Jaedicke. Gemeinsam mit Helmut Pielasch, dem Präsidenten des „Deutschen Blinden- und Sehschwachenverbandes“ der DDR, publizierte Jaedicke in der Folge 1971 ein Buch mit dem Titel „Geschichte des Blindenwesens in Deutschland und in der DDR“56. Beide Werke thematisieren die NS-Zeit und sind quellenfundiert. Den damaligen politischen Verhältnissen der DDR entsprechend vertraten beide Autoren aber das kommunistische Weltbild.57 Bis in die 1980er Jahre kam es zu keiner weiteren nennenswerten Auseinandersetzung mit den Lebensumständen blinder Menschen unter dem NS-Regime, was dem Forschungsstand über Menschen mit einer Beeinträchtigung in diesem Zeitraum entsprach. Historische Studien setzten sich erst im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Zwangssterilisierungen und NS-„Euthanasie“ auch mit den Lebensbedingungen von Menschen mit Beeinträchtigungen in diesem Zeitraum auseinander.58 Diese Aspekte der NS-Herrschaft wurden allerdings erst in den 1980er Jahren „auf breiter Front“59 erforscht.60 Die in den 1980er Jahren gestarteten Initiativen und Arbeiten zur Aufarbeitung des Schicksals von Menschen mit einer Behinderung standen im Zusammenhang mit der damaligen Emanzipationsbewegung von Menschen mit einer Behinderung und verfolgten in ihrer Vermittlung daher spezifische Ziele: Ein Beispiel dafür ist Stefan Romey. Sein 1982 publizierter Aufsatz „Von der Aussonderung zur Sonderbehandlung“61, diente nicht nur der Darstellung der Lebensbedingungen von Menschen mit einer Behinderung unter dem NSRegime, sondern erfüllte den Zweck, seine tagespolitischen Forderungen, wie die Auflösung von Sondereinrichtung und Großkliniken, zu untermauern, indem er darauf hinwies, das bestehende System würde die Wiederholung der unter dem NS-Regime begangenen Verbrechen begünstigen.62 Romey ist ein charakteristisches Beispiel dafür, dass dieses erkenntnisleitende Interesse den Blick auf die konkreten Lebensumstände verhinderte: So stellte er zwar fest, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung durchaus Überlebensmöglichkeiten 54 55 56 57 58 59 60 61 62 Vgl. Beiträge aus der Reihe „Nazispiegel“ der Zeitschrift „Die Gegenwart“ (Quellenangaben in den Fußnoten zu Kapitel II.11.1); Schöffler, Blinde im Leben des Volkes; Waldtraut Rath, Vorwort, in: Dierks, Sehgeschädigte Menschen im Nationalsozialismus, S. 7–11, hier S. 8; Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 28. Vgl. Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens. Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens. Vgl. die Ausführungen in den Fußnoten von Kapitel II.1.1. Vgl. Rudnick, Behinderte im Nationalsozialismus. Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat; Rudnik, Aussondern; Wunder, Sierck, Sie nennen es Fürsorge; Kräuse-Schmitt, Die Ermordung geistig behinderter Menschen in Grafeneck 1940, S. 8–10; Thom, Die Entwicklung der Psychiatrie, S. 127–165. Vgl. Schmuhl, Patientenmorde, S. 295–328, hier S. 297. Der aktuelle Forschungsstand zu diesem Themenkomplex wird in den Fußnoten zu Kapitel II.8 wiedergegeben. Romey, Von der Aussonderung zur Sonderbehandlung, S. 13–26. Vgl. Romey, Von der Aussonderung zur Sonderbehandlung, S. 13–26, hier insb. S. 24–25. 31 unter dem NS-Regime hatten, diese allerdings „allein vom Wert“ ihrer „Arbeitskraft“ abhingen.63 Gleichzeitig kam er aber nicht zu dem Umkehrschluss, dass es dementsprechend auch Integrations- und Kooperationsmöglichkeiten gegeben haben muss. Ein weiteres Beispiel für eine undifferenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema Anfang der 1980er Jahren ist Wolfgang Jantzen, der 1982 das Verhältnis von Behinderung und NS-Regime auf die Kurzformel brachte: „Behinderung = Arbeitsunfähigkeit = Vernichtung“64. Damit ignorierte Jantzen die Tatsache, dass nicht alle Menschen mit einer Beeinträchtigung unter dem NSRegime getötet wurden und es außerdem unter ihnen durchaus Berufstätige gab. Wissenschaftlich fundierte Studien, die sich mit Fragestellungen, die über die NS-Rassenhygiene hinausreichten, beschäftigten, erschienen dann beginnend Mitte der 1980er Jahre und insbesondere in den 1990er Jahren beispielsweise in Deutschland und den USA. Im Zusammenhang mit der Darstellung von Integrationsmöglichkeiten „arbeitsfähiger“ Menschen mit einer Beeinträchtigung gingen die AutorInnen dieser Arbeiten unter anderem der Frage nach, ob unter Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung sowie Hör- oder Sehbehinderung nicht nur Opfer, sondern auch TäterInnen waren. Diese internationalen Werke und Thesen stammen von WissenschaftlerInnen wie Carol Poore, Horst Biesold, Donna Ryan, John Schumacher, Ernst Klee oder Henry Friedlander und werden im Kapitel II.11.1 besprochen. Die US-amerikanische Germanistin Carol Poore veröffentlichte 2007 eine kulturgeschichtliche Studie unter dem Titel „Disability in Twentieth Century German Culture“,65 die einen Schwerpunkt auf die Darstellung von Menschen mit einer Beeinträchtigung in der Propaganda legte. Im Kapitel „Disability and Nazi Culture“66 rekonstruierte sie ein System von Menschen mit einer Beeinträchtigung unter dem NS-Regime.67 Ihrer Auffassung nach gab es drei Hauptgruppen: Zum einen waren dies Kriegsveteranen mit einer Beeinträchtigung, welche in der NS-Propaganda heroisch dargestellt und verehrt wurden. Die zweite Gruppe bildeten diejenigen Menschen mit einer Behinderung, die als erblich belastet galten und unter anderem durch das GzVeN verfolgt wurden, sowie die Insassen von Anstalten, die keiner Arbeit nachgehen konnten. Zwischen diesen beiden Polen ordnete sie die blinden, gehörlosen und Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen an, für die es offizielle NS-Organisationen gab und die sich am NS-Regime beteiligten.68 Unberücksichtigt blieben dabei allerdings Menschen mit einer Behinderung, die jüdischer Herkunft waren. Die erste wissenschaftliche Studie, die sich dezidiert nur mit blinden Menschen unter dem NS-Regime befasste, erschien 1986 in Freiburg (D). Die publizierte Dissertation von Gabriel Richter69 mit dem Titel „Blindheit und Eugenik“70 hatte zum Ziel, die im Rahmen der NS-Eugenik begangenen Verbrechen an dieser Gruppe von Menschen mit einer Beeinträchtigung aufzuarbeiten. Richters umfangreiche Recherchen zeigten, dass einige blinde Menschen die Umsetzung des GzVeN aktiv unterstützt hatten. Seine Publikation löste im 63 64 65 66 67 68 69 70 32 Vgl. Romey, Behinderte Menschen unterm Hakenkreuz, S. 9–11, hier S. 9. Jantzen, Sozialgeschichte des Behindertenbetreuungswesen, S. 156. Vgl. Poore, Disability in Twentieth-Century. Poore, Disability in Twentieth-Century, pp. 67–138. Vgl. Poore, Disability in Twentieth-Century, pp. 67–68. Vgl. Poore, Disability in Twentieth-Century, pp. 67–68. Nach Angaben von Ernst Klee war Richter auf dieses Thema gestoßen, da sein Schwiegervater ein Kriegsblinder war. Vgl. Klee, Der blinde Fleck. Richter, Blindheit und Eugenik. deutschen Blindenwesen eine öffentliche, breit geführte Diskussion über eine mögliche Beteiligung blinder Menschen am NS-Regime aus und schuf das Bedürfnis nach weiteren Untersuchungen.71 Unmittelbar nach dem „Fall der Mauer“ fand vom 2. bis 5. November 1989 in BerlinWannsee ein Seminar zum Thema blinde Menschen unter dem NS-Regime72 statt, an dem sich 50 blinde und sehende Interessierte, ZeitzeugInnen und WissenschaftlerInnen, darunter auch Gabriel Richter und Martin Jaedicke, beteiligten. Als Veranstalter trat der „Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V.“ auf, durchgeführt wurde die Veranstaltung von einer Arbeitsgruppe unter der Leitung von Wolfgang SchmidtBlock. Die Aufsätze der ReferentInnen sowie einige auf diesem Seminar geführte Diskussionen wurden 1991 von Wolfgang Schmidt-Block und Martin Jaedicke zusammengestellt und herausgegeben.73 In diesem Sammelwerk werden verschiedenste Aspekte der Situation blinder Menschen unter dem NS-Regime dargestellt und die Sichtweise der ZeitzeugInnen, etwa durch Berichte der beiden blinden Holocaustüberlebenden Max Edelmann74 und Pavel Les75, berücksichtigt. Auf Grund zum Teil fehlender Quellenangaben weist diese Publikation allerdings wissenschaftliche Schwächen auf. 1996 erschien von Wolfgang Drave unter dem Titel „Hier riecht’s nach Mozart und nach Tosca – Blinde Menschen erzählen ihr Leben“76 ein Buch, das sich mit den Erzählungen von 28 blinden Frauen und Männern über ihre Leben auseinandersetzte. Drave fungierte damals als stellvertretender Schulleiter an einer Einrichtung für blinde und sehbehinderte Menschen in Würzburg und hatte die Betreffenden mittels wissenschaftlicher Methoden über Aspekte ihres Lebens vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg befragt. Ein wichtiges Instrumentarium zur Aufarbeitung des Themas lieferte 1998 Klaas Dierks mit seiner Bibliographie mit dem Titel „Sehgeschädigte Menschen im Nationalsozialismus“.77 Der Verfasser, der Sonderpädagogik mit Schwerpunkt auf blinde und Menschen mit einer Körperbehinderung sowie Sozialgeschichte und Anglistik an der Universität Hamburg sowie der University of Durham (England) studiert hatte, erfasste insgesamt 83 zeitgenössische Zeitungsartikel, 110 Monographien, 27 Aufsätze aus Sammelschriften, drei Zeitschriftentitel und 2.367 Aufsätze aus über 200 verschiedenen Zeitschriften.78 Bearbeitet wurde das Thema „Blinde Menschen unter dem NS-Regime“ in Deutschland ebenfalls im Rahmen einiger sozialpädagogischer Facharbeiten, wie beispielsweise von Anna Hielscher79 oder Ilka Lorenschat80, die durchaus relevante Hinweise liefern, allerdings hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Qualität und Bearbeitung stark differieren.81 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 Dieser Aspekt wird in Kapitel II.11.1 weiter ausgeführt. Vgl. Blinde unterm Hakenkreuz [zusammengestellt von Martin Jaedicke, Wolfgang Schmidt-Block]. Vgl. Blinde unterm Hakenkreuz [zusammengestellt von Martin Jaedicke, Wolfgang Schmidt-Block]. Edelmann, Der Tag der Befreiung eines blinden Überlebenden, S. 224–230. Les, Drei Jahre im Ghetto Theresienstadt, S. 206–224, hier S. 209. Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben. Vgl. Dierks, Sehgeschädigte Menschen im Nationalsozialismus. Einige der dort aufgeführten Titel werden in dieser Studie zitiert, aber diese Bibliographie bietet weitere relevante Hinweise auf gedruckte Quellen. Vgl. Hielscher, Blinde im Nationalsozialismus. Vgl. Lorenschat, Sterilisation Behinderter im Dritten Reich. Vgl. u. a.: Esser, Bild des blinden Menschen; Sauer, Situation blinder Jugendlicher; Abraham, Historische und gegenwärtige Aspekte. 33 In derselben Marburger-Schriftenreihe, wie der erwähnte Bericht über das Seminar in Berlin-Wannsee 1989, erschien 2002 die Dissertation des 1986 vom Iran nach Deutschland übersiedelten Politik- und Geisteswissenschaftlers Mohammad Reza Malmanesh:82 „Blinde unter dem Hakenkreuz. Eine Studie über die Deutsche Blindenstudienanstalt Marburg und den Verein der blinden Akademiker Deutschlands e. V. unter dem Faschismus.“83 Diese Arbeit setzte sich in erster Linie mit der Rolle der „Blindenstudienanstalt“ in Marburg an der Lahn auseinander. Die dortige „Blindenstudienanstalt“ war eine der umfassendsten Ausbildungsstätten für Kriegs- und Zivilblinde unter dem NS-Regime. Malmanesh geht dabei ausführlich auf die Schwierigkeiten bei der Bearbeitung dieses Themas auf Grund nicht mehr auffindbarer Quellen ein. 84 Für österreichische Fragestellungen ist diese Studie ebenfalls von Bedeutung, da Zivil- und Kriegsblinde aus der „Ostmark“ in Marburg an der Lahn ausgebildet wurden, auch wenn auf diesen Umstand nicht explizit eingegangen wird. Im selben Jahr erschien ein regionalgeschichtlicher Beitrag von Christhard Schrenk. Der Historiker und Leiter des Stadtarchivs Heilbronn bearbeitet das Leben von Rudolf Kraemer (1885–1945)85 und damit die Lebensbedingungen desjenigen blinden Rechtsanwaltes und Aktiven der Blindenselbsthilfebewegung, der als Ausnahmeerscheinung gilt, weil er sich durch seine 1933 veröffentlichte Schrift „Kritik der Eugenik“86 öffentlich gegen die NS-Diktatur stellte.87 Die Lebensbedingungen blinder Menschen, die in der „Ostmark“ lebten, wurden bisher nur ansatzweise bearbeitet. Dies dürfte damit in Zusammenhang stehen, dass eine wissenschaftliche Aufarbeitung der im Zuge der Zwangssterilisierungen und NS-„Euthanasie“ begangenen Verbrechen in Österreich im Vergleich zu Deutschland „erst sehr spät“88 erfolgte. Dieser Umstand dürfte offenbar in der Folge eine über diese Fragestellungen hinausgehende Auseinandersetzung mit Aspekten der Lebensbedingungen von Menschen mit einer Behinderung unter den NS-Machthabern verzögert haben. Dementsprechend kam es erst in den letzten Jahren zu einer wissenschaftlichen Bearbeitung des Themas gehörlose Menschen unter der NS-Diktatur durch beispielsweise eine Diplomarbeit 2003 von Andrea Runggatscher89 sowie durch ein Forschungsprojekt (Mai 2008 bis April 2009) von Verena Krausneker vom Institut für Sprachwissenschaften Wien. Krausneker publizierte gemeinsam mit Katharina Schalber 2009 eine DVD mit acht Kurzfilmen unter dem Titel „Gehörlose 82 83 84 85 86 87 88 89 34 Weitere Informationen zur Biografie vgl. Dr. Mohammad Reza Malmanesh (Hrsg.), <www.malmanesh. de>, Download am 26.7.2009. Vgl. Malmanesh, Blinde unter dem Hakenkreuz. Diese Arbeit ist darüber hinaus für blinde Menschen von besonderem Wert, da sie in einer digitalen, barrierefreien Version erschienen ist. Vgl. Schrenk, Kraemer. Vgl. Kraemer, Kritik der Eugenik. Seine Tätigkeit als Rechtsanwalt und Funktionär im Blindenwesen konnte er nach der Veröffentlichung seines Aufsatzes „Kritik der Eugenik“ auf Grund von Repressalien durch das NS-Regime nicht mehr ausüben. Er war aber weiterhin im Management von Blindenkonzerten tätig, bis er im Juli 1945 einem Herzleiden erlag. Vgl. hierzu auch die dort wiedergegebene Literatur: Neugebauer, Zwangssterilisierungen und „Euthanasie“, S. 17–28 hier S. 17. Runggatscher, Lebenssituation gehörloser Menschen. Österreicherinnen und Österreich im Nationalsozialismus“90, die nach Intention der Au­torin­ nen vor allem im Schulunterricht verwendet werden sollte.91 Teilaspekte der Situation blinder Menschen jüdischer Herkunft unter dem Nationalsozialismus erforschte Herbert Exenberger, ein inzwischen im Ruhestand befindlicher Mitarbeiter des DÖW. Im Zuge seiner Mitarbeit an einer 1996 veröffentlichten Studie über die Vertreibungen von MieterInnen jüdischer Herkunft aus Wiener Gemeindewohnungen verfasste Exenberger ein eigenes Kapitel über betroffene blinde BewohnerInnen jüdischer Herkunft.92 Im November 1999 hielt er auf dem „Jüdischen Institut für Erwachsenbildung“ in Wien ein im Internet veröffentlichtes Referat mit dem Titel „Vertrieben, verfolgt, ermordet. Jüdische Blinde in Wien“93 und fertigte diverse unveröffentlichte Aufsätze über Kriegsblinde jüdischer Herkunft an.94 1999 verfasste Corinna Wolffhardt eine Diplomarbeit über das „Israelitische Blindeninstitut“ auf der Hohen Warte in Wien. Auf die Ereignisse nach dem „Anschluss“ und die Zerstörung dieser Einrichtung geht sie nach eigenen Angaben nur „bruchstückhaft“ ein, was sie mit der „dürftigen Quellenlage“ begründet.95 2003 erschien ein von Shosana Duizend-Jensen verfasster Artikel über Menschen jüdischer Herkunft mit einer Behinderung in der österreichischen Fachzeitschrift „Bizeps“. Darin werden unter anderem einzelne Aspekte der Verfolgung blinder Menschen jüdischer Herkunft quellenfundiert herausgearbeitet.96 Ihre Erkenntnisse über das jüdische Vereinswesen eignete sie sich durch ihre 2004 erschienene Arbeit über „Arisierungen“ und Restitution bei jüdischen Gemeinden, Vereinen, Stiftungen und Fonds an.97 Die Ergebnisse dieser Studie wurden bei Erstellung dieser Arbeit ebenso herangezogenen wie die in derselben Reihe erschienene Darstellung von Verena Pawlowsky, Edith Leisch-Prost und Christian Klösch über Vereine im Nationalsozialismus.98 Einen wichtigen Beitrag zu den Lebensbedingungen Kriegsblinder lieferte der Historiker und Blindenlehrer Otto Jähnl, der 1996 seine Dissertation unter dem Titel „Die österreichischen Kriegsblinden beider Weltkriege“99 veröffentlichte. Jähnl berücksichtigte den Zeitraum zwischen 1938 und 1945 allerdings nicht explizit in seinen wissenschaftlichen Fragestellungen und geht auf die Situation Kriegsblinder unter dem NS-Regime daher nur am Rande ein. Darüber hinaus gibt es bisher keine Monographie oder keinen Aufsatz, die bzw. der sich mit dem Sonderschicksal von Kriegsblinden unter der NS-Herrschaft auseinandersetzt. Demzufolge stellten publizierte Lebensberichte einen wichtigen Erkenntnisbeitrag dar. Walter Malasek veröffentlichte seine Autobiographie zu einem unbekannten Zeitpunkt 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 Krausneker, Schalber, Gehörlose Österreicherinnen und Österreicher im Nationalsozialismus. [Vgl. zu diesem Thema auch die auf der DVD befindliche Literaturliste.] Krausneker, Schalber, Gehörlose Österreicherinnen und Österreicher im Nationalsozialismus. [Vgl. zu diesem Thema auch die auf der DVD befindliche Literaturliste.] Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 71–75. Vgl. Exenberger, Jüdische Blinde in Wien. Vgl. Exenberger, 1916 erblindet am Cellon; Exenberger, Das Israelitische Blindeninstitut auf der Hohen Warte. [Unveröffentlichtes Manuskript. Exenberger stellte die Beiträge freundlicherweise der Autorin zur Verfügung.] Vgl. Wolffhardt, Israelitische Blindeninstitut Hohe Warte, S. 6 und S. 100–103. Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Behinderte in Österreich. Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden. Pawlowsky, Leisch-Prost, Klösch, Vereine im Nationalsozialismus. Jähnl, Kriegsblinden. 35 im Rahmen einer Gedichtsammlung.100 Der Wiener erblindete 1944 und erlebte das Ende des Krieges in Wien. Eine weitere Autobiographie eines österreichischen Kriegsblinden ist wesentlich umfassender und stammt von Bernhard Lindmayr, der als 18-Jähriger im April 1945 erblindete. Sein 2007 erschienenes Buch trägt den Titel „Erfülltes Leben“.101 Auf Grund der erst gegen Ende des Krieges erfolgten Erblindungen von Malasek und Lindmayr können die beiden Autoren allerdings nur wenige Angaben zur Versorgung Kriegsblinder unter der NS-Diktatur machen. Ebenfalls im April 1945 erblindete Willi Finck, ein Flieger der Wehrmacht, der nach Ende des Zweiten Weltkrieges in der DDR lebte und 1998 seine Lebenserinnerungen102 und 2005 das Buch „Zwischen Licht und Schatten – Kriegsblinde in der DDR“103 veröffentlichte. Finck geht insbesondere in dem Kapitel „Der Bund erblindeter Krieger im Spiegel der NS-Politik und NS-Weltanschauung“104 auf die Beteiligung der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ am NS-Regime ein.105 Seine Informationen beruhten neben persönlichen Erfahrungen auf Quellenrecherchen. Auf Grund seiner persönlichen Betroffenheit und seiner vom Duktus der DDR geprägten Sprache gelingt Finck allerdings keine ausgewogene Darstellung. Wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse wurden bisher lediglich zum Thema Kriegsopfer allgemein veröffentlicht, wie durch die beispielsweise aus dem angloamerikanischen Raum stammenden Historiker James Diehl106 und David Gerber107 sowie zu Teilaspekten wie beispielsweise der Umgang mit Soldaten, die nach einer Verwundung an psychischen Beeinträchtigungen litten.108 Zu keiner fundierten Aufarbeitung der Rolle blinder Menschen unter dem NS-Regime kam es bisher seitens der Blindenvereine. In diversen Jubiläumsschriften sollte zwar die Geschichte des Blindenwesens dargestellt werden, allerdings diente dies vor allem dazu, die Errungenschaften der jeweiligen herausgebenden Organisation zu veranschaulichen. In diesen Publikationen findet sich daher lediglich der Hinweis, dass 1938 alle für blinde Menschen relevanten Vereine aufgelöst wurden und nur mehr die zugelassenen NS-Blindenorganisationen unter NSV-Aufsicht weiterhin tätig waren.109 Personelle Kontinuitäten durch blinde Funktionäre, die zwischen 1938 bis 1945 im Reichsdeutschen Blindenverband (RBV) oder anderen NS-Organisationen aktiv waren und nach 1945 sich an den wiedergegründeten Blindenvereinen betätigten, blieben dabei ebenso unerwähnt wie die Verbrechen an blinden Menschen im Zuge der NS-„Euthanasie“ oder dem Holocaust. Einen nennenswerten, wenn auch nicht wissenschaftlichen Beitrag zur Erinnerung an die Vertreibung und Vernichtung von blinden Menschen, die auf Grund der „Nürnberger 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 36 [Malasek], Vom Waffenrock zum Blindenstock, S. 1–57. Vgl. Lindmayr, Erfülltes Leben. Finck, Leben jenseits des Lichts. Willi Finck, Kriegsblinde in der DDR. [2006 publizierte Willi Finck außerdem noch ein Buch über die Geschichte der Erholungsheime für Kriegsblinde. Der Schwerpunkt dieser Publikation liegt allerdings auf der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Vgl. Finck, Geschichte der Kurfürsorge.] Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 194–213. Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 194–225. Diehl, The Thanks of the Fatherland; Diehl, Disabled Veterans in the Third Reich. Gerber, Disabled Veterans, pp. 899–916. Vgl. u. a. Blaßneck, Militärpsychiatrie im Nationalsozialismus; Komo, Die Militärpsychiatrie in den Weltkriegen; Müller, Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg. Vgl. Schmid, Chronologie der Blindenselbsthilfe, S. 70–74, hier S. 72; Benesch, 175 Jahre Blindenfürsorge in Österreich, S. 10–36, hier S. 27; Hartig, Schmid, Martini, Chronologie der Blindenselbsthilfe in Österreich, S. 8–11. Rassengesetze“ als Jüdinnen und Juden galten, leistete die „Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs“, beispielsweise durch die Enthüllung eines Mahnmals 1966110 und die Errichtung einer Tafel zur Erinnerung an das ehemalige „Israelitische Blindeninstitut“ im nunmehrigen Bezirkspolizeikommissariat Döbling 2002 in Wien.111 Dieses Engagement ging von der Vereinsleitung aus, die ab 1952 Robert Vogel inne hatte. Vogel war im Alter von 19 Jahren in Wien erblindet und musste auf Grund seiner jüdischen Herkunft112 vor dem NS-Regime im November 1938 nach Holland flüchten.113 An dieser Stelle wurde nur ein kurzer Überblick über den aktuellen Forschungsstand gegeben. Weitere Hinweise, insbesondere zu einzelnen Teilaspekten, werden in den betreffenden Unterkapiteln angesprochen. Da es sich bei dieser Publikation um eine gekürzte und überarbeitete Version der Dissertation der Autorin handelt, können weitere Angaben auch diesem wissenschaftlichen Manuskript entnommen werden.114 110 111 112 113 Vgl. Kapitel IV.6.1. Vgl. Kapitel IV.5.3.2. Zur Verwendung des Begriffes „jüdischer Herkunft“ vgl. Kapitel IV.1.1. Vgl. Kapitel IV.4. Robert Vogel verstarb 2001. Daraufhin übernahm sein Sohn Heinz Vogel die Vereinsleitung bei der Hilfsgemeinschaft. 114 Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“. 37 4.Definitionen von Blindheit und Sehbehinderung im zeitgenössischen Diskurs Ein Problem bei der Erfassung blinder Menschen ist die Frage, wie „Blindheit“ definiert wird.115 Weit verbreitet in der Bevölkerung ist der Irrglauben, dass Personen, die „blind“ sind, überhaupt keinen Lichtschein wahrnehmen. Dies ist historisch wie aktuell unrichtig, da sowohl im Untersuchungszeitraum wie heute Personen als „blind“ gelten, auch wenn sie schwache Lichtempfindung haben. Die Möglichkeit, beispielsweise hell und dunkel zu unterscheiden, ist zwar für die Betroffenen bei der Orientierung durchaus hilfreich. Zur Alltagsbewältigung werden aber auch in diesem Fall entsprechende Hilfsmittel, Schulungen und/oder fallweise fremde Hilfe benötigt. Im 20. Jahrhundert hat sich der Begriff „Blindheit“ daher sinnhaft um Formulierungen wie „‚sozialblind‘, ‚praktischblind‘ oder auch ‚erwerbsblind‘“116 erweitert. Diese Gegebenheiten wurden von der Sozialgesetzgebung bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts berücksichtigt. Dies geschah aber nicht einheitlich und führte dazu, dass die Festlegungen von „Blindheit“ in privat-, schul-, versicherungs- und versorgungsrechtlichen Bestimmungen voneinander abwichen.117 Im Folgenden werden die diesbezüglichen Bestimmungen in Deutschland referiert, da diese durch die Einführung der deutschen fürsorgerechtlichen Bestimmungen in der „Ostmark“ ab 1938 für den Untersuchungszeitraum dieser Studie relevant waren.118 In Deutschland legten zunächst die Ausführungsbestimmungen vom 16. November 1920 zu § 29 des „Reichsversorgungsgesetzes“ vom 12. Mai 1920 fest: „Als blind im Sinne dieser Vorschrift gelten alle Beschädigten, deren Sehvermögen so gering ist, daß es wirtschaftlich wertlos ist.“119 Gemäß dieser Bestimmung lag eine „praktische“ Erblindung vor, wenn „noch 1/50 bis 1/25 der normalen Sehschärfe, d. h. der mit gewöhnlichen Hilfsmitteln zu erreichenden Sehleistung, erhalten“ war.120 Unter dem NS-Regime wurde dann der Personenkreis der „praktisch Erblindeten“ in den Durchführungsbestimmungen des Wehrmachtsfürsorge- und -versorgungsgesetzes (WFVG) vom 26. August 1938 erweitert. Demnach konnte eine praktische Blindheit auch zuerkannt werden, wenn das Sehvermögen besser war als ein Fünfzigstel bis ein Fünfundzwanzigstel der normalen Sehschärfe, aber zusätzlich auf Grund der Art und Weise der Erkrankung oder Schädigung eine erhebliche Einschränkung des Gesichtsfeldes vorlag, Augenzittern oder Nachtblindheit auftrat oder wenn eine krankhafte Veränderung im Augeninneren die Sehleistung herabsetzte.121 Diese Definition einer so genannten 115 116 117 118 119 Vgl. Kapitel II.1.1. Schöffler, Blinde im Leben des Volkes, S. 32. Vgl. Schrenk, Kraemer, S. 15–16. Vgl. Kapitel II.2; Kapitel III.2. [D] RGBl., Nr. 225, Ausführungsbestimmungen zum Reichsversorgungsgesetz vom 12. Mai 1920, erlassen am 16. November 1920, S. 1907–1985, hier S. 1922. 120 Vgl. [D] RGBl., Nr. 225, Ausführungsbestimmungen zum Reichsversorgungsgesetz vom 12. Mai 1920, erlassen am 16. November 1920, S. 1907–1985, hier S. 1922. 121 Vgl. [D] RBGl., Teil I, Durchführungsbestimmungen zum WFVG vom 29. September 1938, S. 1293–1308, Erläuterungen zu § 93.1. Mit der Einführung des WFVG und der Verordnung zur Durchführung und Ergänzung der Reichsarbeitsdienstverordnung vom 3. Feber 1939 wurden diese Bestimmungen auch in der „Ostmark“ relevant. Vgl. Kapitel III.2.3; GBlÖ, Nr. 222/1939, Erste Verordnung zur Durchführung und Ergänzung des RADVG vom 3. Februar 1939. 38 „praktischen Blindheit“ entsprach nach damaliger Auffassung dem zeitgenössisch „neuesten wissenschaftlichen Forschungen“.122 Auf Bestreben der NSDAP und des Reichsdeutschen Blindenverbandes (RBV) sollte diese Definition dann auch von weiteren NS-Organisationen berücksichtigt werden. Dementsprechend erweiterte beispielsweise der „Reichsverband für das Blindhandwerk“123 per Erlass des „Reichs- und Preußischen Arbeitsministers“ bereits im April 1938 seine Bestimmungen zur Definition von Blindheit.124 1939 erfolgte eine Anpassung innerhalb des Steuerrechts, das für erwerbstätige blinde Menschen Sondervorschriften vorsah.125 Die Erweiterung des Personenkreises, der von diesen Bestimmungen erfasst werden sollte, hatte als offizielles Ziel, mehr blinden oder hochgradig sehbehinderten Menschen Maßnahmen zur Verbesserung ihrer beruflichen Integration zukommen zu lassen. Von diesen Bestimmungen abweichend war allerdings die Definition von Blindheit im GzVeN: „Als blind werden auch solche Menschen zu erachten sein, die zur Ausübung eines gewöhnlichen Berufes untauglich sind, also anderen zu Last fallen, ferner Menschen, die im Kindesalter zum Schulbesuch infolge hochgradiger Sehschwäche untauglich sind und daher in einer Blindenanstalt unterrichtet werden müssen […].“126 Diese Auslegung ließ Raum für willkürliche Einstufungen und ermöglichte es, auch sehbehinderte Menschen unter der GzVeN-Diagnose „erbliche Blindheit“ erfassen zu können.127 Überprüft werden sollte eine „Erblindung“ durch eine „fachärztliche Untersuchung“.128 Die FachärztInnen hatten viel Raum für ihre Beurteilung. Der Leiter der Städtischen Augenklinik Dortmund, Martin Bartels, meinte dementsprechend im 1939 vom RBV herausgegebenen „Ratgeber für Blinde“:129 „Eine scharfe Grenze ist überhaupt nicht zu ziehen.“130 Für diese Studie bedeutete diese unterschiedliche und teilweise willkürliche Auslegung des Begriffes „Blindheit“ und „praktische Erblindung“ in den Quellen, dass nicht eindeutig definiert werden kann, wer unter dem NS-Regime als blind, praktisch blind oder sehbehindert galt. Dies ist allerdings, wie eingangs erwähnt, kein dezidiertes Spezifikum der NS-Zeit.131 Deshalb wird im Folgenden der Begriff „blind“ nicht in Anführungsstriche gesetzt, da es auch in heutiger Zeit schwierig wäre, diesen genau zu bestimmen. Wolfgang Drave meinte dazu: 122 Vgl. BAB, R 2, RFM, Zl. 20435, GZ H. VIII 3/2, NSDAP Reichsleistung an den RMdF vom 16.2.1939, Betreff: Praktische Blindheit. 123 Vgl. Kapitel II.6.2. 124 Vgl. BAB, R 2, RFM, Zl. 20435, Richtlinien zur Beurteilung der praktischen Blindheit vom Reichsverband für das Blindenhandwerk vom April 1938. 125 Vgl. Kapitel II.2.4.1; BAB, R 2, RFM, Zl. 20435, S 2100–21 III, Nr. 873, Runderlass RMdF vom 15.6.1938, Betreff: Steuerliche Behandlung der Blinden. 126 Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz, S. 107–108. 127 Vgl. II.8.2.2 128 Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 9 [!] –7. [Im Original liegt ein Druckfehler vor, die richtige Seitenzahl müsste 6 lauten. Bartels war Leiter der Städtischen Augenklinik Dortmund.] 129 Vgl. Meurer, Ratgeber für Blinde. 130 Vgl. Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 3. 131 Vgl. weiterführend: European Blind Union, Integration – eine Vision. 39 „Blindheit ist ein wesentlich komplexerer Begriff und beinhaltet neben der medizinischen Definition […] auch psychologische, soziologische und pädagogische Komponenten.“132 132 Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 10. 40 II. Zivilblinde 1.Ausmaß und Ursachen von Erblindungen unter der Zivilbevölkerung 1.1 Statistische Erfassung blinder Menschen Die Frage, wie viele Zivilblinde in Österreich zwischen 1938 und 1945 lebten, kann nicht exakt beantwortet werden. Dies liegt zum einen daran, dass nur wenige Quellen existieren, die konkrete Informationen liefern können. Zum anderen birgt die statistische Erfassung blinder Personen generell Problematiken. Da es keine einheitlichen Anerkennungskriterien und -verfahren bei der Definition von Blindheit gab, ist es schwierig, bei einer Erhebung Personen als blind oder als sehbehindert einzustufen.133 Bei der Interpretation des Datenmaterials zu Blindheit muss daher immer hinterfragt werden, welche Kriterien für die Definition von Blindheit verwendet wurden. Häufig lassen sich dazu allerdings keine Hinweise finden. Weiter muss beachtet werden, wer die Angaben machte: Wurden die Betroffenen von ÄrztInnen als „blind“ diagnostiziert oder beruhen die Aussagen auf eigenen Einschätzungen? Tatsächlich verfügen viele blinde Menschen noch über ein Empfinden von hell und dunkel oder über einen minimalen Sehrest.134 Dies kann dazu führen, dass sie sich selbst als „sehbehindert“ einschätzen, auch wenn sie medizinisch gesehen als „praktisch blind“ gelten müssen. Betroffene können außerdem unter Umständen mit dem eigenen Schicksal besser umgehen, wenn sie sich nicht als „vollblind“, sondern als „sehbehindert“ wahrnehmen. Da das Vorliegen einer Behinderung auch eine negative Stigmatisierung bedeutete und immer noch bedeutet, versuchen Betroffene, diese zu vertuschen. Es stellt sich daher die Frage, wie ehrlich Betroffene selbst über ihre Sehbehinderung Auskunft geben, wenn die Angaben nicht von einer Medizinerin bzw. einem Mediziner oder einer anderen Instanz überprüft werden. Statistische Erhebungen über blinde Menschen zeigen daher bestenfalls Größenordnungen. Vor diesem Hintergrund müssen generell statistische Angaben über blinde Menschen beurteilt werden. Die hier erwähnten Schwierigkeiten bei der statistischen Erhebung von blinden Menschen spielten schon im zeitgenössischen Diskurs des 20. Jahrhunderts eine Rolle.135 Viktor Gehrmann beschäftigte sich im Jahr 1919 in seinem Aufsatz über das Ergebnis der „Gebrechlichenzählung“ im Rahmen der Volkszählung 1910 ausgiebig mit den Problemen der Erfassung von blinden Menschen bei Volkszählungen. Insbesondere verwies er auf die eigentlich notwendige ärztliche Überprüfung der durch die Volkszählung gewonnenen Ergebnisse. Trotzdem wurde diese bei dieser Volkszählung nicht durchgeführt.136 Auch 133 Vgl. Kapitel I.1., I.4. 134 Vgl. Kapitel I.4. 135 Vgl. Crzellitzer, Blindenwesen, S. 163–171, hier S. 163–164. [Zur Problematik bei der Erstellung der ersten Blindenstatistik in der Habsburgermonarchie im Rahmen der allgemeinen Volkszählung 1869 vgl. auch die dort angegebene Literatur: Wolffhardt, Israelitische Blindeninstitut Hohe Warte, S. 9–10.] 136 Vgl. Gehrmann, Blinden und Taubstummen, S. 1–104, hier 9–12. 41 das Problem der Definition von Blindheit und die Abgrenzung zur Sehbeeinträchtigung beschrieb Gehrmann: „Sind nur auf einem oder beiden Augen blinde Personen zu zählen? Wo hört Schwachsichtigkeit auf, wo beginnt Blindheit?“137 1910 wurde für die so genannten „Alpenländer“ eine Zahl von 5.578 blinden Menschen ermittelt.138 Diese Zahl wurde allerdings von Siegfried Altmann, dem damaligen Direktor des „Israelitischen Blindeninstituts“ auf der Hohen Warte in Wien, in seinem 1930 publizierten Aufsatz über das Blindenwesen139 in Österreich als zu hoch eingeschätzt. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Umstände der Volksbefragung. Die Rubrik „blind“ auf den Zählbögen sei nicht näher erklärt und daher seien wohl auch Personen mit verschiedenen „Gebrechen“ zu dieser Kategorie gezählt worden.140 Nach Altmann gab es nach 1910 keine neue, spezielle amtliche Blindenzählung mehr.141 Trotzdem nannte Altmann 1930 eine Gesamtanzahl von 3.663 Zivilblinden für Österreich. Zu diesem Ergebnis kam er durch eine private Erhebung aus dem Jahr 1928.142 Auch hier fehlt eine Erläuterung, wie diese zustande gekommen ist und welche Kriterien für die Ermittlung von „Blindheit“ verwendet wurden. Zu der Anzahl der Zivilblinden in Österreich konnte nur mehr eine weitere statistische Angabe aus dem Jahr 1938 recherchiert werden. Bei der 194. Sitzung der „Tarifkommission der Deutschen Eisenbahnverwaltung“ im Dezember 1938 in München wurde ein Antrag auf Ermäßigungen der Tarife für Zivilblinde gestellt. Zur Berechnung des zu erwartenden Einnahmeausfalles wurde angegeben, dass für Österreich eine Gesamtzahl von 4.000 blinden Menschen angenommen werde. Diese Daten sollen auf einer Auskunft des Reichsdeutschen Blindenverbandes (RBV) beruhen.143 Der RBV war nach dem „Anschluss“ 1938 auch für die „Ostmark“ zuständig. In dieser Zahl sind allerdings die rund 350 Kriegsblinden mit eingerechnet.144 Die Interessenvertretung blinder Menschen, der RBV, ging also von der gleichen Zahl wie Altmann aus. In Ermangelung weiterer Quellen muss daher die Anzahl von 3.650 Zivilblinden zur Zeit des „Anschlusses“ für Österreich als ungefähre Größenordnung angesehen werden. 137 Gehrmann, Blinden und Taubstummen, S. 1–104, hier S. 3. 138 Vgl. Gehrmann, Blinden und Taubstummen, S.1–104, hier S. 14. Für die Anzahl blinder Menschen in den „Alpenländern“ wurden die Angaben der Länder Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Tirol und Vorarlberg herangezogen. Insgesamt lebten nach diesen Angaben 1910 19.816 blinde Menschen in der österreichisch-ungarischen Monarchie (Gesamtbevölkerungszahl 27,939.285). Auf 10.000 EinwohnerInnen kamen 6,9 Blinde, berechnet aus den Ergebnissen der Volkszählung. Die Anzahl der blinden Menschen ist demnach seit 1880 erheblich zurückgegangen: Zu diesem Zeitpunkt waren von 10.000 EinwohnerInnen 9,1 blind gewesen. Vgl. Gehrmann, Blinden und Taubstummen, S. 1–104, hier S. 13. 139 Verstanden werden darunter nicht nur die blinden Menschen selbst, sondern alle Personen, Gruppen, Einrichtungen und Initiativen, die sich für sie einsetzen, und schließlich sämtliche Gesetze und Verordnungen, die sich direkt oder indirekt mit blinden Personen befassen. Diese Formulierung wird in ihrer ursprünglichen Bedeutung bis heute verwendet, ist allerdings unter Fachleuten umstritten. Vgl. Malmanesh, Blinde unter dem Hakenkreuz, S. 14; Karl Sobotka, Das deutsche Blindenwesen vom Gesichtspunkt der Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik, Borna 1936, S. 1, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 10. 140 Vgl. Altmann, Blindenwesen, S. 146–162, hier S. 149. 141 Vgl. Altmann, Blindenwesen, S. 146–162, hier S. 149. 142 Vgl. Altmann, Blindenwesen, S. 146–162, hier S. 149. 143 Vgl. BAB, Reichsverkehrsministerium, R 5/3048, Auszug 194. Sitzung der ständigen Tarifkommission der Deutschen Eisenbahnverwaltung in München vom 6., 7., 8.12.1938, S. 141. 144 Vgl. Kapitel III.1.1. 42 Gesamt Wien (Stadt u. Land) 1.372 Niederösterreich 323 Oberösterreich 447 Steiermark 704 Kärnten 275 Salzburg 165 Tirol 226 Vorarlberg 91 Burgenland 60 Zahl der Zivilblinden Hierzu Zahl der Kriegsblinden in allen Bundesländern Gesamtzahl der Blinden in der Österreichischen Republik 1–20 Jahre 21–50 Jahre über 50 Jahre früh erbl. spät erbl. beschult in Heimen**) 204 538 630 646 726 179 286 40 117 290 165 282 24 36 35 130 3 25 7 10 17 148 3.663 350 4.013 **) mitgezählt sind hier auch jene Blinden, die in allgemeinen Versorgungshäusern befürsorgt werden. Quelle: Siegfried Altmann, Das Blindenwesen in Österreich, in: Carl Strehl (Hrsg.), Handbuch der Blindenwohlfahrtspflege. Teil II. Europa und Nordamerika, Marburg 1930, S. 146–162, S. 149. Abb. 01: Erhebung über blinde Menschen von Siegfried Altmann (1928). Diese Zahl entspricht in etwa den Verhältnissen in Deutschland. Für das Gebiet des „Altreiches“ wurden 1938 von der „Tarifkommission der Deutschen Eisenbahnverwaltung“, laut Angaben des RBV, 32.000 Zivilblinde angenommen.145 Danach gab es also rund 35.650 Zivilblinde im „Deutschen Reich“ einschließlich der „Ostmark“. In einem von Peter Meurer herausgegebenen „Ratgeber für Blinde“,146 der 1939 im Verlag des RBV erschien, wurden die Zahlen für das „Deutsche Reich“ allerdings nicht bestätigt. Zu Österreich wurden keine Angaben gemacht, sondern nur die Zahlen der zur Zeit der Weimarer Republik durchgeführten „Reichsgebrechlichenzählung“ aus dem Jahre 1926/27 wiedergegeben.147 Diese Zählung gilt in der Fachliteratur als die wichtigste statistische Erhebung dieser Art in der Zwischenkriegszeit, auch wenn ihre Ergebnisse in Frage gestellt werden müssen, da nur ein Teil der Daten von MedizinerInnen erhoben wurde.148 Ihre Ergebnisse können daher wieder nur ungefähre Richtwerte liefern. Da es eine vergleichbare umfassende Befragung in diesem Zeitraum in Österreich nicht gab, lohnt es sich trotzdem, diese Auswertung näher zu betrachten. Nach den Angaben dieser Statistik lebten damals im „Deutschen Reich“ 33.192 blinde Menschen, 19.157 Männer und 14.035 Frauen.149 Das bedeutet, der Anteil der blinden Männer überwog mit 57,72 Prozent zu 42,28 Prozent.150 145 Vgl. BAB, Reichsverkehrsministerium, R 5/3048, Auszug 194. Sitzung der ständigen Tarifkommission der Deutschen Eisenbahnverwaltung in München vom 6., 7., 8.12.1938, S. 141. 146 Meurer, Ratgeber für Blinde. 147 Vgl. Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 1. 148 Richter, Blindheit und Eugenik, S. 8 149 Vgl. o. A., Die Ergebnisse der Reichsgebrechlichenzählung 1915/1926, S. 408. 150 Auch bei der „Gebrechlichenzählung“ im Rahmen der Volkszählung 1910 in der österreichisch-ungarischen Monarchie überwog die Zahl der männlichen Blinden, wenn auch zu einem geringen Prozentsatz von 51,58 Prozent zu 48,42 Prozent. Hierbei wurde die Angabe für die Alpenländer herangezogen. 43 Für die angenommene Größenordnung von 3.650 Zivilblinden in Österreich würde diese Aufteilung bedeuten, dass 1938 rund 2.107 männliche und 1.543 weibliche Blinde in Österreich lebten. Neben dem Anteil von Männern und Frauen an der Gesamtzahl wurde 1926/27 in der Weimarer Republik auch noch die Zahl der Menschen mit mehrfachen Beeinträchtigungen erhoben. Danach waren 3.106 der 33.192 blinden Menschen von zusätzlichen Behinderungen wie Gehörlosigkeit oder Schwerhörigkeit sowie körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen betroffen, die nicht weiter ausgeführt wurden.151 Laut diesen Angaben hatten also 9,36 Prozent der blinden Menschen eine zusätzliche Behinderung. Legt man diesen Prozentschlüssel auf Österreich um, bedeutet dies, dass rund 328 blinde Menschen noch eine weitere Beeinträchtigung aufwiesen. Diese Größenordnung ist insofern von Bedeutung, da unter ihnen viele als „berufsunfähig“ galten und sie daher mehr durch die NS-„Euthanasie“ bedroht waren als andere blinde Menschen.152 Auf Basis der Daten der „Reichsgebrechlichenzählung“ wurde auch die Altersstruktur blinder Menschen erhoben.153 Demnach waren fast 20 Prozent der Blinden unter fünf Jahre alt. Das entspricht der Tatsache, dass viele Erblindungen bereits im Kindesalter auftraten. Für die RassenhygienikerInnen war diese Zahl Grund genug, auf die Bedeutung der „Prophylaxe“ hinzuweisen.154 In einer Aufstellung in der deutschen Zeitschrift „Der Blindenfreund“ wurde das Erblindungsalter von 1.425 Erwachsenen und 1.332 Kindern untersucht. Demnach waren 25,83 Prozent der untersuchten blinden Menschen von Geburt an blind und 1.244, das entspricht 22,56 Prozent, erblindeten im Alter zwischen eins und fünf.155 Allerdings wurden für diese Angaben nur blinde Menschen herangezogen, die in Anstalten lebten. Späterblindete Erwachsene, die meist nicht mehr von den Blindenanstalten versorgt wurden, wurden in dieser Statistik daher wohl nicht berücksichtigt. Auch wenn es sicherlich viele blinde Menschen gab, die schon in ihrer Kindheit oder Jugend erblindet waren: Augenerkrankungen sind auch Alterserscheinungen. Helmut Pielasch und Martin Jaedicke schätzten daher 1971, dass etwa 45 Prozent der blinden Menschen unter dem NS-Regime zum Zeitpunkt ihrer Erblindung über 50 Jahre alt waren.156 151 152 153 154 155 156 44 Mögliche Gründe für eine höhere Anzahl von männlichen Blinden sind Arbeitsunfälle und eventuelle Krankheiten, die bei Männern häufiger auftraten. Nach dem Ersten Weltkrieg kam zusätzlich hinzu, dass die Kriegsblinden in die Erhebungen aufgenommen wurden. Vgl. Gehrmann, Blinden und Taubstummen, S. 1–104, hier S.19. Vgl. Gehrmann, Blinden und Taubstummen, S. 1–104, hier S. 19. Vgl. Kapitel II.8.3. Vgl. Bartels, Hygiene, S.1–15, S. 1. [Tabellarische Darstellung: Hoffmann, Blinde Menschen in der Ostmark, S. 527.] Vgl. Osw. Hübner, Statistik aller Aufnahmen in den deutschen Blindenanstalten in den Jahren 1919–1924, die vorzugsweise die Frage: „Was lehren uns die Aufnahmen in den Jahren 1919–1924 über Erblindungsursachen?“ beantworten soll, in: Der Blindenfreund, Nr. 4, Jg. 46 (1926), S. 75–76, zitiert in: Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 45. Vgl. Osw. Hübner, Statistik aller Aufnahmen in den deutschen Blindenanstalten in den Jahren 1919–1924, die vorzugsweise die Frage: „Was lehren uns die Aufnahmen in den Jahren 1919–1924 über Erblindungsursachen?“ beantworten soll, in: Der Blindenfreund, Nr. 4, Jg. 46 (1926), S. 75–76, zitiert in: Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 45. Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 147. [Jaedicke war Leiter der Hörbücherei der Deutschen Zentralbücherei für Blinde (DZB) in Leipzig und Pielasch Präsident des Deutschen Blindenund Sehschwachenverbandes der DDR. Nach Unterziehung dieser Schrift einer ausführlichen Quellenkritik kann festgestellt werden, dass sie eine brauchbare Sekundärquelle für die Geschichte blinder Menschen Vergleicht man die Angaben des RBV für das „Altreich“ aus dem Jahre 1938, die von 32.000 Zivilblinden ausgehen, mit dem Ergebnis der „Reichsgebrechlichenzählung“ 1926/27, bei der 33.192 Zivilblinde eruiert wurden, dann scheint sich die Zahl der Zivilblinden um rund 1.200 verringert zu haben. Für diese angenommene Reduzierung gab es nach damaliger Ansicht mannigfaltige Gründe, die im Anschluss an das Kapitel über die Ursachen von Erblindungen erläutert werden. 1.2 Wie wurden Erblindungen bei Zivilblinden verursacht? Im Folgenden wird ein Überblick darüber gegeben, von welchen Ursachen für eine Erblindung die Wissenschaft auf Basis des damaligen medizinischen Erkenntnisstandes ausgegangen ist. Martin Bartels, Leiter der städtischen Augenklinik in Dortmund (D), nannte im Jahr 1939 folgende Hauptursachen: „Augenverletzungen mit Schädelverletzungen und sympathische Augenentzündungen157, grüner Star, Vererbung, Arteriosklerose und Alterserscheinungen, Tuberkulose und Skrofulose, akute Infektionskrankheiten, Kurzsichtigkeit (Netzhautablösung), Syphilis, angeboren ohne nähere Angabe, Hirnhautentzündung, Körnerkrankheit.“158 Welchen genauen Anteil diese einzelnen Ursachen an der Anzahl von blinden Menschen hatten, kann nicht dargestellt werden, da dazu keine weiteren zeitgenössischen Informationen gefunden wurden. Bemerkenswert dabei ist, dass Bartels auch noch die „Körnerkrankheit“ als eine der Hauptursachen von Erblindungen nennt. Gemeint ist hiermit das Trachom. Dabei handelt es sich um eine Virusinfektion des Auges. Diese verursacht eine schwere Entzündung der Bindehaut. Bei der Abheilung kann es zur Narbenbildung kommen. Im Endstadium ist eine Erblindung durch ein Übergreifen der Infektion auf die Hornhaut möglich.159 Das Trachom ist eine sehr ansteckende Krankheit. Schon zur Zeit des Ersten Weltkrieges kam es endemisch in der Bevölkerung vor.160 In der Zwischenkriegszeit kam es allerdings zu einem deutlichen Rückgang der Erkrankungszahlen.161 Auf Grund der 157 158 159 160 161 in der NS-Zeit darstellt. Die Darstellungen beruhen auf den Erfahrungen der blinden Überlebenden der NS-Zeit und die Autoren zitieren aus vielen Quellen des Blindenwesens. Zu dem gleichen Ergebnis kommt auch Gabriel Richter. Vgl. Richter, Blindheit, S. 4.] Bei dieser Erkrankung, heute „Sympathische Ophthalmie“ genannt, kommt es zu einer schweren Entzündung des eigentlich gesunden Auges nach schwerer Traumatisierung des anderen Auges, was zu einer Erblindung führen kann. Vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, S. 218–219. Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 3. [Aus dem Text geht nicht hervor, ob die Angaben nach der Häufigkeit der angenommenen Ursachen aufgelistet sind.] Vgl. Pschyrembel, Wörterbuch, S. 1676. Das Trachom kommt in unseren Breitengraden nicht mehr vor. Es ist aber in allen tropischen und subtropischen Regionen mit mangelhafter Hygiene sehr verbreitet und mit 400 bis 500 Millionen erkrankten Menschen auf der Erde weltweit heute die häufigste Ursache für Erblindungen. Auch Soldaten erkrankten daran und wurden schließlich in eigenen Trachomformationen zusammengeschlossen und meist in staubfreien Gebirgsgegenden eingesetzt. Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 43–45. Vgl. ÖStA, AdR, BM f. soz. V., Volksgesundheit, Kt. 2429, Zl. 251642/39 Landeshauptmannschaft Niederdonau an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 24.1.1939, Betreff: Trachombekämpfung im Gebiete des ehemaligen Burgenlandes. 45 Durchsicht der Akten für Volksgesundheit im ÖStA scheint das Trachom allerdings auch noch in den 1930er Jahren endemisch in der Bevölkerung aufgetreten zu sein.162 In den betroffenen Gebieten konnten Trachomerkrankungen also noch durchaus zu Erblindungen führen. Deren Bedeutung für die Verursachung von Blindheiten war aber im Vergleich zum 19. Jahrhundert oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr gering. Im Folgenden werden einige Aspekte dieser Ursachen exemplarisch diskutiert. Hierbei wurden diejenigen herausgenommen, die insbesondere in der NS-Zeit intensiv thematisiert worden sind. 1.2.1 „Gonorrhöische Augenentzündung“163 Hiermit ist eine Augenerkrankung gemeint, die durch die Geschlechtskrankheit Gonorrhö, auch „Tripper“ genannt, verursacht werden kann.164 Wenn die Augen mit Erregern der erkrankten Geschlechtsteile in Kontakt kommen, kann dies zu einer so genannten „gonorrhöischen Augenentzündung“ führen. Dies kann bei Erwachsenen durch die Hände oder Wäschestücke der Fall sein, betrifft aber vor allem Neugeborene. Die Säuglinge infizieren sich dabei während der Geburt, wenn die Mutter erkrankt ist. Dabei kann es zu einer irreversiblen Hornhautschädigung kommen, die zu einer starken Sehbehinderung oder Blindheit führt. Bei mehr als fünf Prozent war das der Fall. Verschiedene Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 25 und 40 Prozent der Erblindungen im 19. Jahrhundert durch diese Infektion verursacht wurden.165 Verbessert wurde die Situation durch die Entwicklung der „Credéschen Prophylaxe“166 1880. Diese Einträufelung der Augen wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts verpflichtend. Weitere prophylaktische Maßnahmen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten führten zu einem Rückgang der Zahl der Erblindungen.167 Bartels gab im Jahr 1939 an, dass vier bis fünf Prozent der blinden Menschen durch „Augentripper“ erkrankt seien.168 Der Arzt Carl Siering, der als Gesundheitsbeirat für den RBV tätig war, sprach ebenfalls von einem Rückgang. Er verwies aber darauf, dass diese Infektion der Augen immer noch der „Bekämpfung“169 bedürfe. 162 Vgl. ÖStA, AdR, BM f. soz. V., Volksgesundheit, Kt. 2358, 1938, Betreff: Infektionskrankheiten [Enthält auch Aufstellung von Trachomerkrankungen aus dem Jahr 1937]. 163 Der heutige Fachterminus für diese Augenentzündung ist Gonoblennorrhö. Diese Erkrankung wurde im 20. Jahrhundert auch mit dem Begriff Augentripper beschrieben. Vgl. Siering, Gonokokkeninfektion, S. 15–18, hier S. 16. 164 Vgl. Breger, Geschlechtskrankheiten, S. 25. 165 Vgl. Schmidt, Gonorrheal ophtalmia neonatorum, S. 95–115, hier S. 95. 166 Der deutsche Gynäkologe Carl Siegmund Franz Credé (1819–1892) entwickelte diese Methode, bei der eine zweiprozentige Silbernitratlösung zur Vorbeugung in das Auge der Neugeborenen geträufelt wurde. Er führte diese Methode erstmals 1880 in seiner Klinik in Leipzig ein. Als „Credésche Prophylaxe“ wird noch heute so verfahren, allerdings hat sich die Zusammensetzung der Lösung verändert. Vgl. Schmidt, Gonorrheal, S. 95–115, hier S. 95. 167 Vgl. Sachße, Tennstedt, Der Wohlfahrtsstaat, S. 172; Alfred Bielschowsky, Das Sehorgan und die zur Erblindung führenden Erkrankungen, in: Carl Strehl (Hrsg.), Handbuch der Blindenwohlfahrtspflege, Berlin 1927, zitiert in: Richter, Blindheit, S. 28. 168 Vgl. Bartels, Hygiene, S.1–15, hier S.4. 169 Siering, Gonokokkeninfektion, S.15–18, hier S. 16. 46 Die Reduzierung der Anzahl von mit Geschlechtskrankheiten infizierten Personen zählte zu den „bevölkerungsbiologischen Zielsetzungen“ des NS-Regimes.170 In Deutschland rechnete man 1933 mit einem jährlichen Geburtenausfall allein auf Grund der Gonorrhö von 40.000.171 Zu den Maßnahmen zur Verringerung der Anzahl von Geschlechtserkrankungen gehörte das Ehegesundheitsgesetz, das am 1. Jänner 1940 gemeinsam mit dem GzVeN in der „Ostmark“ in Kraft trat. Es verbot geschlechtskranken Personen eine Eheschließung, solange eine Ansteckungsgefahr bestand.172 Außerdem wurde per Verordnung des Ministerrates für die Reichsverteidigung vom 21. Oktober 1940 das „Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ geändert.173 Laut den Durchführungsbestimmungen sollten an einer ansteckungsgefährlichen Geschlechtskrankheit erkrankte Personen ärztliche Behandlung erhalten, auch wenn sie nicht selbst für die Kosten aufkommen konnten. Die Finanzierung sollte in diesem Fall aus öffentlichen Mitteln erfolgen.174 Als weitere Geschlechtskrankheit, die auch als Blindheitsursache galt, ist die Syphilis zu nennen. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts erkannte die Wissenschaft, dass es sich bei Gonorrhöe und Syphilis um zwei verschiedene Erkrankungen handelte. Es war daher möglich, dass Laien bei den Erblindungsursachen diese beiden Krankheiten immer noch verwechselten. Auf die Syphilis wird hier allerdings nicht weiter eingegangen, weil sie nicht so häufig zu Erblindungen führte wie die Gonorrhöe. Im Vergleich zum „Tripper“ trat die Syphilis außerdem nur rund ein Viertel so häufig auf.175 1.2.2 Erbliche Augenerkrankungen und ihr Anteil an den Erblindungen Welche Erblindungen erblich bedingt waren, wurde im Zusammenhang mit der hohen Aufmerksamkeit für „rassenhygienische“ Fragen und durch die Einführung des GzVeN in Deutschland 1933 und in der „Ostmark“ 1939 von blinden Menschen selbst, im Blindenwesen und von RassenhygienikerInnen sowie MedizinerInnen stark diskutiert. Es kristallisierten sich dabei zwei Streitfragen heraus. Zum einen ging es darum zu klären, wie hoch der Anteil von „erblich bedingten Erkrankungen“ unter den Zivilblinden tatsächlich war. Zum anderen gab es vor allem unter den MedizinerInnen keine Einigkeit darüber, welche Erblindungsursachen überhaupt erblich waren. Die Antworten auf die Frage, wie viel Prozent der Erblindungen durch Erbkrankheiten verursacht seien, gingen dementsprechend weit auseinander. Es gab vor allem unter den 170 Weiterführende Literatur zu den biopolitischen Bestrebungen der NS-Zeit vgl. u. a: Baader, Hofer, Mayer, Eugenik in Österreich; Horn, Malina, Medizin im Nationalsozialismus. 171 Vgl. Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 173. 172 Vgl. Siering, Gonokokkeninfektion, S. 15–18, hier S. 17; Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 5. 173 Dieses Gesetz wurde schon 1927 im Deutschen Reich eingeführt. Es stattete die Gesundheitsfürsorge mit Möglichkeiten gesundheitspolizeilichen Zwangs aus. Vgl. Christoph Sachße, Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Band 2. Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871–1919, Stuttgart 1988, S. 143 ff, zitiert in: Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 172. 174 Vgl. Siering, Gonokokkeninfektion, S.15–18, hier S. 16. 175 Vgl. Hans Haustein, Die Geschlechtskrankheiten einschließlich der Prostitution, in: E. G. Dresel, A. Goetzl, H. Haustein (Hrsg.), Handbuch der Sozialen Hygiene und Gesundheitsfürsorge Bd. 3, Wohlfahrtspflege, Alkohol, Geschlechtskrankheiten, Berlin 1929, S. 593 zitiert in: Zschiegner, Syphilis in Österreich, S. 46. 47 AnhängerInnen der Rassenhygiene und den GegnerInnen von eugenischen Zwangsmaßnahmen unterschiedliche Auffassungen. Gabriel Richter beschäftigte sich in seiner 1986 veröffentlichten Dissertation ausgiebig mit dieser Problematik.176 Der Anhänger der Rassenhygiene Alfred Grotjahn glaubte etwa, dass zwei Drittel der „Gebrechlichen“, unter ihnen auch blinde Menschen, erblich „belastet“ seien.177 Der deutsche Blinde Rudolf Kraemer, Verfasser einer Streitschrift gegen das GzVeN,178 und Carl Strehl, Direktor der Marburger Blindenanstalt, sprachen dagegen von 3,85 Prozent bis 15 Prozent auf Grund einer Erbkrankheit erblindeter Menschen.179 Mehr praktische Relevanz hatten die Aussagen führender Nationalsozialisten zu diesem Thema. Sie sprachen nicht von „erbkranken Blinden“, sondern, im Sinne des GzVeN, von „zu sterilisierenden Blinden“. Reichsärzteführer Gerhard Wagner schätzte, dass 15 bis 20 Prozent der blinden Menschen zwangssterilisiert werden sollten.180 Auch wenn diese Diskussionen nur für Deutschland dokumentiert sind, so waren sie für die „Ostmark“ gleichermaßen relevant, denn das GzVeN trat mit 1. Jänner 1940 auch dort in Kraft. Es ist weiters anzunehmen, dass im Rahmen der unterschiedlichen Überlegungen zur Eugenik in Österreich ebenfalls die Frage nach den „erblichen Erblindungsursachen“ behandelt wurde.181 Ein Beleg dafür ist der Aufsatz „Eugenische Massnahmen gegen angeborene Blindheit“182 des Wiener Arztes Hermann Swoboda aus dem Jahr 1935. Die Augenheilkunde konnte allerdings trotz intensiver Forschungsarbeit zum damaligen Zeitpunkt viele Fragen zu den „erblichen Augenerkrankungen“ noch nicht beantworten.183 Als eine „erbliche“ Ursache für eine Erblindung oder schwere Sehbehinderung wurde damals die Starerkrankung angenommen. Es war bekannt, dass sie in verschiedenen Formen auftrat. Die unterschiedlichen Ausprägungen galten überwiegend als „erblich“.184 Der angeborene Star galt als eine der häufigsten Ursachen angeborener Blindheit.185 Unter dem so genannten „angeborenen Totalstar“ verstand man eine schon bei der Geburt vorhandene, meist doppelseitige, mehr oder weniger vollständige Trübung der Linse, die auch bei einer frühzeitigen Behandlung meist zu einer hochgradigen Sehbehinderung führte.186 Der 176 Vgl. Richter, Blindheit, S. 26–31; Kapitel II.8.1. 177 Vgl. Alfred Grotjahn, Soziale Pathologie, Versuch einer Lehre von den sozialen Beziehungen der menschlichen Krankheiten als Grundlage der sozialen Medizin und der sozialen Hygiene, Berlin 31923, S. 472, zitiert in: Richter, Blindheit, S. 28. 178 Vgl. Kraemer, Kritik der Eugenik, S. 342–379. 179 Richter, Blindheit, S. 29; Kraemer, Kritik der Eugenik, S. 342–379, hier S. 347. [Tabelle mit Aussagen zeitgenössischer Autoren über die Erblichkeit der Blindheit Vgl. Richter, Blindheit, S. 31.] 180 Vgl. Gehard Wagner, Rasse und Gesundheit. Rede, gehalten auf dem Parteikongress 1934, in: Ziel und Weg, Nr. 4 (1934), S. 63, zitiert in: Richter, Blindheit, S. 30. 181 Eine ausführliche Schilderung der Frage, inwieweit das Thema „erbliche Erblindungen“ im Diskurs um eugenische Maßnahmen in der Zwischenkriegszeit eine Rolle gespielt hat, kann in dieser Arbeit nicht gegeben werden. Weiterführende Literatur vgl u. a. Baader, Hofer, Mayer, Eugenik in Österreich. 182 Swoboda, Eugenische Massnahmen gegen angeborene Blindheit. 183 Eine sehr detailreiche Darstellung des damaligen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu den Erbkrankheiten des Auges mit Hinweisen zu als notwendig angesehenen eugenischen Maßnahmen vgl. Gütt, Erbleiden des Auges. 184 Verschuer, Blindheit und Eugenik, S. 8. [Hrsg. vom RBV; Gegenäußerung zur „Kritik der Eugenik“ von Rudolf Kraemer.] 185 Vgl. Lenz, Die krankhaften Erbanlagen, S. 169–407, hier S. 198 [vermehrte und verbesserte Auflage]; Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz, S. 109. 186 Vgl. Max Bücklers, Linsentrübungen, S. 112–141, hier S. 112. 48 Oberarzt der Augenklinik Tübingen, Max Bücklers, stellte dies so in seinem Aufsatz „Erbliche Linsentrübungen“187 dar, der von Arthur Gütt in seinem „Handbuch der Erbkrankheiten“188 1938 herausgegeben wurde. Bücklers Ausführungen verdeutlichen allerdings auch, dass die „erblichen Linsentrübungen“ noch nicht umfassend erforscht waren: „Es soll daher nicht verschwiegen werden, daß unser Wissen gerade auf diesem Gebiete vielfach noch lückenhaft ist.“189 Bei der Beschreibung des Erbganges des „angeborenen Totalstars“ zitierte Bücklers unterschiedliche Wissenschaftler, die jeweils eine dominante Vererbung, eine rezessiv geschlechtsgebundene Vererbung oder „vielleicht“190 einen rezessiven Erbgang annahmen.191 Bücklers kam auf Grund dieser Angaben zu dem Ergebnis, der Erbgang sei nicht einheitlich.192 Trotz dieser großen Unsicherheit im Wissen über den Erbgang hielt er aber eine Zwangssterilisation bei der Diagnose „angeborener Totalstar“ für unvermeidlich.193 Die Diagnose „erbkrank“ erfolgte daher auf der Basis eines lückenhaften medizinischen Wissensstandes und der willkürlichen Auslegung von nicht vollständig bekannten Erbgängen. Nach heutigem Wissensstand sind zwar einige Formen des angeborenen Kataraktes tatsächlich erblich. Die meisten angeborenen totalen Katarakte sind aber durch Virusinfektionen wie Röteln, Mumps, Hepatitis oder Toxoplasmose der Mutter in der Frühzeit der Schwangerschaft bedingt.194 Ebenfalls bekannt war die Erblichkeit der „Retinitis Pigmentosa“195, die unterschiedliche Ausprägungen haben konnte.196 Diese fortschreitende Erkrankung der Netzhauterkrankung gilt heute als eine der häufigsten Ursachen für Erblindungen im mittleren Erwachsenenalter.197 Zu den weiteren Erkrankungen der Augen, die als „erblich“ galten, zählten angeborene Formen von „Missbildungen“ des Auges, wie das Fehlen der Iris, schwarze Kolobomben, Mikrophthalmus und Anophthalmus.198 Verschiedene Erscheinungen davon werden auch heute noch als erblich eingestuft, wie auch die so genannte „amaurotische Idiotie“199 und die hochgradige Myopie200, die nach Othmar von Verschuer allein nach fachärztlicher klinischer Diagnose als „Erbkrankheit“ bezeichnet werden konnte.201 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 Bücklers, Linsentrübungen. Gütt, Erbleiden. Bücklers, Linsentrübungen, S. 112–141, S. 112. Bücklers, Linsentrübungen, S. 112–141, S. 113. Dass sich die Fachärzte zur damaligen Zeit nicht sicher waren über die Erblichkeit von angeborenen Star­ er­k ran ­kun­gen, zeigte auch ein von Jessika Hennig beschriebener Fall am Erbgesundheitsgericht Offenbach. Vgl. Hennig, Zwangssterilisation in Offenbach, S. 182. Vgl. Bücklers, Linsentrübungen, S. 112–141, hier S. 113. Vgl. Bücklers, Linsentrübungen, S. 112–141, hier S. 114. Vgl. Lang, Augenheilkunde, S. 189. Dieser Begriff ist auch heute noch gebräuchlich. Medizinisch korrekt ist allerdings die Bezeichnung „Retinopathia pigmentosa“. Vgl. Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz, S. 110; Jess, Pigmententartung der Netzhaut, S. 179–190, hier S. 190. Vgl. Pro Retina Deutschland e. V., Retinitis pigmentosa (RP). Unter Kolobome wurden Spaltmissbildungen des Auges, unter Mikrophtalmus eine abnorme Kleinheit des Auges und unter Anophthalmus Augenlosigkeit verstanden. Vgl. Fleischer, Typische Spaltmißbildungen, S. 1–34, hier S.1. Zum Thema „amaurotische Idiotie“ vgl. Kapitel IV.2. Myopie ist der Fachterminus für Kurzsichtigkeit. Vgl. Verschuer, Blindheit, S. 9. 49 Als problematisch stufte Verschuer 1933 allerdings die Diagnose bei denjenigen Krankheiten ein, die sowohl in einer „erblichen“ als auch in einer „nichterblichen“ Form auftraten. Dies war zum Beispiel bei dem Glaukom202 und der Optikusatrophie203 der Fall. Damit bei einer vorliegenden Krankheit festgestellt werden konnte, ob diese „erblich“ war, hielt Verschuer eine Familienerhebung für notwendig. Diese sollte die Voraussetzung dafür sein, ob die Betroffenen Nachkommen haben durften oder nicht.204 Trotz dieser hier angedeuteten Probleme bei der Diagnose von „erblich bedingten Erblindungen“ waren sich Verschuer und die Ärzte, welche über die einzelnen „erblichen Augenerkrankungen“ im „Handbuch der Erbkrankheiten“ publizierten, 1933 darüber einig, dass der Forschungsstand für die Durchführung des GzVeN bei einer angenommenen „erblich bedingten Blindheit“ ausreichend war.205 Die Forschungslücken in der Bestimmung von erblich bedingter Blindheit hatten fatale Folgen für die Betroffenen. Trotz der unsicheren Forschungslage wurde in einigen Fällen eine „erbliche Blindheit“ festgestellt und gegebenenfalls eine Zwangssterilisierung durchgeführt. Die Fragestellung, welche Indikation zu einer Zwangssterilisierung auf Grund der GzVeN-Diagnose „erbliche Blindheit“ führte, ist daher in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung und wird ausführlich in dem Kapitel „Blindheit und Eugenik“206 thematisiert. 1.2.3 „Vermeidbare Erblindungen“ und der Rückgang der absoluten Anzahl von Zivilblinden Auch wenn es bei der Erforschung der „erblich“ bedingten Augenerkrankungen noch viele Lücken gab, so hatten verschiedene medizinische Erkenntnisse doch dazu geführt, dass die absolute Zahl der Erblindungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie bereits im Kapitel I.1.1 über die statistischen Angaben angedeutet, tatsächlich zurückging. Als Beispiel ist hier der bereits beschriebene Rückgang der so genannten „gonhorrhöischen Augenentzündungen“ und die Eindämmung der Trachomendemie zu nennen. Eine weitere bedeutende Ursache für Erblindungen im 19. Jahrhundert waren die Pocken. Die Anzahl der Erkrankungen konnte durch die Einführung der Pockenimpfung stark reduziert werden. Bartels attestierte 1939, dass keine neue Erblindung durch Pockenerkrankungen vorgekommen sei.207 Eine vom damaligen Volksgesundheitsamt herausgegebene Statistik aus dem Jahr 1935 bestätigte diesen Befund.208 Nicht ganz beseitigt, aber vermindert werden konnten bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges Erblindungen durch die Augentuberkulose (Iridocylis tuberculosa). Es handelte sich dabei um eine Teilerscheinung einer allgemeinen Tuberkuloseerkrankung. Diese konnte nur behandelt werden, wenn eine solide Ausheilung der gesamten Tuberkulose im Körper 202 203 204 205 206 207 208 50 Darunter ist der so genannte „Grüne Star“ zu verstehen. Medizinischer Begriff für einen Schwund des Sehnervs. Vgl. Verschuer, Blindheit, S. 10. Vgl. Verschuer, Blindheit, S. 10–12. Vgl. Kapitel II.8. Vgl. Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 4. Vgl. Brezina, Bichler, Eheschließungen. möglich war.209 Bei der Augentuberkulose ist die Augenmittelhaut von Tuberkulosebakterien, den Auslösern der Lungentuberkulose, befallen. Die durch den Befall hervorgerufene Entzündung, „scrophulöse Augenentzündung“ genannt, kann zur Erblindung führen. Dieser Erscheinungstyp der Tuberkuloseinfektion kam in der Regel nur unter besonders schlechten, unhygienischen Lebensbedingungen vor.210 Der Augenarzt Bartels meinte 1939, dass die Maßnahmen gegen die Tuberkulose dazu geführt hätten, dass die schweren Erkrankungen bei Kindern abgenommen hatten und damit eine Abnahme der Erblindungen durch diese Erkrankung die Folge war.211 Erblindungen, die durch Tuberkulose, Pocken oder andere Infektionskrankheiten ausgelöst wurden, sowie die „erblich“ bedingten Erblindungsursachen zählten im damaligen Sprachgebrauch zu der Kategorie der „vermeidbaren“212 Erblindungen. Die NS-Gesundheitspolitik war deshalb darauf ausgerichtet, die Zahl dieser Erkrankungsformen gegebenenfalls weiter zu senken.213 Aber nicht nur Krankheiten führten zu Erblindungen, sondern auch Augenverletzungen. Die Zahl der Berufsunfälle sollte durch Verordnungen reduziert werden. Diese umfassten das Tragen von Schutzbrillen, um Augenschäden durch Blendung, Wärme, Fremdkörper oder Verätzungen zu verhindern.214 Die Maßnahmen des NS-Regimes zur Reduzierung der „vermeidbaren“ Erblindungen führten keineswegs zu einem weiteren Rückgang der absoluten Zahl blinder Menschen. Abgesehen von der Sinnlosigkeit insbesondere der eugenischen Maßnahmen machte der Beginn des Zweiten Weltkrieges die Erfolge bei der Senkung der absoluten Anzahl von blinden Menschen zunichte. Denn nicht nur die unmittelbaren Kriegsauswirkungen, wie zum Beispiel Bombenangriffe oder herumliegende Sprengkörper,215 ließen die Zahl der zivilen Kriegserblindungen ansteigen. Auch die mittelbaren Begleitumstände wie mangelnde Versorgung, eine eingeschränkte medizinische Infrastruktur und die sich verschlechternden hygienischen Bedingungen erhöhten die Zahl der Erblindungen während des Zweiten Weltkrieges, vor allem bei Kindern. Beispielsweise stieg auch die Zahl der Tuberkulosesterbefälle in der Zivilbevölkerung in dieser Zeit wieder rapide an.216 Eine Berichterstattung darüber war AkteurInnen des Blindenwesens sowie Ärztinnen und Ärzten durch die NS-Propaganda verboten. Quellenmaterial zu den Auswirkungen des Kriegs auf die Anzahl von Erblindungen ließ sich vermutlich auch deshalb nicht finden. Das ist noch ein Forschungsdesiderat. 209 Vgl. Werdenberg, Beurteilung und Behandlung der Augentuberkulose, S. 30. 210 Vgl. Schöffler, Blinde im Leben des Volkes, S. 44. [Der selbstbetroffene Autor verfügt über ein umfassendes medizinisches Wissen. Seine Aussagen sind aber teilweise deutlich von der NS-Zeit geprägt. (z. B. S. 46). Sein Werk ist daher als unseriös zu bewerten.] 211 Vgl. Bartels, Hygiene, S.1–15, hier S. 4. 212 Vgl. u. a. Breger, Geschlechtskrankheiten, S. 25; Schöffler, Blinde im Leben des Volkes S. 50, S. 80; Crzellitzer, Blindenwesens, S. 163–171, hier S. 167. 213 Die NS-Tuberkulosepolitik wurde von Elisabeth Dietrich-Daum in einer Studie ausführlich dargestellt. Dietrich-Daum, Wiener Krankheit, S. 292–317. 214 Vgl. Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 4. 215 Vgl. Kapitel III.1.2.5. 216 Vgl. Dietrich-Daum, Wiener Krankheit, S. 316–317. 51 2.Der NS-Wohlfahrtsstaat: Öffentliche Fürsorge und gesetzliche Bestimmungen für Zivilblinde217 2.1 Grundsätze der öffentlichen Fürsorge und der Gesetzgebung Für den Anspruch auf staatliche Fürsorge zählte in der NS-Zeit nicht das klassische Kriterium der Hilfsbedürftigkeit. Vom NS-Regime wurde nur eine solche Fürsorge gewährt, die als „produktiv“ galt. Das bedeutete, jeder sollte dazu in die Lage versetzt werden, sich aus eigener Kraft versorgen zu können. 218 Für die Zivilblinden hieß dies, dass die Berufsfürsorge zum wichtigsten Aspekt der staatlichen Unterstützung wurde. 219 Diese so genannte „Brauchbarmachung“ durch Berufsqualifikation sollte in der NS-Zeit durch eine Zusammenarbeit der öffentlichen und „freien“ Wohlfahrtspflege erfolgen. 220 Welche gesetzlichen Bestimmungen 221 dabei für die Zivilblinden relevant waren, wird im Folgenden erläutert. Die nationalsozialistische Fürsorge für die Zivilblinden war daher, wie das Petra Fuchs bereits für körperbehinderte Menschen festgestellt hat, utilitaristisch orientiert.222 Der in Deutschland von dem Orthopäden und Mitwirkenden bei der Entwicklung der „Krüppelfürsorge“223 Konrad Biesalski geprägte Leitsatz, „Krüppel von Almosenempfängern zu Steuerzahlern“ 224 zu machen, galt genauso für die NS-Blindenfürsorge. 225 Der Grundgedanke der „volkswirtschaftlichen Verwertbarkeit“ von Menschen mit einer Behinderung in der Fürsorge wurde aber nicht erst durch die NS-Diktatur geprägt. Schon in der deutschen Fürsorgegesetzgebung der Zwischenkriegszeit wurde er umgesetzt, wie das Beispiel des preußischen „Krüppelfürsorgegesetzes“ vom 6. Mai 1920 zeigt. Auch in Österreich herrschte dieser Gedanke in der Sozialgesetzgebung vor. Ein Beleg dafür ist das „Invalidenbeschäftigungsgesetz“ 226, das im Folgenden noch ausführlich behandelt wird. 217 Weitere Informationen zu diesem Thema finden sich im Manuskript der dieser Publikation zugrunde liegenden Dissertation. Insbesondere sind dort Informationen zur Fürsorge und Versorgung erblindeter Angehöriger des Reichsarbeitsdienstes (RAD) enthalten. Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 85–87. 218 Vgl. Malmanesh, Blinde, S. 196. 219 Vgl. Pork, Zusammenarbeit, S. 109–114, hier S. 110. [Pork war Landesrat aus Münster in Westfalen und Leiter der Hauptfürsorgestelle dort.] 220 Vgl. Kapitel II.3. Da alle Vereinigungen und Einrichtungen für blinde Menschen mit Beginn der NS-Zeit gleichgeschaltet wurden, muss der Begriff „frei“ hier in Anführungsstriche gesetzt werden. Er entsprach zwar der damaligen öffentlichen Darstellung, aber keineswegs den tatsächlichen Bedingungen des NSVereinswesens. 221 Eine weiterführende zeitgenössische Darstellung der fürsorglichen Bestimmungen der NS-Zeit mit Erläuterungen bietet folgendes Werk: Linde, Zimmerle, Fürsorge des Staates. 222 Vgl. Fuchs, „Körperbehindert“, S. 138. 223 Vgl. Kapitel I.5. 224 Konrad Biesalski (Hrsg.), Umfang und Art des jugendlichen Krüppeltums und der Krüppelfürsorge in Deutschland nach der durch die Bundesregierung erhobenen amtlichen Zählung, Hamburg, Leipzig 1909, S. 20, zitiert in: Fuchs, „Körperbehindert“, S.137. 225 Vgl. Bögge, Aufgabe, S. 1–7, hier S. 3. 226 [Ö] BGBl. Nr. 69/1928, Invalidenbeschäftigungsgesetz (Text vom Februar 1928) vom 8. Februar 1928. 52 Charakteristisch für das NS-Fürsorgesystem war außerdem, dass der Einzelne nur noch als Teil der Gemeinschaft von Bedeutung war.227 Jeder sollte ein „wertvolles Mitglied der Volksgemeinschaft“ werden.228 Diese wurde durch rassische sowie soziale Kategorien bestimmt. Als unterstützungswürdig wurden daher auch nur diejenigen anerkannt, die als „wertvolle“ Mitglieder galten, oder das durch Maßnahmen zur beruflichen Integration werden konnten.229 Das bedeutete, allgemein gesprochen, nur wer die vorgeschaltete Selektion überstand oder sich dafür einsetzte, erwerbstätig zu werden, erhielt auch fördernde Hilfsleistungen. Christoph Sachße und Florian Tennstedt sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Gratifikation für völkisches Wohlverhalten“230 und Marie-Luise Recker stellte kritisch fest, dass der Wohlfahrtsstaat mehr zu einem „Wohlverhaltensstaat“231 wurde. Blinde Menschen konnten Teil dieser Volksgemeinschaft werden, weil sie grundsätzlich als „arbeitsfähig“ eingeschätzt wurden.232 Wer allerdings durch seine Blindheit und etwaige weitere Behinderungen sowie durch sein Alter so schwer beeinträchtigt war, dass er nicht arbeiten konnte, gehörte zu den „Ballastexistenzen“. Welche Konsequenzen dies unter Umständen hatte, klärt das Kapitel über „Blindheit und Eugenik“233 in dieser Studie. Auf Basis der gesetzlichen Regelung können allerdings nur bedingt Rückschlüsse darauf gezogen werden, wie diese Bestimmungen tatsächlich umgesetzt wurden. Da aber gerade für diese Arbeit, wie eingangs bereits erwähnt, die wichtigsten Versorgungsakten und Unterlagen der Interessenvertretungen in den einschlägigen Archiven nicht auffindbar waren, ist es notwendig, ausführlich die rechtlichen Prinzipien bei der Versorgung blinder Menschen im NS-Staat zu schildern. 2.2 Gesetzliche Grundlagen 2.2.1 Einführung des deutschen Fürsorgerechts in Österreich Die Aufgaben und Pflichten der öffentlichen Unterstützung in der NS-Zeit für die Zivilblinden beruhten auf dem deutschen Fürsorgerecht. Dieses trat mit der „Einführung der fürsorgerechtlichen Vorschriften im Lande Österreich“ 234 (Fürs.Einf.VO) mit 1. Oktober 1938 227 Vgl. Hermann Althaus, Nationalsozialistische Volkswohlfahrt. Wesen, Aufgaben und Aufbau, Berlin 21936, S. 9, zitiert in: Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 119. 228 Zum Thema NS-Volksgemeinschaft gab es insbesondere in den vergangenen Jahren aktuelle Forschungen. Vgl. Nolzen, Tagungsbericht „Volksgemeinschaft“. Darüber hinaus weiterführende Literatur u. a.: Bajohr, Wildt, Volksgemeinschaft; Verhey, Der „Geist von 1914“. 229 Vgl. Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 97. 230 Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 97. 231 Recker, Sozialpolitik, S. 123–134, hier S. 130. 232 Diese Auffassung war zentraler Bestandteil der NS-Propaganda gegenüber blinden Menschen. Vgl. u. a.: Bögge, Aufgabe, S. 1–7; Meurer, Vorwort des Herausgebers, S. V–VII, hier S. V; o. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer. 233 Vgl. Kapitel II.8. 234 Die politische Neuorganisation nach dem „Anschluss“ war durch das Bestreben gekennzeichnet, den Namen und den Begriff Österreich auszulöschen, um die Beseitigung der staatlichen Selbständigkeit zu betonen. Nach dem das „Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs“ am 4. März 1939 erlassen worden war, ist in Gesetzestexten und Verordnungen nur mehr von der „Ostmark“ die Rede. Mit dem 53 in der „Ostmark“ in Kraft.235 Die Aufgaben der öffentlichen Fürsorge sollten nach § 2 von Landesfürsorgeverbänden und Bezirksfürsorgeverbänden in eigener Verantwortung übernommen werden: „Jedes ehemals österreichische Land bildet einen Landesfürsorgeverband.“ 236 Die Bezirksfürsorgeverbände wurden nach den Stadtkreisen, die sich mit den Verwaltungsbezirken jeder Bezirkshauptmannschaft deckten, gebildet. Einzelne österreichische Städte z. B. Innsbruck, Linz, Wien bildeten eigene Magistrate, während Klein- und Mittelstädte, etwa Bregenz oder Kufstein, mit weiteren Gemeinden einen Verwaltungssprengel bildeten. § 5 regelte die „besonderen Aufgaben“ der Landesfürsorgeverbände. Dazu zählten die „Bewahrung“, „Kur“ und „Pflege“ der „hilfsbedürftigen“ „Geisteskranken“, „Geistesschwachen“, Epileptiker, „Taubstummen“, Blinden und „Krüppel“ in geeigneten Einrichtungen, soweit Anstaltspflege als erforderlich galt. Bei blinden Menschen, „Taubstummen“, „Krüppeln“ und Minderjährigen zählten auch die „Erwerbsbefähigung“ und die Erziehung zu den „besonderen Aufgaben“. Diese beinhaltete die Verpflichtung, blinde Menschen zu unterrichten.237 Mit der Fürs.Einf.VO wurde also die Berufsfürsorge für blinde Menschen zur Aufgabe der öffentlichen Fürsorge. Eine Unterbringung von blinden Menschen in geeigneten Heimen sollte nur dann erfolgen, wenn die Betroffenen aus Altersgründen oder wegen weiterer körperlicher Beeinträchtigungen keiner Erwerbstätigkeit nachgehen konnten.238 Die Einführung der deutschen Fürsorgebestimmungen in Österreich verlief nicht problemlos, da sich damit im Vergleich zu den bisherigen Bestimmungen einiges änderte. Bisher hatte es keine einheitlichen Bundesfürsorgegesetze gegeben. Die Leistungsfähigkeit der jeweiligen Fürsorgeträger war daher sehr unterschiedlich.239 Die Gemeinden wurden in der NS-Zeit als Träger der öffentlichen Fürsorge von den Landesfürsorge- und Bezirksfürsorgeverbänden abgelöst. Bei der Festlegung der Zuständigkeit musste der bisherige Heimatrechtsgrundsatz dem Grundsatz des gewöhnlichen Aufenthaltes weichen.240 Die Landesfürsorgeverbände wurden außerdem durch die „besonderen Aufgaben“ der §§ 5 und 6 der Fürs.Einf.VO stark finanziell belastet. Bei Unterbringung der Menschen mit einer Behinderung gab es zudem Unklarheiten. Bei der Umsetzung kam es so zu Widerständen der öffentlichen Behörden.241 Schwierigkeiten bereitete insbesondere die Umsetzung 235 236 237 238 239 240 241 54 „Ostmarkgesetz“ vom 14. April 1939 wurden die ehemaligen Bundesländer endgültig zu so genannten Reichsgauen. Ab 1942 war nur mehr die Formulierung „Alpen- und Donaureichsgaue“ zulässig. Vgl. GBlÖ, Nr. 397/1938, Verordnung über die Einführung fürsorgerechtlicher Vorschriften im Lande Österreich vom 3. September 1938. GBlÖ, Nr. 397/1938, § 2 (2). Dies wird auch in einer Zusammenstellung über die „Krüppelfürsorge“ in der „Ostmark“ vom August 1938 bestätigt. Vgl. ÖStA, AdR, BM f. soz. V., Kt. 2411, GZ 57146/38 eingelegt in Zl. 253114/39, Betreff: Fürsorge für Krüppel in der Ostmark, Zusammenstellung, August 1938. Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Nr. III, 2512/40, Niederschrift über die erste Tagung der Arbeitsgemeinschaft am 25.10.1940 in Berlin, S. 5. Vgl. Kurt Preiser, Die öffentliche Armenpflege in Österreich, in: Deutsche Zeitschrift für Wohlfahrtspflege, Nr. 1, Jg. 14, (1938), S. 1–5, zitiert in: Hansen, Wohlfahrtspolitik, S. 188. Vgl. GBlÖ, Nr. 397/1938, § 8,2. Das Heimatrecht wurde bis auf wenige Ausnahmen nur durch Geburt oder Heirat erworben und war die Voraussetzung für eine Armenunterstützung. Vgl. Hansen, Wohlfahrtspolitik, S. 188. Weiterführende Quelle dazu: ÖStA, AdR, BM f. soz. V., Volksgesundheit, Zl. 129.468-II/3/39 eingelegt in GZ 257.419/39, Der Minister für innere und kulturelle Angelegenheiten an das RM d. I. vom 14.4.1939, Betreff: Auslegung der §§ 5 und 6 Fürs.Einf.VO. §§ 5 und 6 der Fürs.Einf.VO zur „besonderen Aufgabe“ der Landesfürsorge. 1940 wurde daher aus den „besonderen Aufgaben“ der Landesfürsorgeverbände eine „außerordentliche Fürsorgepflicht“. Das RM d. I. und das RAM gaben 30. März 1940242 einen Runderlass heraus, der die geltenden Bestimmungen genauer regelte. Um Missverständnisse zu vermeiden, wurde in diesem Erlass genau definiert, welche Voraussetzungen gegeben sein sollten, damit die öffentlichen Stellen dieser erweiterten Versorgungspflicht nachkommen mussten. Es musste zum Beispiel ein bestimmtes „Gebrechen“ vorliegen. Dieses wurde durch ein amtsärztliches Gutachten festgestellt.243 Dabei fällt auf, dass Blindheit nur sehr oberflächlich beschrieben wurde. Andere Beeinträchtigungen wie „Geisteskrankheit“, Gehörlosigkeit oder körperliche Behinderungen wurden ausführlicher bestimmt.244 In diesem Runderlass hieß es nur: „Blindheit setzt voraus, daß die Sehkraft auf beiden Augen praktisch fehlt.“ 245 Diese ungenaue Definition ließ viel Raum für willkürliche Entscheidungen. Insbesondere wird dadurch nicht eindeutig geklärt, ob auch praktisch blinde Menschen Anspruch auf die außerordentlichen Fürsorgemaßnahmen hatten. Dabei war dieser Runderlass für die Zivilblinden gerade deshalb von besonderer Bedeutung, weil er die Unterbringung in Anstalten exakter regelte. Bei der Festlegung, in welcher Anstalt eine blinde Person unterzubringen sei, wurde nach dem „Wert“ des Betreffenden für die „Volksgemeinschaft“ differenziert. Blinde und andere Menschen mit einer Behinderung sollten immer dann in Anstalten mit „besonderen Einrichtungen“ oder „besonderem Personal“ unterkommen, wenn ihre Erwerbsfähigkeit dadurch erhalten, wiederhergestellt oder gebessert werden konnte.246 Für blinde Minderjährige, „Taubstumme“247 und „Krüppel“ war generell vorgesehen, sie in eine Anstalt zu schicken, die auch eine allgemeine schulmäßige Ausbildung anbieten konnte.248 Wer allerdings als nicht mehr „arbeitsfähig“ eingestuft wurde, der sollte in einer beliebigen Anstalt untergebracht werden. Die übrigen „Anstaltsinsassen“ durften durch die Unterbringung der „Hilfsbedürftigen“ mit einer Behinderung allerdings nicht beeinträchtigt werden.249 Als „Ballastexistenzen“ hatten sie kein Recht auf eine besondere Fürsorge. Wegen der kriegsbedingten Ressourcenprobleme wurden mit der vierten Verordnung zur Vereinfachung des Fürsorgerechtes vom 9. November 1944 auch diese Bestimmungen 242 Die Bestimmungen traten mit 1. April 1940 in Kraft. Vgl. RMBliV, Runderlass des RM d. I. und des RAM, Betreff: Außerordentliche Fürsorgepflicht der Gaufürsorgeverbände der Ostmark und des Gaufürsorgeverbandes Reichsgau Sudetenland vom 30. März 1940, S. 683, abgedruckt und kommentiert in: Heller, Ringhofer, Fürsorgerecht, S. 138–153. 243 Vgl. RMBliV, Runderlass des RM d. I. und des RAM vom 30. März 1940, S. 683, abgedruckt in: Heller, Ringhofer, Fürsorgerecht, S. 138–153, hier S. 140. 244 Vgl. Kapitel I.1.4. 245 RMBliV, Runderlass des RM d. I. und des RAM vom 30, März 1940, S. 683, abgedruckt in: Heller, Ringhofer, Fürsorgerecht, S. 138–153, hier S. 139. 246 Vgl. RMBliV, Runderlass des RM d. I. und des RAM vom 30, März 1940, S. 683, abgedruckt in: Heller, Ringhofer, Fürsorgerecht, S. 138–153, hier S. 144. 247 Diese Bezeichnung wird zum Teil noch heute verwendet, von vielen Betroffenen allerdings als Abwertung verstanden. Viele gehörlose Menschen erlernen beispielsweise die Lautsprache und/oder Gebärdensprache und können daher nicht als „stumm“ gelten. 248 Vgl. RMBliV, Runderlass des RM d. I. und des RAM vom 30. März 1940, S. 683, abgedruckt in: Heller, Ringhofer, Fürsorgerecht, S. 138–153, hier S. 144–145. 249 Vgl. RMBliV, Runderlass des RM d. I. und des RAM vom 30. März 1940, S. 683, abgedruckt in: Heller, Ringhofer, Fürsorgerecht, S. 138–153, hier S. 144. 55 aufgehoben und ersetzt.250 Da diese Verordnung erst am 1. April 1945 in Kraft trat, spielte sie in der Praxis der Versorgung der Betroffenen in Hinblick auf das Kriegsende und der Befreiung aber keine Rolle mehr. 2.2.2 Bestimmungen der „Reichsgrundsätze“ (RGS) und der „Fürsorgepflichtverordnung“ (Fürs.Pflicht.VO) Mit der Fürs.Einf.VO traten auch die „Reichsgrundsätze über Art und Maß der öffentlichen Fürsorge“ (RGS) und die „Fürsorgepflichtverordnung“ (Fürs.Pflicht.VO) in Kraft.251 Diese bestimmten maßgeblich Umfang und die Art der Unterstützungsmaßnahmen.252 Nach § 1 der RGS hatten die öffentlichen Fürsorgeträger die Aufgabe, „Hilfsbedürftigen“ den „notwendigen Lebensbedarf“ zu gewähren. Die „Hilfsbedürftigen“ sollten dabei „tunlichst“ in den Stand versetzt werden, für sich und ihre unterhaltsberechtigten Angehörigen den „Lebensbedarf“ selbst zu beschaffen.253 Das Postulat einer „produktiven“ Fürsorge legte die NS-Regierung hier gesetzlich fest. Als „hilfsbedürftig“ eingestuft wurden Personen, die den „notwendigen Lebensbedarf“ für sich und ihre unterhaltsberechtigten Angehörigen gar nicht oder nicht ausreichend selbst beschaffen konnten. Sie durften auch nicht von anderer Seite, zum Beispiel von den Angehörigen, finanziert werden.254 Wer als unterstützungswürdig angesehen wurde, hatte aber nicht nur Anrecht auf das „unbedingt Notwendige“ zum Lebenserhalt, sondern § 6 der RGS definierte auch das, „was zur Wiederherstellung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit“ benötigt wurde, als „notwendigen Lebensbedarf“.255 Gemäß diesen Richtlinien zählte bei „Blinden, Taubstummen und Krüppeln“ die „Erwerbsbefähigung“ zur „Pflichtaufgabe der Fürsorge“.256 Diese drei Gruppen von Menschen mit einer Beeinträchtigung nahmen demnach eine Sonderstellung ein.257 Zur „Erwerbsbefähigung“ insbesondere blinder Menschen und auch anderer „Schwererwerbsbeschädigter“ zählte auch die Gewährung von Hilfsmitteln, die zur Ausübung eines Berufes notwendig waren.258 250 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Vierte Verordnung zur Vereinfachung des Fürsorgerechts vom 9. November 1944, S. 323–324. Besonders bemerkenswert ist, dass trotz der Aufhebung des Runderlasses die Bestimmungen der „außerordentlichen Fürsorgepflicht“, wenn auch eingeschränkt, von der Verwaltungspraxis und auch vom Verwaltungsgerichtshof bis in die 1960er Jahre weiterhin angewendet wurden. Vgl. Heller, Ringhofer, Fürsorgerecht, S. 138–153, hier S. 144–145; Steingruber, Der Behindertenbegriff im österreichischen Recht, <http://bidok.uibk.ac.at/library/steingruber-recht.html>, Download am 24.09.2008 [Abdruck der Diplomarbeit Steingrubers an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz, Juni 2000]. 251 Vgl. GBlÖ, Nr. 397/1938. 252 Vgl. Kuhweide, Fürsorge, S. 121–128, hier S. 121–122. 253 Vgl. GBlÖ, Nr. 397/1938. 254 Vgl. GBlÖ, Nr. 398/1938, Erläuterungen zu § 5. 255 Vgl. GBlÖ, Nr. 398/1938, Erläuterungen zu § 6. 256 Vgl. GBlÖ, Nr. 398/1938, Erläuterungen zu § 6. 257 Dieser Aspekt weist auf eine am Schluss noch zu erläuternde Sonderstellung blinder Menschen und eine Hierarchie unter Menschen mit einer Behinderung, bewertet nach ihrer „volkswirtschaftlichen Verwertbarkeit“, hin. Vgl. Kapitel V. 258 Vgl. GBlÖ, Nr.398/1938, Erläuterungen zu § 6. 56 Zivilblinden und anderen „Hilfsbedürftigen“ konnte darüber hinaus unter Umständen zur Existenzsicherung ein rückzahlungspflichtiges Darlehen gewährt werden.259 Geregelt wurde dies durch § 11 der RGS. Darin wurde festgelegt, dass die öffentliche Fürsorgeleistungen aus Geldzahlungen, Sachleistungen, persönlicher Hilfe oder Darlehen bestehen konnte.260 Als „hilfsbedürftig“ Eingestufte hatten aber nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. § 7 der RGS regelte, dass auch nicht „voll arbeitsfähige“ „Hilfsbedürftige“ verpflichtet waren, ihre restliche Arbeitskraft einzusetzen. Nach § 19 der Fürs.Pflicht.VO konnten „Hilfsbedürftige“ zur Leistung angemessener Arbeit gemeinnütziger Art herangezogen werden. In einem Aufsatz im „Ratgeber für Blinde“ wird in diesem Zusammenhang von „Pflichtarbeit“261 gesprochen. Außerdem waren die „Hilfsbedürftigen“ prinzipiell nach § 8 der RGS zunächst dazu verpflichtet, ihre eigenen finanziellen Mittel einzusetzen, bevor sie Anspruch auf öffentliche Fürsorge hatten. Bei diesem Aspekt, kam allerdings die bereits zitierte Tatsache zum Tragen, dass der Wohlfahrtsstaat in der NS-Zeit vielmehr ein „Wohlverhaltensstaat“262 war. Wer trotz vorgerückten Alters oder starker Beschränkung der Erwerbsfähigkeit unter „Aufwendung besonderer Tatkraft einem Erwerbe“263 nachging, bei dem wurde ein angemessener Betrag des Arbeitsverdienstes bei der Einziehung des eigenen Vermögens nicht angerechnet. Nach den RGS galt dies besonders bei blinden, hirnverletzten und anderen „schwererwerbsbeschränkten“264 Menschen. Die Fürs.Pflicht.VO legte darüber hinaus in § 25 noch fest, dass der oder die Unterstützte verpflichtet sei, dem Fürsorgeverband die aufgewendeten Kosten zu ersetzen. Die Kosten der beruflichen Integration von blinden, gehörlosen Menschen und „Krüppeln“ wurden davon allerdings explizit ausgenommen.265 Die Kosten für ihre Berufsausbildung mussten blinde Menschen also nicht mehr von ihrem geringen Einkommen zurückerstatten.266 2.2.3 „Invalidenbeschäftigungsgesetz“ Neben den bereits erwähnten Gesetzen war auch die gesetzliche Regelung zur Schaffung von Arbeitsplätzen für Kriegsgeschädigte und andere Menschen mit einer Behinderung von besonderer Bedeutung. Betriebe sollten verpflichtet werden, ab einer gewissen Anzahl von Angestellten Kriegsgeschädigte und andere Menschen mit einer Behinderung anzustellen. Schon vor Beginn der NS-Zeit wurden in Österreich und Deutschland die gesetzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, die dann auch in der NS-Zeit ihre Gültigkeit behielten. 259 260 261 262 263 264 Vgl. Rhode, Berufsfürsorge, S.20–24, hier S. 21 [BAB, RD 89/1, 1939/2]. GBlÖ, Nr. 397/1938, § 11. Vgl. Kuhweide, Fürsorge, S. 121–128, hier S. 124. Vgl. Recker, Sozialpolitik, in: Benz, Graml, Weiß, Enzyklopädie, S. 123–134, hier S. 130. GBlÖ, Nr. 398/1938, Erläuterungen zu § 8. Laut den Erläuterungen zu den RGS galten Personen als „schwererwerbsbeschränkt“, die wenigstens um „50 von Hundert“ in ihrer Erwerbsfähigkeit eingeschränkt waren. Vgl. GBlÖ, Nr. 398/1938, Erläuterungen zu § 8. 265 Das Gleiche galt für die Wochenfürsorge von Müttern und für Leistungen, die „Hilfsbedürftigen“ vor der Vollendung des 18. Lebensjahres gewährt wurden. 266 Vgl. Kuhweide, Fürsorge, S. 121–128, S. 124. 57 In Österreich wurde am 1. Oktober 1920 das „Invalidenbeschäftigungsgesetz“ erlassen.267 Dieses Gesetz sollte zunächst die berufliche Wiedereingliederung der Kriegsinvaliden ermöglichen.268 Aber Betriebe konnten auch blinde ArbeitnehmerInnen, „die am Tage der Kundmachung dieses Gesetzes im Betrieb beschäftigt“269 waren, auf die Pflichtzahl der anzustellenden Kriegsgeschädigten anrechnen. Dasselbe galt für Unfallverletzte des eigenen Betriebes.270 In der Fassung vom 8. Februar 1928 wurde der oben zitierte Beisatz zu den blinden Menschen weggelassen. Damit waren blinde Menschen genauso wie Kriegsgeschädigte auf die Pflichtzahl anrechenbar.271 In Deutschland wurde am 6. April 1920 das „Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter“ erlassen, das zunächst nur Kriegsgeschädigte und BezieherInnen von Unfallrenten umfasste.272 Mit 1. Jänner 1923 erhielt es aber eine neue Fassung und die gesetzlichen Bestimmungen wurden auch auf blinde und andere Menschen mit einer Behinderung, deren Erwerbsfähigkeit um mindestens Fünfzig von Hundert beschränkt war, ausgeweitet. Auch sie sollten eine Anstellung finden, wenn dadurch die Beschäftigung eines Kriegs- oder „Unfallbeschädigten“ nicht gefährdet wurde.273 Kriegsopfer waren dadurch gegenüber anderen Menschen mit einer Behinderung immer noch bevorzugt, aber die Bestimmungen in Deutschland betrafen wesentlich mehr Menschen mit einer Beeinträchtigung als in Österreich. Trotzdem ist doch auffällig, dass beide Staaten blinde Menschen extra erwähnten. Dies zeigt, dass blinde Menschen in den Fürsorgebestimmungen bereits vor der NS-Zeit eine Sondereinstellung eingenommen haben. Das Besondere an diesen beiden Gesetzen ist, dass sie jeweils formal in der NS-Zeit gültig blieben. Das deutsche Gesetz über die Beschäftigung „Schwerbeschädigter“ wurde in Österreich nie eingeführt. Das „Invalidenbeschäftigungsgesetz“ blieb in Kraft. Im Folgenden wird nun kurz aufgezeigt, wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte. Bereits im Jahr 1937 wurde eine Verlängerung der Geltungsdauer des „Invalidenbeschäftigungsgesetzes“, das ansonsten ausgelaufen wäre, bis Ende 1939 festgelegt.274 Diese Regelung blieb 1938 in Kraft. Anfang 1940 wurde dann nicht, wie man vermuten könnte, das deutsche Gesetz eingeführt. Es wurde nur eine Verordnung über die Beschäftigung „Schwerbeschädigter“ in der „Ostmark“ erlassen.275 Die damit verbundenen ergänzenden Bestimmungen zum „Invalidenbeschäftigungsgesetz“ änderten die bisherigen Regelungen und führten zu einer indirekten Angleichung an die geltenden Bestimmungen im „Altreich“. Trotzdem verlängerte man die Geltungsdauer des „Invalidenbeschäftigungsgesetzes“ immer 267 Vgl. [Ö] StGBl., Nr. 459/1920, Gesetz vom 1. Oktober 1920 über die Einstellung und Beschäftigung Kriegsbeschädigter (Invalidenbeschäftigungsgesetz). 268 Weiterführende Literatur: Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 150–152. 269 [Ö] StGBl., Nr. 459/1920, § 4,2. 270 Vgl. [Ö] StGBl., Nr. 459/1920, § 4. 271 Vgl. [Ö] BGBl., Nr. 69/1928. 272 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Nr. 7407/1920, Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter vom 6. April 1920, S. 458–464. 273 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Bekanntmachung der neuen Fassung des Gesetzes über die Beschäftigung Schwerbeschädigter vom 12. Januar 1923, S. 57–62. 274 Vgl. [Ö] BGBl., Nr. 448/1937, Bundesgesetz betreffend die Verlängerung der Geltungsdauer des Invalidenbeschäftigungsgesetzes; [Bereits in der ersten Fassung vom 1. Oktober 1920 war vorgesehen, dass das Gesetz mit 31. Dezember 1924 seine Wirksamkeit verlieren sollte. Vgl. StGBl. Nr. 459/1920, § 26,1.] 275 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Beschäftigung Schwerbeschädigter in der Ostmark vom 23. Januar 1940, S. 234–235. 58 wieder bis zum Dezember 1942.276 Mit der dritten Verordnung vom 25. November 1942 blieb das „Invalidenbeschäftigungsgesetz“ über den 31. Dezember 1942 hinaus bis zum „Ablauf des auf das Kriegsende folgenden Kalenderjahres“ gültig.277 Die Fortdauer des Krieges und die damit verbundenen Umstände verhinderten hier wohl die ursprüngliche Planung, denn das deutsche Gesetz zur Beschäftigung „Schwerbeschädigter“ sollte möglichst rasch in der „Ostmark“ eingeführt werden. Dies bemerkte Oberregierungsrat Rhode in seinem Aufsatz über die Berufsfürsorge in „Großdeutschland“.278 Rhode verfasste den Aufsatz allerdings bevor die ergänzenden Änderungen zum „Invalidenbeschäftigungsgesetz“ vom 23. Jänner 1940 eingeführt wurden.279 Der wichtigste Unterschied der beiden Gesetze wurde durch diese Regelungen aufgehoben. Mit dieser Verordnung wurden die Bestimmungen über den Personenkreis, der den schwergeschädigten Kriegsversehrten und Unfallopfern gleichgestellt war, ausgedehnt. Blinde und andere Menschen mit einer Behinderung, deren Erwerbsfähigkeit um mindestens Fünfzig von Hundert vermindert war, konnten nun auch von den Regelungen des „Invalidenbeschäftigungsgesetzes“ in Österreich profitieren. Die Maßgabe, dass die Unterbringung „schwerbeschädigter“ Kriegs- und Unfallopfer dadurch nicht gefährdet sein sollte, blieb aufrecht. Für Österreich in der Zeit von 1938 bis 1945 bedeutete diese Entwicklung aber, dass gewerbliche Betriebe aller Art weiterhin dazu verpflichtet waren, auf 20 ArbeitnehmerInnen mindestens einen Invaliden anzustellen. Auf je 25 weitere ArbeitnehmerInnen musste mindestens ein weiterer beschäftigt werden.280 Festgeschrieben wurde außerdem, dass die Entlohnung der Arbeitsleistung bei voller Beschäftigung auch den Lebensunterhalt ermöglichen sollte.281 Betriebe, die dieser Anstellungspflicht nicht nachkamen, mussten eine Ausgleichstaxe zahlen. Diese betrug 1928 für jede einzelne Person, die zu beschäftigen gewesen wäre, 200 Schilling.282 Über die Höhe der Summe in der NS-Zeit konnten keine Unterlagen gefunden werden. Die Mittel der Ausgleichsabgaben sollten aber für die Kosten der „Schwerbeschädigtenfürsorge“ verwendet werden.283 2.3 Versicherungsfragen An dieser Stelle werden anhand des Beispieles der Unfall- und der Invalidenversicherung der Reichsversicherungsordnung284 die Charakteristika des NS-Sozialversicherungswesens in Bezug auf die Zivilblinden aufgezeigt. 276 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Verlängerung der Geltungsdauer des Invalidenbeschäftigungsgesetzes in den Reichsgauen der Ostmark vom 21. Dezember 1940, S. 1668; RGBl. Teil I, Zweite Verordnung über die Verlängerung der Geltungsdauer des Invalidenbeschäftigungsgesetzes in den Reichsgauen der Ostmark vom 24. November 1941, S. 757. 277 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Dritte Verordnung über die Verlängerung der Geltungsdauer des Invalidenbeschäftigungsgesetzes in den Alpen- und Donau-Reichsgauen vom 25. November 1942, S. 664. 278 Vgl. Rhode, Berufsfürsorge, S.20–24, hier S. 23. 279 Vgl. Rhode, Berufsfürsorge, S.20–24, hier S. 21. 280 Vgl. [Ö] BGBl. Nr. 69/1928, § 1. 281 Vgl. [Ö] BGBl. Nr. 69/1928, § 6. 282 Vgl. [Ö] BGBl. Nr. 69/1928, § 9. 283 Vgl. Rhode, Berufsfürsorge, S. 20–24, hier S. 23. 284 Andere Pflichtversicherungen wie die Knappschafts- oder Angestelltenversicherung enthielten keine dezidierten Sonderregelungen für blinde Menschen. Aber auch sie gewährten erblindeten Versicherungs- 59 Angestellte, die infolge eines Betriebsunfalles oder einer „entschädigungspflichtigen Berufskrankheit“285 erblindeten, waren durch die Unfallversicherung nach der Reichsversicherungsordnung anspruchsberechtigt.286 Die Reichsversicherungsordnung wurde durch die „Verordnung über die Einführung der Sozialversicherung“ vom 22. Dezember 1938 in der „Ostmark“287 eingeführt. Das bedeutete das Ende der österreichischen Sozialversicherung und damit einhergehende tiefgreifende Veränderungen auf dem Gebiet der Organisation, des versicherten Personenkreises, der Leistungen, des Beitragswesens sowie der Verfahrensvorschriften.288 Bei einer durch einen Berufsunfall verursachten Verletzung gewährten die Berufsgenossenschaften nach § 558: 1. Krankenbehandlung, 2. Berufsfürsorge und 3. eine Rente oder Krankengeld, Tagegeld sowie Familiengeld für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit 289 Die Krankenbehandlung umfasste in erster Linie die ärztliche Behandlung. Aber auch die Versorgung mit Medikamenten und die Ausstattung mit „Körperersatzstücken“ gehörten dazu. Bei blinden Menschen kamen dabei beispielsweise künstliche Augen in Frage. Zur weiteren Heilbehandlung gehörte auch, dass Unfallblinde Anspruch auf einen Führhund mit Geschirr hatten. Hier orientierten sich die Bestimmungen an dem RVG für Kriegsblinde. 290 Die berufliche Rehabilitation galt aber auch hierbei als wichtigste Aufgabe der Versicherungsträger.291 Als Rente sollten blinde Menschen zwei Drittel des anrechnungsfähigen Jahresarbeitsverdiensts bekommen. Das bedeutete, ihnen stand die Vollrente zu.292 Der Verlust der Sehkraft wurde also wie bei den Kriegsopfern als eine der schwersten Formen von Invalidität bewertet. Betroffene hatten Anspruch auf Rente, solange sie als völlig erwerbsunfähig galten.293 Inwieweit mit den Rentenzahlungen an Unfallerblindete verfahren wurde, wenn sie wieder einer Erwerbstätigkeit nachgingen, konnte aus den vorliegenden Gesetzestexten und Dokumenten nicht eindeutig eruiert werden. Bei einem Wiedereintritt ins Berufsleben dürften die Betroffenen den Anspruch auf ihre Rente allerdings verloren haben.294 § 31 des Gesetzes über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlass des Krieges vom 15. Jänner 1941 hob diese Bestimmung für Unfallerblindete für die Zeit des Krieges allerdings wieder auf: 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 60 nehmerInnen die Vollrente. Vgl. Nowack, Versicherungsfragen, in: Meurer, Ratgeber, S. 104–105, hier S. 104. Nowack, Versicherungsfragen, in: Meurer, Ratgeber, S. 98–104, hier S. 98. Vgl. Reichsversicherungsordnung, Stuttgart, Berlin 371942, Unfallversicherung, S. 213–350. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Einführung der Sozialversicherung im Lande Österreich vom 22. Dezember 1938, S. 1912–1918; GBlÖ, Nr. 703/1938, Verordnung über die Einführung der Sozialversicherung im Lande Österreich vom 22. Dezember 1938. Diese Verordnung und andere betreffend die Sondervorschriften der Reichsversicherungsordnung für die „Ostmark“ sind abgedruckt in: Reichsversicherungsordnung, Anhang IV, S. 518–573, hier S. 522–536. Vgl. Reidegeld, Sozialpolitik, S. 464; Jakob, Neues Sozialversicherungsrecht der Ostmark (1939), S. 57 zitiert in: Neuwirth, Ehegesetz und Reichsversicherungsordnung, S. 175–214, hier S. 176. Vgl. Reichsversicherungsordnung, Unfallversicherung, S. 213–350, hier S. 230 [§ 558]. Vgl. Nowack, Versicherungsfragen, S. 98–104, hier S. 99. Das Reichsversorgungsgesetz wird in Kapitel III.2.2 näher erläutert. Zur Versorgung der Zivilblinden mit Führhunden siehe auch Kapitel II.2, II.9. Vgl. Nowack, Versicherungsfragen, S. 98–104, hier S. 101–102. Vgl. Nowack, Versicherungsfragen, S. 98–104, hier S. 102; Vgl. Reichsversicherungsordnung, Unfallversicherung, S. 213–350, hier S. 234 [§ 559 a]. Vgl. Nowack, Versicherungsfragen, S. 98–104, hier S. 102; Vgl. Reichsversicherungsordnung, Unfallversicherung, S. 213–350, hier S. 234 [§ 559 a]. So wurde auch in Bezug auf die Invalidenrente verfahren, die im folgenden Kapitel dargestellt wird. „Ist eine wegen Invalidität (Berufsunfähigkeit) gewährte Rente deshalb rechtskräftig entzogen worden, weil der Berechtigte während des Krieges erneut eine Tätigkeit aufgenommen hat, so ist sie auf Antrag wieder zu gewähren.295 Dadurch wurden auch blinde RentnerInnen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen konnten, in der Zeit des Krieges, die durch einen Arbeitskräftemangel gekennzeichnet war, angeregt, wieder eine Tätigkeit aufzunehmen.296 Eine ähnliche Vorgehensweise gab es auch bei der „Invaliden-Versicherung“297, die es als weitere Absicherung für Berufstätige nach der Reichsversicherungsordnung gab. Für ArbeiterInnen, GesellInnen oder HausgehilfInnen sowie einige andere Berufsgruppen bestand eine Versicherungspflicht.298 Auch unter Zivilblinden waren einige InvalidenrentnerInnen. Der Invaliditätsbegriff wurde allerdings in der NS-Zeit sehr eng gefasst. Die restriktive Praxis bei der Rentengewährung war eine Methode, um der Arbeitskräfteverknappung entgegenzutreten.299 InvalidenrentnerInnen, die wieder einer Beschäftigung nachgingen, drohte allerdings der Verlust ihrer Bezüge, was gegebenenfalls eine finanzielle Schlechterstellung bedeuten konnte. Nachdem Art und Umfang einer erneuten Beschäftigung festgestellt worden waren, ordnete die Versicherungsbehörde eine ärztliche Untersuchung des Rentners oder der Rentnerin an. Diese hatte dann gewöhnlich zur Folge, dass der Versicherungsarzt das weitere Vorliegen der Invalidität und damit die Voraussetzung für einen Rentenbezug verneinte.300 In der RBV Zeitschrift „Die Blindenwelt“ wurde dazu festgestellt: „Diese Bestimmung wirkte sich für den Arbeitseinsatz der noch erwerbsfähigen Rentner hinderlich aus.“301 Eine Tatsache, die den Zielen der NS-Sozialpolitik entgegenstand. Wie bei den Regelungen der Renten der Unfallversicherung wurde diese Vorgehensweise daher durch das bereits zitierte Gesetz über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung wegen des Krieges mit 15. Jänner 1941 aufgegeben.302 Im Gegensatz zu den InvalidenrentnerInnen im „Altreich“ waren die Bezüge der Betroffenen in der „Ostmark“ allerdings wesentlich geringer.303 Viele Betroffene waren daher dazu gezwungen, wieder einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, um ihre Existenz zu sichern. Aus den Akten über die Versorgung der Kriegsblinden ist der Fall des zivilblinden Invalidenrentners Christian N. bekannt, der 1943 als 63-Jähriger in der „Fernsprechanlage“ des Rathauses in Feldkirch angestellt war.304 Bis 1940 hatte der Vater von fünf Kindern, drei davon minderjährig, als Setzer in der Buchdruckerei Karl Haller in Feldkirch gearbeitet. 295 [D] RGBl., Teil 1, Gesetz über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlass des Krieges vom 15. Januar 1941, S. 34–36, hier S. 36. 296 Hierzu wird auch auf die Ausführungen zu der Auswirkung dieses Gesetzes auf die Invalidenrente im folgenden Kapitel verwiesen. 297 Vgl. Reichsversicherungsordnung, Invaliden-Versicherung, S. 351–416. 298 Vgl. Reichsversicherungsordnung, Invaliden-Versicherung, S. 351–416, hier S. 352–356 [§ 1226–§ 1242]. 299 Vgl. Reidegeld, Sozialpolitik, S. 454. 300 Vgl. Gerl, Invalidenrente, S. 33–34, hier S. 33. 301 Vgl. Gerl, Invalidenrente, S. 33–34, hier S. 33. 302 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Gesetz über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlass des Krieges vom 15. Januar 1941, S. 34–36, hier S. 35. 303 Vgl. AVA, Oberversicherungsamt, Kt. 1082, Übersicht über die Altersfürsorgerenten und Invalidenrenten in der Ostmark erstellt von Ministerialrat Rudolph vom 2.5.1941, zitiert in: Tálos, Arbeits- und Sozialrecht, S. 231–254, hier S. 248. 304 Vgl. Kapitel II.6.5. 61 Wiederholte schwere Augenentzündungen ließen ihn schließlich praktisch erblinden. Er erhielt auf Grund seiner Invalidität von der Landesversicherungsanstalt Salzburg eine Invalidenrente im Ausmaß von monatlich 61,10 RM (Stand 1943). Damit konnte er seine Familie nicht ernähren und war gezwungen, wieder einem Beruf nachzugehen. Er fand schließlich eine Anstellung als Telefonist im städtischen Dienst. Ob er auf Grund seiner Vorbildung, seines Alters und seiner Behinderung für diesen Beruf geeignet war, erscheint mehr als fraglich. Bei seiner Anstellung spielten angeblich karitative Überlegungen eine Rolle. Der Bürgermeister der Stadt Feldkirch setzte sich dann auch für N. ein, als der Kriegsblinde Johann G. dessen Posten für sich beanspruchte. Offenbar mit Erfolg, denn G. fand schließlich eine andere Anstellung beim Landesgericht.305 2.4 Vergünstigungen für Zivilblinde 2.4.1 Steuerliche Sonderrechte In der Steuergesetzgebung der NS-Zeit waren einige Sonderregelungen für blinde Menschen enthalten. Die bisher geschilderten Grundsätze in der NS-Fürsorgepolitik für blinde Menschen schlugen sich auch in der Steuergesetzgebung nieder. Die Grundlage für das Steuerrecht im „Dritten Reich“ bildete das Steueranpassungsgesetz aus dem Jahre 1934.306 In § 1 wurde festgehalten, dass alle Steuergesetze nach „nationalsozialistischer Weltanschauung“ auszulegen seien. So war es möglich, viele Sondersteuern einzuführen, die das Ziel hatten, Menschen jüdischer Herkunft sowie andere verfolgte Gruppen zu diskriminieren.307 Das deutsche Steuer- und Abgabenrecht und damit die Sonderregelungen für blinde Menschen wurden schrittweise in Österreich eingeführt.308 Der RBV war dafür zuständig, die in ihm organisierten blinden Menschen über die steuerlichen Vorschriften des „Deutschen Reiches“ aufzuklären. Dies diente aber nicht nur der Information, sondern der Propaganda für das NS-Regime. Blinde Menschen sollten davon überzeugt werden, dass der NS-Staat Verständnis und Anerkennung für ihre Bedürfnisse hätte.309 Die Legitimation für solche Vergünstigungen sah der selbst blinde Rechtsberater des RBV, Bruno Gerl, darin gegeben, dass blinde Menschen einen höheren Lebensaufwand hatten, um zum Beispiel einen Beruf zu bekommen. Die Vergünstigungen, die blinde Menschen erhielten, seien dafür ein vom Staat gesetzlich anerkannter Ausgleich.310 Tatsächlich dürfte bei der NS-Steuergesetzgebung für blinde Menschen aber wohl der pädagogische Aspekt der 305 Vgl. ÖSTA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann G. 306 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Steueranpassungsgesetz (StAnpG) vom 16. Oktober 1934, S. 925–941. 307 Vgl. Faber, Meissel, Steuerrecht, S. 1. 308 Ondraczek spricht von 26 als solche ausdrücklich bezeichnete und nummerierte Einführungsverordnungen. Vgl. Ondraczek, Juristische Blätter 1959, 357, FN 4, zitiert in: Faber, Meissel, Steuerrecht, S. 3; Voß, Steuern im Dritten Reich. Vom Recht zum Unrecht der Herrschaft des Nationalsozialismus (1995) [sic!], zitiert in: Faber, Meissel, Steuerrecht, S. 3. 309 Vgl. Gerl, Steuervergünstigungen, S. 90–96, hier S. 90. 310 Vgl. Gerl, Steuervergünstigungen, S. 90–96, hier S. 90. 62 NS-Sozialpolitik zum Tragen gekommen sein. Blinde Menschen, die weniger verdienten als sehende, sollten durch den Gesetzgeber eine Entlastung erfahren. Damit wurde ein Anreiz geschaffen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Unter diesem Gesichtspunkt können beispielsweise die Sonderbestimmungen für blinde Menschen bei der Lohnsteuer betrachtet werden. Mit der zweiten Lohnsteuerdurchführungsverordnung aus dem Jahr 1938, die noch im Dezember desselben Jahres in Österreich in Kraft trat,311 wurde eine Steuerfreiheit für blinde Angestellte und ArbeiterInnen bei einem Arbeitseinkommen bis zu 400 RM monatlich eingeführt. Die nicht mehr erwerbstätigen blinden Menschen – gemeint waren damit zum Beispiel RuhegehaltsempfängerInnen – die eine Steuerkarte bekamen, waren bis zu einem Einkommen von 240 RM monatlich von der Lohnsteuer befreit.312 Bemerkenswert ist die Sonderstellung, die Zivilblinde dabei gegenüber allen anderen Menschen mit einer Behinderung einnahmen. Für blinde und praktisch blinde ArbeitnehmerInnen galten die gleichen Vergünstigungen wie für Kriegs- oder Dienstgeschädigte, die eine Pf legezulage oder erhöhte „Verstümmelungszulage“ bezogen. Sie bekamen demnach die höchsten monatlichen Freibeträge zugesprochen. Bei der Lohnsteuergesetzgebung gab es also eine Gleichstellung zwischen Zivilblinden und Kriegsblinden. Gleichzeitig wurden damit Zivilblinde gegenüber allen anderen Menschen mit einer Behinderung bevorzugt. Nur „Zivilbeschädigte“ 313 mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 25 Prozent und durch „Geburtsfehler Körperbehinderte“ hatten noch Anspruch auf Freibeträge, die allerdings geringer waren als bei Zivilblinden. Zu dieser Gruppe wurden Personen gezählt, „die von Geburt an durch einen äußerlich erkennbaren Fehler, z. B. steifen Arm, körperlich behindert sind. Bloße Krankheitsanlagen von Geburt an, z. B. Tuberkulose, […]“ 314 genügten nicht. Durch diese Formulierung war es also möglich, Menschen mit einer Behinderung, die eine Erbkrankheit hatten oder zum Beispiel eine Hörbehinderung, von den steuerlichen Vergünstigungen auszunehmen. Gekoppelt an die Einkommenssteuer war auch die Wehrsteuer. Wer also keine Lohnsteuer auf Grund dieser Gesetzgebung zahlen musste, war von der Wehrsteuer befreit, auch wenn es dafür keine ausdrücklichen Befreiungsvorschriften gab.315 Die Wehrsteuer mussten all jene zahlen, die nicht zum aktiven Wehrdienst einberufen worden waren. 311 Vgl. GBlÖ, Nr. 699/1938, Siebente Verordnung zur Einführung steuerrechtlicher Vorschriften im Lande Österreich vom 17. Dezember 1938. 312 Vgl. [D] RGBl, Teil I, Zweite Verordnung zur Durchführung des Steuerabzuges vom Arbeitslohn (Zweite LStDVO) vom 6. Februar 1938, S. 149–180, § 26, S. 158–161; Gerl, Steuervergünstigung, S. 90–96, hier S. 91. 313 Zivilbeschädigte waren Personen, die außerhalb des Kriegs-, Militär- oder Reichsarbeitsdienstes entweder durch ein von außen wirkendes Ereignis (Unfall, Verletzung) beschädigt waren oder bei denen ein inneres Leiden in typischem Zusammenhang mit ihrer Berufstätigkeit bestand (typische Berufskrankheit). Vgl. RGBl, Teil I, Zweite Ordnung zur Durchführung des Steuerabzuges vom Arbeitslohn (Zweite LStDVO) vom 6. Februar 1938, S. 149–180, hier S. 160 [§ 26 3c]. 314 [D] RGBl, Teil I, Zweite Verordnung zur Durchführung des Steuerabzuges vom Arbeitslohn (Zweite LStDVO) vom 6. Februar 1938, S. 149–180, hier S. 160 [§ 26 3d]. Diese Bestimmungen blieben auch aufrecht nach den Lohnsteuerdurchführungsbestimmungen vom 10. März 1939 vgl. GBlÖ, Nr. 1446/1939, Zwanzigste Verordnung zur Einführung steuerrechtlicher Vorschriften in der Ostmark vom 21. November 1939. 315 Gerl, Steuervergünstigungen, S. 90–96, hier S. 91–92. 63 Von der nächsten hier behandelten Steuerbefreiung waren die meisten blinden Menschen betroffen. Es handelt sich dabei um den Erlass der Bürgersteuer. Geregelt wurde dies durch die Bürgersteuerverordnung, die am 1. Februar 1939 in Österreich in Kraft trat. Ab diesem Jahr waren die Gemeinden erstmals berechtigt, die Bürgersteuer zu erheben. Grundlage für diese bildete das Einkommen. Unter bestimmten Bedingungen mussten die Teilbeträge der Einkommenssteuer nicht bezahlt werden. Darunter fiel auch Blindheit, wenn das Einkommen der Betroffenen in dem Erhebungsjahr nicht die Obergrenze von 4.500 RM überschritt.316 Dies war bei den meisten blinden Menschen der Fall.317 Ebenfalls befreit waren blinde Menschen unter bestimmten Bedingungen von der Umsatzsteuer. Diese war ebenfalls von Bedeutung, da einige blinde Menschen als Selbständige, zum Beispiel als BürstenbinderInnen oder KorbflechterInnen, arbeiteten. Die deutschen Bestimmungen zur Umsatzsteuer traten in Österreich mit 1. Mai 1938 in Kraft.318 Nach § 32 dieser Durchführungsbestimmungen waren die Umsätze jener blinden Selbständigen steuerfrei, die nicht mehr als zwei ArbeitnehmerInnen beschäftigten und welche die Voraussetzungen der Steuerfreiheit durch eine Bescheinigung des Bezirksfürsorgeverbandes nachweisen konnten. Die Ehefrau, minderjährige Kinder und die Eltern der Blinden sowie Lehrlinge galten nicht als ArbeitnehmerInnen. Außerdem waren die Umsätze der Werkstätten von Blindenanstalten von Steuern befreit. Diese Gesetzgebung zielte also eindeutig darauf ab, selbständige blinde Menschen bei der Aufrechterhaltung ihres Betriebes oder Arbeitsplatzes zu entlasten. Dies geschah nicht aus karitativen Überlegungen. Blinde HandwerkerInnen waren vor allem durch die industrielle Konkurrenz in ihren Existenzmöglichkeiten gefährdet.319 Keine besonderen Vorschriften gab es für blinde Menschen bei der Einkommenssteuer, der Vermögenssteuer sowie der Kirchensteuer.320 Ermäßigungen wegen Blindheit waren darüber hinaus bei der Gewerbe-, Grunderwerbs-, Wertzuwachs- und der Grundsteuer nicht vorgesehen.321 An dieser Stelle konnte nur ein Überblick über die Steuergesetzgebung für blinde Menschen in der „Ostmark“ zwischen 1938 und 1945 gegeben werden. Durch den Kriegsverlauf und die Unterordnung der gesamten Gesetzgebung unter kriegswirtschaftliche Prioritäten kam es zu zahlreichen Änderungen in der Steuergesetzgebung, von denen unter Umständen auch blinde Menschen betroffenen waren. Die hier erläuterten steuerlichen Vergünstigungen lassen aber trotzdem schon einige Rückschlüsse zu. Zum einen entsprachen sie der NS-Ideologie, nach der die BezieherInnen von geringerem Einkommen nicht übermäßig zur Finanzierung der Rüstungs- und Kriegsausgaben herangezogen werden sollten. 316 Vgl. GBlÖ, Nr. 159/1939, Neunte Verordnung zur Einführung steuerrechtlicher Vorschriften im Lande Österreich vom 20. Januar 1939 [Bürgersteuerverordnung für das Land Österreich (Öst. BstVO), § 14, 5]. 317 Laut Angabe des Rechtsberaters des RBV, Bruno Gerl, gab es auch noch für blinde Menschen, deren Jahreseinkommen 4.500 RM überschritt, die Möglichkeit, eine Ermäßigung der Bürgersteuer zu erreichen. Da es aber nur sehr wenige blinde Menschen gab, die so viel verdienten, kam es nur selten zu so einem Antrag. Dieser Aspekt wird daher hier auch nicht weiter ausgeführt. Vgl. Gerl, Steuervergünstigungen, S. 90–96, hier S. 93–94. 318 Vgl. GBlÖ, Nr. 94/1938, Erste Verordnung zur Einführung steuerrechtlicher Vorschriften im Lande Österreich vom 14. April 1938. 319 Vgl. Kapitel II.6.1, II.6.2. 320 Vgl. Gerl, Steuervergünstigungen, S. 90–96, hier S. 91, 92, 94. 321 Vgl. Gerl, Steuervergünstigungen, S. 90–96, hier S. 96. 64 „Die deutsche Führung schuf und garantierte einen Kriegssozialismus, der auf die Loyalität der kleinen Leute zielte.“322 So beschrieb Götz Aly in seinem Buch „Hitlers Volksstaat“323 die Steuerpolitik des „Deutschen Reiches“ in einem Kapitel über die „Steuermilde für die Massen“324. Zum anderen sollten die steuerlichen Vergünstigungen für blinde Menschen durch die Propaganda des RBV auch bei ihnen eine loyale Einstellung zum NS-Staat erwirken. Gleichzeitig manifestierte die Steuergesetzgebung auch die privilegierte Rolle Blinder unter den Menschen mit einer Behinderung in der NS-Hierarchie.325 2.4.2 Sondervergünstigung bei Kinderbeihilfen Ein erklärtes bevölkerungspolitisches Ziel des NS-Regimes war es, eine Vermehrung der „rassistisch“ und genetisch „erwünschten“ Bevölkerungsteile zu erreichen. Um diese Entwicklung zu fördern, waren in der NS-Gesetzgebung Kinderbeihilfen und Steuervergünstigungen für Familien mit Kindern vorgesehen. Gleichzeitig sollte durch das GzVeN die Geburt von Kindern mit einer Behinderung verhindert werden. Von den Zwangssterilisierungen waren blinde Menschen betroffen. Das bedeutete aber nicht, dass auch als „erbgesund“ definierte blinde Menschen keine Nachkommen zeugen sollten. Da das NS-Regime davon ausging, dass sie in der Lage waren, „gesunde“ Nachkommen zu bekommen, sollten die kinderreichen Familien von blinden Männern326 ebenfalls unterstützt werden. Geregelt wurde dies durch die „neunte Durchführungsverordnung zur Gewährung von Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien“ vom 20. Dezember 1938.327 Laufende Kinderbeihilfen in der Höhe von zehn RM wurden jeder Mutter für das fünfte und jedes weitere Kind ausgezahlt. Allerdings konnten Ehefrauen von blinden Männern sowie Witwen, geschiedene oder ledige Frauen328 laufende Kinderbeihilfen bekommen, „wenn sie für weniger als fünf Kinder unter sechzehn Jahren zu sorgen“329 hatten. Gemäß der Ausrichtung der Gesetzgebung nach bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten bekamen nicht alle Eltern diese Kinderbeihilfen zugesprochen. Sie mussten aus Sicht des Staates in der Lage sein, „wünschenswerten“ Nachwuchs zu zeugen. Deshalb mussten sie „arisch“, im Besitz der „bürgerlichen Ehrenrechte“ und aus staatlicher Sicht dazu gewillt sein, „in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen.“330 Außerdem galt folgende Bestimmung: „Vorleben, Leumund und soziales Verhalten der Eltern müssen erwarten lassen, daß die Beihilfen zur Besserung der wirtschaftlichen Lage der Familie verwendet werden.“331 Ausgeschlossen waren außerdem Familien mit einem Jahreseinkommen von über 8.000 RM. 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 Aly, Hitlers Volksstaat, S. 68. Aly, Hitlers Volksstaat, S. 68. Aly, Hitlers Volksstaat, S. 66–77. Vgl. Kapitel V. Warum blinden Frauen die Mutterrolle nicht zugetraut wurde vgl. Kapitel II.10. Vgl. GBlÖ, Nr. 21/1939, Neunte Durchführungsbestimmung zur Verordnung über die Gewährung von Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien (Neunte KFVDB) vom 20. Dezember 1938. Vgl. GBlÖ, 21/1939, § 4,1. [D] RGBl., Teil I, Siebente Durchführungsbestimmungen zur Verordnung über die Gewährung von Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien vom 13. März 1938, S. 241–243, hier S. 242 [ad § 17.2]. O. A., Sondervergünstigungen für Blinde bei der Gewährung von Kinderbeihilfen, S. 96–98, hier S. 97. O. A., Sondervergünstigungen für Blinde bei der Gewährung von Kinderbeihilfen, S. 96–98, hier S. 97. 65 Durch diese Definition des Empfängerkreises gab es wiederum viel Spielraum für willkürliche Auslegungen. Ein an das Regime angepasster Lebensstil eines blinden Familienvaters konnte so zur Existenzsicherung beitragen. Blinde Mütter scheinen von dieser Regelung nicht betroffen gewesen zu sein. Dabei ging der Gesetzgeber wohl davon aus, dass diese von ihren „sehenden“ Männern versorgt würden. Hinzu kam, dass einer blinden Frau die Mutterrolle wohl nicht zugetraut wurde.332 2.4.3 Ermäßigungen im öffentlichen Verkehr In den vorherigen Kapiteln wurden bereits viele Vergünstigungen für berufstätige Blinde aufgezeigt. Diese gab es auch im öffentlichen Verkehr. Die Reichsbahn beförderte blinde Menschen für Berufsreisen zum halben Preis in der dritten und zweiten Klasse. Die Ermäßigung galt ebenfalls für eine/n sehende/n Begleiter/in.333 Diese Bestimmungen aus dem „Altreich“ wurden mit 1. Jänner 1939 in der „Ostmark“ eingeführt.334 Um diese Ermäßigung zu erhalten, war ein hoher bürokratischer Aufwand notwendig. Blinde Menschen, die keinem Beruf nachgingen, sollten nicht in den Genuss dieser Ermäßigung kommen. Ausnahmeregelungen gab es nur für „mittellose Blinde zum vorübergehenden Besuch in Blindenanstalten“335 sowie für „mittellose Zöglinge und Pfleglinge von Blindenanstalten.“336 Die LeiterInnen von Blindenschulen, Werkstätten und Heimen konnten Ermäßigungsscheine für den halben Fahrpreis in der dritten Klasse ausstellen, damit die Betroffenen die Einrichtung wieder verlassen oder besuchen konnten. Außerdem konnte alleinreisenden BegleiterInnen zum Abholen des/r Blinden oder zur Rückfahrt die Ermäßigung gewährt werden. Der große bürokratische Aufwand hinter diesen Tarifbestimmungen wurde auf der 194. Sitzung der „Tarifkommission der Deutschen Eisenbahnverwaltung“ im Dezember 1938 diskutiert. Die Reichsbahndirektion München stellte einen Antrag, blinden Menschen die Ermäßigung für jede beliebige Reise zu genehmigen. In der Begründung hieß es, dass blinde Menschen kaum zu ihrem „Vergnügen“ [sic!] reisen würden und dass es nur sehr schwer war nachzuprüfen, ob eine Berufsreise wirklich notwendig war oder nicht. Außerdem gab es bei der Ausstellung der Bescheinigung durch die Eisenbahnverwaltung anscheinend immer wieder viele „unerquickliche Auseinandersetzungen“.337 Die Eisenbahndirektion München 332 Vgl. Kapitel II.10. Weiterführende Literatur zu dem Thema: vgl. Ulrike Heitkamp, Die Situation blinder Frauen und Mädchen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Christine Burger (Hrsg.), Du mußt Dich halt behaupten. Die gesellschaftliche Situation behinderter Frauen, Würzburg 1992, S. 89–189. 333 Vgl. Gäbler-Knibbe, Blinden im Verkehr, S. 76–83, hier S. 80–81. [Der Autor Dr. Lothar Gäbler-Knibbe war selbst erblindet und beim RBV tätig.] 334 Vgl. BAB, Reichsverkehrsministerium, R 5/3048, DRB 15 Tpeb, Entwurf Schreiben an NSKOV Fachabteilung erblindeter Krieger Berlin und Wien vom 7.11.1938, Betreff: Fahrpreisermäßigung für Blinde zu Berufsreisen. 335 Vgl. BAB, Reichsverkehrsministerium, R 5/3048, Auszug aus 194. Sitzung der Ständigen Tarifkommission der Deutschen Eisenbahnverwaltung, München den 6., 7., 8.12.1938, S. 136. 336 Vgl. Gäbler-Knibbe, Blinden im Verkehr, S. 76–83, hier S. 80–81; BAB, Reichsverkehrsministerium, R 5/3048, Auszug aus 194. Sitzung der Ständigen Tarifkommission der Deutschen Eisenbahnverwaltung, München den 6., 7., 8.12.1938, S. 135–136. 337 Vgl. BAB, Reichsverkehrsministerium, R 5/3048, Auszug aus 194. Sitzung der Ständigen Tarifkommission der Deutschen Eisenbahnverwaltung, München den 6., 7., 8.12.1938, S. 136. 66 hatte auch keine Bedenken, dass Blinde dadurch anderen Menschen mit einer Behinderung gegenüber eine starke Bevorzugung erhalten würden. „Berufungen anderer körperlicher Behinderter können mit dem Hinweis darauf abgewehrt werden, daß die 38.000 blinden Volksgenossen […] eine besondere Berücksichtigung verdienen, weil es ein großes Unglück ist, blind zu sein, weil das seelische Leid der Blinden mit keinem anderen Leid verglichen werden kann und weil bei Blinden kaum überflüssige Reisen zu erwarten sind.“338 Zu einer Vereinfachung der Tarifermäßigung für blinde Menschen kam es dann aber doch nicht. Als Ablehnungsgrund wurde eine Berechnung für den zu erwartenden Einnahmenausfall angestellt. Durch die Ausdehnung der Tarifordnung auf die „Ostmark“ errechnete man einen Einnahmenausfall von 324.000 RM allein durch die alten Bestimmungen. Der zusätzliche Einnahmenausfall wurde mit rund 30.000 RM bewertet. Trotz dieser geringen Summe kam die Tarifkommission zu dem Ergebnis, die Reichsbahn müsse zusätzliche Kosten durch eine Ausdehnung des Kreises der Berechtigten nicht in Kauf nehmen. In der Begründung der Ablehnung wurde weiter davon ausgegangen, dass wenige nicht berufstätige Blinde das Angebot nutzen würden, weil unter ihnen viele aus Altersgründen dazu nicht mehr in der Lage seien. Grundlage für die Berechnung bildeten die Zahlen aus dem „Altreich“ aus dem Jahr 1937. 4.847 Bescheinigungen zur Erlangung einer Fahrpreisermäßigung für blinde Menschen zu Berufsreisen waren in diesem Jahr dort ausgestellt worden.339 Bei einer angenommenen Anzahl von 32.000 Zivilblinden nutzten also gerade einmal rund 15 Prozent der blinden Menschen diese Möglichkeit, wenn in der Zahl nicht auch noch doppelte Anträge von blinden Menschen enthalten sind, die mehrfach eine Berufsreise unternommen haben. Die Mobilität blinder Menschen dürfte daher nicht sehr groß gewesen sein. Zur Vollständigkeit sei hier noch erwähnt, dass es für blinde Menschen noch teilweise in den Straßenbahnen und Bussen zahlreicher Städte Ermäßigungen gab. Die Regelungen dafür waren aber regional sehr unterschiedlich. Sogar die Lufthansa gewährte blinden Reisenden eine Vergünstigung von 25 Prozent. Auch einige Schifffahrtslinien kannten solche Preisreduktionen.340 2.4.4 Vergünstigungen bei Kulturveranstaltungen und Literatur in Blindenschrift Auch die so genannte „geistige Fürsorge“ wurde als ein wichtiger Aspekt der Versorgung blinder Menschen betrachtet. Auf Grund der Tatsache, dass die Betroffenen nicht die Schwarzschrift, sondern nur die Blindenschrift lesen konnten, mussten sie auf anderem Wege Zugang zu Medien, Büchern und geistiger Zerstreuung finden.341 338 BAB, Reichsverkehrsministerium, R 5/3048, Auszug aus 194. Sitzung der Ständigen Tarifkommission der Deutschen Eisenbahnverwaltung, München den 6., 7., 8.12.1938, S. 136. 339 Vgl. BAB, Reichsverkehrsministerium, R 5/3048, Auszug aus 194. Sitzung der Ständigen Tarifkommission der Deutschen Eisenbahnverwaltung, München den 6., 7., 8.12.1938, S. 139–149. 340 Vgl. Gäbler-Knibbe, Blinden im Verkehr, S. 76–83, hier S. 82. 341 Vgl. o. A., Geistige Fürsorge, S. 137–140, hier S. 137. 67 Eigentlich war dies ein Kernaufgabenbereich der Blindenvereine, also der „freien“ Wohlfahrt. Trotzdem erließ auch die öffentliche Hand Ermäßigungen und Sonderregelungen für blinde Menschen. Dies zeigt sich zum Beispiel bei der Befreiung von den Rundfunkgebühren. Das Radio wurde als das wichtigste Medium für blinde Menschen angesehen. Blinde Menschen, die nur über ein geringes Einkommen verfügten, konnten bei den Bezirksfürsorgestellen einen Antrag auf Befreiung von den Rundfunkgebühren stellen. Menschen jüdischer Herkunft waren davon dezidiert ausgenommen.342 Unter den in Betracht kommenden AntragsstellerInnen wurde dann ausgewählt, wer von den Postämtern für eine Befreiung vorgeschlagen wurde.343 Auch hierbei war also von vorneherein einer willkürlichen Auslegung der Bestimmungen Tür und Tor geöffnet. Der Antrag auf Gebührenbefreiung musste ab 1938 jedes Jahr neu gestellt werden. So wurde kontrolliert, ob die Voraussetzungen für die Gebührenbefreiung immer noch gegeben waren.344 Erleichtert werden sollte blinden Menschen ebenso der Zugang zu vielen kulturellen Veranstaltungen wie Konzerten, Theater- oder Opernaufführungen. Meistens kümmerten sich darum die ortsansässigen Blindenvereine.345 Der RBV strebte bei der Reichstheaterkammer eine generelle Regelung für den Besuch von kulturellen Veranstaltungen an. Dort wurde intensiv darüber beraten. Der Schriftverkehr aus den Jahren 1943 bis 1944 zu dem Thema ist im BAB erhalten.346 Reichskulturkammer, Reichstheaterkammer, Reichsarbeitsministerium (RAM), RBV und die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ diskutierten jahrelang, ohne Einigung zu erzielen, über eine Lösung.347 Bedenken gab es vor allem in Hinblick auf die Kriegsblinden. Ihre Sonderstellung sollte auf keinen Fall durch die Vergünstigungen für Zivilblinde beeinträchtigt werden.348 Erst am 21. August 1944 wurde die Angelegenheit ergebnislos eingestellt. „In Anbetracht der Totalisierung des Krieges wird die Weiterbearbeitung der vorstehend bezeichneten Angelegenheit – als nicht kriegswichtig – einstweilen zurückgestellt.“349 Dass von den betreffenden Stellen zu diesem Zeitpunkt dieses Thema überhaupt debattiert wurde, unterstreicht, dass die „geistige Fürsorge“ in der NS-Blindenpolitik einen relativ hohen Stellenwert hatte. Nach einer Weisung350 des „Reichsministers für Propaganda“ Goebbels aus dem Jahr 1943 sollten Theater im „Deutschen Reich“ aber so genannte „Blindenplätze“ zur Verfügung 342 343 344 345 346 347 Vgl. weiterführend Kapitel IV.3.1. Vgl. o. A., Geistige Fürsorge, S. 137–140, hier S. 137–138. Vgl. o. A., Geistige Fürsorge, S. 137–140, S. 138. Vgl. o. A., Geistige Fürsorge, S. 137–140, hier S. 139. Vgl. BAB, Reichstheaterkammer, R 56 III 303, Eintrittspreisermäßigungen für Blinde 1943–1944. Vgl. BAB, Reichstheaterkammer, R 56 III 303, GZ. RKK 33, Präsident der Reichkulturkammer, gez. Köhler, an den Präsidenten der Reichstheaterkammer (Nr. 31679 2. 1 – 1943), vom 3.7.1943, Betreff: Eintrittspreisermäßigungen für Blinde. 348 Vgl. BAB, Reichstheaterkammer, R 56 III 303, GZ B 1 – 31679 – Sch/Brü, Präsident der Reichstheaterkammer an Präsidenten der Reichskulturkammer vom 3.7.43, Betreff: RKK 33; BAB, Reichstheaterkammer, R 56 III 303, GZ B 1 Nr. 14 – 3.2.44, Fachschaft Bühne, Fachgruppe Theaterveranstalter an den Präsidenten der Reichskulturkammer vom 3.2.44, Betreff: RKK 33. 349 BAB, Reichstheaterkammer, R 56/III 303, GZ. AZ RKK 33, Reichskulturkammer an den Präsidenten der Reichstheaterkammer, vom 21.8.1944, Betreff: Eintrittspreisermäßigung für blinde Volksgenossen bei kulturellen Veranstaltungen. 350 Über Nummer und Jahr dieser Weisung ist nichts bekannt. Vgl. BAB, Reichstheaterkammer, R 56 III 303, GZ. RKK 33, Präsident der Reichkulturkammer, gez. Köhler, an den Präsidenten der Reichstheaterkammer (Nr. 31679 2 1 – 1943), vom 3.7.1943, Betreff: Eintrittspreisermäßigungen für Blinde. 68 stellen. Dies waren Plätze mit schlechter Sicht, aber guter Akustik. Sie wurden bereits bei einigen kulturellen Veranstaltungen, zum Teil kostenlos, blinden Gästen zugeteilt.351 Mit Hilfe von öffentlichen Geldern sollten blinde Menschen auch leichter die Möglichkeit haben, Literatur in Blindenschrift zu erhalten. Die Bücherausgaben in der Punktschrift waren in der Regel sehr umfangreich und deshalb schwer zu versenden. Die Reichspost bot daher für Blindensendungen Sondergebühren an. 352 Zur Ideologisierung blinder Menschen sollte ihnen auch die NS-Standardliteratur zugänglich gemacht werden. So wurde in Marburg an der Lahn zum Beispiel Adolf Hitlers „Mein Kampf “ in hoher Auflage353 in Blindenschrift gedruckt und zu einem günstigen Preis im gesamten „Deutschen Reich“ verkauft. Ermöglicht wurde dies unter anderem durch entsprechende finanzielle Zuschüsse. 354 Abb. 02 und Abb. 03: Die Brailleschriftausgabe von „Mein Kampf “ im BBI Wien (Rückseite und Titelseite). 351 Vgl. BAB, Reichstheaterkammer, R 56 III 303, GZ. RKK 33, Präsident der Reichkulturkammer, gez. Köhler, an den Präsidenten der Reichstheaterkammer (Nr. 31679 2 1 – 1943), vom 3.7.1943, Betreff: Eintrittspreisermäßigungen für Blinde. 352 Vgl. o. A., Geistige Fürsorge, S. 137–140, hier S. 139. 353 Bei einem Besuch im Archiv der Blindenstudienanstalt in Marburg an der Lahn erzählte der dortige Archivar, dass bis heute kein Buch in Blindenschrift jemals wieder so eine hohe Auflage erreicht haben soll wie „Mein Kampf“. Dies ist durch Quellen allerdings nicht belegbar. 354 Vgl. o. A., Geistige Fürsorge, S. 137–140, hier S. 139.; Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 160. 69 2.5 Weitere rechtliche Bestimmungen und Schlussfolgerungen Es war nicht möglich, in diesem Kapitel alle gesetzlichen Bestimmungen355, die für blinde Menschen relevant waren, zu erörtern. Insbesondere ausgeklammert wurde hier der Diskurs über die Geschäftsfähigkeit. Regelungen dazu wurden bereits vor der NS-Zeit getroffen.356 Gesetzlich geregelt wurde in der NS-Zeit die Möglichkeit für blinde Menschen, ihr Testament mündlich vor einem Richter oder Notar zu erklären.357 Eine Untersuchung dieses Themas macht allerdings nur Sinn, wenn die in der NS-Zeit gültigen Gesetze mit den davor gültigen Regelungen verglichen werden. So ließe sich eventuell eruieren, ob die NS-Zeit in diesem Bereich gravierende Veränderungen für blinde Menschen bewirkte oder nicht. Dieser explizit rechtshistorische Ansatz führt über die Fragestellung dieser Arbeit hinaus. Auch wenn über die tatsächliche Umsetzung der gesetzlichen Bestimmungen nicht viel bekannt ist, so wird doch deutlich, dass im NS-Staat „arbeitsfähige“ blinde Menschen unterstützungsberechtigt waren und alle anderen durch das staatliche Sicherheitsnetz fielen. Blindheit wurde als das größte „Leid“ angesehen. Dabei manifestierten die gesetzlichen Bestimmungen und Verordnungen der öffentlichen Fürsorge die Stellung der blinden Menschen an der Spitze einer Hierarchie von Menschen mit einer Behinderung in der NS-Zeit. Eine weitere Differenzierung dieses Systems wird durch die Schilderungen in den nächsten Kapiteln deutlich werden. Eine Ausdifferenzierung gab es aber auch unter blinden Menschen, zwischen „Arbeitsfähigen“ und „nicht Arbeitsfähigen“. Außerdem hatten Unfallblinde einen umfassenderen Anspruch auf Versorgung. Sie waren nicht genetisch belastet, sondern erblindeten bei ihrer „Pflichterfüllung“, der Arbeit. Um seiner eigenen Propaganda nicht zu widersprechen, konnte der NS-Staat sie deshalb nicht unversorgt lassen. Dementsprechend trifft auch auf die Fürsorgepolitik für blinde Menschen Folgendes zu: „Der Wohlfahrtsstaat des Nationalsozialismus war Instrument nicht der Integration der Schwachen und Benachteiligten, sondern der Verschärfung rassistischer Ungleichheit.“358 355 Eine umfangreiche Darstellung der Gesetzgebung in der NS-Zeit bietet: Buschmann, Nationalsozialistische Weltanschauung. 356 Gerl, Reichsbestimmungen für Blinde, S. 88–90, hier S. 88. 357 Das deutsche Gesetz über die Errichtung von Testamenten und Erbverträgen wurde 1938 in der „Ostmark“ eingeführt. Vgl. GBlÖ, Nr. 346/1938, Gesetz über die Errichtung von Testamenten und Erbverträgen vom 31. Juli 1938. 358 Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 276. 70 3.Die „freie“ Blindenwohlfahrt in der NS-Zeit: NSV, Fürsorge- und Selbsthilfevereine 3.1 Überblick Laut NS-Propaganda setzte sich die „Wohlfahrtspflege“ im „Dritten Reich“ aus den Maßnahmen der öffentlichen und der „freien“ Fürsorge zusammen.359 Tatsächlich gab es aber in der NS-Zeit überhaupt keine freie Vereinstätigkeit mehr. 1938 wurden in Österreich alle sozial tätigen Organisationen entweder aufgelöst oder unter die Führung der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“ (NSV) gestellt.360 Die bestehenden Vereine, die sich mit den Belangen und Interessen der blinden Menschen beschäftigten, setzten sich aus zwei verschiedenen Gruppierungsformen zusammen: Selbsthilfe- und Fürsorgeorganisationen. Unter den Blindenselbsthilfevereinen wurden Zusammenschlüsse blinder Menschen zu einem bestimmten Vereinszweck verstanden. In erster Linie waren es Zusammenschlüsse von blinden Erwerbstätigen. Sie sollten zwar als Interessenvertretungen für alle blinden Menschen fungieren, durch die Einhebung von Mitgliedsbeiträgen wurden aber Betroffene ohne eigenes Einkommen von einer Beteiligung teilweise ausgeschlossen.361 In den Blindenfürsorgevereinen, häufig Träger von Blindenschulen und Heimen, waren hingegen in erster Linie sehende Menschen tätig. Eine besondere Rolle spielte bei ihnen die BlindenlehrerInnenschaft.362 Beide Vereinsgruppen beanspruchten jeweils für sich die Vormachtstellung im Blindenwesen.363 1938 wurden in Österreich die bestehenden Selbsthilfe- und Fürsorgevereine gemäß ihres Aufbaues auf die zwei großen Dachorganisationen des NS-Blindenwesens aufgeteilt. Diese waren der RBV und der „Deutsche Blindenfürsorgeverband“ (DBV)364. Beide waren dem Hauptamt für Volkswohlfahrt der NSV unterstellt. Die totale Erfassung, Kontrolle und nationalsozialistische Ausrichtung aller Vereine und Organisationen erfolgte in Österreich durch die Tätigkeit des Stillhaltekommissars.365 359 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Nr. III, 2512/40, Niederschrift über die erste Tagung der Arbeitsgemeinschaft am 25. Oktober 1940 in Berlin; Rhode, Berufsfürsorge, S. 20–24; Pork, Zusammenarbeit, S. 109–114. 360 Die konfessionellen Vereine in der NS-Zeit sind dabei ein Sonderthema, auf das an dieser Stelle nur hingewiesen wird. Vgl. u. a. Hansen, Wohlfahrtspolitik, S. 105–118 und 178–180; Vorländer, NSV, S. 109–113. 361 Vgl. Blinde unterm Hakenkreuz, S. 162–163. [Aussage von Martin Jaedicke im Rahmen einer Diskussion.] 362 Vgl. Richter, Blindheit, S. 13; Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 58. 363 In der NS-Zeit kam es unter Leitung der NSV zu einer forcierten Zusammenarbeit zwischen Blindenselbsthilfe und -fürsorgevereinen. Vgl. Kapitel II.3.3.1. 364 Für diesen Verein gibt es unterschiedliche Schreibweisen: mit oder ohne Bindestrich. Die an dieser Stelle verwendete entspricht der in den Akten des DGT und des Stillhaltekommissars Wien. Im Organisationshandbuch der NSDAP wird der DBV folgendermaßen geschrieben „Deutscher Blinden-Fürsorgeverband“. In der Arbeit wird die erstgenannte Schreibweise übernommen. Vgl. z. B.: Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch der NSDAP, S. 279; BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Nr. III, 2512/40, Niederschrift über die erste Tagung der Arbeitsgemeinschaft am 25. Oktober 1940 in Berlin; ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 17, Asyl für blinde Kinder des „Vereines von Kinder-Jugendfreunden“, Verfügung vom 27.11.1939. 365 Vgl. Pawlowsky, Leisch-Prost, Klösch, Vereine im Nationalsozialismus, S. 13–14. 71 Die Vorstöße gegen das traditionelle Vereinswesen erfolgten nicht nur auf organisatorischer Ebene, sondern waren ebenfalls finanzieller Natur. Durch das Sammlungsgesetz wurde die Spendenwerbung gesetzlich reglementiert. Davon profitierte vor allem das „Winterhilfswerk“ (WHW). Die Vereine mussten starke Einnahmeeinbußen hinnehmen. Hinzu kam die Reduzierung der Zuschüsse öffentlicher Fürsorgeträger. Gefördert werden sollten nur mehr Projekte, die den rassenbiologischen und bevölkerungspolitischen Grundsätzen entsprachen. Hauptaufgabe der „freien Blindenwohlfahrtspflege“ war dementsprechend die berufliche Integration blinder Menschen. Durch den Verlauf des Zweiten Weltkrieges kamen zu dieser Kernaufgabe neue Agenden hinzu. Die im NS-Blindenwesen tätigen Organisationen mussten Unterbringungsmöglichkeiten für evakuierte oder durch Luftangriffe obdachlos gewordene blinde Menschen schaffen. Durch die Tatsache, dass viele Soldaten von der Front erblindet heimkehrten, übernahmen auch diejenigen Vereine, deren Kompetenz eigentlich in der Unterstützung von Zivilblinden lag, Aufgaben bei der Versorgung der Kriegsblinden.366 Kriegsbedingt wurden zudem die Vereinstätigkeiten stark beeinträchtigt. Sitzungen konnten kaum mehr durchgeführt werden. Durch die völlige oder teilweise Zerstörung von Einrichtungen kam die Arbeit gegen Ende des Zweiten Weltkrieges gänzlich zum Erliegen. Auf die hier im Überblick dargestellten Ereignisse gehen die folgenden Kapitel näher ein. 3.2 Die Gleichschaltung der Vereine Das autonome Vereinsleben stand der NS-Ideologie entgegen. Am 16. März 1938 verordnete Josef Bürckel daher die Stilllegung jeder organisatorischen Tätigkeit von Vereinen und Verbänden bis zur Durchführung der Volksabstimmung über den „Anschluss“. Am 18. März 1938 wurde der NSDAP-Mann Albert Hoffmann zum Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände ernannt und dem „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ unterstellt. Er sollte das Vereinswesen gemäß den nationalsozialistischen Interessen neu regeln und die NSV als führende Kraft der „freien Wohlfahrtspflege“ etablieren. Der Stillhaltekommissar wurde so zur „Schaltstelle der NSV-Interessen“367 in Österreich. Die rechtliche Grundlage dafür bildete das Gesetz vom 17. Mai 1938 über die Überleitung und Eingliederung von Vereinen, Organisationen und Verbänden.368 Am 1. Dezember 1939 wurde dieses Gesetz wieder aufgehoben. Die Tätigkeit des Stillhaltekommissars war damit offiziell beendet. Davor wurden alle Vereine, welche die Meldung bei der Behörde unterlassen hatten, aus dem Vereinskataster gestrichen. Noch anhängige Fälle wurden durch die Aufbaufonds-Vermögensverwaltungsgesellschaft, die Nachfolgeeinrichtung des Stillhalte- 366 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, AZ Nr. III 719/43, DGT an die Verwaltungen der Provinzial- bzw. Bezirksverbände, Betreff: Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung vom 4.10.1943. 367 Hansen, Wohlfahrtspolitik, S. 180. 368 Vgl. GBlÖ, Nr. 136/38, Gesetz über die Überleitung und Eingliederung von Vereinen, Organisationen und Verbänden vom 17. Mai 1938. 72 kommissars bzw. den Abwickler zu Ende gebracht.369 Bereits ein Jahr nach dem „Anschluss“ konnte unter der Leitung von Hoffmann die Auflösung von ca. 110.000 Organisationen verfügt werden, so dass in der nunmehrigen „Ostmark“ nur noch etwa 5.000 Vereine und sonstige Organisationen bestehen blieben.370 Das Blindenvereinswesen konnte rasch gleichgeschaltet werden, obwohl es zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ stark zersplittert gewesen war. Allein auf Grund der für diese Arbeit gemachten Recherchen in den Akten des Stillhaltekommissars im ÖStA, im WStLA sowie in der Polizeidirektion Wien konnten die Unterlagen von 28 verschiedenen Selbsthilfe- und Fürsorgevereinen eruiert werden, welche Zivilblinde, Kriegsblinde und blinde Menschen jüdischer Herkunft unterstützten.371 Nach dem „Anschluss“ wurden sämtliche Blindenselbsthilfevereine unter Aufhebung ihrer Rechtspersönlichkeit in den RBV „eingegliedert“ und dann aus dem Vereinsregister gelöscht.372 Diese Entwicklung wurde im Februar 1939 als abgeschlossen betrachtet. In einem Schreiben des RBV an das Wiener Magistrat am 23. Februar 1939 wurden elf Blindenvereine mit Sitz in Wien aufgelistet, die in den RBV „eingegliedert“ worden waren.373 Insgesamt konnten auf Grundlage des konsultierten Quellenmaterials 19 österreichische Selbsthilfeorganisationen für Zivilblinde eruiert werden, mit denen auf diese Art und Weise verfahren worden war. Bei den Fürsorgevereinen gab es eine von dieser Praxis abweichende Vorgehensweise. Im durchgesehenen Quellenbestand befand sich allerdings nur der Akt eines Fürsorgevereines. Der Blindenfürsorgeverein „Asyl für blinde Kinder des Vereines von Kinder-Jugendfreunden“ wurde durch Verfügung des Stillhaltekommissars „der Aufsicht des Leiters des Amtes für Volkswohlfahrt, Gau Wien“ direkt unterstellt und dem DBV „angeschlossen“.374 Dass dies kein Einzelfall, sondern Usus war, wird durch die Quellen zu den Blindenfürsorgeanstalten in Graz und Innsbruck bestätigt.375 Insgesamt wurden nach Angaben in der Zeitschrift „Deutsche Blindenfürsorge (Der Blindenfreund)“ sechs Blindenfürsorgevereine und die fünf in Österreich bestehenden Blindenanstalten dem 369 Vgl. Pawlowsky, Leisch-Prost, Klösch, Vereine, S. 13–14; Pawlowsky, interne Struktur des Stillhaltekommissars, S. 26–81, hier S. 27. 370 Vgl. Hansen, Wohlfahrtspolitik, S. 180. 371 Mit diesen 28 Organisationen wurde folgendermaßen umgegangen. 19 wurden in den RBV „eingegliedert“, eine dem DBV „angeschlossen“. Ein anderer Verein, der für Heimstätten für Kriegsblinde zuständig war, wurde in die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ „eingegliedert“. Die fünf jüdischen Vereine wurden entweder gelöscht oder in das „Jüdische Blindeninstitut Hohe Warte“ und die „Selbsthilfegemeinschaft der jüdischen Körperbeschädigten“ „eingegliedert“. Über die Vorgehensweise bei den restlichen zwei Vereinen ist nichts bekannt. Über die Organisationen der Kriegsblinden und der blinder Menschen jüdischer Herkunft wird in den Kapiteln III.3, IV.2 sowie IV.5 eingegangen. Die hier genannte Anzahl von Organisationen ist nicht vollständig, da es vor allem in den Ländern noch weitere, insbesondere Fürsorgevereine, gab, deren Akten für diese Arbeit allerdings nicht herangezogen werden konnten. 372 Das Wort „Eingliederung“ entspricht dem Wortlaut der Quellen. 373 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 3201/35, Verein blinder Siedler im österreichischen Verband der Kleintiergärtner, Siedler und Kleintierzüchter, Schreiben RBV an Wiener Magistrat o. Z. vom 23.2.1939, Betreff: Auflösung Verein blinder Siedler. 374 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 17, Asyl für blinde Kinder des „Vereines von KinderJugendfreunden“, Verfügung vom 27.11.1939. 375 Vgl. Kapitel II.3.3.1. 73 DBV durch den Stillhaltekommissar „angeschlossen“. 376 Das bedeutete, die Blindenfürsorgevereine blieben im Gegensatz zu den Selbsthilfeorganisationen als „Mitgliedsvereine“ des DBV formal „eigenständig“.377 Der Anschluss der Blindenfürsorgevereine an den DBV muss aber als reiner Formalakt beurteilt werden. Der DBV hatte seinen Sitz direkt im „Hauptamt für Volkswohlfahrt“ in Berlin. 378 Außerdem wurden laut den Verfügungen des Stillhaltekommissars die Fürsorgevereine direkt unter die Aufsicht der NSV gestellt. In den Anordnungen zur Löschung und „Eingliederung“ der Selbsthilfevereine in den RBV wurde dagegen die Aufsichtsfunktion der NSV nicht explizit angeführt. Sie war aber dadurch gegeben, dass der RBV selbst unter Aufsicht der NSV stand. 379 Im Gegensatz zum DBV verfügte dieser in Berlin allerdings noch über eine selbständige Geschäftsstelle außerhalb des NSV-Verwaltungsgebäudes. 380 Bei der Liquidierung der Vereine kam es zu Streitigkeiten zwischen dem DBV und dem RBV. Der Verein „Österreichische Blindenindustrie“381 war mit Verfügung vom 29. September 1938 ebenfalls unter Aufsicht des Gauamtsleiters der NSV, Gau Wien, gestellt und dem DBV „angeschlossenen“ worden. Diese Einrichtung zur Beschäftigung blinder Hand­wer­ kerIn­nen war allerdings vom vormaligen „Verband der Blindenvereine Österreichs“382, einer Selbsthilfeorganisation, 1924 ins Leben gerufen worden und in dessen Geschäftsstelle in der Rotensterngasse383 25 untergebracht. Die „Österreichische Blindenindustrie“ war also eine Gründung der Blindenselbsthilfebewegung. Der RBV sah sich daher als Rechtsnachfolger an und ging gegen den Beschluss des Stillhaltekommissars vor. Dieser änderte seine ursprüngliche Entscheidung trotz einer Eingabe des DBV und wies den betreffenden Verein in den RBV ein.384 Ebenfalls in den RBV „eingegliedert“ wurde das „Mädchen-Blindenheim Elisabethinum“385 in Melk. Dieses wurde von dem NSDAP-Mann und Rechtsanwalt Wilhelm Kreft geleitet. Auf Grund des Aufbaues des Vereines kann darauf geschlossen werden, dass es sich hierbei eher um eine Fürsorgeeinrichtung gehandelt haben muss. Trotzdem erfolgte die Einweisung in den RBV. Dies lässt die Vermutung zu, dass dieser bei der Gleichschaltung des Blindenwesens bevorzugt behandelt wurde.386 376 Hartmann rechnet die Blindenanstalt Linz irrtümlich zu den Fürsorgevereinen und kommt daher nur auf vier Anstalten, die dem DBV angeschlossen wurden. Tatsächlich waren es aber fünf Anstalten. Dies könnte damit zusammenhängen, dass Hartmann angibt, das „Privatblindeninstitut in Linz“ im Gegensatz zu den anderen Einrichtungen noch nicht persönlich besucht zu haben. Vgl. Hartmann, Angliederung, S. 71–74, hier S. 71–72 und S. 74. 377 Zur Entwicklung der RBV-Landesgruppe „Ostmark“ siehe Kapitel II.3.4.2. 378 Der DBV war im Hauptamt für Volkswohlfahrt in Berlin, Maybach-Ufer 48–51 untergebracht. 379 Vgl. Kapitel II.3.4. 380 Der RBV verfügte in Berlin über eigene Geschäftsstelle in der Belle-Alliancestr. 33. Vgl. Kapitel II.3.3.1. 381 ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 14, Verein Österreichische Blinden-Industrie. 382 Vgl. Kapitel II.3.4.2. 383 In dem zitierten Aufsatz von Hartmann liegt ein Tippfehler vor, da er die Straße als „Rothensterngasse“ bezeichnet. Vgl. Hartmann, Angliederung, S. 71–74, hier S. 71. 384 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 14, Verein Österreichische Blinden-Industrie; Hartmann, Angliederung, S. 71–74, hier S. 72. 385 Zur Bezeichnung „Mädchenheim“ vgl. Kapitel II.10. 386 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 20, Mädchen-Blindenheim „Elisabethinum“. 74 3.3 Die „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ (NSV) Die NSV387 zählte 1943 über 17 Millionen Mitglieder und war damit nach der „Deutschen Arbeitsfront“ (DAF) die zweitgrößte NS-Massenorganisation im „Dritten Reich“.388 Sie hatte die Rechtsform eines eingetragenen Vereins, gehörte aber zu den der NSDAP angeschlossenen Verbänden.389 Der Aufgabenkatalog der NSV orientierte sich nach dem Leitbild „Gemeinnutz vor Eigennutz“. Ein wichtiges Kriterium für Unterstützungsleistungen war deren Nutzen für die „Volksgemeinschaft“. Gewährte Gelder und Leistungen sollten nicht als Almosen, sondern als Unterstützung der „Volksgemeinschaft“ begriffen werden. Im Gegenzug wurde von den „Unterstützten“ erwartet, dass sie ihre Kräfte vorbehaltlos der „Volksgemeinschaft“ zur Verfügung stellten.390 Die NSV sah ihre Arbeit als Erziehungsaufgabe an. Der RBV und der DBV waren dem Hauptamt für Volkswohlfahrt direkt unterstellt. Der Leiter dieses Amtes hatte in Personalunion die Leitung der NSV und des WHW391 inne.392 Der Führungsanspruch der NSV erstreckte sich aber nicht nur auf die „freie“, sondern auf die gesamte, somit auch auf die öffentliche, Wohlfahrtspflege.393 Welche offiziellen Leitgedanken die NSV in Bezug auf das Blindenwesen verfolgte, wird durch einen Artikel von Hans Georg Ballarin394, zuständiger Abteilungsleiter im Hauptamt für Volkswohlfahrt in Berlin, aus dem Jahr 1938 deutlich: „Sinn einer Blindenfürsorge muß letztendlich der sein, sich selbst überflüssig zu machen. […] Das erstrebenswerte Ziel aller Blindenbetreuungsarbeit ist die restlose Eingliederung des Blinden in die werktätige Volksgemeinschaft […].“395 Der Gedanke von Ballarin, dass sich die Blindenfürsorge selbst überflüssig machen würde, muss vor allem vor dem Hintergrund der damaligen Blindenstatistik als bedenklich und als reine Propaganda bewertet werden. Helmut Pielasch und Martin Jaedicke schätzten 1971, dass etwa 45 Prozent der blinden Menschen zwischen 1933 und 1945 zum Zeitpunkt ihrer Erblindung über 50 Jahre alt waren. Dadurch waren sie nur schwer in der Lage, Umschulungen zu absolvieren oder einen Arbeitsplatz zu finden. Außerdem befanden sich unter ihnen kranke oder mehrfachbeeinträchtigte Menschen. Dazu kamen noch die seit ihrer Geburt oder Jugend Erblindeten, die in der NS-Zeit bereits ein hohes Lebensalter erreicht 387 Eine ausführliche Darstellung zur Geschichte der NSV bietet u. a. folgendes Werk: Vorländer, NSV. 388 Vgl. Th. E. de Witt, The Nazi Party and Social Welfare 1919–1939, Diss. [Manuskript], Virginia 1972, S. 129, 157, zitiert in: Kramer, Fürsorgesystem im Dritten Reich, S. 173–218, hier S. 187. 389 Vgl. Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 142; Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 87 und 274. 390 Vgl. Meyers Lexikon 1936ff., Bd. 8, 1940, S. 155, zitiert in: Schmitz-Berning, Vokabular, S. 91. 391 Vgl. Kapitel II.3.7. 392 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 87. 393 Vgl. Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 142; Hansen, Wohlfahrtspolitik, S. 188. 394 Ballarin war der Leiter der Rechtsabteilung im Hauptamt für Volkswohlfahrt. In seiner Hand lag auch die Sonderfürsorge für Körperbehinderte sowie Kapital- und Kleinrentner, die ebenfalls zum Tätigkeitsbereich der NSV gehörte. Vgl. Vorländer, NSV, S. 86. 395 Ballarin, NS-Volksdienst, S. 128–131, hier S. 130. [Dieser Artikel erschien ebenfalls in der Zeitschrift „Deutsche Blindenfürsorge (Der Blindenfreund)“. Vgl. Ballarin, nationalsozialistische Blinden-Wohlfahrtspflege, S. 1–5.] 75 hatten.396 Nach den NS-Richtlinien zählte demnach fast die Hälfte der blinden Menschen zu den so genannten „Ballastexistenzen“. 3.3.1 Die Rolle der NSV im „ostmärkischen“ Blindenwesen Unmittelbar nach dem „Anschluss“ kontrollierte die NSV sämtliche Ein- und Ausgänge auf den Konten der Blindenvereine, bis der Stillhaltekommissar eine endgültige Verfügung über die betreffende Organisation getroffenen hatte. Diese Aufgabe übernahm der kommissarische Leiter für das Blindenwesen in der „Ostmark“ bei der NSV Gauverwaltung Wien, Wilhelm Delasbe. Seine Tätigkeit endete 1938, da das Blindenwesen zu diesem Zeitpunkt nahezu vollständig gleichgeschaltet worden war.397 Dementsprechend konnten die Vereine schon unmittelbar nach dem „Anschluss“ ihre Tätigkeit ohne Zustimmung der NSV nicht mehr ausüben.398 Diese Gleichschaltung hatte weitreichende Folgen für die Vereinstätigkeit: Der RBV und seine regionalen Vertretungen, in der „Ostmark“ „Gaubünde“ genannt, mussten der NSV Tätigkeitsberichte vorlegen und den NSV-Richtlinien konform agieren. Publikationen wie zum Beispiel die RBV-Zeitschrift „Die Blindenwelt“ wurden zensuriert.399 Damit wurde es den blinden FunktionärInnen unmöglich gemacht, sich gegen das Regime oder zum Beispiel das GzVeN zu äußern. Mit der Rotensterngasse 25 verfügte der RBV „Ostmark“ im Gegensatz zum DBV zwar über eine eigene Geschäftsstelle außerhalb des NSV-Hauptsitzes,400 der RBV besaß aber nur nach seinem äußeren Erscheinungsbild Selbständigkeit. Praktisch agierte er ebenfalls als Abteilung der NSV.401 Die Blindenfürsorgevereine wurden dagegen allerdings direkt unter die Aufsicht des Leiters des Amtes für Volkswohlfahrt des jeweiligen Gaues gestellt und dem DBV „angeschlossen“. Anhand des „Odilien-Blindenvereines“, Träger der „Odilien-Blindenanstalt“ in Graz, kann die Auswirkung dieser Vorgehensweise aufgezeigt werden.402 Der Stillhaltekommissar ordnete am 14. November 1938 an, dass dieser Blindenfürsorgeverein zwar weiter bestehen bleiben könne, aber seine Satzung ändern müsse. Dies geschah im Rahmen einer vorgedruckten, standardisierten Anordnung, was darauf schließen lässt, dass die darin enthaltenen Bestimmungen auch für andere Fürsorgevereine galten.403 Mit den Vorschriften zur Änderung der Satzungen wurde die Selbständigkeit des Vereines aufgehoben. Das Amt für Volkswohlfahrt in Graz konnte die Rechnungslegung der Geschäftsführung einsehen und Maßnahmen des Vereines untersagen, wenn sie den „Grundsätzen einer planwirtschaftlichen 396 Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 147. 397 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 196, Zl. 4351/13, M. Abt. 2/9689/38, Abschrift Wiener Magistratsabteilung 2 an den Minister für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 7.1.1939, Betreff: Bericht über Zentralbibliothek für Blinde in Österreich. 398 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Nr. III, 2512/40, Niederschrift über die erste Tagung der Arbeitsgemeinschaft am 25. Oktober 1940 in Berlin, S. 8. 399 Vgl. Malmanesh, Blinde, S. 127–130 und S. 160–171. 400 Es ist nicht bekannt, dass der DBV nach dem Vorbild des RBV über einen eigenen Sitz in der „Ostmark“ verfügte. 401 Vgl. Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 321. 402 Vgl. Liebmann, Behindertenbetreuung, S. 77–106. 403 Vgl. Liebmann, Behindertenbetreuung, S. 77–106, hier S. 86. 76 Gestaltung der freien Wohlfahrtspflege widersprachen.“404 Nach § 5 der neuen Satzungen bedurften Beschlüsse der Mitgliederversammlung zur Durchführung der Zustimmung durch die NSV.405 Außerdem sollte der „Arierparagraph“ eingeführt werden. Die diesen Vorgaben entsprechenden neuen Satzungen des „Odilien-Vereins“ wurden am 9. Dezember 1938 vom Stillhaltekommissar genehmigt.406 Ein Bericht von Anton Berchtold aus dem Jahre 1967 bestätigt die gleiche Vorgehensweise für den „Blindenfürsorgeverein für Tirol und Vorarlberg“.407 Darüber hinaus wurden weitere Maßnahmen getroffen, um die Vormachtstellung der NSV im Blindenwesen zu manifestieren. Nach dem „Anschluss“ wurde unter Leitung der NSV eine Arbeitsgemeinschaft aus Blindenselbsthilfe- und Blindenfürsorgeverbänden in Wien ins Leben gerufen.408 Durch regelmäßige Treffen sollte über die Fragen des „ostmärkischen“ Blindenwesens beraten werden. Wenn sich die beteiligten Vertreter der Fürsorge und Selbsthilfe nicht einigen konnten, traf die NSV-Gauamtsleitung Wien eine Entscheidung.409 Im Jänner 1941 wurde diese Entwicklung in Wien durch die Gründung der „Blindenführung“ weitergeführt. Sie setzte sich zusammen aus VertreterInnen des RBV, der BlindenlehrerInnenschaft, des Blindenfürsorgewesens und der Gemeinde Wien. Die „Blindenführung“ sollte über alle offenen Fragen des Wiener Blindenwesens beraten. Die erste Sitzung fand am 14. Juli 1941 statt. Darin wurde beschlossen, die stellvertretende Leiterin des „Amtes für Volkswohlfahrt, Abteilung allgemeine Wohlfahrt“, Dr. Kernmayr, zu ersuchen, den Vorsitz zu übernehmen.410 Die von der NSV forcierte Zusammenarbeit von Blindenfürsorge- und SelbsthilfevertreterInnen sollte die Produktivität des NS-Blindenwesens steigern. Warum RBV und DBV nicht überhaupt zusammengelegt wurden, konnte nicht eruiert wurden. Bereits 1936 hatte es in Deutschland solche Bestrebungen, eine Zusammenlegung beider Dachorganisationen, allerdings gegeben. Die Gründung eines Einheitsverbandes war geplant. VertreterInnen des RBV und des DBV verhandelten unter der Leitung des Hauptamtes für Volkswohlfahrt über die Statuten.411 Dieser Versuch scheiterte allerdings vorerst, auf Grund welcher Umstände ist nicht bekannt. 404 Sicherheitsdirektion-Archiv Graz, Fasc. 0/118/1975, abgedruckt in: Liebmann, Behindertenbetreuung, S. 77–106, hier S. 86. [Der gesamte Text ist in der Dissertation abgedruckt: Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 530.] 405 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, Satzungen des Odilien-Vereins zur Fürsorge für die Blinden Steiermarks in Graz [1938]. 406 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, Satzungen des Odilien-Vereins zur Fürsorge für die Blinden Steiermarks in Graz [1938]. 407 Vgl. Berchtold, Rückblick, S. 1–14, hier S. 8. Berchtold war zur Zeit dieser Publikation (1967) Direktor der Blindenanstalt in Innsbruck. Im Kapitel über das Schulwesen wird die Geschichte dieser beiden Einrichtungen in Graz und Innsbruck in der NS-Zeit behandelt. Vgl. Kapitel II.4.5.2 und II.4.5.3. 408 Vgl. Hartmann, Angliederung, S. 71–74, hier S. 73. 409 Vgl. Hartmann, Angliederung, S. 71–74, hier S. 73. 410 Vgl. o. A., Zur Chronik des Blindenwesens, Wien, S. 216–217. 411 Vgl. BAB, DGT, R 36/1757, Nr. 294, RBV an den DGT eingegangen am 18. Januar 1936, Betreff: Gründung eines Einheitsverbandes. 77 3.4 Der „Reichsdeutsche Blindenverband“ (RBV) „Der abgesehen von seinem Augenleiden gesunde Blinde selbst will keine bloße Betreuung, sondern eine Hilfe, die ihn dazu befähigt, sich im Wirtschaftskampf zu behaupten; […]“412 3.4.1 Aufgaben und Ziele Der RBV präsentierte sich in der NS-Zeit als „Reichsspitzenorganisation der deutschen Blinden“.413 Der RBV war 1912 gegründet worden.414 1929 zählte er rund 14.000 Mitglieder. Seit der Vereinsgründung gab der RBV die Zeitschrift „Die Blindenwelt“ heraus.415 Nach der Machtübertragung an Hitler 1933 begann die Gleichschaltung und Ausrichtung des RBV nach den nationalsozialistischen Vorgaben. Die meisten RBV-FunktionärInnen wollten oder konnten dagegen keinen erkennbaren Widerstand leisten.416 Eine Statutenänderung 1939 bildete beim RBV den Abschluss dieser Vorkriegsentwicklung. Formal reduzierte sich die Zahl der Paragraphen von 21 auf 14. In den einzelnen Bestimmungen manifestierte sich der große Einfluss der NSV.417 Die so genannte „Berufsfürsorge“ wurde zur Hauptaufgabe des RBV.418 Von der „Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ hatte der RBV den Auftrag zur nichtgewerbsmäßigen Arbeitsvermittlung. Die Unterbringung von blinden Menschen nicht nur in den typischen Handwerksberufen, sondern vor allem in den Betrieben der Wirtschaft und Verwaltung sollte dabei forciert werden.419 Blinde HandwerkerInnen waren im „Reichsverband für das Blindenhandwerk“, der dem RBV angeschlossen war, organisiert.420 Darüber hinaus gab es im RBV Fachgruppen für blinde MusikerInnen, KlavierstimmerInnen, IndustriearbeiterInnen, Büroangestellte, MasseurInnen, SchriftstellerInnen und KomponistInnen. Für Späterblindete war ein Heim zur Berufsumschulung und -ausbildung vorhanden.421 Blinden MusikerInnen stand eine Notenzentrale zur Verfügung. Der Vorsitzende des RBV war zudem Leiter des Blindenkonzertamtes in der Reichsmusikkammer.422 412 Meurer, Vorwort, S. V–VII, hier S. V. 413 Gersdorff, Reichsdeutscher Blindenverband, S. 141–144, hier S. 142. [Gersdorff war der Leiter des RBV]; ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, Spendenschreiben des RBV an „Deutsche Volksgenossen“ vom Juni 1939. [Die entsprechende Formulierung wurde im Briefkopf dieses Schreibens verwendet.] 414 Als Nachfolgeorganisation des RBV sieht sich der Deutsche Blinden- und Sehbehinderten-Verband e. V. Dieser wurde 1949 gegründet. Vgl. o. A., Deutscher Blinden- und Sehbehinderten-Verband. 415 Vgl. Richter, Blindheit, S. 14; Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 115. [Weiterführende Literatur zur Gründung des RBV: Schrenk, Kraemer, S. 94–100.] 416 Vgl. Schrenk, Kraemer, S. 23. 417 Vgl. Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 321. 418 Vgl. Gersdorff, Reichsdeutscher Blindenverband, S. 141–144, hier S. 142–143. 419 Vgl. Kapitel II.6. 420 Vgl. Kapitel II.6.2. 421 Vgl. Gersdorff, Reichsdeutscher Blindenverband, S. 141–144, hier S. 142. 422 Vgl. Gersdorff, Reichsdeutscher Blindenverband, S. 141–144, hier S. 144. 78 Durch „körperliche Ertüchtigung“ sollte das Leistungsvermögen blinder Menschen im Berufsleben erhöht werden.423 Der RBV unterstützte daher finanziell das Sportangebot von einzelnen Mitgliedsvereinen. Nach „biologisch-völkischen“ Kriterien ausgerichtet war die so genannte „Erholungsfürsorge“ des RBV.424 Der RBV verfügte über zahlreiche Erholungsheime, die in erster Linie berufstätigen Blinden zur Verfügung stehen sollten. Dieser Bereich wurde allerdings durch die Auswirkungen des Krieges gravierend eingeschränkt.425 Beim RBV tätig war darüber hinaus der Rechtsberater Bruno Gerl, der im vorherigen Kapitel bereits zitierten selbst betroffenen Rechtsanwalt, der RBV-Mitglieder bei Fragen die Fürsorgegesetzgebung betreffend beraten sollte. Über eine RBV-Hilfsmittelzentrale in Dresden konnten blinde Menschen aus dem gesamten „Deutschen Reich“ Gegenstände aller Art, die sie für ihr Berufs- oder Alltagleben benötigten, erhalten.426 Eine weitere Aufgabe des RBV war die Erziehung blinder Menschen im nationalsozialistischen Sinn.427 Propaganda in diesem Sinne wurde von den RBV-FunktionärInnen bei jeder Gelegenheit betrieben. Ob sie dies auf Grund des äußeren Drucks oder aus innerer Überzeugung heraus taten, kann wissenschaftlich nicht beurteilt werden.428 Der ärztliche Gesundheitsrat dieser Organisation, der erblindete Arzt Carl Siering, war vor allem für die Verbreitung der NS-Lehren zu „erbbiologischen“ Fragen zuständig.429 Dementsprechend unterstützte der RBV offiziell zum Beispiel die Einführung und Umsetzung des GzVeN. Wigand von Gersdorff, Leiter des RBV, kommentierte die Einführung der gesetzlich legitimierten Zwangssterilisierungsmaßnahmen 1933 folgendermaßen: „Der Reichsdeutsche Blindenverband e. V. begrüßt alle Mittel und Wege, die geeignet sind, die Zahl der Blindheitsfälle zu vermindern. Er hat […] nichts einzuwenden gegen die Einführung der freiwilligen Sterilisierung bei solchen Personen, bei denen die Gefahr der Vererbung ihres Gebrechens vorhanden ist. Hinsichtlich der Frage, ob die vorliegenden Forschungsergebnisse eine zwangsweise Durchführung […] rechtfertigen, glaubt der Reichsdeutsche Blindenverband sich mit Rücksicht auf die z. T. sich widersprechenden Meinungen vorerst eine Stellungnahme enthalten zu müssen.“430 423 424 425 426 427 428 Vgl. Gersdorff, Reichsdeutscher Blindenverband, S. 141–144, hier S. 142–143. Vgl. Siering, Gesundheitspflege, S. 131–137, hier S. 134. Vgl. Kapitel II.7. Vgl. Gersdorff, Reichsdeutscher Blindenverband, S. 141–144, hier S. 144. Vgl. Gersdorff, Reichsdeutscher Blindenverband, S. 141–144, hier S. 142–143. Malmanesh hat in seiner Studie „Blinde unter dem Hakenkreuz“ untersucht, wie nahe Carl Strehl, der damalige Direktor der Blindenstudienanstalt in Marburg an der Lahn (D), den Nationalsozialisten wirklich gestanden ist und inwieweit seine Anbiederung nur opportunistisch begründet war. Eine befriedigende Antwort darauf kann aber auch er nicht geben. In dieser Arbeit wird versucht im Kapitel II.11.4 der Frage nachzugehen, ob blinde Menschen in der NS-Zeit als Akteure oder Opfer einzustufen sind. Vgl. Malmanesh, Blinde, S. 80–99; Kapitel II.12. 429 Vgl. Gersdorff, Reichsdeutscher Blindenverband, S. 141–144, hier S. 143. 430 Wigand v. Gersdorff, Bericht über die Sitzung des Verwaltungsrats des Reichsdeutschen Blindenverbandes e. V. am 21. und 22. April 1933 im Blindenerholungsheim zu Wernigerode am Harz, in: Die Blindenwelt, Jg. 21 (1933), S. 210–217, hier S. 211, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 16–34, hier S. 26–27. 79 Unter den blinden Menschen im „Altreich“ gab es durch diese Einstellung des RBV die Meinung, es wäre sinnvoll, sich von dieser Organisation fernzuhalten, da die Betroffenen fürchteten, schneller in das „Visier der Sterilisationsmaschinerie“431 zu kommen.432 Ein wichtiges Organ des RBV zur Verbreitung der NS-Ideologie war die Zeitschrift „Die Blindenwelt“. Die Herausgabe der Zeitschrift wurde mit Geldern der „Presseabteilung der Reichsregierung“ finanziert.433 Sie wurde als „Zeitschrift für alle Fragen der Berufsförderung, der Wohlfahrt und der Fürsorge für Blinde“434 in Schwarz- und Blindenschrift herausgegeben und enthielt unter anderem antisemitische Beiträge sowie Artikel über die bevölkerungsund rassenpolitischen Ansichten des NS-Regimes. Sie erreichte 1942 eine Gesamtauflage von 2.783 Stück (1941: 2.450)435. 1.583 Ausgaben (1941: 1.300) davon wurden in Punktschrift gedruckt. „Die Blindenwelt“ erschien zwölfmal im Jahr. Ab Mitte 1944 wurden nur mehr Doppelnummern herausgegeben.436 In den Monaten zuvor hatte sich der Umfang kontinuierlich verringert. Die für diese Arbeit letzte eingesehene Ausgabe ist die elfte Nummer vom November 1944. Laut Eingangsstempel langte sie am 29. Jänner 1945 in der Blindenschule in Wien ein.437 Der lange Lieferzeitraum ist ein Hinweis darauf, dass es zu Kriegsende nicht mehr möglich war, die Zeitschrift regelmäßig zu produzieren und zu versenden. Damit die FunktionärInnen ihre Aufgaben im Sinne der NS-Propaganda ausüben konnten, organisierte der RBV ab 1935 ideologische Schulungen in den RBV-Erholungsheimen für blinde VereinsleiterInnen. Zuständig dafür war Franz Löffler, der Leiter des „Bayerischen Blindenbundes“, einer Landesgruppe des RBV. 1941 nahmen insgesamt 56 TeilnehmerInnen daran teil. Sie hörten Vorträge zur politischen und „weltanschaulichen Schulung“, „Wohlfahrtspflege“ und zum „Fürsorgerecht“ sowie zur Fragen der Verwaltung.438 An diesen Kursen könnten nach 1938 VertreterInnen aus der „Ostmark“ teilgenommen haben. Aber nicht nur blinde Menschen waren Ziel der Propagandatätigkeit des RBV. 1941 wurde daher eine „Nachrichtenstelle für das Blindenwesen“ mit folgendem Ziel gegründet: „Aufgabe der Nachrichtenstelle ist es, alle Volkskreise auf dem Wege über die verschiedenen publizistischen Führungsmittel (Zeitung, Zeitschrift, Buch, Film, Rundfunk) über das Blindenwesen aufzuklären und dadurch ein breites Verständnis für die sozialen und ethischen Belange der Blindenschaft zu erwirken.“439 Der Verlauf des Zweiten Weltkrieges beeinflusste allerdings die Arbeit des RBV enorm. Der RBV, eigentlich eine Organisation für Zivilblinde, übernahm Aufgaben bei der Versorgung 431 Hielscher, Blinde im Nationalsozialismus, S. 11; Poore, Disability in Twentieth Century, p. 126. 432 Durch einen Rückgang der Mitgliederzahlen beim RBV kann diese Aussage nicht bestätigt werden. Allerdings sind nur die vom RBV selbst publizierten Werte bekannt. Diese müssen aber vor dem Hintergrund der Propagandatätigkeit des RBV in Frage gestellt werden. Gersdorff gab 1939 an, der RBV umfasse 16.000 Zivilblinde, inklusive der Betroffenen aus der „Ostmark“. Vgl. Gersdorff, Reichsdeutsche Blindenverband, S. 141–144, hier S. 142. 433 Gersdorff, Bericht [1942], S. 279–283, hier S. 282; Gersdorff, Tätigkeitsbericht [1941], S. 221–229, hier S. 227. 434 Gersdorff, Reichsdeutscher Blindenverband, S. 141–144, hier S. 143. 435 Vgl. Gersdorff, Tätigkeitsbericht [1941], S. 221–229, hier S. 227. 436 Vgl. Die Blindenwelt, Nr. 7/8, Jg. 32 (1944). 437 Diese Ausgabe der Blindenwelt steht in der Bibliothek des BBI Wien. 438 Vgl. Gersdorff, Bericht [1942], S. 279–283, hier S. 280. 439 Gersdorff, Tätigkeitsbericht [1941], S. 221–229, hier S. 227–228. 80 der erblindeten Soldaten. Über die RBV-Hilfsmittelzentrale erhielten auch Kriegsblinde notwendige Hilfsmittel für die Berufsausübung.440 Die Auswirkungen des Krieges prägten zunehmend den Vereinsalltag. Die eigentlich jährlich stattfindenden Versammlungen des RBV, die so genannten „Verbandstage“, fanden seit 1941 wegen „kriegsbedingten verkehrstechnischen Gründen“ nicht mehr statt.441 „In den Blindenvereinen wurde die Zahl der Versammlung von Jahr zu Jahr geringer, das gesellige Leben schwand weitgehend, weil der Arbeitseinsatz, die Reduktion des öffentlichen Lebens durch Verdunkelung und Fliegeralarme, die Furcht vor Spitzeln und die zunehmende Verkehrsschwierigkeiten es nicht mehr zuließen.“442 Ende 1943 mussten die wichtigsten Bereiche der RBV-Geschäftsstelle auf Grund der Luftangriffe in Berlin nach Wernigerode, in das Erholungs- und Schulungsheim, verlegt werden. 3.4.2 Die Entwicklung des RBV in der „Ostmark“ Die Verbandsakten des RBV und der Abteilung „Ostmark“ sind nicht mehr auffindbar. Die Geschichte des RBV „Ostmark“ kann daher nur auf Basis der Informationen aus den Zeitschriften „Die Blindenwelt“ und den „Marburger Beiträgen“443 rekonstruiert werden. Beide Medien wurden durch die NSV zensiert und sind als Propagandaschriften zu bewerten. Der darin wiedergegebene Inhalt muss dementsprechend kritisch hinterfragt werden. Sie stellen aber die einzige Quelle zu diesem Thema dar und lassen durchaus gewisse Rückschlüsse auf die Tätigkeiten des RBV in der „Ostmark“ zwischen 1938 und 1945 zu. 1938 gründete der RBV die Landesgruppe „Ostmark“. Als Geschäftsstelle übernahm der RBV „Ostmark“ den Sitz des „Verbandes der Blindenvereine Österreichs“ in der Rotensterngasse 25 in Wien.444 Dieser Verband war 1924 durch den Zusammenschluss von fünf Vereinen entstanden: „Erster Österreichischer Blindenverband“, „Bund der später Erblindeten“, „Hilfsverein der jüdischen Blinden“445, „Blindenverein Lindenbund“ und „Steiermärkischer 440 Als ein Beispiel kann hier der aus Tirol stammende Kriegsblinde Johann H. herangezogen werden, der 1942 eine Stenographiermaschine vom RBV erhielt. Eine diesbezügliche Rechnung vom 31.12.1942 an das HVA Wien befindet sich in seinem Fürsorgeakt. Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend soziale Fürsorge Johann H. 441 Vgl. Gersdorff, Bericht [1942], S. 279–283, hier S. 279. 442 Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 332. 443 Die „Marburger Beiträge zum Blindenbildungswesen“ sind das erste Mal 1918 erschienen und wurden von der „Hochschulbücherei, Studienanstalt und Beratungsstelle für blinde Akademiker e. V.“ (Blindenstudienanstalt) herausgegeben. Ab 1924 wurde auch der „Verein der blinden Akademiker Deutschlands e. V.“ zum Herausgeber. Bis 1943 erschien sie monatlich und zwar in Punktschrift und in einer verkürzten Schwarzschriftausgabe. Viele Beiträge liegen daher nur in Blindenschrift vor und erschienen nie in Schwarzschrift. Die Ausgabe in Blindenschrift liegt in einer digitalisierten Form im AIDOS in Marburg an der Lahn vor und ist so für Menschen zugänglich, welche die Brailleschrift nicht lesen können. Vgl. Schäfer, Bibliographie der „Marburger Beiträge“ [Beitrag aus der Zeitschrift „horus“, Nr. 5/2003]. 444 Im Krieg wurde dieser Vereinssitz fast vollständig zerstört. Vgl. Kapitel II.3.4.3, II.9. 445 Diese Organisation ging aus dem 1911 gegründeten Blinden-Hilfsverein „Humanitas“ hervor, der sich 1919 zum Hilfsverein der jüdischen Blinden umbenannte. Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 3257/20, Hilfsverein der jüdischen Blinden. 81 Blindenverband“.446 Durch den „Arierparagraphen“ wurden blinde Menschen jüdischer Herkunft nach dem „Anschluss“ vom RBV ausgeschlossen.447 Andere Funktionäre des „Verbandes der Blindenvereine Österreich“ arbeiteten allerdings 1938 im RBV weiter. In der öffentlichen Darstellung wurde die Zusammenarbeit mit dem „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ aus der Zeit vor 1938 allerdings verleugnet.448 Proteste gegen den Ausschluss der ehemaligen jüdischen „VereinskollegInnen“ sind nicht überliefert. In der RBV-Zeitschrift „Die Blindenwelt“ wurde die erzwungene „Eingliederung“ der Blindenselbsthilfevereine in den RBV als „freiwillig“ dargestellt.449 Karl Satzenhofer, der ehemalige Obmann des „Verbandes der Blindenvereine Österreichs“450, veröffentlichte im Mai 1938 in der Zeitschrift „Die Blindenwelt“ einen Artikel, in dem er von einer angeblich großen AnhängerInnenschaft der NationalsozialistInnen unter den blinden Menschen in Österreich berichtete: „Wohl niemand in Oesterreich hat den Zusammenschluß mit dem Deutschen Reich sehnlicher herbeigewünscht als die Blinden.“451 Sein Beitrag gibt einen Hinweis darauf, welche Motivation blinde Menschen gehabt haben könnten, die „Zwangseingliederung“ ihrer Vereine in den RBV zu begrüßen: „Was wir von der Eingliederung in das große Deutsche Reich und damit in den RBV. erwarten, das läßt sich in zwei Worten ausdrücken: Ordnung und Arbeit.“452 Das stark zersplitterte Blindenwesen der Zwischenkriegszeit konnte angesichts der in Österreich herrschenden enormen Arbeitslosigkeit den blinden Menschen nur bedingt helfen. Dies nutzte der RBV „Ostmark“, um blinden Menschen mit der Aussicht auf Besserung ihrer Lage an das NS-Blindenwesen zu binden. Als kommissarischer Geschäftsführer und Leiter der Landesgruppe „Ostmark“ wurde der „Parteigenosse“ Franz Hartl eingesetzt.453 Die gleiche Funktion übte er über das „ostmärkische Blindenfürsorgewesen“ aus. Er galt damit als Generalkommissar für das „ostmärkische Blindenwesen“.454 Die beiden Vereinsgruppierungen im Blindenwesen wurden also zunächst in Personalunion geführt. Nach dem „Anschluss“ wurde so offenbar versucht, die 446 Altmann, Blindenwesen, S. 146–162, hier S. 152–153; Bachleitner, Vogel, Jakob Wald, S. 32–33, hier S. 33. 447 Vgl. weiterführend: Kapitel II.11.2, IV.2; Die jüdischen Blindenorganisationen wurden 1938 zwangsweise in das „Israelitische Blindeninstitut“ „eingegliedert“. Vgl. Kapitel IV.5. 448 In einem Aufsatz von Satzenhofer in „Die Blindenwelt“ über das Blindenselbsthilfewesen in Österreich zwischen 1934 und 1938 wird die Beteiligung des „Hilfsvereins der jüdischen Blinden“ an dem „Verband der Blindenvereine Österreichs“ nicht erwähnt. Vgl. Satzenhofer, Blindenselbsthilfewesen, S. 127–130, hier S. 127. 449 Vgl. Gersdorff, Willkommensgruß, S. 86–87, hier S. 87. [Franz Holzer war bis zum „Anschluss“ der Leiter des Verbandes der Blindenvereine Österreichs. Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 366, Zl. 22/F, Sg. 2, Verband der Blindenvereine Österreichs.] 450 Satzenhofer war vor der NS-Zeit Obmann des „Ersten Österreichischen Blindenvereins“. Zur genauen Dauer seiner Amtsperiode konnten keine Angaben gefunden werden. Später war er für den RBV aktiv. In welcher Funktion ist nicht bekannt, aber er verfasste Beiträge in der Zeitschrift „Die Blindenwelt“ über die Tätigkeit des RBV in der Ostmark. 451 Satzenhofer, Blindenselbsthilfewesen, S. 127–130, hier S. 130. 452 Satzenhofer, Blindenselbsthilfewesen, S. 127–130, hier S. 130. 453 Vgl. o. A., Verzeichnis, S. 141–160, hier S. 154. 454 Vgl. Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160–162. [Zitiert wird hier aus der digitalisierten Punkschriftausgabe des AIDOS. Die bibliographischen Angaben entsprechen den Angaben dieser Quelle. Aus der originalen Brailleschriftausgabe kann nicht zitiert werden, da die Autorin nicht über die Kenntnisse verfügt, diese zu lesen.] 82 gesamte „freie“ Blindenwohlfahrt möglichst schnell nach nationalsozialistischen Gesichtspunkten auszurichten. Im Zuge dessen versuchte Hartl, das „Israelitische Blindeninstitut“ auf der Hohen Warte in den Besitz des RBV zu bekommen. Die Geschäftsstelle in der Rotensterngasse sollte mit der jüdischen Einrichtung getauscht werden, da diese geräumiger war. Die NS-Verwaltung erteilte diesem Ansinnen allerdings zunächst eine Absage. Das geht aus einem handschriftlichen Vermerk in einem Bericht zu diesem Ansinnen in den Akten des Stillhaltekommissars im ÖStA hervor. Zur Begründung dieser Entscheidung hieß es dort wörtlich: „[M]uss bis auf weiteres dem jüdischen Blindeninstitut erhalten bleiben, da auch dieses Körperbehinderte betreut. Eine Räumung des Gebäudes durch die Juden wird erst ca 1 Jahr [sic!] spruchreif.“455 Auch nach der Deportation aller im „Israelitischen Blindeninstitut“ untergebrachten Jüdinnen und Juden ging das Gebäude allerdings nicht in den Besitz des RBV über. Die Hintergründe dieser Entwicklung sind allerdings nicht bekannt. Anfang 1939 war die Neuorganisation des „ostmärkischen“ Blindenselbsthilfewesens in ihren Grundzügen abgeschlossen. Diesbezüglich fand eine Besprechung unter Leitung von Hartl mit dem ersten Vorsitzenden des RBV Wigand von Gersdorff456 statt. Zu seinem Stellvertreter in der „Ostmark“ wurde in dieser Sitzung Otto Binder ernannt. Dieser wurde von Satzenhofer folgendermaßen beschrieben: „Pg. Otto Binder ist Klaviervirtuose und ein alter Vorkämpfer für den Nat.-Sozialismus unter den Blinden in Österreich.“457 Ebenfalls festgelegt wurde, dass der Mitgliedsbeitrag für den RBV „Ostmark“ wie im „Altreich“ zwei RM betragen sollte. Dies war aber umstritten, da auf Grund der schlechten wirtschaftlichen Lage unter den blinden Menschen in der „Ostmark“ dieser Beitrag als zu hoch angesehen wurde.458 Bis 1939 war die Aufteilung der Landesgruppe „Ostmark“ in Gaubünde noch nicht festgelegt worden. Nur in der Steiermark, wo schon vor 1938 der „Steirische Blindenverband“ existiert hatte, gab es zu diesem Zeitpunkt schon eine regionale Gruppe des RBV.459 In der Sitzung Anfang 1939 wurden fünf weitere „Gaubünde“ bestimmt. Steiermark und Kärnten waren zu jeweils einem Gaubund zusammengefasst. In Wien, „Niederdonau“, „Oberdonau“, „Tirol-Vorarlberg“ und Salzburg gab es jeweils einen eigenen Gaubund. Als Leiter dieser wurden laut Satzenhofer zum größten Teil „Parteigenossen“ eingesetzt.460 Den Gaubund „Niederdonau“ übernahm Walther Otto Fürstenberg, der von Satzenhofer als Begründer der NS-Blindengruppe in Österreich tituliert wurde. Der Leiter des Gaubundes Wien wurde Gustav Adolf Besser. Vor der NS-Zeit war er Leiter der „Interessengemeinschaft für blinde 455 ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 558, Mappe B 9, Undatierte Bericht von Franz Hartl. Vgl. Kapitel II.11, IV.5.3.2. 456 In dem Beitrag von Satzenhofer wird Gersdorff ebenfalls als Parteigenosse tituliert. Vgl. Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160–162. 457 Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160–162. 458 Vgl. Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160–162. 459 Vgl. o. A., Verzeichnis, in: Meurer, Ratgeber, S. 141–160, hier S. 154. 460 Der Text von Satzenhofer ist im Anhang des Dissertationsmanuskripts abgedruckt. Vgl. Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 533. 83 Musiker und Klavierstimmer“ gewesen. Diese führte mit Genehmigung der Behörden schon 1937 den „Arierparagraphen“461 ein.462 Auch andere blinde Männer, die schon vor 1938 Funktionäre in Blindenvereinen waren, erhielten leitende Funktionen in den Gaubünden des RBV „Ostmark“. So wurde der Gaubund Steiermark von Franz Fichtl geleitet. Dieser war bereits Obmann des „Steiermärkischen Blindenvereins“ seit dessen Gründung im Jahr 1921.463 Den Vorsitz für den Gaubund „Oberdonau“ übernahm Georg Briedl, der zuvor Obmann der Landesgruppe Oberösterreich des „Ersten Österreichischen Blindenvereins“ war.464 Das Gleiche galt für Josef Schwaiger, der gleichfalls vorher Obmann der Landesgruppe Salzburg des eben genannten Blindenvereines gewesen sein soll.465 Bis zum Ende des Krieges blieb diese Aufteilung der Gaubünde des RBV „Ostmark“ nicht bestehen. Die Gaubünde „Oberdonau“ und Salzburg466 wurden unter der Leitung von Josef Schwaiger zusammengelegt. Der ursprünglich an die Steiermark angegliederte Gau Kärnten bekam eine eigene RBV-Vertretung mit der Bezeichnung „Gaubund für Kärnten“. Dort übernahm Rupert Molzbichler die Leitung.467 Über weitere Veränderungen ist nichts bekannt.468 Ende 1941 wurde die Abteilung „Ostmark“ des RBV aufgelöst. Die RBV-Gaubünde in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ wurden direkt der Zentrale des RBV in Berlin unterstellt. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Land Österreich seine Rechtspersönlichkeit bereits verloren. Mit dem Abschluss der Durchführung des „Ostmarkgesetztes“ vom 31. März 1940 endete diese. Die Zentralbehörden in Wien wurden liquidiert und die neuen Reichsgaue direkt den Berliner Zentralbehörden unterstellt.469 Diese Vorgehensweise wurde im Blindenwesen 1941 praktisch nachgeholt. 461 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer, Bescheid M. Abt. 2/4019/37 vom 15.7.1937. 462 Es fällt auf, dass unter den genannten Funktionären des RBV „Ostmark“ viele Musiker waren. Diese Inter­ essengemeinschaft könnte daher durchaus als Auffangbecken für illegale NSDAPler und AnhängerInnen der Nationalsozialisten unter den Blinden vor 1938 gedient haben. Zu diesem Aspekt vgl. Kapitel II.11.2. 463 Vgl. o. A., Chronik; o. A., Zur Chronik des Blindenwesen, S. 268. 464 Dass er diese Funktion vor 1938 ausgeübt hat, wird durch den Stiko-Akt des Vereins bestätigt. Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 366, Zl. 22/F, Sg. 7, Erster österreichischer Blindenverein, Landesgruppe Oberösterreich. 465 In den Akten des Stillhaltekommissars wird allerdings Otto Eberhard, ein Oberlehrer in Rente, als Leiter der Landesgruppe Salzburg des „Ersten Österreichischen Blindenvereins“ genannt. Ob Schwaiger zu dieser Zeit eine andere Funktion im Vorstand ausgeübt hat, ist nicht bekannt. Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 366, Zl. 22/F, Sg. 8, Erster Österreichischer Blindenverein, Landesgruppe Salzburg. 466 In den Akten zur Volksgesundheit des ÖStA ist nicht von einer Zusammenlegung, sondern von der Auflösung des Landesblindenvereines die Rede. Vgl. ÖStA, AdR, BM f. soz. Verw., Volksgesundheit, Kt. 2411/1939, Zl. 253114/39, Landesfürsorgeamt Salzburg an den Minister für innere und kulturelle Angelegenheiten, vom 13.2.1939, Betreff: Richtlinien für die Durchführung der Fürsorge für Körperbehinderter in der Ostmark. 467 Vgl. Binder, Organisatorisches, S. 24–25, hier S. 24. 468 Nach den Angaben von Gersdorff soll der RBV „Ostmark“ Ende 1940 sieben Gaubünde umfasst haben. Auf Grund der von mir gemachten Recherchen gab es bis 1940 nur sechs Gaubünde im RBV. Wegen der lückenhaften Quellenlage ist es aber möglich, dass es noch weitere, nicht überlieferte regionale Veränderungen im RBV gegeben hat. Unter Umständen wurde die Zusammenlegung der Gaubünde „Ober- und Niederdonau“ wieder rückgängig gemacht. Vgl. Gersdorff, Tätigkeitsbericht [1941], S. 221–229, hier S. 222. 469 Vgl. BAB, R 1401, Aktenbände 1335 und 3292; R 2, Aktenband 56.229; R 18/891, MF 1–5, zitiert in: Goldberger, „Erb- und Rassenpflege“ in Oberdonau, S. 345–366, hier S. 347. 84 Welche personellen Konsequenzen diese Vorgehensweise gehabt hat und welche Funktion der Stellvertreter Gersdorffs im RBV „Ostmark“, Otto Binder, übernommen hat, kann aus den vorliegenden Quellen nicht eruiert werden. 3.4.3 Die RBV-Gaubünde in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ Auf Grund der sehr lückenhaften Quellenlage kann nur wenig über die Vereinstätigkeit des RBV in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ gesagt werden. Die Schaffung von Arbeitsplätzen zur „Brauchbarmachung“ der Blinden hatte oberste Priorität. Der Leiter des 1939 gegründeten Gaubundes Kärnten, Rupert Molzbichler, berichtet 1944 in der RBV Zeitschrift „Die Blindenwelt“, dass in den fünf Jahren, die dieser Gaubund bestand, viele Schulungen, Umschulungen stattgefunden hatten und Arbeitsplätze vermittelt werden konnten. Einige blinde Menschen in Kärnten konnten eine Beschäftigung in der Werkstätte der Blindenschule des Gaues Kärnten finden.470 Trotzdem waren nach seinen Angaben nur die Hälfte der rund 100 Mitglieder des RBV-Gaubundes Kärnten angestellt und verfügten damit über ein eigenes Einkommen. Molzbichler deutet in seinem Beitrag an, dass die nicht „arbeitsfähigen“ blinden Menschen von den öffentlichen Behörden oft nicht ausreichend vorsorgt wurden. Um ihnen zu helfen, schlossen sich blinde Menschen angeblich selbst zusammen, um im Rahmen ihrer Möglichkeiten diese zu unterstützen.471 Einige Gaubünde des RBV in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ beschäftigten selbst blinde HandwerkerInnen in ihren eigenen Werkstätten. Diese Einrichtungen waren schon vor der NS-Zeit gegründet worden. Dazu zählte die Korbflechterei des ehemaligen „Steiermärkischen Blindenvereins“. Lorenz Prutti leitete diesen Betrieb und feierte 1941 sein 20jähriges Dienstjubiläum.472 Diese Einrichtung wurde als Zweigbetrieb des RBV angesehen. 1943 waren dort 18 Arbeiter, darunter vier Frauen, angestellt.473 Auch in Wien beschäftigte der RBV blinde HandwerkerInnen. 1938 war der Verein „Österreichische Blindenindustrie“ in den RBV zwangseingegliedert worden, der Werkstätten für blinde ArbeiterInnen betrieb.474 Der RBV unterhielt eine eigene Abteilung zur Arbeitsbeschaffung für blinde HandwerkerInnen. Unter anderem wurden Aufträge zur Produktion von Besen, Bürsten und Strickwaren von der Wehrmacht vermittelt und die Zuteilung mit Rohstoffen geregelt. 1941 bestanden im gesamten „Deutschen Reich“ nach RBV-Angaben 129 Werkstätten, die blinde Menschen beschäftigten. Davon waren 36 Einrichtungen von Blindenanstalten und Fürsorgevereinen, 27 gehörten Blindenvereinen und Genossenschaften und 66 galten als private Werkstätten. Einschließlich der Rohstoffe erzielte der RBV so 1941 nach eigenen Angaben einen Warenumsatz von 1.578.959 RM.475 470 471 472 473 474 Vgl. Molzbichler, Fünf Jahre, S. 195–197, hier S. 196. Vgl. Molzbichler, Fünf Jahre, S. 195–197, hier S. 195–196. Vgl. o. A., Zur Chronik des Blindenwesens, S. 268. Vgl. Fichtl, 20 Jahre Blindenwerkstätte, S. 211–212, hier S. 211. Vgl. Hartmann, Angliederung, S. 71–74, hier S. 72. [Bei dieser Eingliederung in den RBV gab es einen Konflikt mit dem DBV. Vgl. Kapitel II.3.2.] 475 Vgl. Gersdorff, Tätigkeitsbericht [1941], S. 221–229, hier S. 224. [1942 bekam der RBV noch eine Zweigstelle in Straßburg zugewiesen. Daher kam es zu einer Steigerung des Jahresumsatzes auf 3.629.000 RM. Vgl. Gersdorff, Bericht, [1942], S. 279–283, hier S. 280.] 85 Die Beschäftigung in anderen Berufen als den traditionellen Handwerkstätigkeiten sollte aber Priorität haben. Öffentliche und industrielle ArbeitgeberInnen hatten allerdings Vorurteile, blinde Menschen zu beschäftigen. Durch die NS-Propaganda gegen „Minderwertige“ wurde insbesondere die Leistungsfähigkeit blinder Menschen in Frage gestellt. Der RBV wirkte diesen Tendenzen im Rahmen seiner Propagandaarbeit entgegen. Beispielsweise durch die Herausgabe der Broschüre: „Der Blinde in Betrieben der Wirtschaft und Verwaltung“476 Die Zeitschrift erreichte eine Auflage von 20.000 Exemplaren. 650 verschiedene Arbeitsmöglichkeiten in unterschiedlichen Betrieben wurden dort aufgeführt.477 Mit finanziellen Mitteln der NS-Regimes wurde demnach gegen die Auswirkungen der eigenen Agitation vorgegangen. RBV-FunktionärInnen sollten diese Broschüre bei Gesprächen mit potentiellen ArbeitergeberInnen und Arbeitsämtern verwenden. Sie wurde auch in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ verbreitet, zum Beispiel durch Walther Otto Fürstenberg, dem Leiter des RBV-Gaubundes „Niederdonau“.478 Die Kontaktaufnahme der RBV-Gaubünde in der „Ostmark“ mit blinden Menschen erfolgte zum Teil persönlich, unter anderem auf dafür eingerichteten Sprechtagen. Kriegsund verkehrsbedingt war die Mobilität blinder Menschen allerdings nicht sehr hoch, weshalb auch mittels Briefverkehr kommuniziert wurde.479 In Kontakt traten die RBV-Gaubünde mit ihren Mitgliedern darüber hinaus über Rundschreiben.480 1942 wurde für die Propagandatätigkeit in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ eine eigene „Fachgruppe für Presse und Schrifttum“ eingerichtet. Der blinde „ostmärkische“ Dichter Kurt Klebert fungierte als deren Obmann.481 In kleinen Städten und Dörfern im Gau „Niederdonau“ fanden Veranstaltungen in Zusammenarbeit mit der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ statt. Im Rahmen eines so genannten „Bunten Abends“ hielt der RBV-Gaubundleiter einen Vortrag über „Die Blinden im Dienste der Volksgemeinschaft“. Danach traten blinde KünstlerInnen auf, die Gedichte vortrugen oder musizierten.482 Die Propaganda in Bezug auf „erbbiologische Fragen“ übernahm auch in der „Ostmark“ der bereits erwähnte Gesundheitsbeirat des RBV Carl Siering. Er reiste 1941 für Vorträge nach Salzburg und Innsbruck. Kriegsbedingt stellte er diese Reisen zunehmend ein, bis sie schließlich 1942 gar nicht mehr durchgeführt wurden.483 Von der Ausdehnung der Kampfhandlungen auf die „Alpen- und Donaureichsgaue“ und der Bombardierung der Städte waren auch die RBV-Einrichtungen betroffen. Bekannt ist, dass der Sitz des RBV in Wien in der Rotensterngasse durch einen Bombentreffer fast vollständig zerstört wurde.484 476 477 478 479 480 481 482 483 484 86 Anspach, Blinde in Betrieben; Vgl. Kapitel II.6.1. Vgl. Anspach, Blinde in Betrieben; Pielasch, Jaedicke, Geschichte, S. 158–159. Vgl. Fürstenberg, Blinden von Niederdonau, S. 287–289, hier S. 287. Vgl. Molzbichler, Fünf Jahre, S. 195–197, hier S. 196. Vgl. Fürstenberg, Blinden von Niederdonau, S. 287–289, hier S. 288. Im eingesehenen Quellenbestand befand sich keine Ausgabe dieser Rundschreiben. Vgl. o. A., Zur Chronik des Blindenwesens. Wien, in: Die Blindenwelt, Nr. 5, Jg. 30 (1942), S. 129. Vgl. Fürstenberg, Blinden von Niederdonau, S. 287–289, hier S. 288., Vgl. Gersdorff, Bericht [1942], S. 279–283, hier S. 280. Vgl. ÖBSV, Protokoll der konstituierenden Versammlung des Österreichischen Blindenverbandes vom 9.3.1946, S. 2; Schmid, Chronologie der Blindenselbsthilfe, S. 70–74, hier S. 72. Ab Herbst 1944 verlor der RBV in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ immer mehr an Einfluss unter den blinden Menschen. Ein Hinweis darauf ist, dass es erste Treffen von blinden Menschen in Wien gab, die über eine Neugestaltung des Blindenselbsthilfewesens nach der „Befreiung“ von der NS-Diktatur berieten. Jakob Wald berichtete auf der konstituierenden Versammlung des „Österreichischen Blindenverbandes“ am 9. März 1946, dass er und einige andere nicht näher genannte blinde Menschen sich „sofort nach der Befreiung Wiens durch die Rote Armee“485 informell in einem Verbandslokal in der „Linken Wienzeile“ als provisorische Leitung des „Österreichischen Blindenverbandes“ zusammengeschlossen und ihn zum ersten Vorsitzenden gewählt hatten.486 Weitere Aussagen über die Tätigkeiten des RBV in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ sind auf Basis des derzeitigen Quellenstandes nicht möglich. Es bleiben daher viele Fragen unbeantwortet. Wie viele Mitglieder hatte der RBV? War die Mitgliedschaft freiwillig? Wie schaute das zwischenmenschliche, gesellschaftliche Leben in den Gaubünden aus? Die Liste mit möglichen wissenschaftlichen Fragenstellungen könnte noch beliebig verlängert werden. 3.5 Der „Deutsche Blindenfürsorge-Verband“ (DBV) 3.5.1 Aufgaben und Ziele Der zweite der NSV unterstellte Dachverband, der neben dem RBV im NS-Blindenwesen tätig war, war der DBV. Alle Blindenfürsorgevereine und Blindenanstalten wurden ihm zwangsweise als Mitgliedsvereine „angeschlossen“.487 Da viele Fürsorgevereine Träger von Blindenschulen waren, zählte traditionell die Erziehung der blinden Kinder und Jugendlichen zum Aufgabenbereich der Blindenfürsorge. Die Betreuung der Jugend im nationalsozialistischen Sinn war aber wiederum eine Kernaufgabe der NSV. Maßnahmen zur Erziehung der Kinder hatten im NS-Fürsorgesystem eine Vorrangstellung. Darüber hinaus war gesetzlich festgelegt worden, dass die Unterbringung blinder Menschen in Anstalten Aufgabe der öffentlichen Hand war. Der Einfluss der Blindenfürsorgevereine und ihrer Dachorganisation, dem DBV, auf die Blindenschulen sollte daher geschwächt werden.488 Durch die Unterbringung der Geschäftsstelle des DBV in Berlin im Sitz des Hauptamtes für Volkswohlfahrt wurde gewährleistet, dass sich dieser auf das „Engste“ an die Arbeit der NSV anschloss.489 Zur Hauptaufgabe des DBV sollte die Ausbildung und Schulung der Späterblindeten werden.490 Die Mitgliedsvereine des DBV leisteten außerdem einen Beitrag zur 485 ÖBSV, Protokoll der konstituierenden Versammlung des Österreichischen Blindenverbandes vom 9.3.1946, S. 2. 486 Vgl. ÖBSV, Protokoll der konstituierenden Versammlung des Österreichischen Blindenverbandes vom 9.3.1946, S. 2. 487 Vgl. o. A., Deutsche Blindenfürsorge-Verband e. V., S. 147–148, hier S. 147. 488 Vgl. o. A., Deutsche Blindenfürsorge-Verband e. V., S. 147–148, hier S. 147. 489 Horbach, Aufgaben, S. 35–42, hier S. 36. [Horbach war selbst Direktor der Blindenschule in Düren und ab 1939 Leiter des DBV.] 490 Vgl. Horbach, Aufgaben, S. 35–42, hier S. 37. 87 NS-Propagandatätigkeit: „Die erste und grundlegendste Sorge, die die Fürsorgevereine den Blinden zuzuwenden haben, ist Erziehung und Schulung im nationalsozialistischen Geiste.“491 Ein wichtiges Thema dieser Propagandaarbeit war die so genannte „Blindheitsverhütung“492. Durch die Verbreitung von angeblichen Erkenntnissen über Ursachen von Erblindungen sollte die Zahl der so genannten „vermeidbaren Erblindungen“493 reduziert werden. Zur Verbreitung der NS-Ideologie gab der DBV die Zeitschrift „Deutsche Blindenfürsorge (Der Blindenfreund)“494 heraus. Oberste Priorität hatte beim DBV darüber hinaus auch die Schaffung von Arbeitsplätzen für blinde Menschen. Fürsorgevereine waren auf dem Gebiet der Stellen- und Arbeitsvermittlung für blinde HandwerkerInnen tätig. Das Blindenfürsorgewesen sollte seine Werkstätten für späterblindete Lehrlinge und blinde Gesellen ausbauen und durch Vermittlung von Heimarbeit, Vergrößerung der Verkaufsbetriebe eine Steigerung der Arbeitsmöglichkeiten erreichen.495 RBV und DBV hatten in diesem Bereich dasselbe Aufgabengebiet. Manche Werkstätten der Fürsorgevereine wurden, wie bereits erwähnt, sogar direkt vom RBV mit Rohstoffen versorgt. In den Aufgabengebieten gab es demnach Überschneidungen. Doppelgleisigkeiten im NS-Blindenwesen sollten abgebaut werden, was dazu führte, dass die Bedeutung des DBV und seiner Mitgliedervereine bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges kontinuierlich verringert wurde. 3.5.2 Entwicklung des DBV Ursprünglich waren im Zuge der Gleichschaltung des Blindenwesens sämtliche Blindenfürsorgevereine und -einrichtungen dem DBV „angeschlossen“ oder aufgelöst worden. Im Laufe des Jahres 1940 traten die von den preußischen Provinzen und Bezirksverbänden unterhaltenden Blindenanstalten auf Anweisung der Landeshauptleute aus dem DBV aus. Wie bereits erwähnt, wurde die Erziehung der blinden Jugend als Aufgabe der öffentlichen Fürsorge angesehen. Über die genauen Gründe für diesen Austritt werden in den Akten des DGT (Deutscher Gemeindetag) im BAB allerdings keine Angaben gemacht. Der DGT wurde aber aufgefordert, eine Arbeitsgemeinschaft zu gründen, in der die Träger „der öffentlichen Blindenanstaltspflege Gelegenheit zu einem Erfahrungsaustausch“496 bekommen sollten. Zur ersten Tagung der neu gebildeten „Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung“ am 25. Oktober 1940 in Berlin versandte der DGT in Berlin Einladungen im gesamten „Deutschen Reich“, auch an die Reichsstatthalter in den „Alpen- und Donaureichsgauen“. Hier wurden also die VertreterInnen der öffentlichen 491 492 493 494 Horbach, Aufgaben, S. 35–42, hier S. 37. Horbach, Aufgaben, S. 35–42, hier S. 36. Horbach, Aufgaben, S. 35–42, hier S. 36. Vgl. Kapitel II.1.2.3. Der „Blindenfreund“ war vor der NS-Zeit die Fachzeitschrift der deutschen BlindenlehrerInnen, die durch den „Verband Deutscher Blindenlehrer“ organisiert waren. Dieser wurde allerdings aufgelöst und seine Mitglieder wurden in den NS-Lehrerbund, Fachschaft V. eingewiesen. Die Zeitschrift konnte allerdings weiterhin herausgegeben werden, nur eben als Publikation des DBV. Vgl. hierzu Kapitel II.4.4. 495 Vgl. Horbach, Aufgaben, S. 35–42, hier S. 36–37. 496 BAB, DGT, R 36/1762, Protokoll Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung ohne Datum [1940.], [S. 1.] 88 Fürsorge, nicht der Fürsorgevereine eingeladen. An der Tagung nahmen dann schließlich auch Vertreter der Gauverwaltungen aus Wien, Graz und Salzburg teil. Sie wurden als künftige Träger der öffentlichen Blindenanstaltsfürsorge eingeladen und sollten in der Arbeitsgemeinschaft mitarbeiten, um sich mit den anfallenden Fragestellungen zu beschäftigen.497 Auch in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ war also ein Austritt der Blindenanstalten aus dem DBV geplant.498 Im Laufe der Zeit entwickelte sich die „Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung“ zu einer Konkurrenzeinrichtung zum DBV und es gab zahlreiche Überschneidungen zu den Aufgabengebieten der Fürsorgevereine. Die Ausschaltung des DBV durch die NS-Machthaber führte auch zu einer Namensänderung. Aus dem Briefkopf eines Schreibens in den Akten des DGT kann entnommen werden, dass der DBV 1941 folgendermaßen tituliert wurde: „Reichsverband deutscher Blindenfürsorge- und Blindenarbeitsfürsorge-Einrichtungen unter der Aufsicht der NSDAP, Reichsleitung, Hauptamt für Volkswohlfahrt“.499 Beeinflusst wurde die Entwicklung des DBV auch durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. 1939 war der DBV-Geschäftsführer Georg Hartmann zum Heeresdienst einberufen worden. Zum Leiter wurde daraufhin der stellvertretende Vorsitzende, Hubert Horbach, Direktor der Blindenanstalt in Düren, ernannt.500 Die Unterbringungsmöglichkeiten von blinden Menschen nach Luftangriffen sowie die Einbeziehung aller der Blindenfürsorge dienenden Einrichtungen in die Betreuung der Kriegsversehrten gehörten zu den immer wichtiger werdenden Aufgabenstellungen. Außerdem wurde die Beschaffung von Lehrmitteln für den Unterricht zunehmend schwieriger.501 Davon waren auch die noch verbleibenden Einrichtungen und Anstalten des DBV betroffen. Die Verbandsversammlungen mussten kriegsbedingt eingestellt werden. Eine Arbeitstagung des DBV, die für November 1941 in Weimar geplant war, wurde offiziell wegen Einschränkungen des Verkehrs abgesagt.502 3.5.3 Die Mitgliedsvereine des DBV in der „Ostmark“ Über die Tätigkeit des DBV und seiner Mitgliedsvereine in der „Ostmark“ konnten nur wenige Aufzeichnungen gefunden werden, weil die Vereinsakten des DBV nicht auffindbar waren. 497 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Gz. III 2512/40, Niederschrift über die erste Tagung der Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung des DGT am 25.11.1940 in Berlin, S. 2–3. 498 Hintergrund dieser Entwicklung ist die bereits in Kapitel II.2 geschilderte Tatsache, dass nun die Landesfürsorgeverbände Träger der Blindenschulen waren. Vgl. Kapitel II.2.2.1. 499 BAB, DGT, R 36/1797, DBV Geschäftsstelle Nürnberg an den DGT vom 18.10.1941, Betreff: Einladung zur Arbeitstagung am 7.11.41 in Weimar. 500 Vgl. BAB, DGT, R 36/1797, Blindenfürsorgeverband Bd. 3, 1939–1942, Der Geschäftsführer des Vereins zur Förderung der wirtschaftlichen Selbständigkeit der Blinden an den DGT, Z. III 2552/39 vom 29.11.1939, Betreff: Schreiben des DGT an den deutschen Blindenfürsorgeverband vom 10.11.1939. 501 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, AT Nr. III 719/43, DGT an die Oberpräsidenten der Provinzial- und Bezirksverbände vom 4.10.1943, Betreff: Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung. 502 Vgl. BAB, DGT, R 36/1797, Blindenfürsorgeverband B. 3, 1939–1942, Z. III 2863/41, DBV an den DGT vom 27.1.42, Betreff: Arbeitstagung am 7.11.41 in Weimar. 89 Die Blindenfürsorgevereine standen unter direkter NSV-Aufsicht. Sie waren nicht der DBV-Geschäftsstelle Berlin, sondern in erster Linie den regionalen NSV-Stellen unterstellt. Der Einfluss des DBV auf seine Mitgliedsvereine dürfte daher eher gering gewesen sein. Es ist auch nur mehr schwer nachvollziehbar, inwieweit sie beim DBV mitarbeiteten und an den Sitzungen teilnahmen. An einer Arbeitstagung im Oktober 1938 in Berlin gab es keine Beteiligung aus der „Ostmark“.503 Zu diesem Zeitpunkt war allerdings die Gleichschaltung des österreichischen Blindenfürsorgewesens noch nicht abgeschlossen. Erst von späteren Tagungen ist eine Entsendung von VertreterInnen aus der „Ostmark“ bekannt. Insgesamt wurden elf österreichische Blindenfürsorgevereine und -anstalten dem DBV formal angeschlossen.504 Demnach gab es außer in den Gauen „Niederdonau“ und Salzburg in allen späteren „Alpen- und Donaureichsgauen“ entweder einen Fürsorgeverein, eine Blindenanstalt oder beides.505 Für „Niederdonau“ dürften die Wiener Fürsorgevereine und das „Blindenerziehungsinstitut“ in der Wittelsbacherstraße 5 zuständig gewesen sein. Blinde SchülerInnen aus Salzburg besuchten die Blindenschule in Linz.506 Zu den ursprünglich zwangsweise dem DBV „angeschlossenen“ Blindenfürsorgevereinen und -anstalten gehörte auch das „Asyl für blinde Kinder“ des „Vereins von Kinderund Jugendfreunden“ in Wien. Die NSV löste diese Einrichtung daraufhin allerdings auf, da nur mehr zwei Kinder dort untergebracht waren. Sie kamen im „Blindenerziehungsinstitut“ in Wien unter.507 Auch der Verein „Österreichische Blindenindustrie“ war ursprünglich dem DBV „angeschlossen“ worden. Wie bereits erwähnt, war dieser aber aus der Blindenselbsthilfebewegung hervorgegangen. Der Stillhaltekommissar änderte daher seinen ursprünglichen Beschluss und „gliederte“ die „Österreichische Blindenindustrie“ in den RBV ein.508 Die nach diesen Entwicklungen bestehenden neun „ostmärkischen“ Blindenfürsorgevereine und -einrichtungen erschienen im Oktober 1941 in einer Mitgliederliste des DBV. Insgesamt waren dort 39 Vereine und Einrichtungen aus dem gesamten „Deutschen Reich“ aufgelistet.509 Für den Aufbau des Blindenfürsorgewesens in Österreich gab es offenbar einen „Ostmarkfonds“.510 Dieser Aspekt stand zumindest auf der Tagesordnung einer DBV-Tagung am 9. März 1940. Auf einer geplanten Tagung in Weimar, die allerdings im November 1941 503 Vgl. o. A., Bericht über die Arbeitstagung des Deutschen Blindenfürsorge-Verbandes, S. 3–5. 504 Vgl. Hartmann, Angliederung, S. 71–74, hier S. 71–72. 505 Im Ratgeber für Blinde sind noch vier Einrichtungen angegeben, von denen nicht klar ist, wie mit ihnen in der NS-Zeit verfahren wurde. Demnach gab es in Salzburg ein Blindenheim in der Müllner-Hauptstr. 56, in Wien das Blindenarbeiterheim in der Baumgartnerstr. 75–79 und das Blindenmädchenheim in der Bahnhofstr. 6 sowie die Blindenleihbücherei des Blindenerziehungsinstituts, Wittelsbacherstr. 5. Diese Fragestellung könnte eventuell durch weitere Quellenrecherchen in den diversen Landesarchiven beantwortet werden. Eine vertiefende Darstellung dieser Einrichtung hätte aber nicht dem Ziel dieser Arbeit entsprochen, einen Überblick zu geben. Vgl. o. A., Verzeichnis, in: Meurer, Ratgeber, S. 141–160, hier S. 154; ÖStA, AdR, BM. f. soz. Verw., Volksgesundheit, Kt. 2411/1939, Krüppelfürsorge. 506 Vgl. Emanuel Scheib, Stand des Blindenschulwesens in Oberdonau, in: Die deutsche Sonderschule, Nr. 8, Jg. 8 (1941), S. 438–439; Kapitel II.4.5. 507 Vgl. Hartmann, Angliederung, S. 71–74, hier S. 71. 508 Vgl. Kapitel II.3.2. 509 Vgl. BAB, DGT, R 36/1797, Blindenfürsorgeverband Bd. 3, 1939–1942, Nr. III 2758/4, DBV an den DGT, eingegangen am 23.10.1941, Betreff: Mitgliederverzeichnis Stand 23.10.1941. 510 BAB, DGT, R 36/1797, Blindenfürsorgeverband Bd. 3, 1939–1942, GZ Ha/Gr, DBV an den DGT, Betreff: Vorstandssitzung vom 4.3.1940. 90 abgesagt werden musste, hätte es auch einen Vortrag über das Blindenfürsorgewesen im Gau Wien geben sollen. Als Redner war dafür der „Parteigenosse“ und „Direktor aus Wien“ Zwierschütz511 vorgesehen.512 Die Tätigkeiten des DBV und seiner Mitgliedsvereine in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ waren darüber hinaus geprägt von einer engen Zusammenarbeit mit dem RBV. Da sich die Aufgabenbereiche der beiden regionalen Gruppen des DBV und des RBV überschnitten, kam es unter der Leitung der NSV zu Kooperationen. Auf diese Entwicklung geht das folgende Kapitel ein. 3.6 „Verein blinder Akademiker“ (VdBA) Neben den beiden großen Dachorganisationen gab es im NS-Blindenwesen noch einige wenige andere Vereine, die Sonderinteressen vertraten.513 Der wichtigste war der „Verein der blinden Akademiker Deutschlands“ (VdBA), der seinen Sitz in Marburg an der Lahn hatte und der nach dem „Anschluss“ seine Tätigkeit auf die „Ostmark“ ausdehnen sollte. An dieser Interessenvertretung beteiligten sich Kriegs- und Zivilblinde. Das war zur damaligen Zeit eine Besonderheit, da in der Regel für diese Gruppen eigene Vereine gegründet worden waren. Wegen des schweren Zugangs von Zivilblinden zu höheren Bildungseinrichtungen gab es unter ihnen nur wenige AkademikerInnen. Initiativen wie die des VdBA sollten blinden Menschen den Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen erleichtern und die schlechte Beschäftigungssituation verbessern. Auch in Österreich gab es verschiedene Bemühungen in diese Richtung. Maßgeblich waren dabei aber die Kriegsblinden, da unter ihnen die AkademikerInnenquote höher lag. Schon während des Ersten Weltkrieges richtete sich das Augenmerk der Kriegsblindenfürsorge vermehrt auf ihre akademische Ausbildung. In Marburg an der Lahn wurde deshalb 1918 die „Hochschulbücherei, Studienanstalt und Beratungsstelle für blinde Studierende e. V“ gegründet, die auch Kriegsblinde aus Österreich aufnahm und über die angeschlossene Hochschulbücherei mit studienrelevanter Literatur in Blindenschrift versorgte.514 Der VdBA war zwei Jahre zuvor vom späteren Direktor der Studienanstalt, Carl Strehl, gegründet worden. Die Unterstützung der Studienanstalt wurde zur Hauptaufgabe des Vereines, der außerdem blinden Studierenden finanzielle Beihilfen gewährte.515 511 Laut einer Auflistung aller Direktoren und Leiter des BBI in Wien war Anton Kaiser Direktor dieser Einrichtung vom 1.6.1939 bis 15.6.1945. Um welchen Direktor es sich daher bei Zwierschütz, der Vorname ist ebenfalls nicht eruierbar, gehandelt haben könnte, ist nicht bekannt. Vgl. o. A., Direktoren und Leiter, S. 115. [Eine diesbezüglich Anfrage bei Direktorin Susanne Alteneder vom BBI blieb unbeantwortet.] 512 Vgl. BAB, DGT, R 36/1797, Blindenfürsorgeverband B. 3, 1939–1942, Z. III 2863/41, DBV an den DGT vom 27.1.42, Betreff: Arbeitstagung am 7.11.41 in Weimar. 513 Eine weitere wichtige Blindenorganisation war der „Verein blinder Frauen Deutschlands e. V.“. Dieser Reichsverein war dem RBV angeschlossen und zählte Ende 1938 rund 800 Mitglieder. Blinde Frauen waren zur damaligen Zeit benachteiligt. Vor allem die Arbeitslosenquote war unter ihnen höher als bei blinden Männern. (Vgl. Kapitel II.6.1, II.10.) Der Verein war dem damaligen Zeitgeist entsprechend vor allem im Bereich der „Berufsfürsorge“ tätig und wendete sich im Besonderen an blinde Handarbeiterinnen und Maschinenstrickerinnen. Vgl. Kapitel II.6.1, II.10; o. A., Verein der blinden Frauen, S. 145–146, hier S. 145. 514 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 115–119. 515 Vgl. o. A., Verein der blinden Akademiker, S. 144–145, hier S. 144. 91 Anfang der 1930er Jahre wurde in Österreich ein Verein gegründet, der die Sonderinteressen der so genannte „blinden Geistesarbeiter“ vertrat. Im Herbst 1930 gründeten die selbst blinden F. Guggi, Karl Satzenhofer und der jüdische Jurist David Schapira516 den „Verein blinder Intellektueller Österreich“.517 Sie bezogen Geschäftsräume in der Rotensterngasse 25, dem Sitz des „Verbandes der Blindenvereine Österreichs“. Laut Statut sollte dieser Verein eng mit dem VdBA in Deutschland zusammenarbeiten.518 Allerdings beendete der Verein 1934 seine Tätigkeit aus unbekannten Gründen wieder.519 Der VdBA hatte nach der Machtübertragung an Hitler unter der Leitung von Carl Strehl als einer der ersten Vereine den „Arierparagraphen“ in seine Statuten aufgenommen und begrüßte öffentlich die Einführung des GzVeN.520 Außerdem stand der Verein mit vielen weiteren NS-Organisationen in Verbindung wie dem NS-Juristenbund, dem NS-Lehrerbund, der Reichskultur-, Reichsmusik-, Reichspresse- und Reichsschrifttumskammer durch Doppelmitgliedschaften. Durch die dem VdBA angehörenden Kriegsblinden gab es eine direkte Verbindung zur NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“.521 Die Ausdehnung der Zuständigkeit des VdBA auf die „Ostmark“ gestaltete sich allerdings zunächst schwierig. Durch die Auflösung des „Vereines blinder Intellektueller Österreichs“ gab es nach dem „Anschluss“ keine bestehenden Strukturen mehr, die der VdBA übernehmen hätte können. Zunächst war der RBV „Ostmark“ für blinde AkademikerInnen zuständig. Da der VdBA blinde AbsolventInnen höherer Schulen auch bei der Arbeitssuche unterstützte, war die Ausdehnung seiner auch auf die „Ostmark“, insbesondere auf Wien, durch die NS-Behörden erwünscht.522 Der VdBA erhielt daher Anfang 1939 die Genehmigung, seine Spendensammlung im Rahmen des NS-Sammlungsgesetzes auf die „Ostmark“ auszudehnen.523 Nach dem „Anschluss“ verstand sich der VdBA daher als „Standes- und Berufsorganisation der blinden Geistesarbeiter Großdeutschlands“.524 Eine der österreichischen blinden Menschen, die durch den VdBA unterstützt wurden, war der blinde Leopold Mayer.525 Seine Ausbildung in der Lehrerbildungsanstalt Wien für alle Unterrichtsgegenstände der Mittelschule absolvierte er mit Hilfe des VdBA und der Studienanstalt Marburg.526 516 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 92 Zu David Schapira vgl. Kapitel IV.7. Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 75. Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 5849/30, Verein blinder Intellektueller Österreichs, [1930]. Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 5849/30, Verein blinder Intellektueller an die Bundespolizeidirektion vom 30.11.1934, Betreff: Auflösung dieses Vereins. Eine ausführliche Darstellung der Geschichte des VdBA in der NS-Zeit bietet die publizierte Dissertation von Malmanesh. Vgl. Malmanesh, Blinde, S. 83, 110–131. Vgl. Geschäftsbericht des Vereins der blinden Akademiker Deutschlands e. V. Marburg-Lahn für das Jahr 1935, S. 4, zitiert in: Malmanesh, Blinde, S. 113. Vgl. ÖStA, AdR, Bürckl-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/16, GZ II/5–400.343/1938, Wiener Magistrat an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 11.1.1939, Betreff: Bewilligung zur Spendenwerbung in der Ostmark des VdBA. Vgl. ÖStA, AdR, Bürckl-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/16, GZ V W II/2/39/9165, Reichsminister des Inneren an den VdBA vom 22.2.1939, Betreff: Zum Antrag vom 22.11.1938. Vgl. Carl Strehl, Geschäftsbericht [1940]. [BAB, Reichskanzlei, R 43/4036, Spenden an Blinden- und Gehörlosenvereine]. Zu den Möglichkeiten von blinden Menschen in der NS-Zeit eine höhere Ausbildung zu absolvieren vgl. Kapitel II.6.6. Vgl. Mayer, Blinder in einer Lehrerbildungsanstalt, S. 171–178. [Digitalisierte Punktschriftausgabe im AIDOS.] Im Laufe des Zweiten Weltkrieges ging die Arbeit des VdBA für die Zivilblinden kontinuierlich zurück: Seine Tätigkeiten konzentrierten sich vermehrt auf die Kriegsblinden. Nicht nur die Betreuung der Kriegsblinden, sondern auch Finanzierungsprobleme auf Grund fehlender Spendeneinnahmen erschwerten den Ausbau der Tätigkeiten des VdBA in der „Ostmark“. Die Auswirkungen des NS-Sammlungsgesetzes und die Förderung der WHW, welche im folgenden Kapitel erläutert werden, führten beim VdBA zu gravierenden Einnahmerückgängen. Laut eigenen Angaben fehlten dem Verein durch die nicht genehmigte Winterwerbung 1938 rund 12.000 RM.527 Erst am 22. Februar 1939 erhielt der Verein die Genehmigung, in der Zeit vom 1. bis 30. April im gesamten Reichsgebiet mit Ausnahme des „Sudentenlandes“ Spendenschreiben auf dem Postweg zu versenden.528 3.7 Spendensammlungen in der NS-Zeit „[…] Entweder sind die Blinden […] arbeitsunfähig, dann ist eine Erziehung durch den Staat und durch die HJ nicht gerechtfertigt; oder die Blinden sind durchwegs leistungsfähig, dann müssen die Sammlungen zurücktreten […].“529 Auf Grund der nicht auffindbaren Vereinsakten des NS-Blindenwesens in Österreich können über die finanzielle Lage keine Aussagen gemacht werden. Klar ist aber, dass sich die Finanzierung der Vereine, die vor der NS-Zeit vor allem durch Spenden erfolgte, nach dem „Anschluss“ änderte. Vor dem Hintergrund der gravierenden Einschränkung der Sammlungsmöglichkeiten für Vereine dürfte es schwer gewesen sein, ausreichende Mittel zu lukrieren.530 Mit 10. August 1938 trat in der „Ostmark“ das „Gesetz zur Regelung der öffentlichen Sammlungen und sammlungsähnlichen Veranstaltungen“ (Sammlungsgesetz) mit der dazugehörigen Verordnung in Kraft.531 Damit wurden öffentliche Sammlungen und „sammlungsähnliche Veranstaltungen“ grundsätzlich von einer behördlichen Genehmigung abhängig. Offiziell zugelassen werden sollten nur mehr Spendenaktionen, die im Sinne der NS-Ideologie als „gemeinnützig“ und „mildtätig“ angesehen wurden.532 527 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/16, Abschrift zu V W II 11/38 9165, VdBA Vorsitzender Strehl an das R. M. d. I. vom 22.11.1938, Betreff: Sammlungs- und Werbegenehmigung. 528 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/16, V W II 2/39 9165, Abschrift RM d. I. an den VdBA vom 22.2.1939, Betreff: Zum Antrag vom 22. November 1938. 529 Bögge, Aufgabe, S. 1–7, hier S. 3. 530 Vgl. Demmel, Nacht zum Licht, S. 232. 531 Vgl. GBlÖ, Nr. 364/1938, Verordnung über die Einführung des Gesetzes zur Regelung der öffentlichen Sammlungen und sammlungsähnlichen Veranstaltungen (Sammlungsgesetz) vom 30. Juli 1938. 532 Über die Bestimmungen zum Vollzug der Verordnung über die Einführung des Sammlungsgesetzes gibt folgende Quelle Auskunft: ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 196, Zl. 4350/4, Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs an den Reichsschatzminister vom 25.7.1938, Anhang: Vollzug der Verordnung über die Einführung des Sammlungsgesetzes im Landes Österreich vom 30.7.1938, Runderlass des RM d. I. 93 Tatsächlich war dies ein wichtiges Steuerungselement zur Ausrichtung des Vereinswesens nach nationalsozialistischen Vorstellungen. Ausgenommen von der Genehmigungspflicht und den umfassenden Kontroll- und Aufsichtsmaßnahmen dieses Gesetzes waren nur Sammlungen und Veranstaltungen der NSDAP sowie ihrer Untergliederungen und angeschlossenen Verbände.533 Das Sammlungsgesetz sah aber nicht nur staatliche Aufsichts- und Kontrollbefugnisse, sondern auch Strafsanktionen bei Verstößen vor. § 13 des Sammlungsgesetzes regelte, dass ein Verstoß gegen das Sammlungsgesetz mit Gefängnis bis zu sechs Monaten und mit Geldstrafe oder mit einer dieser beiden Strafen geahndet werden konnte. Von diesen Regelungen betroffen war auch der Verein „Zentralbibliothek für Blinde in Österreich“, der nach dem „Anschluss“ im Frühsommer 1938 ein Spendenschreiben534 ohne Genehmigung versandt hatte.535 Der „Minister für innere und kulturelle Angelegenheiten“ veranlasste daraufhin eine Unterbindung der Sammlungstätigkeit.536 Die Wiener Magistratsabteilung 2 führte eine Untersuchung durch. Von einer Strafverfügung wurde allerdings mit der Begründung Abstand genommen, die eingenommenen Gelder seien nicht „missbräuchlich“ verwendet worden. Sämtliche Ausgaben des Vereinskontos erfolgten erst nach deren Genehmigung durch den kommissarischen Leiter des Blindenwesens der NSV, Gau Wien, Wilhelm Delasbe. Im Zuge der Ermittlungen wurden auch Erich Chalupka, der Leiter des Vereines bis zum „Anschluss“, und sein Nachfolger Gustav Adolf Besser, der spätere Leiter des RBVGaubundes Wien, einvernommen. Sie sagten aus, dass Spendenaufrufe nur an ehemalige Förderinnen und Förderer des Blindenwesens versandt worden seien, soweit sie der Leitung bekannt waren.537 Es handelte sich bei der betreffenden Sammlung also nur um eine Aktion mit geringer Reichweite. Das dürfte die Behörden dazu bewogen haben, von einer Strafverfolgung abzusehen. Der Verein wurde schließlich gelöscht und in den RBV „eingegliedert“. Nachdem die Gleichschaltung des Blindenwesens in Österreich abgeschlossen worden war, suchten auch die beiden großen Dachorganisationen, der DBV und der RBV, um Sammlungsgenehmigungen an. Diese wurden dann, wenn überhaupt, erst im Laufe des Jahres 1939 erteilt. Über ein Jahr hatten die Vereine der „Ostmark“ damit kein Einkommen durch Spenden, was sich auf ihre Handlungsmöglichkeiten fatal ausgewirkt haben dürfte. 533 Die Sammlungstätigkeiten dieser Organisationen wurden durch die Sammlungsordnung der NSDAP, die in Österreich am 11. Oktober 1938 in Kraft trat, geregelt. Vgl. GBlÖ, Nr.528/1938, Einführung der Sammlungsordnung der NSDAP im Lande Österreich vom 10. Oktober 1938. 534 Eine Kopie des Schreibens befindet sich im nachfolgend zitierten Akt im ÖStA. Das Schreiben ist allerdings nicht datiert, sondern enthält nur den Hinweis „Datum des Poststempels“. Beim Reichskommissar für die „Wiedervereinigung“ Österreichs mit dem Deutschen Reich ist es am 5. September 1938 eingegangen. Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 21, AZ 19, Spendenschreiben der Zentralbibliothek für Blinde in Österreich eingegangen am 5.9.1938. 535 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 196, Zl. 4351/13, GZ II/5-247.264-1938, Der Minister für innere und kulturelle Angelegenheiten an das Magistrat Wien eingegangen am 4. 11. 1938, Betreff: Übermittlung Spendenaufruf der Dr. Kal Glossy’schen Zentralbibliothek für das Blinden. 536 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 196, Zl. 4351/13, GZ II/5-261.018/1938, Der Minister für innere und kulturelle Angelegenheiten an den Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs vom 3.12.1938, Betreff: Dr. Karl Glossy’sche Zentralbibliothek für Blinde. 537 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 196, Zl. 4351/13, M. Abt. 2/9689/38, Abschrift Wiener Magistratsabteilung 2 an den Minister für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 7.1.1939, Betreff: Bericht über die Zentralbibliothek für Blinde in Österreich. 94 Der Blindenfürsorgeverein in Kärnten musste so seine regelmäßigen Unterstützungen für notleidende blinde Menschen einstellen, weil das Barvermögen des Vereins 1939 fast gänzlich aufgebraucht war.538 Zudem bekamen die Organisationen, wenn sie eine Genehmigung erhielten, nur die Erlaubnis, Personen anzuschreiben, welche die Vereine auch bisher nachweislich unterstützt haben. Die Vereine konnten daher keine neuen SpenderInnen gewinnen. Nicht mit einbezogen werden durften die Behörden des „Deutschen Reichs“, der Länder, der Gemeinden, Gemeindeverbände sowie deren LeiterInnen. Wenn ein Unternehmen der deutschen Wirtschaft sich auf eine Beteiligung an der „Adolf-Hitler-Spende“ berief, dann musste auch bei diesem die Spendenwerbung eingestellt werden.539 Dabei handelte es sich um eine 1933 eingeführte jährliche Zwangsabgabe von Betrieben an die NSDAP, berechnet nach der Lohn- und Gehaltssumme. In der Folge wurde die Zahl der FörderInnen der Vereine immer geringer. Wenn keine neuen UnterstützerInnen dazu gewonnen werden durften, dann konnte die natürliche Reduzierung des Kreises der SpenderInnen durch Todesfälle und Einstellungen der Spendentätigkeit aus den diversesten Gründen nicht ausgeglichen werden. Hinzu kam noch, dass die Organisationen mit dem WHW konkurrieren mussten, das im „Dritten Reich“ unter Aufwendung zahlreicher propagandistischer Mittel beworben wurde. Die beträchtlichen Einnahmen setzten sich aus Beiträgen von Firmen und Organisationen, aus Erlösen von Haus- und Straßensammlungen sowie Lohn- und Gehaltsbezügen zusammen. Die Spenden für das WHW wurden allerdings nicht immer „freiwillig“ geleistet. Wer nicht spendete, galt als „Volksfeind“ und war erheblichen Repressionen ausgesetzt.540 1939 befanden sich die Blindenselbsthilfe und -fürsorgevereine demnach in einer finanziell sehr angespannten Lage. Trotzdem erhielt der DBV am 17. Mai 1939 die Genehmigung, eine Sammlung durch Postversand lediglich im „Altreich“ durchzuführen. Dagegen legte der DBV beim „Reichsminister des Inneren“ Einspruch ein und bat um die Genehmigungserteilung auch für die „ostmärkischen“ Fürsorgeeinrichtungen. Diese wurde am 8. August 1939 erteilt. Vorher hatten die zuständigen Stellen allerdings bei allen Landeshauptmannschaften Erkundigungen eingeholt.541 Die zuständige Behörde aus „Oberdonau“ sprach sich dabei gegen eine Ausdehnung der Sammlungsgenehmigung des DBV aus, unter anderem mit der Begründung, dass der damaligen Gesetzgebung entsprechend die „Befürsorgung“542 blinder Menschen Pflichtaufgabe der öffentlichen Behörden sei. „[…] Almosenleistungen der Systemzeit bei einer derartigen Anstalt [müssen] endgiltig [sic!] überwunden sein […].“543 538 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, Zl. 6827, Landeshauptmannschaft Kärnten an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 30.6.1939, Betreff: DBV, Genehmigung zur Sammlung. 539 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, Sammlung DBV [Enthält auch Schreiben des RBV]. 540 Vgl. A. Behrens, Faschismus und Ideologie. 1 und 2, Berlin-West 1980 b, S. 207ff, zitiert in: Jantzen, Sozialgeschichte, S. 143–144. 541 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, Betreff: Sammlung DBV. Das Schreiben der Landeshauptmannschaft Tirol und Vorarlberg, wo ebenfalls eine Blindenschule bestanden hatte, ist in diesem Akt nicht überliefert. Vgl. weiterführend Kapitel II.4.5, II.4.5.3. 542 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, E/I Zl. 4460/4-39, Abschrift, Landeshauptmannschaft Oberdonau an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 20.7.1939, Betreff: Genehmigung zur Sammlung und Werbetätigkeit. 543 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, E/I Zl. 4460/4-39, Abschrift, Landeshauptmannschaft Oberdonau an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 20.7.1939, Betreff: Genehmigung zur Sammlung und Werbetätigkeit. 95 Das Versenden von Spendenschreiben in der „Ostmark“ stieß offenbar auf Unverständnis. Diese Annahme bestätigt sich durch die Akten zur Sammlungsgenehmigung des RBV im ÖStA. Dieser hatte bereits am 26. Mai 1939 die Erlaubnis bekommen, seine für das „Altreich“ genehmigte Sammlung zwischen dem 1. Mai und 30. Juni 1939 auf die „Ostmark“ auszudehnen, mit der Auflage, die Reingewinne in diesen Gauen auch ausschließlich dort zu verwenden.544 Das galt auch für den Vertrieb des RBV-„Blindenfreund-Kalenders 1940“. Bei seinem Ansuchen war der RBV sogar von der NSDAP Reichsleitung Berlin unterstützt worden.545 Das daraufhin im Juni 1939 versendete Spendenschreiben des RBV befindet sich im hier zitierten Akt im ÖStA. Ein anonymer Absender hatte es mit dem Vermerk „Ist Bettlerei im 3ten Reich möglich ?????? [sic!]“546 versehen. Durch die NS-Propaganda, die ja versprochen hatte, die Not des „Volkes“ zu beenden und blinde „Volksgenossen“ dazu zu befähigen, sich selbst zu helfen, kam es, dass Genehmigungen von „Bettelbriefen“ für Unverständnis in der Bevölkerung sorgten. Die Hintergründe und Ursachen für dieses Spannungsfeld können in dieser Arbeit allerdings nicht dargestellt werden und bedürfen einer weitergehenden Analyse. Nicht bekannt ist, wie hoch die Spendeneinnahmen durch die 1939 genehmigten Sammlungsschreiben waren. Die hier aufgezeigte Entwicklung zeigt aber, dass in der NS-Zeit die Vereine im Blindenwesen nur eingeschränkt Spendenmittel erhalten konnten. Nur durch Genehmigung und ausschließlich auf schriftlichem Weg, zeitlich auf einen bestimmten Adressatenkreis beschränkt, durften Spenden lukriert werden. Die Blindenselbsthilfevereine hatten dabei gegenüber der Blindenfürsorge bessere Möglichkeiten, weil ihnen auch der Vertrieb des „Blindenfreund-Kalenders“ erlaubt worden war. 544 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, V W II 7.39-9160, Abschrift, RM d. I. an den RBV Berlin vom 26.5.1939, Betreff: Zum Antrag vom 11.4.1939. 545 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, Abschrift zu V W II 6/39/19160, NSDAP Reichsleitung an den RM d. I. vom 29.4.1939, Betreff: Antrag des RBV auf Ausdehnung der ihm für das Altreich bereits erteilten Genehmigung zur schriftlichen Mittelwerbung. 546 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, Anonymer Hinweis angebracht an Spendenschreiben des RBV vom Juni 1939. 96 4.Blindenschulen „Ich erinnerte mich an meine Schulzeit, in der ich im Jahre 1936 […] im Sprechchor sagen mußte […]: ‚Blind sein heißt kämpfen!‘“547 4.1 Rahmenbedingungen Zwischen 1938 und 1945 kam es zu einer völligen Umgestaltung des Blindenschulwesens.548 Die einzige Erziehungs- und Ausbildungsanstalt für blinde Menschen jüdischer Herkunft in Europa, das „Israelitische Blindeninstitut“ auf der Hohen Warte in Wien, wurde nach dem „Anschluss“ schrittweise aufgelöst.549 Die anderen Blindenschulen der „Ostmark“ blieben zwar bestehen, aber es kam zu einer neuen Ausrichtung der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik in der „Ostmark“. Bis 1939 war das Blindenschulwesen österreichweit nicht einheitlich geregelt. Vor dem „Anschluss“ hatte es nur eine Landesblindenschule, die bereits erwähnte Einrichtung in Kärnten, gegeben.550 Das Wiener „Blindenerziehungsinstitut“ war eine staatliche Einrichtung, als Träger trat das Land Österreich auf.551 Die anderen bestehenden Schulen in Graz, Innsbruck und Linz sowie das „Israelitische Blindeninstitut“ finanzierten sich durch Spenden und gegebenenfalls öffentliche Förderungen sowie durch die Unterstützung der ihnen zugehörigen Blindenfürsorgeverbände. Nach dem „Anschluss“ war die Erhaltung der Blindenschulen dann, wie bereits erwähnt, Aufgabe der Landesfürsorgeverbände.552 Vor 1939 gab es außerdem keinen Zwang, blinde Kinder in einer Blindenanstalt auszubilden.553 Die Einführung eines entsprechenden Gesetzes gehörte aber zu den Anliegen der BlindenlehrerInnenschaft in der Zwischenkriegszeit. Sie forderten auch eine einheitliche gesetzliche Regelung für ganz Österreich. Darüber berichtete der Direktor des „Israelitischen Blindeninstituts Hohe Warte“, Siegfried Altmann, 1930 in einem Aufsatz.554 Durch 547 Schulze, Standardwerk zum Blindenwesen in Deutschland [= Ausgabe Horus Nr. 2/1996]. [Schulze erzählte hier von seinem Besuch als blinder Schüler der Feier zum 15-jährigen Bestehen des Westfälischen Blindenvereins 1936.] 548 Zum Schulwesen in Österreich in der NS-Zeit vgl. dazu auch die Literaturangaben folgender Werke: Herbert Dachs, Schule in der „Ostmark, S. 446–466; Schreiber, Schule in Tirol und Vorarlberg; Kraftschik, Schule, Unterricht und Erziehung im Nationalsozialismus; Unterthiner, nationalsozialistische Schulwesen; Kriechbauer, Kruckenkreuz und Hakenkreuz; Cerwenka, Erziehung und Schule in „Oberdonau“. 549 Vgl. Kapitel IV.5.3. 550 Neben dem Landesblindenheim in Salzburg Mülln gab es ansonsten keine weitere Blindeneinrichtung, die nur aus Staats-, Landes- oder Gemeindemitteln finanziert wurde. Das Heim in Salzburg verfügte über 30 Betten und war Anfang 1939 voll belegt. Vgl. Altmann, Blindenwesen, S. 146–162, hier S. 158; ÖStA, AdR, BM f. soz. Verw., Volksgesundheit, Kt. 2411, Zl. 410/T. L. F. A., Landesfürsorgeamt Salzburg an den Minister für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 13.2.1939, Betreff: Richtlinien für die Durchführung der Fürsorge für Körperbehinderte in der Ostmark. 551 Vgl. Strehl, Schulische, berufliche und nachgehende Fürsorge, S. 76. 552 Vgl. Kapitel II.2.2.1. 553 Für die Schulpflicht in Österreich gab es keine expliziten Regelungen. Die Schul- und Unterrichtsordnung vom 29. September 1905, die einen allgemeinen Unterrichtszwang vorsah, wurde sinngemäß auch für blinde Kinder ausgelegt. Vgl. Altmann, Blindenwesen, S. 146–162, hier S. 158. 554 Vgl. Altmann, Blindenwesen, S. 146–162, hier S. 159. 97 das Reichsschulpflichtgesetz der NS-Regierung wurden diese Forderungen dann umgesetzt. Zwischen den nationalsozialistischen Vorstellung und denen der BlindenlehrerInnenschaft aus der Zeit vor 1938 gab es also gewisse Überschneidungen. Das hat die Akzeptanz der NS-Maßnahmen beeinflusst. Das Reichsschulpflichtgesetz555 und die dazugehörige Durchführungsverordnung556 traten am 1. August 1939 in der „Ostmark“ in Kraft.557 Das Reichsschulpflichtgesetz schrieb in den §§ 6 und 7 vor, dass geistig und körperlich behinderte Kinder zum Besuch einer entsprechenden Sonder- oder Hilfsschule verpflichtet waren. Dabei sollte offenbar vermieden werden, Blindenanstalten direkt als Sonder- oder Hilfsschule zu titulieren. Blindenschulen galten wie Gehörlosenschulen und „Krüppelschulen“ als Sonderschulen im „engeren Sinn“.558 Diese begrifflichen Feinheiten verfolgten das Ziel, eine gewisse Unterscheidung der Blindenanstalten von den Einrichtungen für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen zu erreichen. Blinde, körperbehinderte und gehörlose Menschen hatten in der NS-Zeit eine andere Stellung, weil sie als „arbeitsfähig“ und damit als „ noch brauchbar“ galten.559 Das Reichsschulpflichtgesetz sah auch eine Sonderregelung für blinde und „taubstumme“ Kinder vor. Ihre Schulpflicht konnte unter Umständen um bis zu drei Jahre verlängert werden, wenn die betreffenden SchülerInnen das Lernziel in der Regelschulzeit von acht Jahren nicht erreicht hatten.560 Per Runderlass vom 19. Mai 1939 erfolgte die reichseinheitliche Bestimmung, Blindenanstalten in „Blindenschulen“ gegebenenfalls mit dem Zusatz „mit Heim“ umzubenennen.561 Die Bestimmungen der Schulpflicht für Kinder mit einer Behinderung sollten in der Folge allerdings noch weitergehend reichseinheitlich geregelt werden. Dies legte die „Erste Verordnung zur Durchführung des Reichsschulpflichtgesetzes“ vom 7. März 1939, die gleichzeitig mit dem Reichsschulpflichtgesetz in der „Ostmark“ in Kraft getreten war, fest. Diese Pläne setzte allerdings erst am 18. Februar 1942 ein Runderlass des „Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ um: „Die Umsetzung dieser lange erwarteten Regelung war jedoch durch den Krieg äußerst schwierig, wenn nicht gänzlich unmöglich.“ 562 Dieser Runderlass führte 1942 detailliert aus, was bereits in der Gesetzgebung vorgesehen war: Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung galten als „belastende“ und „hemmende Faktoren“ des Volksschulunterrichts. Laut der Gesetzgebung war daher ein „separater“ Schulbesuch notwendig.563 Den Zwang zum Besuch einer Sonderschule für 555 Vgl. [D] RBGl., Teil I, Nr. 105/1938, Gesetz über die Schulpflicht im Deutschen Reich (Reichsschulpflichtgesetz) vom 6. Juli 1938, S. 799–801. 556 Vgl. GBlÖ Nr. 982/1939, Erste Verordnung zu Durchführung des Reichsschulpflichtgesetzes vom 7. März 1939 [(D) RGBl., Teil I, 1938, ab S. 438]. 557 Vgl. GBlÖ, Nr. 982/1939, Verordnung zur Einführung des Reichschulpflichtgesetzes vom 25. Juli 1939. 558 Vgl. Benze, Erziehung im Großdeutschen Reich, S. 28; Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 19. [Das Manuskript dieser schriftlichen Hausarbeit ist nicht veröffentlicht worden, weil das Werk unautorisierte Zitate von Betroffenen enthält, die nach erfolgter Zustimmung zum Interview die Veröffentlichung der Passagen untersagt haben. Diese Arbeit ist allerdings im AIDOS in Marburg/Lahn unter Berücksichtigung dieses Aspektes einsehbar.] 559 Vgl. Keim, Erziehung, S. 113. 560 Vgl. Reichsschulpflichtgesetz § 6.4 [Zitiert a. a. O.]. 561 Vgl. Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 33. 562 Fricke-Finkelnburg, Nationalsozialismus und Schule, S. 134; Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 18. 563 Vgl. Fuchs, „Körperbehinderte“, S. 132; Vgl. Deutsch. Wiss. Erziehg. Volksbild. 1942, S. 108, NHr. 163, Überweisung von Kindern an die Hilfsschulen, Sehschwachen-, Schwerhörigen- und Sprachheilschulen 98 blinde SchülerInnen beschönigten die NS-Behörden als „kostenlosen Pflichtbesuch“564. In erster Linie war er aber mit Hinblick auf die SchülerInnen ohne eine Behinderung erlassen worden.565 Hinter diesen Sonderbestimmungen stand die Auffassung, Blindenschulen seien die geeignetste Einrichtung, blinde SchülerInnen so zu erziehen, dass sie ihren Lebensunterhalt später selbst bestreiten konnten.566 Hauptziel des Unterrichts für blinde, gehörlose und körperlich behinderte Kinder war daher die so genannte „Berufsbefähigung“.567 Blinde Kinder, die auf Grund einer weiteren Beeinträchtigung, wie zum Beispiel einer kognitiven, als nicht „arbeitsfähig“ galten, sollten nicht mehr mit anderen blinden Schü­lerIn­ nen an Blindenschulen unterrichtet werden. Das galt ebenso für die taubblinden Kinder, die häufig Blindenschulen besuchten. Im „Altreich“ war dafür ein eigenes Taubblindenheim in Berlin zuständig, welche Einrichtung in der „Ostmark“ diese Aufgabe übernehmen sollte, ist nicht bekannt.568 Genauso wurden sehbehinderte Kinder, deren Sehrest zum Lesen und Schreiben ausreichte, vom Unterricht an den Blindenschulen ausgeschlossen, da die NS-Behörden fürchteten, ein Besuch dieser Schulen würde ihre Berufsmöglichkeiten mindern.569 Sie sollten Volksschulen besuchen, zu denen Sonderschulen für Kinder mit leichten Behinderungen gehörten. Dazu zählten Schwerhörigen-, Sehschwachen- und „Sprachheilschulen“.570 Das Reichsschulpflichtgesetz führte darüber hinaus die Berufsschulpflicht ein. Diese galt auch für blinde Jugendliche. Für sie kam dabei in erster Linie eine Lehre in Betracht. Der Besuch weiterführender, höherer Schulen war ihnen nur erschwert möglich.571 4.2 Unterricht und Leitbilder Als einzige Primärquelle572 zum Unterricht an den Blindenschulen in der „Ostmark“ kann ein Klassenbuch aus dem Schuljahr 1941/42 der Berufsschule für Blinde in Graz 564 565 566 567 568 569 570 571 572 vom 14.3.1942, EII a C 3 – 6/42, zitiert in: Fricke-Finkelnburg, Nationalsozialismus und Schule, S. 132; Schreiber, Schule in Tirol, S. 119. Benze, Erziehung, S. 28. Vgl. Klee, Der blinde Fleck. Vgl. u. a. Esser, Bild des blinden Menschen, S. 61–62; Keim, Erziehung, S. 113; Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 19; Grasemann, Blindenschulen und Hilfsmittel, S. 16–22, hier S. 16. Benze, Erziehung, S. 28. Vgl. Grasemann, Blindenschulen, S. 16–22, hier S. 18 und S. 22. Vgl. Grasemann, Blindenschulen, S. 16–22, hier S. 18. Vgl. Benze, Erziehung, S. 28; Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 19; Strehl, Schulische, berufliche und nachgehende Fürsorge, S. 25. Vgl. Kapitel II.6.6. In dieser Studie soll nur ein Überblick über das Blindenschulwesen in der „Ostmark“ gegeben werden. Weiterführende Quellenbestände vgl. u. a. StLA, LReg, Pol.V-Ga 25-2902/1940, Odilien-Blindenverein Graz; TLA, Amt der Tiroler Landesregierung, Abteilung Bildung, Personalakten Reihe 1, Nr. 260 [Karton 6], Anton Berchtold, geb. 8.11.1910; WStLA, Schulverwaltung, Stadtschulrat (Landesschulrat) 1871–1955, B 2: Geschäftsprotokoll: Index 1938–1945. Für die Blindenschule in Innsbruck war primär nicht der Landesschulrat als Schulbehörde zuständig, sondern der Oberbürgermeister der Gauhauptstadt Innsbruck als Bezirksverwaltungsbehörde für den Stadtkreis Innsbruck (Abteilung II: Schul- und Kulturamt). Die Bestände sind im Stadtarchiv – Stadtmuseum Innsbruck verwahrt. Zu Personalakten und NS-Mitgliedschaften des Wiener Lehrpersonals: WStLA, M. Abt. 202, A 5: Personalakten 1. Reihe 1920–1973; 99 herangezogen werden.573 Diese Berufsschule war Teil der vor der NS-Zeit als „OdilienBlindenanstalt“ bekannten Einrichtung in der Leonhardstraße. In dem vorliegenden Klassenbuch wurde der Stundenplan der „allgemein-gewerblich fachlichen Fortbildungsschule“ festgehalten. Neben den Unterrichtsgegenständen, welche für die berufliche Qualifikation notwendig waren, wie zum Beispiel gewerbliches Rechnen und Kalkulation, enthielt der Stundenplan „Reichskunde“, „Anstandslehre“ sowie „Gesundheitslehre“. Die letzten drei Fächer unterrichtete der Direktor der Grazer Einrichtung, Ernst Kortschak. Ebenfalls Teil des Lehrplanes war die „körperliche Ertüchtigung“574 sowie der Besuch der Lehrwerkstätte. Damit entsprach der Lehrplan dem damaligen Zeitgeist: „Sport“ und „Werken“ galt als wichtigstes Prinzip der Hilfsschulerziehung.575 Wie viele SchülerInnen diese Klasse besucht haben, ist nicht bekannt. Zwar lässt die Quelle eine tiefergehende Analyse nicht zu, aber es können doch verschiedene Merkmale des Unterrichts und der Leitbilder an Blindenschulen in der NS-Zeit aufgezeigt werden.576 Zum Beispiel wird deutlich, dass die Erziehung im nationalsozialistischen „Geist“ neben der „Berufsbefähigung“ das wichtigste Lernziel darstellte.577 Der Stundenplan enthielt daher Fächer, in denen nationalsozialistische Ideologien vermittelt wurden.578 Außerdem reichte es in der NS-Zeit nicht aus, blinde Menschen für einen späteren Beruf auszubilden. Es sollte darüber hinaus eine „Leistungssteigerung“579 erzielt werden. Was darunter verstanden wurde, zeigen die Vorgaben für die Ausbildung von StenotypistInnen. Da bei blinden Menschen beim Übertragen der Stenogramme durch das Lesen der Blindenschrift mit der Hand ein Zeitverlust gegenüber den sehenden StenotypistInnen unvermeidbar war, sollten blinde SchülerInnen dazu befähigt werden, dies durch eine schnellere Übertragung auszugleichen. Blinde Menschen, die dazu nicht in der Lage waren, sollten nicht zum StenotypistInnenberuf zugelassen werden.580 Der Leistungsdruck auf blinde SchülerInnen dürfte dementsprechend hoch gewesen sein. Um die körperlichen Fähigkeiten der blinden SchülerInnen zu verbessern, stieg auch die Bedeutung des Sportunterrichts. Diese Entwicklung war aber nicht nur bedingt durch 573 574 575 576 577 578 579 580 100 WStLA, M. Abt. 119, A 42: NS-Registrierung 1945–1957; WStLA NSDAP Wien, „Gauakten“, A 1: „Gauakten“ Personalakten des Gaues Wien, 1932–1955 und K 1: Kartei zu den „Gauakten“ 1945–1955. Vergleichbare Recherchen sind auch im StLA, TLA und gegebenenfalls im Stadtarchiv Innsbruck möglich. Vgl. Archiv Odidilieninstitut Graz, Allgemein-gewerbliche Fachliche Fortbildungsschule für Blinde in Graz, Klassenbuch und Nachweisung über den täglich durchgenommenen Lehrstoff, 2. Klasse für Blinde, Schuljahr 1941/42. Kapitel II.7. Vgl. Fricke-Finkelnburg, Nationalsozialismus und Schule, S. 135. In der Bibliographie zum Sehgeschädigtenwesen 1933–1945 von Klaas Dierks befinden sich weiterführende Literatur- und Quellenverweise zu dem Aspekt „Erziehung und Unterricht sehgeschädigter Menschen“: vgl. Dierks, Sehgeschädigte Menschen im Nationalsozialismus, S. 238–239. Vgl. Esser, Bild des blinden Menschen, S. 58; Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 14. Grasemann, Blindenschulen, S. 16–22, hier S. 18–19. Leistung war ein rassisch definiertes NS-Schlagwort. Überwiegend wurden damit die Maßnahmen zur Produktionssteigerung im Rahmen des Vierjahresplanes bezeichnet. Vgl. Heinz Paechter in Association with Bertha Hellmann, Hewig Paechter, Karl O. Paetel, Nazi-Deutsch. A Glossary of Contemporary German Usage with Appendices on Government, Military und Economic Institutions, New York 1944, zitiert in: Schmitz-Berning, Vokabular, S. 384. Manfred Seipt behandelt den Leistungsbegriff im Nationalsozialismus in seiner Diplomarbeit in einem eigenen Kapitel. Vgl. Seipt, Arbeit im Nationalsozialismus, S. 80–87. O. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 29. die Vorgaben der nationalsozialistischen Führung. Der Blindenlehrer Friedrich Benesch, der 2004 in der Festschrift zum 200-jährigen Bestehen des BBI einen Aufsatz über die Geschichte der Blindenpädagogik verfasste, gibt an, dass schon in den 1930er Jahren der „Arbeitsschulgedanke“581 ausgebaut worden war. Mit Hinblick auf eine Verbesserung der späteren Erwerbsmöglichkeiten sollte die Selbständigkeit der blinden SchülerInnen durch Sport gefördert werden. Am „Blindenerziehungsinstitut“ in Wien wurde dementsprechend der Schwimmunterricht obligatorisch eingeführt. Das galt allerdings nur für die Sommermonate, da für die Hallenbäder das notwendige Eintrittsgeld nicht aufgebracht und daher nur die Freibäder aufgesucht werden konnten.582 Ab 1938 rückte die „körperliche Ertüchtigung“ dann in den „Vordergrund aller pädagogischen Bemühungen“583. Teil des Sportunterrichts waren ab dann auch „exerzierähnliche Übungen“584. Der Unterricht an den Blindenschulen zwischen 1938 bis 1945 war darüber hinaus geprägt von Einsparungen. Um die Kosten so gering wie möglich zu halten, wurde den LeiterInnen der Blindenschulen vorgegeben, ihre Einrichtungen „einfach“585 zu halten. Die Qualität des Unterrichts war dabei sekundär. Vor allem bei der Anschaffung von Unterrichtsmaterialien sollte gespart werden. Da die Herstellung von Schulbüchern in Blindenschrift aufwändig war, musste vor einer Übertragung der „Nationalsozialistische Lehrerbund e. V.“ (NSLB) Fachschaft V586, die Zustimmung dazu geben.587 Die NS-Behörden rechneten allerdings auch ohne solche Einsparungsmaßnahmen mit einer Verringerung der Ausgaben, da sie einen Rückgang der Anzahl von blinden SchülerInnen erwarteten.588 Durch den Geburtenrückgang sowie sanitäre und gesundheitspolitische Maßnahmen zur Reduzierung der als vermeidbar geltenden Erblindungsursachen, wie zum Beispiel die „Bekämpfung“ der Geschlechtskrankheiten,589 nahm die NS-Verwaltung an, die Ursachen von Erblindungen würden sich reduzieren. Die Anzahl der Kinder mit erblich bedingten Erblindungen sollte sich zudem durch das GzVeN verringern.590 Nach diesen Erwartungen wären die Klassen an den Blinden- und Gehörlosenschulen zukünftig nur mehr gering besetzt gewesen. In der Folge war daher die Zusammenlegung von Einrichtungen beabsichtigt. Die Ausarbeitung eines konkreten Plans wurde vom „Reichsminister des Inneren“ allerdings auf die Zeit nach dem Krieg verschoben.591 Die Durchführung des Unterrichts wurde durch die Mobilmachung im Zuge des Zweiten Weltkrieges beeinträchtigt. Die Blindenlehrer wurden zum Dienst in der Wehrmacht eingezogen und leisteten diesen zum Teil in den Sammellazaretten für Kriegsblinde, die im ganzen „Deutschen Reich“ eingerichtet wurden. Auf Bestrebungen des 581 Benesch, Wege und Irrwege, S. 11–43, hier S. 38. 582 Vgl. Auguste Janda, Die körperliche Erziehung in der Blindenanstalt, in: Zeitschrift für das österreichische Blindenwesen Nr. 5/6, Jg. 17 (1930), S. 41ff, zitiert in: Benesch, Wege und Irrwege, S. 11–43, hier S. 37. 583 Benesch, Wege und Irrwege, S. 11–43, hier S. 38. 584 Benesch, Wege und Irrwege, S. 11–43, hier S. 38. 585 O. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 29. 586 Auf diese Organisation wird im folgenden Kapitel eingegangen. 587 Vgl. o. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 25. 588 Vgl. Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 2. 589 Vgl. Kapitel II.1.2.1 und II.1.2.3. 590 Vgl. BAB, DGT, R 36/1814, Reorganisation der Taubstummen- und Blindenanstalten, Nr. 3586, Abschrift RM d. I. an DGT vom 21.6.1937, Betreff: Einrichtung der Taubstummen und Blindenanstalten. 591 Vgl. o. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 12. 101 Oberpräsidenten des Provinzialverbandes Sachsen 1943 sollten diejenigen der Jahrgänge 1900 und jüngere allerdings an die Front versetzt werden.592 Als Ersatz sollten vermehrt diejenigen LehrerInnen herangezogen werden, die für den Wehrdienst nicht geeigneten waren, wozu ältere Personen oder selbst blinde PädagogInnen zählten. Dementsprechend dürften im Laufe des Krieges noch mehr LehrerInnen der Blindenschule mit der zusätzlichen Aufgabe der Rehabilitation der Kriegsblinden betraut worden sein. Es ist bekannt, dass ein Lehrer der Blindenschule in Wien, Karl Trapny, im Reservelazarett für Kriegsblinde in Wien-Neuwaldegg arbeitete. Er nahm allerdings eine Sonderrolle ein, wie der Aufstellung im BAB entnommen werden kann: Als einziger der dort aufgelisteten Lehrer stand bei ihm der Vermerk: „uk“ [unabkömmlich] „gestellt“, und dass er in ziviler Kleidung arbeitete.593 Die personellen Kapazitäten für Zivilblinde wurden weiter dadurch eingeschränkt, dass die Kriegsblinden an den Schulen in Graz und Wien an den dortigen Berufsausbildungskursen teilnahmen. Der Unterricht für die zivilblinden Kinder und Jugendlichen dürfte unter diesen Voraussetzungen im Laufe des Zweiten Weltkrieges immer mehr eingeschränkt worden sein. 4.3 Die Blindenschule und ihr Beitrag zur NS-Eugenik und Rassenhygiene Zu den Lernzielen der Blindenschule594 unter dem NS-Regime gehörte ebenfalls die Erziehung zur „Opferbereitschaft“595 im Sinne des GzVeN:596 „Opferbereitschaft meinte in diesem Zusammenhang die Bereitschaft, sich zum Wohl von Staat und Gesellschaft unfruchtbar machen zu lassen.“597 Dies sollte durch den Unterricht von „Vererbungslehre“, „Familienkunde“, „Rassenkunde“ und „Rassenpflege“ erreicht werden. An den Blindenschulen setzten die LehrerInnen dafür Unterrichtsmaterialien ein, welche den blinden SchülerInnen die NS-Rassenlehre598 anschaulich vermitteln konnten: Tastbare Kopfmodelle in natürlicher Größe, Halbreliefs und tastbare Zeichnungen galten beispielsweise als geeignete Mittel für diese Zwecke.599 592 Vgl. BAB, DGT, R 36/1803, Bildungswesen für Blinde, GZ II 1.1.6.3, Oberpräsident Provinzialverband Merseburg an den DGT (Nr. 1156/43) vom 30.10.1943, Betreff: Schulung Kriegsblinder dieses Krieges durch ältere Jahrgänge der Blindenlehrer. 593 Vgl. BAB, DGT, R 36/1803, Bildungswesen für Blinde, GZ II 1.1.6.3, Oberpräsident Provinzialverband Merseburg an den DGT (Nr. 1156/43) vom 30.10.1943, Betreff: Schulung Kriegsblinder dieses Krieges durch ältere Jahrgänge der Blindenlehrer; Kapitel III.4.2.1. 594 Auf den Aspekt „Rassenhygiene und Erziehung“ kann hier nur in Bezug auf die Blindenschulen eingegangen werden. Wie sich die rassenhygienischen Theorien auf die Erziehungswissenschaft auswirkten, wurde u. a. in folgender Studie untersucht: Harten, Neirich, Schwerendt, Rassenhygiene als Erziehungsideologie. 595 Lorenschat, Sterilisation Behinderter, S. 104. 596 Vgl. o. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 75. 597 Lorenschat, Sterilisation Behinderter, S. 104. 598 Weiterführende Literatur zur praktischen Durchführung der nationalsozialistischen Rassentheorie an den Blindenschulen: P. Friedrichkeit, Die Blindenschule im Dritten Reich, Wiss. Hausarbeit [Manuskript], Rodenberg 1974, S. 59ff, zitiert in: Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 36. 599 Vgl. Benke, Zur Ausstellung, S. 123–126, hier S. 125; Hildebrand, Rassenkunde in der Blindenschule, S. 942–947. 102 Abb. 04, 05 und 06: Tastbare „Rassenköpfe“ für den Unterricht an Blindenschulen. Abb. 04: „Dinarischer Kopf.“ / Abb. 05: „Kopf eines Negers.“ / Abb. 06: „Nordischer Kopf.“ Eine wichtige Rolle spielten dabei die BlindenlehrerInnen.600 Der Beitrag der Blindenschulen zum GzVeN ging aber über rein erzieherische Maßnahmen weit hinaus. Sie waren auch an der „erbbiologischen Bestandsaufnahme“ der Bevölkerung beteiligt.601 Die SchülerInnen der Hilfs- und Sonderschulen der „Ostmark“ sollten erfasst werden, um sie gegebenenfalls späteren eugenischen Zwangsmaßnahmen zuführen zu können.602 Mit den „Richtlinien für die Durchführung der Erbbestandsaufnahme“ vom 23. März 1938 erfolgte der letzte Schritt zu einer im ganzen Reich einheitlichen Karteiführung. Die Abteilung „Erb- und Rassenpflege“ des Wiener Hauptgesundheitsamtes nahm im Februar 1939 die Arbeit dafür auf. Allein in Wien konnten mehr als 700.000 Karteikarten mit erbbiologischen Informationen zusammengetragen werden. Damit verfügte das Wiener Gesundheitsamt über eine der größten Erbkarteien des „Dritten Reiches“.603 Die Informationen für dieses Register stammten unter anderen von den Blindenanstalten.604 Dementsprechend hat ebenfalls die „städtische Blindenschule mit Heim“ in Wien, 605 wie das „Blindenerziehungsinstitut“ in Wien 1939–1945 hieß, erbbiologische Informationen über ihre SchülerInnen an das Wiener Gesundheitsamt weitergeleitet. In dem Aufsatz von Friedrich Benesch wird dies als „erste organisatorische Maßnahme auf diesem Sektor“ 606 bezeichnet. Benesch gab allerdings an, basierend auf einer angeblich persönlichen Mitteilung des Direktors der Blindenschule in Wien, Anton Kaiser (1935–1945), an ihn, es sei aber zu „realen Schritten“ – gemeint sind damit wohl die Zwangssterilisierungen – auf Grund des Ausbruches des Zweiten Weltkrieges nicht gekommen.607 Ob tatsächlich keine SchülerInnen der Blindenschule Wien zwangssterilisiert wurden, kann nicht gesagt werden. Unter den 14 wegen der GzVeN-Diagnose „erbliche Blindheit“608 600 601 602 603 604 605 606 607 608 Vgl. Lange, Blindenschulen, S. 38–43, insbesondere S. 41. Vgl. Czech, Inventur, S. 284–311, hier S. 284. Vgl. Fricke-Finkelnburg, Nationalsozialismus und Schule, S. 134; Kapitel II.8.2.4. Vgl. Czech, Inventur, S. 284–311, hier S. 284–291. Vgl. Spring, NS-Zwangssterilisation in der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof, S. 42–76, hier S. 49. Vgl. Kapitel II.4.5.1. Benesch, Wege und Irrwege, S. 11–43, hier S. 38. Vgl. Benesch, Wege und Irrwege, S. 11–43, hier S. 38. Zu dem Begriff GzVeN-Diagnose „erbliche Blindheit“ vgl. Kapitel II.8.2.2. 103 geführten Verfahren am Erbgesundheitsgericht Wien befinden sich jedenfalls keine Fälle von SchülerInnen dieser Wiener Einrichtung.609 Die Blindenschulen hatten in der NS-Zeit wie die anderen Hilfs- und Sonderschulen eine besondere Bedeutung. Sie entschieden, welche Kinder als „brauchbar“ oder „unbrauchbar“, „bildungsfähig“ oder „bildungsunfähig“, „erbgesund“, „erbminderwertig“ oder „erbkrank“ zu gelten hatten.610 Von deutschen Schulen ist eine linientreue Umsetzung dieser nationalsozialistischen Aufgaben bekannt. Dementsprechend viele SchülerInnen dieser Einrichtungen wurden zwangssterilisiert.611 Die Frage, wie die Blindenschulen in Österreich in der NS-Zeit den rassenhygienischen Aufgaben nachgekommen sind, könnte unter Umständen eine Untersuchung der Schulakten aus dieser Zeit genauer beantworten. Nach Angaben der heute noch existenten Nachfolgeeinrichtungen der Blindenschulen der NSZeit, dem BBI in Wien, dem „Odilieninstitut“ in Graz und dem „Sonderpädagogischen Zentrum für blinde und sehbehinderte Kinder“ in Innsbruck, sind diese aber nicht mehr vorhanden. In Graz und Innsbruck seien sie kriegsbedingt zerstört worden. Die Direktorin des BBI in Wien, Susanne Alteneder, berichtete mir bei einem persönlichen Gespräch am 21. November 2007, die betreffenden Unterlagen im Sommer desselben Jahres ausgeschieden zu haben. Eine wissenschaftliche Untersuchung dieser Akten war vorher nicht durchgeführt worden. 612 4.4 Die BlindenlehrerInnenschaft „Die [LehrerInnen] sind doch in gewisser Weise ein Wagnis eingegangen, indem sie trotzdem soviel Einsatzbereitschaft zeigten. Wir waren damals für das ‚Dritte Reich‘ […] lebensunwertes Leben.“613 Laut verschiedener Berichte von ZeitzeugInnen, die in dem bereits zitierten Buch von Wolfgang Drave und in den Texten von Oliver Häuser und Stefanie Krug über die Geschichte der „Nikolauspflege“, einer Einrichtung für blinde Menschen in Stuttgart, abgedruckt wurden, hatten einige BlindenlehrerInnen ein gewisses Naheverhältnis zur NS-Ideologie.614 Demnach sei ein großer Teil Mitglied in NS-Organisationen gewesen. Demnach gingen die Motive 609 Vgl. Kapitel II.8.2.4. Über die anderen Blindenschulen in der „Ostmark“ kann dazu keine Angabe gemacht werden. Zur Beantwortung dieser Fragen wäre eine umfassendere Quellenrecherche notwendig, die für diese Überblicksarbeit nicht betrieben werden konnte. Vgl. die Angaben in den Fußnoten von Kapitel II.4.2. 610 Vgl. Keim, Erziehung, S. 114. 611 Vgl. u. a. Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 127 und S. 149–158; Häuser, Krug, 150 Jahre Nikolauspflege, S. 41; Malmanesh, Blinde, S. 199–207. 612 Für eine weitergehende Untersuchung des Themas „Blindenschulen“ in der NS-Zeit sollte nach Akten der inzwischen aufgelösten Landesblindenschule Kärntens in Klagenfurt und der Einrichtung in Linz gesucht werden. Über deren Existenz oder den Verbleib dieser Akten ist nichts bekannt. 613 Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 139. [Diese Aussage tätigte die blinde Frau S. in einem Interview von Wolfgang Drave. S. besuchte zwischen 1940 und 1943 die Blindenschule in Ilvesheim (D) und zeigte Verständnis dafür, dass viele BlindenlehrerInnen Parteimitglieder waren.] 614 Vgl. Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 138–141; Häuser, Krug, 150 Jahre Nikolauspflege, S. 39–40. 104 für einen Beitritt allerdings auseinander: Sie reichten von Opportunismus, um weiterhin als LehrerIn tätig sein zu können, bis hin zu innerer Überzeugung.615 Über die Haltung der österreichischen LehrerInnen an den Blindenschulen zum Nationalsozialismus ist wenig bekannt, aber es scheint auch unter ihnen AnhängerInnen des Nationalsozialismus gegeben zu haben. In einem Bericht über das „Odilieninstitut“ in Graz schrieb Max Liebmann über deren Direktor Ernst Kortschak in der Zeit von 1925 bis 1946: „Kortschak machte keinen Hehl daraus, daß er für das neue Regime starke Sympathien empfand.“616 1946 verlor der katholische Geistliche auf Grund seiner Unterstützung der NS-Bewegung in der „Verbotszeit“ von 1933 bis 1938 sowie seiner „nationalsozialistischen Einstellung“617 seine Position in der Grazer Einrichtung. Auch die Dienstzeit des Direktors der Wiener Blindenschule, Anton Kaiser (1935–1945), endete nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges am 15. Juni 1945.618 Aus welchen Gründen ist allerdings nicht bekannt. Kortschak und Kaiser nahmen vom 12. bis 13. August 1940 an einer Tagung für die LeiterInnen und LehrerInnen von Blindenschulen teil.619 Von den 62 TeilnehmerInnen aus dem gesamten „Deutschen Reich“ stammten sechs aus der „Ostmark“.620 Überliefert ist diese Veranstaltung durch ein vom Reichserziehungsministerium genehmigtes, zensiertes Protokoll. Daher werden darin nur die bereits dargestellten NS-Leitbilder der Blindenschulen wiedergegeben, mögliche kritische Stimmen konnten auf diesem Weg nicht überliefert werden. Die Vertreter aus der „Ostmark“ beteiligten sich nicht mit Vorträgen an der zweitägigen Sitzung. Nur bei den Schlussworten ergriff der Direktor der Wiener Blindenschule, Kaiser, das Wort. Er bedankte sich beim Leiter der Arbeitstagung, dem Vorstand der Blindenschule in Halle, Eduard Berchtold621, für die Durchführung und Einladung zu dieser Veranstaltung. „Der deutsche Blinde wird hier so geführt, wie es sein soll“,622 soll er laut Protokoll gesagt haben. Organisiert waren BlindenlehrerInnen im „NS-Lehrerbund e. V.“ (NSLB). Dieser war ein der NSDAP angeschlossener Verband. Ihm sollten alle LehrerInnen angehören. Aufgabe des NSLB war ihre politisch-weltanschauliche Ausrichtung im Sinne des Nationalsozialismus. In der „Fachschaft V“ wurden die LehrerInnen der Sonderschulen zusammengefasst.623 Diese Reichsfachschaft verfügte mit der Zeitschrift „Die deutsche Sonderschule“ auch über ein Publikationsorgan. Dies wurde für die Verbreitung der nationalsozialistischen Weltanschauung genauso genutzt wie für die Darstellung rassenhygienischer Aufgaben im Rahmen 615 Vgl. Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 138–141; Häuser, Krug, 150 Jahre Nikolauspflege, S. 39–40. 616 Liebmann, Behindertenbetreuung in Graz, S. 77–106, hier S. 101. 617 Liebmann, Behindertenbetreuung in Graz, S. 77–106, hier S. 15; Kapitel II.4.5.2. 618 Vgl. o. A., Direktoren und Leiter des Institutes, in: Bundes-Blindenerziehungsinstitut, 200 Jahre, S. 115. 619 Vgl. o. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer. 620 Neben den beiden genannten Personen kam aus Graz auch „Subdirektor“ Fast. Der Blindenlehrer Anton Berchtold und Schulrat Leuprecht vertraten die Einrichtung in Innsbruck, aus Klagenfurt war Direktor Winterleitner angereist. Vgl. o. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 6. [Die Vornamen der betreffenden Personen konnten nicht eruiert werden. Unter Umständen könnten in den weiterführenden Quellenbeständen unter Kapitel II.4.2. weitergehende Informationen dazu recherchiert werden.] 621 Der Direktor trägt denselben Nachnamen wie der Blindenlehrer aus Innsbruck. Über verwandtschaftliche Beziehungen der beiden ist allerdings nichts bekannt. 622 O. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 87. 623 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 252–254. 105 des GzVeN.624 Von 5.860 SonderschullehrerInnen, welche die „Fachschaft V“ zählte, waren 3.600 LeserInnen der „Deutschen Sonderschule“.625 Die ehemalige Fachzeitschrift der deutschen BlindenlehrerInnen „Der Blindenfreund“, die ab 1933 in Deutschland vom DBV herausgegeben wurde, dürfte für die BlindenlehrerInnenschaft allerdings von größerer Bedeutung gewesen sein.626 4.5 Blindenschulen in Österreich 28 Blindenanstalten gab es 1940 im „Großdeutschen Reich“. Insgesamt fünf Schulen627 für blinde Kinder und Jugendliche lagen in den „Alpen- und Donaureichsgauen.“ An den 23 Einrichtungen im „Altreich“ waren 151 BlindenlehrerInnen tätig. Davon waren 1940 bereits 34 Blindenlehrer zum Kriegsdienst eingezogen.628 Zahlen für die „Ostmark“ sind nicht bekannt. Beim „Anschluss“ 1938 war die Situation der österreichischen Blindenschulen vor allem durch die finanziell schwierige Lage geprägt. Die hohe Inflation hatte nach dem Ersten Weltkrieg die Vermögen der Trägervereine entwertet. Nach dem Schulbesuch konnten die meisten blinden Jugendlichen, insbesondere die HandwerkerInnen unter ihnen, keine Anstellung finden. Neben den Blindenselbsthilfe- und -fürsorgevereinen gründeten daher auch die Blindenanstalten Werkstätten, um Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Trotzdem war es notwendig, dass die Blindenschulen auch Heime einrichteten, um Betroffene aufnehmen zu können, die nicht bei ihren Familien wohnen konnten. Die Blindenschulen mussten daher um Wohn- und Arbeitsheime erweitert werden.629 Blindenschulen wie die in Graz, Linz und Innsbruck hatten vor dem „Anschluss“ einen konfessionellen Hintergrund. Unter nationalsozialistischer Herrschaft wurde dieser zurückgedrängt.630 Der geistliche Direktor Josef Gruber631 und die priesterliche Leitung der Blindenanstalt632 in Linz wurden zum Beispiel abgesetzt. Diese Institution ging auf 624 Vgl. Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 20. 625 Vgl. Zwanger, Ausrichtung des Deutschen Sonderschulwesens, in: Die deutsche Sonderschule, 1939, S. 138, zitiert nach: Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 22. 626 Vgl. Kapitel II.3.5.1. 627 Blindenschulen gab es in der „Ostmark“ in Wien, Linz, Graz, Klagenfurt und Innsbruck. 628 Vgl. o. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 12. 629 Vgl. o. A., 100 Jahre Blindenbildung in Tirol. [Der blinde Geschichtslehrer des SPZ Innsbruck, Klaus Guggenberger, verfasste diesen Aufsatz, wird auf der Homepage allerdings nicht als Autor genannt.] 630 Zur Entkonfessionalisierung des Schulwesens vgl. u. a.: Unterthiner, Das nationalsozialistische Schulwesen, S. 35–37; Cerwenka, Die Fahne, S. 38–42. 631 Der geistliche Direktor Josef Gruber soll in der NS-Zeit in einem Nebenlager des KZ Mauthausen ermordet worden sein. Diese Angaben wurden einem Aufsatz von Friedrich Benesch zur 200-Jahr-Feier des BBI in Wien entnommen. Die ebenfalls in diesem Aufsatz gemachte Angabe Beneschs, wonach 1938 die Landesblindenanstalt in Klagenfurt ihren Betrieb eingestellt hat, kann aber nicht bestätigt werden. Vgl. Kapitel II.3.7. Es handelt sich daher bei diesem Aufsatz von Benesch um eine zweifelhafte Quelle. Vgl. Benesch, 200 Jahre Blindenbildung, S. 11–23, hier S. 21. 632 Die Gründung dieser Einrichtung ging auf eine Initiative des Ursulinenklosters aus dem Jahre 1823 zurück, das damals damit begonnen hatte, vier blinde Kinder zu unterrichten. 1938 war das Institut in der Volksgartenstraße 14 in Linz untergebracht. Vgl. o. A., Geschichte der Sehbildung in Oberösterreich; Hartmann, Angliederung, S. 71–74, hier S. 71.; Strehl, Schulische, berufliche und nachgehende Fürsorge, S. 76–77. 106 eine Gründung aus dem Jahr 1824 zurück und war auch für die SchülerInnen aus Salzburg zuständig.633 Der neue Leiter stand dann im Angestelltenverhältnis des Landesfürsorgeverbandes „Oberdonau“.634 Die Einrichtung wurde zunächst als „Gaublindenanstalt“ mit 1. April 1939 in St. Florian neugegründet.635 Nach der reichsweiten Anordnung für die Namensgebung wurde sie zur „Gau-Blindenschule mit Heim. 1939 besuchten 20 SchülerInnen diese Einrichtung. Dazu kamen noch zwölf blinde Menschen, die dort ein Handwerk erlernten, eine Ausbildung zu KlavierstimmerInnen oder MusikerInnen absolvierten. 23 blinde Menschen waren in der Lehrwerkstätte beschäftigt, insgesamt 37 wohnten in dem der Schule angeschlossenen Heim.636 Trotz der rigorosen Maßnahmen gegen den Einfluss der Konfessionen auf solche Einrichtungen konnten dagegen an den Blindenschulen in Graz und Innsbruck Teile des alten, geistlichen Personals weiterarbeiten.637 Geschildert werden können hier nur die Rahmenbedingungen, unter denen blinde Kinder und Jugendliche zwischen 1938 und 1945 die Blindenschulen besuchten. Was sie dabei – vor dem Hintergrund der Kriegsereignisse, die verbunden waren mit Evakuierungen, Bombenangriffen, Not, Tod und Terror – empfunden haben, kann nur durch Interviews mit ZeitzeugInnen herausgefunden werden. Für diese Arbeit wurde lediglich ein Oral-HistoryInterview mit der aus Südtirol stammenden Schülerin Emma Leichter geführt, die 1940 an die Blindenschule in Innsbruck kam.638 4.5.1 „Blindenerziehungsinstitut“ in Wien Das „Blindenerziehungsinstitut“ in Wien galt in der NS-Zeit als „älteste Blindenanstalt des Reiches“639 und beging mit einer kleinen Feierlichkeit noch im Kriegsjahr 1944 ihr 140-jähriges Bestehen. Als Gründungsjahr wurde das Jahr 1804 angenommen, in dem Johann Wilhelm Klein, erstmalig im deutschsprachigen Raum, einen blinden Jungen in Wien unterrichtete.640 Ab 1898 war das Wiener Institut in dem Gebäude in der Wittelsbachstraße untergebracht. 633 Vgl. Scheib, Stand des Blindenschulwesens in Oberdonau, S. 438–439, hier S. 438. 634 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, E/I Zl. 4460/4-39, Abschrift, Landeshauptmannschaft Oberdonau an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 20.7.1939, Betreff: Genehmigung zur Sammlung und Werbetätigkeit. 635 Vgl. ÖStA, AdR, BM f. soz. Verw., Volksgesundheit, Kt. 2411, Zl. 5186/3, Landeshauptmannschaft Oberdonau an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 14.6.1939, Betreff: Richtlinien für die Durchführung der Fürsorge für Körperbehinderte in der Ostmark. 636 Vgl. Strehl, Schulische, berufliche und nachgehende Fürsorge, S. 76–77. 637 Vgl. Kapitel II.4.5.2 und II.4.5.3. 638 An dieser Stelle kann aber auf die Interviews von Wolfgang Drave mit 28 blinden Menschen aus Deutschland hingewiesen werden, aus denen auch Informationen über ihre Schulzeit hervorgehen. Außerdem ist in dem Band über das Seminar „Blinde unterm Hakenkreuz“ in Berlin-Wannsee 1989 eine Erinnerung an seine Schulzeit von Fritz Hartmann abgedruckt, der während des Zweiten Weltkrieges die Blindenschule Ilzach im Elsass besucht hatte. Vgl. Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 61–125; Hartmann, Schulzeit, S. 189–205. 639 O. A., Zur Chronik des Blindenwesens [1944], S. 163. 640 Vgl. Alexander Mell, Geschichte des k. k. Blindenerziehungsinstitutes, Wien 1904, S. 12ff, zitiert in: Benesch, Wege und Irrwege, S. 11–43, hier S. 21. 107 In der NS-Zeit wurde die Einrichtung zur „Wiener städtischen Blindenschule mit Heim“641 umbenannt. Über die Ereignisse an der Blindenschule, die von Direktor Anton Kaiser in dieser Zeit geleitet wurde, ist nicht viel bekannt.642 Zwischen 1938 und 1945 wurde gemäß den NS-Richtlinien vor allem die Berufsausbildung blinder Menschen intensiviert. Ab 1939/40 fanden Lehrgänge zur Ausbildung von BetriebstelefonistInnen und StenotypistInnen643 statt. Regierungsrat Adolf Melhuber und der Blindenlehrer Karl Trapny644 übernahmen die Schulung.645 An dieser Berufsausbildung nahmen auch Kriegsblinde teil.646 Trapny war darüber hinaus auch als Blindenoberlehrer im Reservelazarett für Kriegsblinde in Wien tätig.647 1941 kaufte die Wiener Blindenschule die angrenzende Liechtenstein-Villa. Dort sollten das Blindenmuseum und die Blindenbücherei untergebracht werden.648 Dies ist bemerkenswert, da die Einrichtungen in der NS-Zeit eigentlich einfach gehalten und möglichst kostensparend geführt werden sollten. Der Ankauf musste dazu aber kein Widerspruch sein. Es ist durchaus möglich, dass Pläne vorlagen, die kleineren Blindenschulen in Klagenfurt und Linz gänzlich zu schließen und die SchülerInnen nach Wien zu schicken. Dort mussten die Kapazitäten dafür geschaffen werden, was einen Ausbau begründen würde.649 Im Zuge der Kampfhandlungen in Wien wurde die Blindenschule im April 1945 schwer beschädigt. Der Unterricht konnte in der Wittelsbachstraße nicht mehr fortgesetzt werden. Die Blindenschule bekam eine provisorische Unterkunft zugewiesen, die nach dem Ende des Krieges in der US-amerikanischen Zone lag. Erst 1955 wurde mit dem Wiederaufbau des Stammhauses begonnen.650 Bis heute ist das jetzige BBI dort untergebracht. 4.5.2 „Odilien-Blindenanstalt“ in Graz Am 10. Mai 1881 wurde die „Odilien-Blindenanstalt“ Graz eröffnet. Gegründet wurde die Einrichtung vom „Odilien-Verein“. Der Verein war katholisch geprägt. Die „Barmherzigen Schwestern vom Hl. Vinzent Paul“ führten die Schule und deren Einrichtung, ein Geistlicher fungierte als Direktor.651 Nach dem „Anschluss“ wurde der Stadtpfarrer Leopold Haas652, der 641 Diese Bezeichnung wurde u. a. auf dem Eingangsstempel der letzten im BBI noch vorhandenen Ausgabe der RBV Zeitschrift „Die Blindenwelt“ vom November 1944 verwendet. 642 Vgl. zum Verbleib der SchülerInnenakten Kapitel II.4.3. 643 Vgl. Kapitel II.6.5. 644 Vgl. Kapitel II.6.5. 645 Vgl. Klebert, Prüfung blinder Stenotypisten, S. 270–271, hier S. 270; Benesch, 200 Jahre Blindenbildung, S. 11–23, hier S. 21. [Zu den Personalakten und NS-Mitgliedschaften des Wiener Lehrpersonals vgl. die Angaben für weiterführende Quellenbestände in den Fußnoten zu Kapitel II.4.2.] 646 Schon im Ersten Weltkrieg hatte die Wiener Blindenschule als „Kriegsblindenzentrale“ eine wichtige Rolle bei der Unterbringung und Ausbildung erblindeter Soldaten gespielt. Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 81–87. 647 Vgl. BAB, DGT, R 36/1803, Bildungswesen für Blinde, GZ II 1.1.6.3, Oberpräsident Provinzialverband Merseburg an den DGT (Nr. 1156/43) vom 30.10.1943, Betreff: Schulung Kriegsblinder dieses Krieges durch ältere Jahrgänge der Blindenlehrer. Kapitel III.4.2. 648 Vgl. o. A., Chronik des Blindenwesens [1941], S. 216–217. 649 Vgl. o. A., 100 Jahre Blindenbildung in Tirol. 650 Vgl. Benesch, 200 Jahre Blindenbildung, S. 11–23, hier S. 21–22. 651 Vgl. Benesch, Wege und Irrwege, S. 11–43, hier S. 34. 652 Obmann Haas nahm seine Tätigkeit nach der NS-Zeit wieder auf und behielt seine Funktion bis 1960. 108 1937 zum Obmann des Vereins gewählt worden war, von seinem Stellvertreter Franz Neuer abgelöst.653 Den Blindenfürsorgeverein leitete ab 1938 der NSV.654 Die „Odilien-Blindenanstalt“ wurde umbenannt in „Blindenschule mit Heim“. Der Direktor, Abt Ernst Kortschak, der diese Funktion seit 1925 inne hatte, konnte trotz seines konfessionellen Hintergrundes diese Funktion auch nach 1938 weiter ausüben. Ein Grund dafür könnte gewesen sein, dass dieser schon in der „Verbotszeit“ als Anhänger der NS-Bewegung gegolten hatte.655 In der Zeit zwischen 1938 und 1939 stieg die Belegschaft wahrscheinlich auf Grund der Einführung der Sonderschulpflicht für behinderte Kinder von 77 auf 87, dafür stand aber weniger Raum zur Verfügung. Zwei Zimmer nutzte ein NSV-Kindergarten. Drei Räume mussten dem Luftschutzrevier II und rund 30 Schlafplätze für Hebammenschülerinnen zur Verfügung gestellt werden.656 Wie alle anderen Bildungseinrichtungen wurde auch die Grazer Institution nach na­tio­ nal­so­zia­lis­ti­schen Vorgaben geführt. Die blinden SchülerInnen hoben zur Begrüßung die rechte Hand zum „deutschen Gruß“. Mit der Person des „Führers“ sollten sie durch eine Büste Adolf Hitlers vertraut werden, die ihnen das Abtasten seiner Gesichtszüge ermöglichte.657 Blinde Menschen jüdischer Herkunft konnten die Schule und das angeschlossene Heim nicht länger besuchen. Auch die seit 1915 in dem Institut lebende taubblinde Irene Ransburg, eine katholisch getaufte Frau jüdischer Eltern aus St. Ruprecht a. d. Raab, ereilte dieses Schicksal. In einem undatierten Bericht von Direktor Kortschak, den dieser in 1950er Jahren verfasst haben soll und aus dem Maximilian Liebmann in seinem 1982 veröffentlichten Aufsatz zum 100jährigen Bestehen des Odilien-Blindenvereins zitiert,658 berichtet dieser von Irene Ransburg. Er soll sich demnach angeblich darum bemüht haben, sie vor der Gestapo zu verstecken.659 Auf Grund unbekannter Umstände wurde sie aber entdeckt und zu einem unbekannten Zeitpunkt nach „Theresienstadt“ deportiert.660 Der Opferdatenbank des DÖW ist darüber hinaus zu entnehmen, dass sie von dort am 23.10.1944 nach Auschwitz überstellt worden war.661 Ein Todesdatum ist nicht bekannt. Wie in Wien wurden auch an der Grazer Schule Kriegsblinde ausgebildet. Die meisten erblindeten Soldaten sollten zwar eine „blindentechnische Grundausbildung“, die unter anderem Lesen und Schreiben der Blindenschrift umfasste, in einem dafür vorgesehenen Reservelazarett erhalten, aber dabei kam es auch zu Ausnahmen. Der erblindete Soldat Ernst B. hatte zum Beispiel nach seiner Erblindung keine Ausbildung erhalten, weil seine Verletzung zunächst nicht als „Wehrdienstbeschädigung“ anerkannt worden war. Das 653 654 655 656 657 658 Vgl. Bericht 1938 und 1939, zitiert in: Liebmann, Behindertenbetreuung in Graz, S. 77–106, hier S. 90. Vgl. Kapitel II.3.3.1. Vgl. Liebmann, Behindertenbetreuung, S. 77–106, hier S. 101, S. 103; vgl. weiterführend Kapitel II.4.4. Vgl. Liebmann, Behindertenbetreuung, S. 77–106, hier S. 101, 103. Vgl. Liebmann, Behindertenbetreuung, S. 77–106, hier S. 102. Vgl. Ernst Kortschak, Erziehung und Unterricht der Taubblinden, o. O. o. Z, zitiert in: Liebmann, Behindertenbetreuung, S. 77–106, hier S. 102. 659 Vgl. Ernst Kortschak, Erziehung und Unterricht der Taubblinden, o. O. o. Z, zitiert in: Liebmann, Behindertenbetreuung, S. 77–106, hier S. 102. 660 Vgl. Liebmann, Behindertenbetreuung, S. 77–106, hier S. 102. Eine große Anzahl blinder Menschen jüdischer Herkunft kam nach Theresienstadt. Vgl. Kapitel IV.6.4. 661 Vgl. DÖW, Opferdatenbanken, Shoa-Opfer, <http://de.doew.braintrust.at/db_shoah_91024.html>, Download am 06.09.2009. 109 Versorgungsamt Graz übernahm dann nach der Entlassung Buchsbaums aus der Wehrmacht die monatlichen Kosten von 15 RM für die Ausbildung und die Anschaffung von notwendigen Hilfsmitteln für den Besuch der Blindenschule in Graz. Dort erlernten Späterblindete im Einzelunterricht das Lesen und Schreiben der Brailleschrift, um anschließend eine Berufsausbildung absolvieren zu können.662 Das Kriegsende erlebten die blinden SchülerInnen und HeimbewohnerInnen der Grazer Einrichtung auf dem Land. Nachdem eine Bombe den Garten getroffen und das Gebäude entsprechend beschädigt hatte, wurde die Schule nach St. Paul im Lavanttal evakuiert. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das „Odilien-Institut“ wieder aufgebaut und noch heute ist diese Einrichtung in der Leonhardstraße in Graz untergebracht. Direktor Kortschak wurde auf Grund seiner öffentlichen Unterstützungserklärungen für das NS-Regime 1946 aus seinem Dienst entlassen.663 4.5.3 Blindenschule in Innsbruck Die Blindenschule in Innsbruck wurde am 1. Dezember 1907 in den Räumlichkeiten des so genannten „Leopardi-“ oder „Eggerschlößls“ in Innsbruck-Pradl eröffnet.664 Schü­lerIn­nen aus Tirol und Vorarlberg sollten dort aufgenommen werden, doch war geplant, ein eigenes Gebäude zu bauen. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges führte die einsetzende Inflation allerdings zu einer Verarmung des Trägervereins. Außerdem fanden die für handwerkliche Berufe ausgebildeten Blinden keine Anstellung und blieben auch nach dem Abschluss ihrer Schulzeit in dem der Schule angeschlossenen Internat. Zusätzlich zur Blindenschule wurde so allmählich auch ein Blindenheim geschaffen.665 In der Zwischenkriegszeit erfolgte die Betreuung der blinden SchülerInnen durch geistliche Schwestern unter der Leitung von Oberin Melitta. Am 1. Oktober 1936 wurde auf einem Grundstück des „Blindenfürsorgevereins für Tirol und Vorarlberg“ in der Ing.-Etzel-Straße ein neues Haus für den Schul- und Heimbetrieb eröffnet.666 Zur Erweiterung der Schul- und Berufsausbildung waren noch in der alten Unterkunft eine Korbflechterei, eine kleine Weberei und eine Maschinenstrickerei eingerichtet worden. Der Garten des Gebäudes verfügte über eine kleine Landwirtschaft, die vor allem in der folgenden Kriegszeit nützlich war. 1938 stellte der NSV die Schule und das Heim unter seine Verwaltung. Die Tatsache, dass das Haus geistliche Schwestern leiteten, führte zu häufigen Inspektionen.667 Trotzdem kamen die zuständigen NSV-Funktionäre zu dem Ergebnis, dass das Haus „ordentlich“ geführt wurde und die Schwestern konnten ihre Tätigkeit fortsetzen.668 In der Freizeit betreut wurden die SchülerInnen von Schwester Waltraud. Unterrichtet wurden die jüngeren, die erste bis vierte Klasse war gemeinsam in einem Schulzimmer untergebracht, vor 662 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, Hauptversorgungsamt, Ostmark-Kriegsblinde 1938–45, Kt. 1, A-H, Akten betreffend Soziale Fürsorge Erich Buchsbaum. 663 Vgl. Liebmann, Behindertenbetreuung, S. 77–106, hier S. 103. 664 Vgl. o. A., Allgemeines von Blindenfürsorge und ihre Anfänge in Tirol, S. 11. 665 Vgl. Berchtold, Rückblick, S. 1–14, hier S. 4. 666 Vgl. o. A., 100 Jahre Blindenbildung in Tirol. 667 Auch Emma Leichter kann sich an diese regelmäßigen Besuche erinnern. Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 6. 668 Vgl. o. A., 100 Jahre Blindenbildung in Tirol. 110 allem von Schwester Remberta. Das Erlernen der Blindenschrift und den Unterricht für die fünfte bis achte Klasse, die sich ebenfalls ein Zimmer teilten, übernahm hauptsächlich der selbst blinde Direktor der Einrichtung, Anton Berchtold.669 Der Bestand der Einrichtung war in der NS-Zeit trotzdem nicht gesichert, denn es lagen Pläne der NSV vor, die Schule der Einrichtung in München anzuschließen. Dazu kam es aber nicht mehr, denn durch die ersten Luftangriffe auf Innsbruck im Dezember 1943 veränderte sich die Lage grundlegend. Da die Schule direkt neben der Westbahnstrecke lag, war die Gefahr von Bombentreffern sehr hoch und die Einrichtung wurde Anfang 1944 deswegen geschlossen. Die blinden SchülerInnen kamen nach Ursberg in Bayern, dem Ausweichquartier der Blindenschule München. Anton Berchtold wurde nach Nürnberg versetzt, um dort in einem Reservelazarett erblindete Soldaten zu unterrichten.670 Bereits in den Jahren zuvor hatte er Aufgaben in der Kriegsblindenversorgung übernommen. Berchtold nahm beispielsweise als Blindenfachlehrer neben Vertretern der Wehrmacht und des NSKOV an einer „Berufsberatung“ für den Kriegsblinden Fridolin L.671 im September 1941 teil.672 Derweil verblieben die erwachsenen HeimbewohnerInnen in der Einrichtung in Innsbruck. Da das Gebäude über keinen Luftschutzkeller verfügte, erlebten sie dort viele „angstvolle“ Stunden. Trotz der exponierten Lage in der Nähe der Bahngleise blieb die Einrichtung unversehrt.673 Im Herbst 1945 konnte der reguläre Schulbetrieb wieder aufgenommen werden. Dann kehrten auch die SchülerInnen aus Ursberg zurück. Dort war ein Kloster zu einer Art „Behindertendorf“674 umfunktioniert worden, wie sich die 1930 in Sterzing geborene Emma Leichter erinnert. Neben Kindern mit anderen Beeinträchtigungen, die allerdings von den blinden SchülerInnen getrennt waren, befand sich dort auch noch ein Lazarett für Kriegsversehrte. Leichter erfuhr dort auch durch Erzählungen der älteren MitschülerInnen, wie sie sagt, erstmals von den Zwangssterilisierungen von blinden Mädchen und Jungen.675 In Ursberg wurden der Unterricht und die Berufsausbildung der blinden SchülerInnen den kriegsbedingten Umständen entsprechend fortgesetzt. In den Handarbeitsstunden wurden die blinden Mädchen allerdings dazu herangezogen, Tarnnetze aus Papierspagat herzustellen. Für Leichter war dies eine „fürchterliche Arbeit“, vor allem deshalb, weil sie von dieser Tätigkeit sehr wunde Hände bekam.676 Das Lesen der Blindenschrift im Unterricht fiel den SchülerInnen in der Folge sehr schwer. Gegen Ende lernte Leichter in Ursberg aber sogar etwas Englisch, da eine Lehrerin angesichts des absehbaren Kriegsendes dies als notwendig erachtete.677 Nach Ende des Krieges wurden die SchülerInnen aus Innsbruck dann von Schwester Melitta abgeholt und kamen mit verschiedenen Zügen in einem eigentlich für den 669 Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 4. 670 Vgl. o. A., 100 Jahre Blindenbildung in Tirol. [Berchtold wurde nach dem Krieg Direktor der Blindenschule Innsbruck, die heute als „Sonderpädagogisches Zentrum für blinde und sehbehinderte Kinder“ weitergeführt wird.] 671 Vgl. Kapitel III.1.2.4. 672 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Fridolin L., Niederschrift über die Berufsberatung vom 16.9.1941. 673 Vgl. Berchtold, Rückblick, S. 1–14, hier S. 7. 674 Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 8. 675 Vgl. Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 8. 676 Vgl. Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 10. 677 Vgl. Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 11. 111 Transport von Tieren vorgesehenen Waggon zurück nach Innsbruck. „Ich glaub ich war mein ganzes Leben nie so schmutzig“, erinnert sich Leichter.678 Nach den Aussagen von Leichter gab es an der Innsbrucker Blindenschule und in Ursberg allerdings keinen „Reichsbann B“ der „Hitler-Jugend“, auf den das folgende Kapitel eingeht.679 Allerdings erinnert sie sich an regelmäßige Treffen, an denen über Hitler und die „Hitler-Jugend“ geredet worden sei.680 Abb. 07: Herstellung von Tarnnetzen in Ursberg aus Papierspagat. 678 Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 12. 679 Vgl. Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 8. 680 Vgl. Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 13. 112 5.Der „Reichsbann B“ in der „Hitler-Jugend“ „Ich werde darum nicht nachlassen, mit allen mir zur Gebote stehenden Möglichkeiten den Blinden in die schaffende Gemeinschaft des Volkes einzugliedern, sodaß […] mit einer fühlbaren Entlastung des Volkes […] gerechnet werden muß.“681 5.1 Gründung Außerhalb des Elternhauses und der Schule sollte in der NS-Zeit die Erziehung der Jugend im nationalsozialistischen Sinn682 von der „Hitler-Jugend“683 (HJ) übernommen werden.684 Für die blinden SchülerInnen aller deutschen Blindenschulen wurde der „Bann B“ (Blinde) gegründet.685 Dies zeigte das Bestreben des NS-Regimes, auch blinde Menschen in das nationalsozialistische System einzuordnen.686 Schon kurz nach der Machtübertragung an Hitler in Deutschland, im Februar 1933, war an der Blindenanstalt in Berlin-Steglitz eine Formation der „Hitler-Jugend“ für blinde SchülerInnen gegründet worden. Im Dezember 1933 erschien zum ersten Mal der „Weckruf“, der sich im Untertitel „Mitteilungsblatt für die Hitler-Jugend aller deutschen Blindenanstalten“687 nannte. Das Blatt wurde in Punktschrift gedruckt und in Schwarzschrift übersetzt, um den NS-Beamten, die keine Brailleschrift lesen konnten, eine Zensur zu ermöglichen.688 Die Zeitschrift entwickelte sich zum offiziellen Publikationsorgan des „Bannes B“. 681 BAB, DGT, R 36/2017, GZ B/H Nr. 11/37, NSDAP Hitler-Jugend, Bann B (Blinde), Scharführer [Franz Bögge] an den Landesfürsorgeverband der Rheinprovinz Düsseldorf vom 15.1.1937, Betreff: Bitte um finanzielle Unterstützung. 682 Weiterführende gedruckte Quellen zu den Zielen und dem Aufbau der Hitler-Jugend vgl. Schirach, HitlerJugend. 683 In der wissenschaftlichen Literatur sowie in zeitgenössischen Veröffentlichungen und Dokumenten gibt es keine einheitliche Schreibweise des Begriffes „Hitler-Jugend“. Im Gesetz über die „Hitlerjugend“ vom 1. Dezember 1936 wird der Begriff ohne Bindestrich geschrieben. Dennoch benutzte die Reichsleitung Briefköpfe, auf denen der Name mit Bindestrich erscheint. Dasselbe gilt für die am 25. März 1939 erlassenen Durchführungsverordnungen. Es kann also davon ausgegangen werden, dass es keine einheitlich Regelung für die Schreibweise der Organisationsbezeichnung gab. Für diese Arbeit wird die Schreibart des Bundesarchivs Berlin, mit Bindestrich, übernommen, sofern es sich nicht um direkte Zitate, Literaturhinweise oder die Abkürzung HJ handelt. Vgl. u. a.: BAB, Findbuch Bestand NS 28 Hitler-Jugend, S. 6; Büttner, Bann G, S. 9. 684 Zur Geschichte der Hitler-Jugend vgl. die hier zitierte Literatur sowie: Klönne, Jugend im Dritten Reich; Brandenburg, Geschichte der HJ; Kannonier-Finster, Eine Hitler-Jugend. 685 Vgl. Grasemann, Blindenschulen, S. 16–22, hier S. 20. 686 Häuser, Krug, 140 Jahre Nikolauspflege, S. 40. 687 In den für diese Arbeit besuchten Archiven ist keine Ausgabe des „Weckrufes“ erhalten. Ausgaben dieser Zeitschrift sind unter Umständen noch in der heutigen „Johann August Zeune Schule für Blinde“ in Berlin-Steglitz vorhanden, die über ein Museum verfügen. In der NS-Zeit wurde der „Weckruf“ in dieser Einrichtung hergestellt. Eine diesbezügliche Anfrage blieb aber unbeantwortet. Ernst Klee zitierte den Rektor dieser Sonderschule (1995–2001), Uwe Benke, der die Geschichte der dortigen blinden „HitlerJugend“ aufgearbeitet haben soll. Ein entsprechender Aufsatz konnte aber nicht eruiert werden. Vgl. Klee, Der blinde Fleck. 688 Vgl. Klee, Der blinde Fleck. 113 Am 15. März 1934 erließ der Reichsjugendführer die Anordnung, die blinden Jugendlichen an den Blindenschulen zu „erfassen“ und zu „organisieren“.689 Die Organisation in der „Hitler-Jugend“ hieß zunächst „NSDAP, Hitler-Jugend, Bann B (Blinde)“.690 Der Blindenoberlehrer Franz Bögge wurde zum „Gefolgschaftsführer“ ernannt. Er war als leitender Sachbearbeiter im Stab des Reichsjugendführers691 tätig. Die vier Gliederungen der „Hitler-Jugend“, „Deutsches Jungvolk“ (DJ), BDM und „Jungmädel“ (JM) sollten der „besonderen Bedingung ‚blind‘ entsprechend“692 in einem Bann zusammengefasst werden. Durch diese Zentralisierung wurde der „Bann B“ zu einer eigenen Abteilung in der „Hitler-Jugend“ und hatte den Status eines „Sonderbannes“. Seine Dienststelle war in Hannover-Kirchrode (D). In die Aktivitäten der übrigen „Hitler-Jugend“ sollten die blinden Kinder und Jugendlichen allerdings nur in Ausnahmefällen eingebunden werden.693 Neben dem „Bann B“ genehmigte Baldur von Schirach 1934 auch die Gründung eines „Bannes G“ (Gehörgeschädigte). Ein Jahr später erfolgte die Einbindung der „erbgesunden“ Jugendlichen mit einer körperlichen Behinderung als „Bann K“.694 Die Gründung der „Sonderbanne“ war umstritten. Sie stand im Widerspruch zur Propaganda der „Hitler-Jugend“, die das Ziel, „kerngesunde Körper“695 heranzuzüchten, vorgab. Vor allem der Umgang von Kindern und Jugendlichen, deren Behinderung als erblich bedingt angesehen wurde, sorgte für Diskussionen.696 Erst nach internen Unterredungen entschied die Reichsjugendführung 1937 daher endgültig über die Zukunft der „Sonderbanne“: Der „Bann K“ wurde aufgelöst.697 Der „Bann G“ sollte im vollen Umfang bestehen bleiben und auch der „Bann B“ existierte weiter. Allerdings mit geringen Einschränkungen, die aber nicht weiter bekannt sind.698 Die „Sonderbanne“ für gehörgeschädigte und blinde Jugendliche wurden nach dem „Anschluss“ auch in der „Ostmark“ eingeführt. Daher kam es zu einer Umbenennung. Beide Gruppierungen hießen ab 1938 „Reichsbann“, da sich ihre Tätigkeit auf das gesamte „Reichsgebiet“ erstrecken sollte.699 689 Vgl. Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 54. 690 Briefkopf des Bannes B in den Schreiben mit dem DGT überliefert in: BAB, DGT, R 36/2017, Finanzielle Unterstützung für Bann B Blinde und G Gehörgeschädigte der Hitler-Jugend; Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 55. 691 Die Hitler-Jugend war vertikal in folgende Einheiten gegliedert: Reichsjugendführung, Gebiet, Bann, Stamm, Gefolgschaft, Schar, Kameradschaft. 692 F[ranz] Bögge, Der Reichsbann Blinde (B), seine Aufgaben und Ziele unter Berücksichtigung der Zusammenarbeit der Blindenanstalten, in: Die deutsche Sonderschule, 6. Jg. (1939), S. 643–655, hier S. 644, zitiert in: Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 55. 693 Vgl. Sauer, Situation blinder Jugendlicher, S. 35. 694 Vgl. o. A., Körperbehinderte Jugendliche in der HJ, S. 160. 695 Hitler, Mein Kampf, S. 400. 696 Vgl. Kapitel II.5.4. 697 Über die Hintergründe dieser Entscheidung ist nichts bekannt. Petra Fuchs nimmt an, dass die Auflösung in Zusammenhang mit den Kriegsvorbereitungen stand. Sie hatte allerdings keine Kenntnis über den Fortbestand der Banne für blinde und gehörgeschädigte Menschen. Deshalb erscheint ihre Begründung als nicht plausibel. Vorstellbar ist, dass körperbehinderte Kinder und Jugendliche in der HJ nicht erwünscht waren, weil man ihnen ihre Beeinträchtigung auf den ersten Blick ansah. Vgl. Fuchs, „Körperbehinderte“, S. 221. 698 Vgl. Eisermann, Festlegung der endgültigen Arbeit, S. 230. 699 Vgl. o. A., Aus dem Reichsbann G der Hitler-Jugend, S. 656. 114 Trotzdem war ihre Existenz in der Öffentlichkeit nach wie vor weitgehend unbekannt.700 Im Organisationshandbuch der NSDAP aus dem Jahre 1943, das über alle Unterorganisationen der Partei, deren Aufgaben, Führungsstruktur, Uniformen etc. akribisch Auskunft gab, wurden bei der Beschreibung der „Hitler-Jugend“ die beiden Sonderbanne nicht erwähnt.701 Nur bei den Uniform-Abzeichen befinden sich neben den Abbildungen der vielen anderen Formationen der „Hitler-Jugend“ auch die der „Reichsbanne“ für blinde und gehörgeschädigte Jugendliche. Abb. 08: Abzeichen der „Hitler-Jugend“ Reichsbann Blinde. Da zum „Bann B“ der „Hitler-Jugend“ nur mehr sehr wenig Quellen überliefert sind, bleiben viele Fragen über diese Organisation unbeantwortet.702 5.2 Aufbau der „Hitler-Jugend“ in der „Ostmark“ Der Aufbau und die organisatorische Angleichung der „österreichischen“ „Hitler-Jugend“, welche in der Zeit des „autoritären Ständestaates“ illegal bestanden hatte, gestalteten sich nach dem „Anschluss“ schwierig.703 Die Befehlsstelle Südost unter der Leitung des Deutschen Wilhelm Busch sollte diese Aufgabe durchführen. Diese Stelle wurde am 10. Jänner 1939 700 In der wissenschaftlichen Hausarbeit von Torsten Schröder findet sich ein Hinweis über einen Zeitungsartikel in der Frankfurter Zeitung über den „Bann B“ in der Hitler-Jugend. Dieser konnte allerdings nicht bei der Universitätsbibliothek Frankfurt bestellt werden. Vgl. H. N., Blinde Hitlerjugend, in: Frankfurter Zeitung (Reichsausgabe), 22.12.1935, S. 652–653, zitiert in: Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 50. 701 Vgl. Reichsorganisationsleiter der NSDAP, Organisationsbuch, S. 437–447. 702 Das Schriftgut der Reichsjugendführung ist während des Kriegs fast vollständig vernichtet worden. In den Restbeständen im Berliner Bundesarchiv befindet sich kein Material über den Bann B. Einzig in den Akten des DGT konnten einige Informationen gefunden werden. 703 Weiterführende Literatur dazu vgl. Gehmacher, Biografie, S. 467–493; Vgl. Ralser, Biographische Re­kon­ struk­t ion; Hering, Kurt, BDM-Werk. 115 wieder aufgelöst. Die neu errichteten BDM Obergaue und HJ-Gebiete sollten unmittelbar der Reichsjugendführung in Berlin unterstellt werden.704 Zu diesem Zeitpunkt war aber die gesetzliche Voraussetzung, das Gesetz über die „Hitlerjugend“ 705 vom 1. Dezember 1936, in der „Ostmark“ noch nicht eingeführt worden. Dieses war 1936 in Deutschland ohne notwendige Durchführungsverordnungen in Kraft getreten. Weder die konkrete Form des HJ-Dienstes noch der Personenkreis, der ihn zu leisten hatte, waren festgelegt worden.706 Dies wurde schließlich 1939 nachgeholt. Das führte dazu, dass die beiden Durchführungsverordnungen zum „Gesetz über die Hitlerjugend“ 707 in der „Ostmark“ eingeführt wurden, bevor das ursprüngliche Gesetz auch auf diesen Teil des „Deutschen Reiches“ ausgedehnt wurde. Die ambivalente Verwendung des Begriffes „deutsch“ im Nationalsozialismus verzögerte die Einführung. Offen war die Frage, wer in der „Ostmark“ zu der im Gesetz angesprochenen „gesamten deutschen Jugend“ zählen sollte. Ob Angehörige beispielsweise der slowenischen, kroatischen und ungarischen Volksgruppen in Kärnten sowie in der Steiermark oder in „Niederdonau“ als „deutsche Jugend“ zu erfassen waren, darüber bestand Uneinigkeit zwischen Reichsjugendführung, Reichskanzlei und dem „Ministerium des Inneren“.708 Das erklärt, warum erst am 18. Juni 1941 eine Verordnung über die Einführung der Gesetzgebung für die „Hitler-Jugend“ in den Reichsgauen der „Ostmark“ erfolgte.709 Damit wurde vorerst geregelt, dass alle Jugendlichen aus nichtdeutschen Volksgruppen von der Dienstpflicht in der „Hitler-Jugend“ zu „befreien“ seien. Aber nicht nur die verzögerte Einführung der Gesetzgebung behinderte den Aufbau der „Hitler-Jugend“ in der „Ostmark“, der eigentlich in kurzer Zeit hätte erfolgen sollen: Dafür wäre eine große Anzahl ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nötig gewesen, die aber aus den diversesten Gründen nicht aufgetrieben werden konnten.710 Bei dem Aufbau des „Reichsbannes B“711 in der „Ostmark“ dürfte es personelle Schwierigkeiten gegeben haben. Schon im „Altreich“ hatte die Suche nach geeigneten „Führern“ für den „Bann B“ Schwierigkeiten bereitet. Diese mussten sowohl im Sinne der „Hitler-Jugend“ für die nationalsozialistische „Erziehungsarbeit“ geeignet sein als auch Kenntnisse im Umgang mit blinden Jugendlichen haben. Als „Bannführer“ wurden daher häufig Leh­rerIn­ nen oder anderes Erziehungspersonal der Blindenschulen eingesetzt.712 Die Zusammenarbeit zwischen der „Hitler-Jugend“ und der BlindenlehrerInnenschaft wurde dementsprechend in der öffentlichen Darstellung als eng bezeichnet.713 Der Grundsatz „Jugend soll von Jugend 704 Vgl. Gehmacher, Biografie, S. 467–493, hier S. 480–481. 705 [D] RGBl., Teil 1, Gesetz über die Hitlerjugend vom 1. Dezember 1936, S. 993. 706 Vgl. Mejstrik, Erfindung der deutschen Jugend, S. 494–522, hier S. 496; Gehmacher, Biografie, S. 467–493, hier S. 482. 707 GBlÖ, Nr. 485/1939, Erste Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Hitler-Jugend (Allgemeine Bestimmungen) vom 25. März 1938; GBlÖ, Nr. 486/1939, Zweite Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Hitler-Jugend (Jugenddienstverordnung) vom 25. März 1939. 708 Vgl. Gehmacher, Biografie, S. 467–493, hier S. 483–484. 709 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Einführung der Gesetzgebung über die Hitler-Jugend in den Reichsgauen der Ostmark und im Reichsgau Sudetenland vom 18. Juni 1941, S. 321. 710 Vgl. Gehmacher, Biografie, S. 467–493, hier S. 479. 711 Über den „Reichsbann G“ an den Gehörlosenschulen in der „Ostmark“ vgl. Runggatscher, Lebenssituation gehörloser Menschen. 712 Vgl. Sauer, Situation blinder Jugendlicher, S. 37. 713 Vgl. Eisermann, Festlegung, S. 230. 116 geführt werden“ 714 konnte demnach für die HJ-Formation der blinden Jugendlichen nicht umgesetzt werden. Der Quellenlage entsprechend ist wenig über die Organisation des „Reichsbann B“ an Blindenschulen in der „Ostmark“ bekannt. Auch in der RBV Zeitschrift „Die Blindenwelt“ findet sich nur ein kurzer Hinweis aus dem Jahr 1943, dass 18 „Jungen und Mädel der Blindengefolgschaft“ der „Hitler-Jugend“ in Graz das „Spielzeugwerk“ unterstützt haben.715 Sie fertigten 50 Spielsachen an, die in einem Geschäft in der Herrengasse ausgestellt wurden. Die Ausführung von handwerklichen Tätigkeiten entsprach dem Ziel des „Reichsbannes B“, die Jugendlichen für die spätere Berufsausübung „leistungsfähiger“ zu machen.716 5.3 Ziele Die offiziellen Motive bei der Einrichtung dieses Sonderbannes sind durch die Sekundärliteratur, Zeitschriftenaufsätze und einem im AIDOS (Marburg an der Lahn) archivierten „Bericht über die Führertagung des Bann B“ 717 vom Dezember 1937 dargelegt. Demnach war eine Aufgabe dieser Sonderformation, das nationalsozialistische Gedankengut bei den blinden Jugendlichen zu fördern.718 Auch auf die „körperliche Schulung“ wurde besonderer Wert gelegt. Als eine für die blinden Jugendlichen besonders geeignete Sportart galt die Leichtathletik.719 Der Geländesport als „Wehrsport“ war dagegen von den sportlichen Tätigkeiten der blinden Jugendlichen in der „Hitler-Jugend“ ausgenommen.720 Der übliche Boxkampf sollte durch Ringen ersetzt werden. Als wichtig wurde die Durchführung von Marschübungen angesehen, obwohl dies den blinden Jugendlichen besondere Schwierigkeiten bereitete. Zur Lösung der dabei entstehenden Probleme schlug Franz Bögge Folgendes vor: „Die Schwierigkeiten des Abstandes lassen sich durch die geschickte Einreihung von Blinden mit Sehresten [sic!] überwinden, wie es die bisherigen Beispiele gezeigt haben.“ 721 In der „Hitler-Jugend“ diente die körperliche „Ertüchtigung“ bei den Jungen eigentlich dazu, deren Wehrbereitschaft bzw. Wehrfähigkeit zu steigern, bei den Mädchen die Gebärfähigkeit.722 Bei den blinden „Jungen und Mädeln“ sollte die sportliche Betätigung dazu dienen, sie zu einem „harten Geschlecht“ 723 zu erziehen. Schnellere, geschicktere Bewegungen 714 Angeblich ein Zitat Hitlers, abgedruckt auf der Titelseite von Schirachs Buch über die Hitler-Jugend, der sich auch in einem eigenen Kapitel mit dem „Prinzip der Selbstführung“ auseinandersetzt. Vgl. Schirach, Hitler-Jugend, S. 57–65. 715 Vgl. o. A., Zur Chronik des Blindenwesens. Graz, in: Die Blindenwelt, Nr. 1, Jg. 31 (1943), S. 18. 716 Vgl. BAB, DGT, R 36/2017, GZ B/H Nr. 11/37, NSDAP Hitler-Jugend, Bann B (Blinde), Scharführer [Franz Bögge] an den Landesfürsorgeverband der Rheinprovinz Düsseldorf vom 15.1.1937, Betreff: Bitte um finanzielle Unterstützung; Bögge, Aufgabe der [sic!] Bannes B, S. 1–7, hier S. 2; Söllinger, Sozialarbeit im Bann B, in: NSDAP Hitler-Jugend Bann B (Blinde), Bericht, S. 1–2, hier S. 1. 717 NSDAP Hitler-Jugend Bann B (Blinde), Bericht. 718 Vgl. BAB, DGT, R 36/2017, GZ B/H Nr. 11/37, NSDAP Hitler-Jugend, Bann B (Blinde), Scharführer [Franz Bögge] an den Landesfürsorgeverband der Rheinprovinz Düsseldorf vom 15.1.1937, Betreff: Bitte um finanzielle Unterstützung. 719 Vgl. Dyck, Leibeserziehung, S. 1–4, hier S. 1. 720 Vgl. Dyck, Leibeserziehung, S. 1–4, hier S. 4; 721 Bögge, Aufgabe der [sic!] Bannes B, S. 1–7, hier S. 2. 722 Vgl. Schreiber, Schule, S. 16. 723 Fischer, Jugendwandern im Bann B, S. 1–5, hier S. 3. 117 und eine Steigerung der Leistung der Restsinne versprach sich die Führung des „Bannes B“ durch die Übungen.724 Sogar der Einsatz blinder Menschen im Krieg725 galt für Bögge als nicht ausgeschlossen. Es war beabsichtigt, blinde Jungen an den Horchgeräten der Flak auszubilden.726 Auch blinden Mädchen wurde ein „wehrpolitischer Einsatz“ 727, im Nachrichtenwesen oder bei kulturellen Veranstaltungen, in Aussicht gestellt.728 Ob es sich hierbei um reine Propaganda der SonderbannführerInnen oder um tatsächliche Pläne handelt, kann nicht weiter geklärt werden. Auf Grund von Interviews mit ehemaligen blinden Angehörigen der „Hitler-Jugend“, die in Deutschland von verschiedenen Seiten geführt wurden, scheint das Angebot des „Bannes B“ von den Jugendlichen häufig als positiv empfunden worden zu sein. Unter dem Titel „Wir waren begeistert“ 729 fasste Wolfgang Drave daher die Aussagen der von ihm befragten 28 blinden ZeitzeugInnen zur „Hitler-Jugend“ zusammen. Der blinde Autor Herbert Demmel berichtete, dass die Kameradschaftsabende, Geländespiele, Zeltlager, Aufmärsche und Besuche in Lazaretten für Aufführungen auf „große Begeisterung“ gestoßen sind.730 Eine von Gabriel Richter für seine Arbeit über Blindheit und Eugenik interviewte blinde Frau, die als Jugendliche auf Grund des GzVeN zwangssterilisiert worden war, gab als einziges positives Ereignis der Zeit zwischen 1933 und 1945 die Aktivitäten der „blinden Hitler-Jugend“ an. Das Liedersingen, die Gemeinschaftslager und das Zusammentreffen mit blinden Mädchen aus anderen Blindenschulen empfand sie als positiv: „Wir tanzten Volkstänze, sangen, pflegten Gemeinschaft und Kameradschaft und hatten bei manchen kleinen Streichen viel Spaß.“ 731 Wolfgang Drave fasste die Aussagen der von ihm befragten blinden Frauen und Männer zur „Hitler-Jugend“ dementsprechend folgendermaßen zusammen: „Und sie haben das Gefühl, trotz ihrer Blindheit, ihrer empfundenen Minderwertigkeit, nicht nutzlos zu sein, sondern gleichwertig den anderen Jungen und Mädchen am „neuen Geist“ der Zeit teilhaben zu können.“732 5.4 Widerspruch zur Propaganda: Jugendliche mit einer Behinderung und „Erbkranke“ in der „Hitler-Jugend“ Wie bereits erwähnt, sollte der Aufbau des „Reichsbann B“ als „Sonderbann“ eine Integration der blinden Jungen und Mädchen in die eigentliche „Hitler-Jugend“ verhindern. Dementsprechend war ebenfalls eine äußerliche Unterscheidung gewünscht. Das Tragen der HJ-Uniformen war daher zunächst den blinden Jugendlichen nur mit Auflagen 724 725 726 727 728 729 730 731 732 118 Vgl. Bögge, Aufgabe der [sic!] Bannes B, S. 1–7, hier S. 2. Zu den Einsatzmöglichkeiten von blinden Menschen in der Wehrmacht vgl. Kapitel II.6.4. Vgl. Bögge, Aufgabe der [sic!] Bannes B, S. 1–7, hier S. 4. Brunotte, BDM Arbeit, S. 1–3, hier S. 2. Vgl. Brunotte, BDM Arbeit, S. 1–3, hier S. 2. Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 128–140. Vgl. Demmel, Nacht zum Licht, S. 224. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 294. Drave, Blinde Menschen erzählen, S. 158 erlaubt. Die blinden Jugendlichen durften diese ohne die üblichen Schulterklappen tragen. Die HJ-Armbinde wurde durch die in der STVO733 vorgesehene „gelbe Armbinde mit den drei schwarzen Punkten“ 734 ersetzt.735 Jugendlichen, die neben ihrer Erblindung noch andere schwere körperliche Gebrechen hatten, war es nicht erlaubt, mit dem braunen „Ehrenkleid“ das Gelände der Blindenschulen zu verlassen.736 1937 wurde den blinden und gehörlosen Kindern und Jugendlichen schließlich das Tragen der Uniform gänzlich verboten.737 Hintergrund dieses Entschlusses dürften unter anderem Finanzierungsschwierigkeiten gewesen sein. Der „Bann B“ bekam 1937 von der HJ-Kassenverwaltung nur 150 RM monatliche Unterstützung und einen Sonderbetrag für die Durchführung von Zeltlagern.738 Der Sonderbann war daher auf zusätzliche Unterstützung angewiesen und „Gefolgschaftsführer“ Bögge bat die Mitglieder des DGT um Gelder für die Ausstattung mit Uniformen. Die Aktion war allerdings nur mäßig erfolgreich, weil die Sinnhaftigkeit des Ansuchens in Frage gestellt wurde.739 Das Landesprovinzialamt Kiel zum Beispiel hielt eine Finanzierung von Uniformen für die blinden und gehörgeschädigten HJ-Formationen für nicht notwendig. „Der Gedanke der Wehrhaftmachung, der für die gesunde Hitlerjugend in erster Linie leitend ist und in der Uniform seinen Ausdruck findet, kann bei Blinden und Taubstummen eben wegen ihrer körperlichen Behinderung doch schwerlich angewendet werden.“740 Die Aufnahme von Kindern und Jugendlichen mit einer Behinderung in die „Hitler-Jugend“ sorgte also für Unverständnis. Offiziell konnten nur „Erbgesunde“ an der „Hitler-Jugend“ teilnehmen.741 Wie in dieser Frage bei den Sonderbannen verfahren werden sollte, war umstritten und stand zunächst in der Schwebe.742 Laut Erinnerungen von Angehörigen des „Bannes G“ wurde bei der Aufnahme in die „Hitler-Jugend“ allerdings kein Unterschied 733 Vgl. dazu Kapitel II.2.6. 734 Demmel, Nacht zum Licht, S. 223. 735 Das gleiche Erscheinungsbild hatten auch die gehörlosen HJ-Formationen. Vgl. Büttner, Bann G, S. 85. Die Eingliederung der körperbehinderten Jugendlichen in die HJ erfolgte bis zur endgültigen Auflösung dieses Bannes im Allgemeinen ohne Uniform. Vgl. o. A., Körperbehinderte Jugendliche in der HJ, S. 160. Diese Regelungen zeigen, welche unterschiedliche Stellung die einzelnen Behindertengruppen in der NSZeit gehabt haben müssen. Vgl. Kapitel V. 736 Vgl. Klee, Der blinde Fleck. 737 Vgl. Demmel, Nacht zum Licht, S. 224; Büttner, Bann G, S. 85. 738 Der „Bann G“ erhielt 200 RM monatlich und 1000 RM für die Durchführung eines Zeltlagers. Der „Bann B“ hatte dafür 1500 RM erhalten. Vgl. BAB, R 36/2017, DGT, Z. Dr. F./B., NSDAP Reichsjugendführung, Bannführer V 11 (Haushalt) an den DGT vom 19.7.1937, Betreff: Finanzielle Unterstützung des Bannes B (Blinde) und des Bannes G (Gehörgeschädigte). 739 Vgl. BAB, DGT, R 36/2017, Finanzielle Unterstützung für Bann B (Blinde) und G (Gehörgeschädigte) der Hitler-Jugend. 740 BAB, DGT, R 36/1811, Oberpräsident Provinzialverband aus Kiel an den DGT vom 1.8.1934, Betreff: Rundschreiben vom 11.6.1934 Nr. III 2157/34. 741 Vgl. Büttner, Bann G, S. 75; Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 50. 742 Vgl. H. N., Blinde Hitlerjugend, in: Frankfurter Zeitung (Reichsausgabe), 22.12.1935, S. 652–653, zitiert in: Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 50. 119 auf Grund einer angenommenen, erblich bedingten Gehörlosigkeit gemacht.743 Auch blinde Jugendliche, die als „erbkrank“ galten, nahmen offenbar an den Aktivitäten des „Bannes B“ teil. „Gefolgschaftsführer“ Bögge behandelte 1937 dieses Thema in seinem Beitrag über Gesundheitsführung und schrieb darüber: „Es ist z. B. in den meisten Fällen nicht feststellbar, ob Erbkranke in die HJ Aufnahme gefunden haben oder nicht, denn die Ergebnisse der amtsärztlichen Untersuchungen dürfen nicht weiter bekannt gegeben werden.“744 Nach der persönlichen Ansicht von Bögge war die Mitgliedschaft von Kindern oder Jugendlichen mit einer erblich bedingten Erblindung nicht problematisch, da diese auf Grund des GzVeN zwangssterilisiert werden müssten. In der Folge könnten sie keinen „erbkranken“ Nachwuchs mehr zeugen und würden daher für das „Volk“ keine „Gefahr“ mehr darstellen.745 Der Blindenoberlehrer plädierte daher für eine Mitgliedschaft von „Sterilisierten“ im „Bann B“. Diesbezüglich hatte Bögge entsprechende Anträge bei der Reichsjugendführung gestellt. 1937 gab es aber noch keinen endgültigen Beschluss: „Bisher habe ich nur einen Zwischenbescheid erhalten, aus dem ich entnehme, daß meine Einstellung richtig ist, so daß der Mitgliedschaft Sterilisierter nichts im Wege steht.“ 746 Bögge rechnete damit, dass eine endgültige Entscheidung von der Reichsjugendführung nur nach Absprache mit dem „Rassenpolitischen Amt“ erfolgen würde. Er hielt es sogar für nicht ausgeschlossen, dass der „Führer“ sich den letzten Entscheid selbst vorbehalten würde, „weil es sich hier um eine schwerwiegende Entscheidung handelt.“ 747 Da keine weiteren Quellen zu dieser Fragestellung existieren, kann nicht mit Gewissheit gesagt werden, wie im „Reichsbann B“ die Aufnahme von angenommenen „Erbkranken“ geregelt wurde. Bekannt ist nur, dass blinde Kinder und Jugendliche, die neben ihrer Erblindung auch noch eine geistige Beeinträchtigung hatten, vom HJ-Dienst ausgeschlossen waren.748 Resümierend kann daher festgestellt werden: Wer geistig dazu in der Lage war, sollte trotz einer Erblindung oder vorliegenden Gehörlosigkeit eine Erziehung nach nationalsozialistischen Wert- und Normvorstellungen in der „Hitler-Jugend“ erhalten. Den Widerspruch, dass dadurch „behinderte“ Jugendliche in die „gesunde, deutsche Staatsjugend“ aufgenommen wurden, schien die NS-Führung zu akzeptierten, vor dem Hintergrund, dass die Betätigung der blinden Jugendlichen im „Reichsbann B“ ihre körperlichen Fähigkeiten steigern sollte und damit einen wichtigen Beitrag zur „Brauchbarmachung“ der blinden Menschen darstellte. 743 744 745 746 747 748 120 Vgl. Büttner, Bann G, S. 89. Bögge, Gesundheitsführung, S. 1–2. Vgl. Bögge, Gesundheitsführung, S. 1–2, hier S. 2. Vgl. Bögge, Gesundheitsführung, S. 1–2, hier S. 2. Vgl. Bögge, Gesundheitsführung, S. 1–2, hier S. 2. Vgl. Klee, Der blinde Fleck. 6.Berufliche Möglichkeiten 6.1 Überblick über die Erwerbsmöglichkeiten blinder Menschen Wie bereits erwähnt, war es das oberste Ziel des NS-Blindenwesens, blinde Menschen einer Erwerbstätigkeit zuzuführen.749 In den 1930er Jahren waren die meisten der berufstätigen blinden Männer und Frauen als HandwerkerInnen tätig gewesen. Die von ihnen produzierten Waren konnten allerdings kaum gegen die günstigeren Produkte aus industrieller Fertigung auf dem Markt bestehen.750 Der alleinige Verkauf ihrer Erzeugnisse sicherte den blinden HandwerkerInnen daher selten den notwendigen Lebensunterhalt. Um blinde Menschen unabhängig von öffentlicher und privater Unterstützung zu machen, sah es die NS-Führung daher als notwendig an, neue Berufsmöglichkeiten zu schaffen. Als Berufe für blinde Menschen mit besonders guten Zukunftsaussichten galt die Arbeit in Industriebetrieben, als TelefonistIn oder StenotypistIn. Für die Umsetzung dieser Maßnahmen wurde auf die Erfahrungen, die nach dem Ersten Weltkrieg in der Schaffung von Arbeitsplätzen für Kriegsblinde gemacht worden waren, zurückgegriffen. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg fanden Kriegsblinde an neuen Arbeitsplätzen in Industriebetrieben eine Beschäftigung.751 Auch kriegsblinde Akademiker, öffentliche Bedienstete und Büroangestellte konnten sich allmählich etablieren. Sie übten damit eine wichtige Vorreiterrolle aus. Ihre beruflichen Leistungen wurden in der Öffentlichkeit als gut bewertet. Dies erleichterte in der Folge auch die Anstellung von Zivilblinden.752 Viele der neuen Arbeitsplätze für blinde Menschen wurden allerdings durch die Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg, die mit Inflation und Massenarbeitslosigkeit verbunden war, wieder zunichte gemacht. Hinzu kam noch, dass in Österreich 1922 von 309 rentenversorgten Kriegsblinden 223 Besitzer einer Trafik waren.753 Blinde Kriegsopfer waren dadurch gut versorgt, was die Innovationsbereitschaft, neue Anstellungsmöglichkeiten im Vergleich zu Deutschland zu finden, hemmte. Das wirkte sich dann auch auf die Zivilblinden aus, die dadurch kaum von den gemachten Erfahrungen mit kriegsblinden Industriearbeitern profitieren konnten. Auch das „Inv alidenbeschäftigungsgesetz“ 754 von 1920 konnte an dieser Situation wenig ändern. Auf Grund dieser Bedingungen waren in Österreich nur wenige blinde Menschen vor 1938 in Industriebetrieben tätig gewesen. In den Siemens-Halske-Werken in Wien arbeiteten in den 1920er Jahren zehn Blinde.755 Einige wenige fanden eine Anstellung im Radiowerk „Schrack“, der Metallwarenfabrik „Langfelder & Putzker“, dem Radiowerk „Leopolder & Sohn“, der „Österreichischen Telefonfabrik A-G“, dem „Optischen Werk C. Reichert“ sowie bei „Erricson Österreichische Elektrizitäts A-G“.756 749 Vgl. Kapitel II.2.1, II.3, II.6. 750 Vgl. u. a.: Rhode, Berufsfürsorge, S. 20–24, hier S. 21; Graf, Berufseignung, S. 51–57 [Prof. Dr. med. Graf arbeitete am Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitspsychologie, Dortmund-Münster]. 751 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 104–119 und S. 166–176. 752 Vgl. o. A., Die Berufsarbeit der Blinden in ihrer Bedeutung für die Volksgemeinschaft, S. 34–37, hier S. 35. 753 Vgl. o. A., 50 Jahre Verband der Kriegsblinden Österreichs 1919–1969, Wien [1969], S. 61. 754 Vgl. Kapitel II.2.2.3. 755 Vgl. Bürklen, Blinde Arbeiter, S. 2. 756 Vgl. Bürklen, Blinde Arbeiter, S. 3. 121 Auch wenn durch diese Entwicklung bedingt 1938 die meisten der erwerbstätigen Zivilblinden in den klassischen Blindenhandwerksberufen arbeiteten, hatte die größte Gruppe von ihnen im „arbeitsfähigen“ Alter überhaupt keine Anstellung. Aus Österreich sind dafür keine Zahlen bekannt, aber es kann davon ausgegangen werden, dass die Situation nicht besser war als in Deutschland: Der deutsche blinde Jurist Rudolf Kraemer ging 1931 davon aus, dass in Deutschland nur 27,8 Prozent der blinden Menschen einer Erwerbstätigkeit nachgingen.757 Erst ab 1937 kam es zu einer vermehrten Beschäftigung von blinden Menschen in der Industrie und als Büroangestellte.758 Dies lag allerdings weniger an Maßnahmen des NS-Regimes, sondern an dem Arbeitskräftemangel im „Deutschen Reich“. 1938 fehlten rund 1,25 Millionen Arbeitskräfte in der gewerblichen Industrie.759 Durch den Kriegsbeginn 1939 verschärfte sich diese Situation weiter und es kam zu einer bis dahin unbekannten Knappheit an Arbeitskräften.760 Vor diesem Hintergrund intensivierte die NS-Verwaltung die berufliche Rehabilitation der angenommenen rund 35.650 Zivilblinden im „Deutschen Reich“. Aus der Sicht des NSRegimes hinderliche Faktoren bei der Schaffung von Arbeitsplätzen für blinde Menschen waren zudem weggefallen: „Dabei ist immer zu bedenken, daß es sich ja bei der heutigen Wirtschaftslage zum Glück nicht mehr darum handeln kann, daß ein Blinder einem Sehenden Arbeit wegnimmt, sondern, daß eine sehende Arbeitskraft dadurch frei wird für eine Tätigkeit, die höhere Ansprüche an die Sinnestüchtigkeit stellt.“761 Aber auch wenn blinde Menschen zwischen 1938 und 1945 vermehrt in Industriebetrieben arbeiteten, die meisten berufstätigen Blinden dürften weiterhin als HandwerkerInnen beschäftigt gewesen sein.762 Dies geht nach Pielasch und Jaedicke aus Berufsstatistiken dieser Zeit hervor.763 Zu diesen zählen auch die offiziellen Angaben über die Berufe von blinden Gästen in den RBV-Erholungsheimen.764 1939 waren von den 1.293 blinden BesucherInnen dieser Unterkünfte 813 berufstätig gewesen. Rund 30 Prozent waren HandwerkerInnen und 13 Prozent in der Industrie angestellt. In den Berufsstatistiken der Jahre 1940 bis 1942 werden HandwerkerInnen, IndustriearbeiterInnen und selbständige Gewerbetreibende nur mehr in einer Kategorie zusammengefasst, so dass eine weitere Ausdifferenzierung daher nicht möglich ist.765 Charakteristisch bei der Schaffung neuer Berufsmöglichkeiten für blinde Menschen in der NS-Zeit war, dass persönliche Interessen nur eine untergeordnete Rolle spielten. Die 757 Insgesamt betrug die Erwerbstätigkeit der Bevölkerung damals 51,3 Prozent. Vgl. Rudolf Kraemer, Endergebnis der Reichsgebrechlichenzählung, in: Die Blindenwelt, o. Nr., Jg. 19 (1931), S. 291, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 36. 758 Vgl. Demmel, Nacht zum Licht, S. 193. 759 Vgl. Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 228. 760 Vgl. Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 232. 761 Graf, Berufseignung, S. 51–57, hier S. 56. 762 Vgl. weiterführend: Strehl, Schulische, berufliche und nachgehende Fürsorge, S. 26–43. 763 Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte, S. 162. 764 Vgl. Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 536–437. 765 Vgl. Kapitel II.7. 122 Belange der Allgemeinheit und volkswirtschaftliche Aspekte standen im Vordergrund.766 Zivilblinde sollten dementsprechend auch dafür Verständnis haben, dass sie kein Studium absolvieren konnten, wenn die „volkswirtschaftliche Rentabilität“ einer solchen Ausbildung als nicht gegeben beurteilt wurde.767 Die AkademikerInnenquote unter den Zivilblinden war dementsprechend niedrig, vor allem im Vergleich zu den Kriegsblinden.768 Eine Sonderrolle bei den utilitaristisch orientierten Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen nahmen blinde Frauen ein.769 Sie fanden noch schwerer Arbeit als blinde Männer. Die Schaffung von Erwerbsmöglichkeiten für Frauen wurde daher als besonders dringlich betrachtet. Als geeignet wurden Berufe angesehen, die ihrer „Weiblichkeit“ entsprachen. Sie sollten Strick- oder andere Handarbeiten übernehmen. Da die Entlohnung von solchen Handarbeitsprodukten im Vergleich zum Aufwand gering war, wurde vor allem ihr Einsatz als Maschinenstrickerinnen forciert. Die Herstellung von Wollsachen auf einer Flachstrickmaschine war produktiver als reine Handarbeit.770 In den Blindenschulen erlernten blinde Mädchen die Haushaltsführung. Durch ihre Mithilfe in diesem Bereich sollte ein anderes sehendes Familienmitglied für die Ausübung eines Berufes frei werden.771 Auch Bürotätigkeiten galten als geeignete Beschäftigungsmöglichkeit. Unter den ersten sechs blinden Menschen, die in Wien die StenotypistInnen-Ausbildung absolvierten, waren dementsprechend vier Frauen.772 Für den Einsatz in Industriebetrieben fanden sich nach damaliger Auffassung Beschäftigungsmöglichkeiten für blinde Frauen vor allem in der Ernährungs- und Textilindustrie.773 Eine eigene Organisation, der „Verein blinder Frauen Deutschlands“ 774, war für die so genannte Berufs- und Arbeitsfürsorge der blinden Frauen zuständig. Dieser beschaffte auch blinden Frauen in der „Ostmark“ Arbeitsaufträge.775 6.2 Blinde HandwerkerInnen Zu den klassischen Blindenhandwerksberufen zählten das Bürsten- und Besenmachen, die Herstellung von Körben, das Flechten von Matten mit Hilfe eines einfachen Webrahmens sowie das Stricken an Maschinen. Außerdem setzten blinde HandarbeiterInnen Federwäscheklammern oder Gummimatten zusammen. Blinde HandwerkerInnen waren entweder selbständig oder in einer Werkstätte beschäftigt. Im Vergleich zu den industriegefertigten Produkten waren die hergestellten „Blindenwaren“ allerdings viel zu teuer.776 Das „Blindhandwerk“ wurde, wie bereits erwähnt, zunehmend unrentabel. 766 767 768 769 770 771 772 773 774 775 776 Vgl. Demmel, Nacht zum Licht, S. 193; Erlwein, Sehgeschädigten, S. 56. Vgl. o. A., Berufsarbeit, S. 34–37, hier S. 36. Vgl. Demmel, Nacht zum Licht, S. 329. Zur sozialen Stellung der blinden Frauen vgl. Kapitel II.10. Vgl. Hoelters, Betätigungsmöglichkeiten, S. 71–75, hier S. 74–75. Vgl. Hoelters, Betätigungsmöglichkeiten, S. 71–75, hier S. 71. Vgl. Klebert, Prüfung blinder Stenotypisten, S. 270–271, hier S. 271. Vgl. Hoelters, Betätigungsmöglichkeiten, S. 71–75, hier S. 73 Kapitel II.3.6, II.10. Vgl. Fürstenberg, Blinden von Niederdonau, S. 287–289, hier S. 288. Vgl. Claeßen, Die blinden Handwerker, S. 38–51, hier S. 38–41 [Claeßen war ein Kriegsblinder und als Geschäftsführer des Reichsverbandes für das Blindenhandwerk tätig]. 123 Trotzdem wurden auch nach Kriegsbeginn die meisten blinden SchülerInnen in den Blindenschulen zu HandwerkerInnen ausgebildet. Das RM d. I. versuchte, aus den eingangs geschilderten Gründen, mit einem Erlass im Jahr 1940 dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Von einer Ausbildung von blinden HandwerkerInnen sollte abgesehen werden. Lehrlinge, die ihre Lehrzeit bereits begonnen hatten, aber noch nicht zu weit fortgeschritten waren, wurden dazu angehalten, diese aufzugeben, wenn sie für einen anderen Beruf als geeignet erschienen.777 Inwieweit diese Bestimmungen von den Blindenschulen umgesetzt wurden, kann auf Grund fehlender Quellen nicht nachvollzogen werden. Ein Grund, warum die Bedeutung der Handwerksberufe für blinde Menschen nicht zurückging, war paradoxerweise eine Reihe von Maßnahmen des NS-Regimes zur Stützung des Blindenhandwerks. 1935 war durch das Reichsarbeitsministerium (RAM) der „Reichsverband für das Blindenhandwerk“ (RBH) im Rahmen der Reichsgruppe Handwerk errichtet worden. Dieser hatte die rechtliche Stellung eines Reichsinnungsverbandes. Alle Gewerbetreibende,778 die überwiegend blinde HandwerkerInnen beschäftigten, mussten diesem Verband angehören.779 Das RAM und der Reichswirtschaftsminister hatten die Aufsicht über diese Organisation,780 die auch das gesetzlich geschützte „Blindenwarenzeichen“ 781 vergaben. Dieses sollte garantieren, dass ein damit ausgezeichnetes Produkt wirklich hauptsächlich von blinden oder praktisch blinden Menschen gefertigt worden war. Es kam immer wieder vor, dass BetrügerInnen Produkte als „Blindenwaren“ ausgaben und sich an deren Erlös bereicherten. Die Kennzeichnung mit dem vorgeschriebenen „Blindenwarenzeichen“ erschwerte diesen Missbrauch und sollte den Absatz dieser Produkte verbessern.782 Gesetzlich geregelt wurde die Verwendung dieses Abzeichens durch die zweite Verordnung zur Ergänzung der Regelungen für die Blindenwaren vom 6. April 1940 in der Gewerbeordnung. Diese galt zunächst nicht in der „Ostmark“.783 Die NS-Regierung plante aber, die notwendigen gesetzlichen Bestimmungen zur Einführung des „Blindenwarenzeichens“ in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ noch zu erlassen. Das geht aus einem Rundschreiben des RBH hervor. Diesem waren auch blinde HandwerkerInnen und Blindenwerkstätten der „Ostmark“ 1938/39 angeschlossen worden. Sie mussten allerdings, bis das „Blindenwarenzeichen“ auch ihnen verliehen werden konnte, keine Mitgliedsbeiträge zahlen.784 Ob überhaupt, und wenn ja, wann das „Blindenwarenzeichen“ in der „Ostmark“ eingeführt wurde, ist nicht bekannt. 777 Vgl. BAB, DGT, R 36/1802, Nr. 153, Nachrichtendienst DGT vom 5.8.1940, Betreff: Nr. 690 Arbeitsmöglichkeiten für Blinde [RMdI, Runderlass vom 16.7.1940, RMBliV, S. 1508]. 778 Dies konnten sowohl blinde HandwerkerInnen sein, die wiederum andere blinde Menschen beschäftigten, als auch sehende Gewerbetreibende, die eine Werkstätte für blinde ArbeiterInnen betrieben. 779 Vgl. Rhode, Berufsfürsorge, S.20–24, S. 23. 780 Vgl. BAB, DGT, R 36/1805, Reichsverband für das deutsche Blindenhandwerk Satzungen [1941]. 781 D] RGBl., Teil I, Verordnung zur Durchführung des § 56a Abs. 2 der Gewerbeordnung vom 1. Oktober 1934, S. 868; [D] RGBl., Teil I, Nr. 64/1940, Zweite Verordnung zur Durchführung und Ergänzung des § 56a Abs. 2 der Gewerbeordnung für das Deutsche Reichs vom 6. April 1940, S. 623. 782 Das Zeichen besteht aus einer Sonne mit drei Strahlen, nach der zwei Hände greifen. Es ist noch heute in Deutschland als gesetzlich geschütztes Symbol für Handwerksarbeiten von blinden Menschen in Gebrauch. Vgl. o. A., Über den Verband. 783 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Nr. 64/1940, S. 623. 784 Vgl. BAB, DGT, R 36/1805, Reichsverband für das deutsche Blindenhandwerk, Rundschreiben Nr. 5 1939/1940, S. 2. 124 Der RBH war aber auch in anderer Hinsicht von Bedeutung für blinde Hand­wer­ker­ In­nen der „Ostmark“. In den RBH-Rundschreiben wurden die Schutzbestimmungen für das Blindenhandwerk in der „Ostmark“ publiziert. Den blinden HandwerkerInnen im „Altreich“ wurde im Dezember 1938 per Erlass des Reichswirtschaftsministers verboten, ihre Blindenwaren im „Land Österreich“ 785 zu verkaufen oder dorthin zu liefern.786 Diese Regelung wurde in der Folge bis mindestens zum 30. Juni 1940 ausgedehnt.787 Im Februar 1940 wurde das deutsche Handwerksrecht in der „Ostmark“ eingeführt.788 Blinde HandwerkerInnen mussten sich nun in die Handwerksrolle eintragen lassen, als Voraussetzung dafür, das Blindenhandwerk selbständig ausüben zu dürfen. Die Meisterprüfung, die dafür eigentlich die Voraussetzung war, wurde von den blinden HandwerkerInnen aber nicht zwingend verlangt. Sie konnten auf Grund einer Ausnahmebewilligung in die Handwerksrolle eingetragen werden.789 Mit Kriegsbeginn verbesserte sich die Auftragslage der blinden HandwerkerInnen, vor allem durch Aufträge der Wehrmacht,790 wie Geschosskörbe, Bürsten oder Besen.791 Der Gewinn bei der Herstellung solcher Heeresbedarfsartikel war allerdings nicht sehr groß, denn die Wehrmacht zahlte niedrige Stückpreise. Hinzu kam, dass es vor dem Hintergrund der Kriegswirtschaft zunehmend schwieriger wurde, Rohmaterial zu beschaffen. Auf der Tagung der LeiterInnen und LehrerInnen deutscher Blindenschulen 1940 wurde daher empfohlen, vermehrt „Jagd nach den Pflanzenarten der engeren Heimat zu machen.“ 792 Die Werkstätten der Blindenschulen testeten die Verwendung von Schilf und Wurzeln von heimischen Grasarten. Außerdem erließ die NS-Regierung noch Kriegsauflagenprogramme für blinde HandwerkerInnen. Sie sollten Kohlenkörbe, Glasballonkörbe und Kleineisenpackkörbe sowie auch Körbe für anderen Bedarf wie z. B. Kartoffelkörbe produzieren. Für diese kriegswichtigen Produktionen wurde nach Möglichkeit Rohmaterial zur Verfügung gestellt.793 Eisen hingegen, das die Blindenwerkstätten zum Beispiel für das Zusammensetzen von Wäscheklammern benötigten, war kaum mehr beschaff bar. 785 BAB, DGT, R 36/1805, Reichsverband für das deutsche Blindenhandwerk, Rundschreiben Nr. 5 1939/1940, S. 5 [GZ AZ III SW 29013/38, Erlass des Reichswirtschaftsministers im Einvernehmen mit dem Herrn Reichskommissar für die Preisbildung vom 8.12.38]. 786 Erlassen wurden diese Vorschriften im Zuge der Verordnung über einen Marktschutz für die österreichische Wirtschaft vom 27. September 1938 ([D] RGBl., Teil I, S. 1203). Vgl. BAB, R 36/1805, Reichsverband für das deutsche Blindenhandwerk, Rundschreiben Nr. 5 (1938/39), S. 5 [GZ AZ III SW 29013/38, Erlass des Reichswirtschaftsministers im Einvernehmen mit dem Herrn Reichskommissar für die Preisbildung vom 8.12.38]. 787 Der Akt ist nicht vollständig. Über eine Fortsetzung dieser Schutzbestimmungen ist daher nichts bekannt. Vgl. BAB, DGT, R 36/1805, Reichsverband für das deutsche Blindenhandwerk, Rundschreiben Nr. 6 (1939). 788 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Einführung des Handwerkrechts in der Ostmark vom 24. Februar 1940, S. 420–422. 789 Vgl. Claeßen, Handwerker, S. 38–51, hier S. 3; BAB, DGT, R 36/1805, Reichsverband für das deutsche Blindenhandwerk, Rundschreiben Nr. 8 (1940), S. 1. 790 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Nr. III, 2512/40, Niederschrift über die erste Tagung der Arbeitsgemeinschaft am 25.10.1940 in Berlin, S. 32. 791 Vgl. Demmel, Nacht zum Licht, S. 194. 792 O. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 51. 793 Vgl. o. A., Nachrichten des Reichsverbandes für das Blindenhandwerk, S. 62–64, hier S. 63. 125 6.3 Beschäftigungsmöglichkeiten in der Industrie Wie eingangs erwähnt, führten die Erfahrungen mit Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges vermehrt dazu, dass blinde Menschen vor allem in Deutschland in Industriebetrieben beschäftigt wurden.794 In den 1920er Jahren arbeiteten rund 100 blinde Menschen in den Siemens-Schuckert-Werken in Berlin.795 Die dort gemachten Erfahrungen verbreitete Paul Perls, Fabrikdirektor des Siemens-Kleinbauwerkes, durch Vorträge und Broschüren über die Landesgrenzen Deutschlands hinaus.796 Der Grundsatz bei der Adaptierung von Arbeitsplätzen für blinde ArbeiterInnen in Fabriken war zum Beispiel an Stanz- oder Bohrmaschinen entsprechende Schutzvorrichtungen anzubringen.797 Alle sich drehenden und bewegenden Teile sollten geschützt werden, damit bei einem ungewollten Betasten der Teile die blinde Arbeiterin bzw. der blinde Arbeiter sich nicht verletzen konnte.798 Neben der Bedienung von Maschinen wurde für blinde Menschen als Tätigkeit auch das Gebiet der Kontrolle angeführt. Durch ihr angenommenes gutes Tastempfinden erschienen sie dafür als geeignet.799 Die Tätigkeiten von blinden Menschen in Industriebetrieben waren hauptsächlich Arbeiten, die üblicherweise von weiblichen, sehenden Angestellten verrichtet wurden. Blinde ArbeiterInnen wurden daher nach dem Frauentarif entlohnt. In einzelnen Fällen wurde ein Stundenlohn ausbezahlt, meist jedoch erhielten sie ein leistungsbezogenes Arbeitsentgelt, den Akkordlohn.800 Da blinde Menschen häufig nicht so schnell arbeiten konnten wie sehende ArbeiterInnen, verdienten sie meist deutlich weniger als ihre sehenden ArbeitskollegInnen. Durch den kriegswirtschaftlich bedingten Arbeitskräftemangel kam es ab 1938 zu einem Anstieg bei der Anstellung blinder Menschen in Industriebetrieben vor allem im „Altreich“.801 Grund dafür war allerdings nicht nur der hohe Bedarf an Industriearbeitskräften. Blinde Menschen konnten in verhältnismäßig kurzer Zeit zu FabriksarbeiterInnen ausgebildet werden, was als besonders „rentabel“ galt. Alle anderen Berufsausbildungen für blinde Menschen erforderten einen wesentlich höheren Aufwand.802 Trotz des Arbeitskräftemangels erwies sich die Suche nach Arbeitsplätzen in der Industrie für blinde Menschen in der „Ostmark“ als schwierig. Walther Otto Fürstenberg, Leiter des RBV-Gaubundes „Niederdonau“, berichtete von den Vorurteilen über die Arbeitsleistung blinder Menschen und die damit verbundenen Schwierigkeiten bei der Vermittlung von Arbeitsplätzen.803 Der Leiter des RBV-Gaubundes Kärnten, Rupert Molzbichler, schrieb 1944, dass er kaum blinde Menschen in die Industrie vermitteln konnte.804 794 Vgl. Kapitel II.6.1; Hoffmann, Kriegsblinde, S. 104–108. 795 Vgl. Claeßen, Die blinden Handwerker, S. 38–51, hier S. 50; Bürklen, Blinde Arbeiter, S. 1. 796 Vgl. Perls, Unfallverhütung; Paul Perls, Blindenbeschäftigung, Berlin 1929, zitiert in: Biwald, Helden und Krüppeln, S. 1. 797 Vgl. Perls, Unfallverhütung, Abb. 26. 798 Vgl. Graf, Berufseignung, S. 51–57, hier S. 54–55. 799 Vgl. Graf, Berufseignung, S. 51–57, hier S. 55. 800 Vgl. Bürklen, Blinde Arbeiter, S. 11. 801 Vgl. o. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 47. 802 Vgl. Bürklen, Blinde Arbeiter, S. 5. 803 Vgl. Fürstenberg, Blinden von Niederdonau, S. 287–289, hier S. 287. 804 Als Grund dafür gab er an, dass es im Gau Kärnten nur Kleinindustrie im Holzfach gegeben hätte und dementsprechend die Voraussetzungen für die Beschäftigung von blinden Menschen in der Industrie nicht gegeben seien. Vgl. Molzbichler, Fünf Jahre, S. 195–197, hier S. 196. 126 6.4 Tätigkeiten in kriegswichtigen Unternehmen und der Wehrmacht Eine insbesondere propagandistische Wirkung hatten Bemühungen in der NS-Zeit, Zivilblinde in kriegswichtigen Unternehmen und Wehrmachtsbetrieben einzusetzen. Da blinde Menschen nicht als Soldaten kämpfen konnten, wurde ihnen auf diese Weise durch die Propaganda das Gefühl vermittelt, auch einen Beitrag zur „Verteidigung der Heimat“ zu leisten. Wie viele blinde Menschen „Kriegsdienst“ leisteten, ist nicht bekannt, aber aus einzelnen Quellen lassen sich verschiedene Einsätze dokumentieren. So berichtet der Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges Johann H. von einem namentlich nicht genannten Zivilblinden, der vorübergehend im Heeresbekleidungsamt in Salzburg tätig war. Johann H. war dort auch beschäftigt, kündigte aber, weil sein Arbeitsplatz durch das Zusammenrücken der Maschinen so eingeschränkt wurde, dass er sich dauernd den Kopf an den Maschinen anstieß.805 Dieses Beispiel weist auch darauf hin, dass es bei der Adaptierung von Arbeitsplätzen für blinde Menschen erhebliche Mängel gab. Blinde Masseure fanden Anstellung in Reservelazaretten.806 Ab Sommer 1942 war auch der blinde Johann Flach aus Riederbuch (Oberösterreich) als Masseur im Sanitätswesen der Wehrmacht beschäftigt.807 Das ist bemerkenswert, denn in der Zwischenkriegszeit wurden blinde Menschen in Österreich für diese Arbeit als nicht geeignet eingestuft. Es gab daher vor dem „Anschluss“ auch keine Ausbildungsmöglichkeiten, erst nach Kriegsbeginn wurden blinde Menschen in der „Ostmark“ zu Masseuren ausgebildet.808 Einige wenige Zivilblinde konnten direkt in der Wehrmacht, im Nachrichtendienst, insbesondere als Funker, arbeiten. Einer der interviewten, blinden Zeitzeugen von Wolfgang Drave, Herr F., berichtet, dass er nach einem halbjährigen Lehrgang am 1. Juli 1940 beim OKW am Tirpitzufer als Funker eingestellt wurde, allerdings als Angestellter nicht als Militärperson. Noch sieben weitere blinde Männer absolvierten dieselbe Ausbildung.809 Außerdem berichtete der Direktor der Kieler Blindenschule, Kühn, auf der ersten Tagung der „Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung“ des DGT am 25. Oktober 1940 davon, dass man 1938 damit begonnen hatte, fünf blinde Kieler im Nachrichtendienst für den Einsatz an einer Küstenstation der Marine auszubilden. Im Sommer 1939 fand an der U-Bootschule in Neustadt in Holstein ein Folgekurs mit weiteren Teilnehmern statt. Die Anwesenden auf besagter Tagungen 1940 wurden bezugnehmend auf diese Beschäftigungsmöglichkeit um Geheimhaltung gebeten.810 Offenbar befürchtete man negative Reaktionen, wenn die Beschäftigung von blinden Personen in der Wehrmacht publik wurde. Ernsthaft wurde darüber hinaus versucht, blinde Menschen an Horchgeräten der Flak einzusetzen.811 In Stuttgart812 wurden diese Versuche nach einem erfolglosen Test allerdings 805 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann H, H. an das HVA Wien vom 24.6.1943, Betreff: Arbeitseinstellung im Heeresbekleidungsamt. 806 Vgl. Fürstenberg, Blinden von Niederdonau, S. 287–289, hier S. 287. 807 O. A., Zur Chronik des Blindenwesens [1944], S. 240. 808 Vgl. Kapitel III.4.2, III.5.1, III.5.4. 809 Vgl. Drave, Blinde Menschen erzählen, S. 142–144. 810 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Nr. III, 2512/40, Niederschrift über die erste Tagung der Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung des DGT am 25.10.1940, S. 24. 811 Vgl. Bögge, Aufgabe, S. 1–7, hier S. 4. 812 1856 wurde in Stuttgart die Stiftung „Nikolauspflege“ gegründet. Diese verfügte unter anderem auch über eine Blindenschule. Noch heute existiert die Nikolausstiftung. Vgl. <www.nikolauspflege.at>. 127 wieder eingestellt.813 Außerdem soll es in Baden bei Wien Anfang des Krieges in einem Militärausbildungslager eine Ausbildung von blinden Männern zu „Horchern“ gegeben haben, berichtet der von Drave interviewte blinde Funker Herr F. Offenbar wurde angenommen, blinde Menschen könnten besser hören als Sehende und sie sollten daher lernen, durch ihr Gehör näher kommende Flugzeuge zu orten. Auch dieses Experiment scheiterte laut den Aussagen von Herrn F.: „Das waren wohl mehr Saufereiabende als alles andere.“814 6.5 TelefonistInnen und StenotypistInnen Um die Berufe TelefonistIn815 und StenotypistIn nach dem „Anschluss“ auch in der „Ostmark“ zu etablieren, mussten dafür zunächst Ausbildungsmöglichkeiten geschaffen werden. Obwohl es schon während des Ersten Weltkriegs Bestrebungen gegeben hatte, vor allem Kriegsblinde zu Telefonisten auszubilden, hatte sich diese Berufsmöglichkeit in Österreich nicht durchsetzen können.816 An der Wiener Blindenschule wurde 1938 daher in Zusammenarbeit mit der Firma „Siemens & Halske“ aus Berlin ein entsprechender Ausbildungslehrgang eingerichtet. Ingenieure der Firma „Siemens & Halske“ hatten ein so genanntes „Blindentastzeichen“ entwickelt, das blinden Menschen die Bedienung einer Telefonanlage ermöglichte.817 Nur von diesem Unternehmen konnten in der NS-Zeit diese Hilfsmittel für die Adaptierung von Telefonzentralen hergestellt werden.818 Im Vergleich zu den üblichen Vermittlungsplätzen mussten für die blinden BenutzerInnen optische Aufruf- und Überwachungszeichen durch die Tastzeichen ersetzt werden.819 Der Blindenlehrer der Wiener Blindenschule Karl Trapny820 nahm mit anderen Ver­tre­ terIn­nen aus Österreich im April 1939 an einem Lehrgang zur TelefonistInnenausbildung in Berlin teil.821 Am 21. und 22. März 1941 fand in Nürnberg eine weitere Arbeitstagung statt, bei der der Oberingenieur Friedrich Wilhelm Gust den Vortrag „Auswahl, Schulung und praktischer Einsatz von geistig regsamen Blinden als Telephonisten in Nebenstellenanlagen“822 hielt. Im November 1942 kam es zu einer dritten Arbeitstagung in Berlin.823 1940 wurde an der Blindenschule in Wien für die zukünftige Ausbildung ein Schulungsgerät der Firma „Siemens & Halske“ angeschafft. Der Ingenieur Johannes Koczott 813 Vgl. Nikolauspflege, Rechenschaftsbericht 1939–1952, Stuttgart 1952, S. 4, zitiert in: Sauer, Situation blinder Jugendlicher, S. 60. 814 Vgl. Drave, Blinde Menschen erzählen, S. 144. 815 Die Schreibweise dieses Begriffes in der NS-Zeit war nicht einheitlich. Beide Varianten, „Telephonist“ und „Telefonist“ kamen vor. Für die bessere Lesbarkeit wurde für diese Arbeit die heute gültige Schreibweise gewählt. 816 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 109–111und S. 166. 817 Vgl. Trapny, Blindentelephonie, S. 10–13, hier S. 10–11. 818 Erst 1948 konnten auch in Österreich solche Tastzeichen von der Firma „Czeija & Nissl“ in Wien mit Genehmigung der Firma „Siemens & Halske“ hergestellt werden. Vgl. Trapny, Blindentelephonie, S. 10–13, hier S. 12. 819 Vgl. Koczott, Blinde am Fernsprechvermittlungsplatz, S. 4–11, hier S. 4. 820 Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges wurde Trapny in das Kriegsblindenlazarett nach Wien versetzt, um dort die Grundausbildung der betroffenen Soldaten durchzuführen. Vgl. Kapitel II.9, III.4.2.1. 821 Vgl. Trapny, Blindentelephonie, S. 10–13, hier S. 10. 822 Trapny, Blindentelephonie, S. 10–13, hier S. 10. 823 Vgl. Trapny, Blindentelephonie, S. 10–13, hier S. 10. 128 reiste zur Wartung dieser Anlage während des Krieges fünfmal nach Wien. Anfang 1941 begann dort der erste Lehrgang, an dem nur zwei blinde Menschen teilnahmen, da der Kurs noch erprobt werden musste.824 Bis 1945 wurden sieben Lehrgänge abgehalten, insgesamt 33 blinde Männer und Frauen absolvierten nach Angaben von Trapny, die aus dem Jahr 1954 stammen, die Ausbildung.825 Dabei lernten sie nicht nur die technische Bedienung der Telefonzentrale. Zu den notwendigen Fähigkeiten gehörte auch, die Bedienung einer Schreibmaschine zu beherrschen, um Mitteilungen schnell und für Sehende lesbar notieren zu können.826 AbsolventInnen der Ausbildung zum Betriebstelefonisten in Wien erhielten einen „Befähigungsnachweis“. Ein entsprechendes Zeugnis ist auch in den Akten über die Kriegsblindenfürsorge erhalten.827 Die Kurse wurden von Zivil- und Kriegsblinden belegt,828 wobei vor allem durch die Zunahme der erblindeten Soldaten im Laufe des Krieges die Anzahl der Zivilblinden in diesen Ausbildungslehrgängen immer mehr zurückgegangen sein dürfte. Nur 15 der 33 AbsolventInnen fanden in den Jahren 1942 bis 1948 allerdings eine Anstellung im neu erlernten Beruf.829 Da nicht alle Telefonzentralen die technischen Voraussetzungen erfüllten, um für blinde TelefonistInnen adaptiert zu werden, und außerdem die Häufigkeit der ein- und ausgehenden Telefonverbindungen nicht zu hoch sein durfte, gab es nur wenige geeignete Arbeitsplätze.830 Hinzu kam, dass während des Krieges nicht genügend TechnikerInnen zur Verfügung standen, welche die technischen Hilfsmittel in den Telefonzentralen installieren konnten.831 Gegen Ende des Krieges verloren zudem vier der AusbildungsteilnehmerInnen ihren Arbeitsplatz wieder, da ihre Betriebe durch Bomben zerstört worden waren. Sechs der AbsolventInnen konnten in einem anderen Beruf unterkommen.832 Zwölf ehemalige KursteilnehmerInnen fanden keine Anstellung. Der Aufwand, der für die Einführung dieses Berufes in der „Ostmark“ betrieben wurde, erscheint angesichts dieser Einstellungsbilanz als groß. Außerdem profitierten nur wenige Zivilblinde von dieser neuen Berufsmöglichkeit, da die wenigen offenen Posten in erster Linie Kriegsblinden zur Verfügung standen. Nach der Entlassung aus der Wehrmacht sollten möglichst alle ehemaligen erblindeten Soldaten einen Beruf zugewiesen bekommen. Der Kriegsblinde Telefonist Johann G. aus dem Gau „Tirol- Vorarlberg“ erwartete sich beispielsweise eine Anstellung bei der Gemeinde Feldkirch. Dort arbeitete in der Telefonzentrale allerdings der blinde Invalidenrentner Christian N., der diesen Posten nun für den Kriegsgeschädigten räumen sollte.833 Durch Intervention des Bürgermeisters konnte in diesem Fall der Zivilblinde seinen Arbeitsplatz behalten und 824 Vgl. Trapny, Blindentelephonie, S. 10–13, hier S. 11. Außer in Wien gab es keine weitere Ausbildungsstätte für blinde TelefonistInnen in der „Ostmark“. Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge Franz S., GZ IV/1, Leiter des Versorgungsamtes Graz an das HVA Wien vom 23.6.1942, Betreff: Berufsberatung Franz S. 825 Vgl. Trapny, Blindentelephonie, S. 10–13, hier S. 11. 826 Vgl. [Strehl], Blinden in mittleren und höheren Berufen, S. 63–71, hier S. 65. 827 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Karl K., Befähigungsnachweis für blinde Betriebstelefonisten vom 16.2.1944. 828 Vgl. Kurz, Der Telephonist, in: Der Kriegsblinde, Nr. 6, Jg. 26 (1942), S. 79–82, hier S. 79–80. 829 Vgl. Trapny, Blindentelephonie, S. 10–13, hier S. 11. 830 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 7; Kurz, Der Telephonist, S. 79–82, hier S. 80–81. 831 Vgl. Kurz, Der Telephonist, S. 79–82, hier S. 81. 832 Vgl. Trapny, Blindentelephonie, S. 10–13, hier S. 11. 833 Vgl. Kapitel II.2.3.2. 129 Johann G. kam beim Landesgericht unter. In der Regel wurden aber Kriegsblinde bei der Berufsfürsorge bevorzugt.834 Der zweite neue „Zukunftsberuf“ für blinde Menschen in der NS-Zeit war der als StenotypistIn. Die ein- bis zweijährige Ausbildung dazu konnte zunächst nur an den Handelsschulen für blinde Menschen in Marburg an der Lahn und Berlin absolviert werden. Die Anforderungen waren dabei sehr hoch: Die blinden AbsolventInnen sollten eine Stenographiergeschwindigkeit von 150 Silben und eine Anschlagsgeschwindigkeit von 240 bis 300 Anschlägen in der Minute erreichen.835 Die Bedingungen während der Ausbildung waren zudem teilweise brutal: Eine in der NS-Zeit zwangssterilisierte blinde Jugendliche berichtete Gabriel Richter in einem Interview 1984, dass sie neben ihrer Berufsausbildung zur Telefonistin und Stenotypistin jede freie Stunde in der anstaltseigenen Strickerei verbringen musste, um Handlangerdienste zu leisten: „Wenn jemand einmal krank wurde, so ging er erst im letzten Moment zum Arzt. […] Ich weiß sogar von einem Sterbefall. Das betreffende Mädchen sah furchtbar blaß aus und fühlte sich nicht wohl. Es wurde geschlagen und beschuldigt, es habe sich mit Mehl bestäubt. Wenige Tage später war das Mädchen tot.“836 Auch blinde Menschen aus der „Ostmark“ dürften an diesen Schulen in Berlin und Marburg eine Ausbildung absolviert haben.837 Aber erst nach der Einrichtung eines entsprechenden Lehrganges in Wien konnten vermehrt Betroffene aus den „Alpen- und Donaureichsgauen“ diesen Beruf erlernen. Am 16. Juli 1943 legten die ersten sechs AbsolventInnen vor der Handelskammer eine Prüfung ab. Unter ihnen waren vier Frauen, ein Mann sowie eine Person, dessen Vorname in der TeilnehmerInnenliste nicht angegeben wurde, weshalb das Geschlecht dieser Person nicht eruiert werden kann.838 Leider ist nicht bekannt, wie viele der TeilnehmerInnen dann tatsächlich eine Anstellung fanden. Der Leiter des RBV-Gaubundes „Niederdonau“ berichtet von einem Zivilblinden, der im Landratsamt Neubistritz als Stenotypist tätig war. 839 Auch in Kärnten konnten blinde Menschen als Stenotypisten arbeiten.840 Weitere Angaben zu den Berufschancen blinder StenotypistInnen konnten nicht gefunden werden. Angesichts der späten Einführung dieser Ausbildungsmöglichkeiten in Wien, die ersten AbsolventInnen hatten erst rund zwei Jahre vor Kriegsende abgeschlossen, dürfte auch dieser „Zukunftsberuf “ der NS-Zeit nicht viele blinde Menschen ernährt haben. 834 Vgl. ÖSTA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann G. 835 Vgl. [Strehl], Die Blinden in mittleren und höheren Berufen, S. 63–71, hier S. 65–66. 836 Richter, Blindheit und Eugenik, S. 294. 837 Der selbst blinde Lehrer u. a. für das Fach Geschichte am Sonderpädagogischen Zentrum für blinde und sehbehinderte Kinder in Innsbruck, Klaus Guggenberger, teilte der Autorin in einem persönlichen Gespräch am 19.2.2009 in Innsbruck mit, dass er blinde Menschen aus Österreich kannte, die zwischen 1938 und 1945 die Einrichtung in Marburg an der Lahn besucht haben. 838 Vgl. Klebert, Prüfung blinder Stenotypisten, S. 270–271. 839 Vgl. Fürstenberg, Blinden von Niederdonau, S. 287–289, hier S. 287. 840 Vgl. Molzbichler, Fünf Jahre, S. 195–197, hier S. 196. 130 6.6 Blinde „GeistesarbeiterInnen“ Unter dem Begriff „blinde GeistesarbeiterInnen“ verstand man in der NS-Zeit all diejenigen, die eine Universität, Hoch- oder höhere Fachschule besucht hatten.841 Wie bereits eingangs erwähnt, bekamen nur wenige Zivilblinde die Möglichkeit, eine solche Ausbildung zu absolvieren. Zivilblinde AkademikerInnen fanden im Gegensatz zu den Kriegsblinden nur schwer eine Anstellung.842 In erster Linie für die Kriegsblinden war daher auch die Etablierung einer neuen Studienrichtung für blinde Menschen gedacht: die Rundfunkwissenschaften. Dieses Vorhaben wurde mit Mitteln des Propagandaministeriums finanziert, allerdings mit der Einschränkung, dass „bevorzugt“ Kriegsblinde zu diesem Studium zugelassen werden sollten.843 Eine Übersicht über die Mitglieder des „Vereins blinder Intellektueller Österreichs“844 aus dem Jahr 1933 zeigt, wie schwer es schon in der Zwischenkriegszeit für die 39 Mitglieder war, eine Vollbeschäftigung zu finden. 19 waren „Jugendblinde“, sechs Kriegsblinde und 14 späterblindete „Zivilpersonen“. Nur neun von ihnen waren vollbeschäftigt. Davon arbeiteten sechs in der Blindenfürsorge als Obmänner oder Beamte. Nebenberuflich arbeiteten vier als blinde Lehrkräfte an den Blindenanstalten. Sieben MusiklehrerInnen, vier SprachlehrerInnen, drei BlindenlehrerInnen und eine Kindergärtnerin waren arbeitssuchend. 35 der 39 Mitglieder lebten in Wien.845 In der NS-Zeit war man der Auffassung, dass der außerordentliche „Aufwand an Energie und Kosten“846, der durch eine höhere akademische Ausbildung verursacht würde, bei gleichzeitiger schlechter Anstellungsmöglichkeit die Zulassung von blinden Menschen zum Studium nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt sei.847 Die Möglichkeiten, einen höheren Schulabschluss zu erlangen, wurden daher eingeschränkt. Nur „voll gesunde, geistig hochbegabte und charakterlich einwandfreie“848 blinde SchülerInnen sollten überhaupt eine höhere Schullaufbahn einschlagen können. Schon 1936 war die „Blindenstudienanstalt“ in Marburg an der Lahn nach einem Erlass des Reichserziehungsministers vom 14. Dezember zur „geeignetsten höheren Schule für Blinde“ im „Deutschen Reich“ bestimmt worden.849 Nur in Ausnahmefällen sollten blinde Kinder zunächst probeweise die Möglichkeit bekommen, an anderen Schulen das „Abitur“ zu machen.850 Die Einrichtung in Marburg als „Hochschulbücherei, Studienanstalt und Beratungsstelle für blinde Studierende“ hatte darüber hinaus am 22. Juni 1936 vom Präsident der „Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ den Auftrag zur nichtgewerbsmäßigen Arbeitsvermittlung und Berufsberatung für „blinde GeistesarbeiterInnen“ 841 842 843 844 845 846 847 848 849 Vgl. o. A., Vermittlungsauftrag für Österreich, S. 336–337 [Punktschriftausgabe]. Zu den Möglichkeiten von Kriegsblinden, ein Studium zu absolvieren, vgl. Kapitel III.5.1, III.5.4. Vgl. Strehl, Rundfunkwissenschaften und Blindenstudium, S. 30–32, hier S. 30; Kapitel III.5.1. Vgl. Kapitel II.3.6. Vgl. Güterbock, Verein blinder Intellektueller Österreichs, S. 376–378 [Punktschriftausgabe]. [Strehl], Die Blinden in mittleren und höheren Berufen, S. 63–71, hier S. 64. Vgl. [Strehl], Die Blinden in mittleren und höheren Berufen, S. 63–71, hier S. 64. Rhode, Berufsfürsorge, S. 20–24, hier S. 22. Vgl. [Strehl], Die Blinden in mittleren und höheren Berufen, S. 63–71, hier S. 67; Strehl, Schulische, berufliche und nachgehende Fürsorge, S. 23. 850 Vgl. Rhode, Berufsfürsorge, S. 20–24, hier S. 22; [Strehl], Die Blinden in mittleren und höheren Berufen, S. 63–71, hier S. 67. 131 erhalten.851 Am 27. August 1938 wurde dieser auch auf das Gebiet der „Ostmark“ ausgedehnt.852 Ein namentlich nicht genannter Vertreter der „Blindenstudienanstalt“ rief blinde AkademikerInnen in der „Ostmark“ auf, sich schriftlich mit einer Stellenbewerbung zu melden. Ende 1938 sollte dieser Vertreter der „Studienanstalt“ eine Reise von München über Salzburg, Linz nach Wien, dann nach Graz, Klagenfurt und Innsbruck unternehmen, um dort einen Vortrag zum Thema „Die blinden Geistesarbeiter und ihre besondere Einrichtung in Marburg/Lahn“853 zu halten. Auch für die „Ostmark“ sollte also diese Einrichtung im „Altreich“ zur wichtigsten Ausbildungsstätte für eine höhere Schullaufbahn werden. Zivilblinde, welche die Matura absolviert hatten, mussten für die Zulassung zum Studium einen halbjährigen „Sonderdienst in den Arbeitsbetrieben der Marburger Blindenstudienanstalt“854 absolvieren. Diese Regelung war zwar für blinde Menschen vorübergehend ausgesetzt worden, trat aber ab 1. April 1940 wieder in Kraft. Nur zwei MaturantInnen leisteten 1940 diesen Dienst in den Arbeitsbetrieben der Marburger Anstalt ab. 855 Diejenigen blinden Menschen, die es trotz dieser Bedingungen schafften, ein Studium zu beenden, galten in der „Ostmark“ als etwas Besonderes. Über ihre Leistungen wurde in den damaligen Zeitschriften des Blindenwesens berichtet. 1939 schrieb der bereits erwähnte blinde Wiener Leopold Mayer von seinem erfolgreichen Abschluss an der Wiener Lehrerbildungsanstalt.856 In der „Blindenwelt“ wurde der späterblindete Paul Thüringer gewürdigt, der am 6. Mai 1940 in Wien zum Doktor der Philosophie promovierte.857 Eine kurze Meldung erschien, als Wilhelm Graßmück die Reifeprüfung für Gesang und Gitarre an der „Reichshochschule für Musik“ in Wien im Juni 1944 absolvierte.858 Alle diese Fälle waren allerdings Ausnahmen. 1944 gab es nach Angaben von Carl Strehl in „Deutschland“ nur „rund ein halbes Hundert zivilblinde Studierende“.859 Die Fortführung ihres Studiums war durch den „totalen Kriegseinsatz“860, die Zerstörung einiger Hochschulen und die geplante Schließung von Fakultäten zu diesem Zeitpunkt ungewiss. Sie sollten darüber hinaus neben ihrem Studium 18 bis 20 Stunden wöchentlich einer der folgenden kriegswichtigen Tätigkeiten nachgehen: „Anfertigung von Tarnnetzen, Strickarbeiten, Sortieren von Nieten, Anfertigung von Wundklammern, Knüpfen von Reißschnüren für Handgranaten, Flechten von Aluminiumbändern für die Rüstungsindustrie.“861 851 852 853 854 855 856 857 858 859 Vgl. o. A., Vermittlungsauftrag für Österreich, S. 336–337. Vgl. o. A., Vermittlungsauftrag für Österreich, S. 336–337. O. A., Vermittlungsauftrag für Österreich, S. 336–337. Strehl, Geschäftsbericht [1940], S. 3. Vgl. Strehl, Geschäftsbericht [1940], S. 3. Vgl. Mayer, Lehrerbildungsanstalt, S. 171–178. Vgl. Besser, Außerordentlicher Erfolg eines Blinden, S. 127–128, hier S. 128. Vgl. o. A., Zur Chronik des Blindenwesens. Wien [1944], S. 163. Vgl. Carl Strehl, in: Marburger Beiträge, Nr. 3 (1944), S. 71ff [Schwarzdruckausgabe] zitiert in: Malmanesh, Blinde, S. 84–86, hier S. 86. 860 Malmanesh, Blinde, S. 85–86, hier S. 84. 861 Carl Strehl, in: Marburger Beiträge, Nr. 3 (1944), S. 71ff [Schwarzdruckausgabe] zitiert in: Malmanesh, Blinde, S. 84–86, hier S. 86. 132 6.7 Blinde MusikerInnen Blinde Menschen hatten, nach der Auffassung vieler PädagogInnen, bedingt durch ihr angeblich „feines“ Gehör ein besonderes „musikalisches Talent“. Sie wurden daher zu OrganistInnen, KlavierspielerInnen, SängerInnen oder MusiklehrerInnen ausgebildet. Auch unter dem NS-Regime wurde der Auftritt von blinden MusikerInnen bei Konzerten als eine wichtige Erwerbstätigkeit angesehen. Der freie Verkauf von Eintrittskarten für diese Veranstaltungen von Haus zu Haus wurde aber nach der Einführung des Sammlungsgesetzes862 1934 verboten. Die Konzerte wurden zu genehmigungspflichtigen Veranstaltungen.863 Durch die erste Verordnung zur Durchführung des Reichskulturkammergesetzes vom 1. November 1933 mussten alle MusikerInnen in der Reichsmusikkammer Mitglied sein, um eine Erlaubnis zum Auftritt zu erhalten.864 In der Reichsmusikkammer wurde 1935 das „Blindenkonzertamt“ eingerichtet, dass die Durchführung von Auftritten blinder MusikerInnen beaufsichtigte.865 Geregelt wurden diese Veranstaltungen durch die „Richtlinien für die Genehmigung von Blindenkonzerten“866. Als „Blindenkonzerte“ galten öffentliche Auftritte, bei denen eine oder mehrere blinde KünstlerInnen mitwirkten. Die Unkosten durften 70 Prozent nicht überschreiten, damit den mitwirkenden blinden KünstlerInnen wenigstens 30 Prozent der Bruttoeinnahmen zufallen würden.867 Als Genehmigungsbehörden fungierten größtenteils die Innenministerien der einzelnen Reichsgaue.868 Am 23. Juni 1939 erhielt das „Blindenkonzertamt“ neue Satzungen, wodurch es von einem Aufsichtsorgan zu einer neuen Einrichtung wurde, die für alle durch die blinden Künst­ lerIn­nen bedingten Sonderaufgaben der Reichsmusikkammer zuständig war.869 Nach dem „Anschluss“ wurde das „Blindenkonzertamt“ auch in der „Ostmark“ tätig. Die ersten Konzerte konnten in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ ab April 1940 durchgeführt werden. Die Gesamtzahl der Konzerte mit blinden KünstlerInnen im „Deutschen Reich“ stieg dadurch von 672 im Geschäftsjahr April 1939 bis März 1940 auf 1.003 Veranstaltung 1940/41. Rund 100 blinde KünstlerInnen waren daran insgesamt beteiligt. Im Geschäftsjahr 1943/44 konnte die Rekordzahl von 1.517 Veranstaltungen erreicht werden. Der Umsatz betrug über 1,8 Millionen RM. Blinde MusikerInnen kamen so auf ein Jahresdurchschnittseinkommen von mehr als 8.300 RM.870 Sie gehörten damit zu den SpitzenverdienerInnen unter den blinden Menschen. Dafür mussten sie aber ihre künstlerische Freiheit aufgeben, 862 Vgl. Kapitel II.3.7. 863 Vgl. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 151/09 Bü 314, 18: Vollzug des Sammlungsgesetzes vom 5. November 1934; II.3.3a, zitiert in: Schrenk, Rudolf Kraemer, S. 219. 864 Vgl. [D] RGBl., Teil 1, Erste Verordnung zur Durchführung des Reichkulturkammergesetzes vom 1. November 1933, S. 797–800. 865 Vgl. Brüggemann, Die blinden Musiker, S. 57–63, hier S. 60. 866 Runderlass des Reichs- und Preußischen Minister des Inneren vom 17.10.35 V W 6000 a/5.10–Ministerialblatt der inneren Verwaltung Nr. 43 v. 23.10.1935, S. 1291, zitiert in: Brüggemann, Die blinden Musiker, S. 57–63, hier S. 61. 867 Vgl. Runderlass des Reichs- und Preußischen Minister des Inneren vom 17.10.35 V W 6000 a/5.10–Ministerialblatt der inneren Verwaltung Nr. 43 v. 23.10.1935, S. 1291, zitiert in: Brüggemann, Die blinden Musiker, S. 57–63, hier S. 61. 868 Vgl. Schrenk, Rudolf Kraemer, S. 220. 869 Vgl. Stoeckel, Die Förderung blinder Musiker, S. 267–270, hier S. 267 [Stoeckel war Referent an der Reichsmusikkammer]. 870 Vgl. Schrenk, Rudolf Kraemer, S. 221–222. 133 denn angesichts der umfangreichen Zensur durch die Reichskulturkammer konnten sie wie andere KünstlerInnen unter der NS-Diktatur nicht über Art, Umfang, Häufigkeit und Programm ihrer Auftritte selbst entscheiden.871 Mit der Gründung der Reichskulturkammer Ende 1933 begann auch die Ausgrenzung von KünstlerInnen, die keinen „Ariernachweis“ vorweisen konnten. Am 12. November 1938, zwei Tage nach der „Kristallnacht“, wurde es Menschen, die nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ als Jüdinnen und Juden galten, generell verboten, Theater, Konzerte, Kinos oder andere kulturelle Veranstaltungen zu besuchen.872 Das „Blindenkonzertamt“ wurde vom RBV verwaltet,873 der bis 1943 über eine „Notenbeschaffungszentrale“ in Berlin verfügte, die aus einem Übertragungsbüro mit Leihbücherei und Druckabteilung bestand.874 Im Sommer 1943 wurde diese Einrichtung schließlich auch vom „Blindenkonzertamt“ übernommen.875 Darüber hinaus gab es beim RBV eine Fachgruppe für blinde KlavierstimmerInnen, die am 16. und 17. Oktober 1941 in Wien eine Tagung abhielt.876 Sehr schwierig war die Beschäftigungssituation von blinden MusikerlehrerInnen. Wenn sie nicht an einem Musikinstitut oder einer Blindenschule beschäftigt waren, konnten sie mit ihrem Verdienst kaum ihren Lebensunterhalt bestreiten.877 1939 gab es zudem Bestrebungen in der Reichsmusikkammer, blinden Menschen die Erteilung von Privatunterricht gänzlich zu verbieten. Ihre ausreichende fachliche Qualifikation wurde angezweifelt, da sie die Notenschrift der sehenden SchülerInnen nicht lesen konnten und außerdem deren richtige Körperhaltung durch „Abtasten“ und „Berührungen“ feststellen mussten.878 In der Abteilung Musikerziehung des „Reichsministeriums für Volksaufklärung“ wurde über diese Frage beraten. Referent Goslich ging davon aus, dass zwischen 4.000 und 5.000 Blinde von der „Ausschaltung blinder Musikerzieher“ betroffen sein würden. „In moralischer Hinsicht“879 befürwortete er aber den Antrag der Reichsmusikkammer. Trotzdem stimmte in einem Schrei­ben vom 22. September 1939 das „Reichsministerium für Volksaufklärung“ aus „grundsätzlichen Erwägungen“880 nicht zu, blinden Menschen die Erteilung von Musikunterricht zu verbieten.881 Blinde MusiklehrerInnen dürften also weiterhin Sehende unterrichtet 871 Vgl. Steinweis, Art, ideology and economics, p. 103. 872 Vgl. Steinweis, Art, ideology and economics, p. 115. [Zum Ausschluss von KünstlerInnen jüdischer Herkunft aus dem kulturellen Leben des „Deutschen Reiches“ vgl. weiterführend Steinweis, Art, ideology and economics, insb. pp. 104–120.] 873 Vgl. Rhode, Berufsfürsorge, S. 20–24, hier S. 23. 874 Vgl. Brüggemann, Die blinden Musiker, S. 57–63, hier S. 62. 875 Vgl. Schrenk, Rudolf Kraemer, S. 222. 876 Vgl. Gersdorff, Tätigkeitsbericht [1941], S. 221–229, hier S. 225. 877 Vgl. Brüggemann, Die blinden Musiker, S. 57–63, hier S. 58. 878 Vgl. BAB, RM für Volksaufklärung, R 55/20589, AZ M 10300/22.7.39/8522/1, Präsident der Reichsmusikkammer an das RM für Volksaufklärung vom 22.7.1939, Betreff: Erteilung von Musikunterricht durch Blinde. 879 BAB, RM für Volksaufklärung, R 55/20589, Entwurf, August 1939, Referent Dr. Goslich, Betreff: Ausschaltung blinder Musikerzieher. 880 Vgl. BAB, RM für Volksaufklärung, R 55/20589, AZ M 10300/22.7.39/8522/1, RM für Volksaufklärung, Referent Dr. Goslich an Präsidenten der RMK vom 22.9.1939, Betreff: Schreiben vom 22.7.1939 – VII 65676/39 [Signatur Reichsmusikkammer]. 881 Vgl. BAB, RM für Volksaufklärung, R 55/20589, AZ M 10300/22.7.39/8522/1, RM für Volksaufklärung, Referent Dr. Goslich an Präsidenten der RMK vom 22.9.1939, Betreff: Schreiben vom 22.7.1939 – VII 65676/39 [Signatur Reichsmusikkammer]. 134 haben. Durch den kriegsbedingten geringen Bedarf an Musikunterricht hatten sie aber wie ihre sehenden KollegInnen kaum mehr Erwerbsmöglichkeiten. Auch bei den blinden MusikerInnen kam es gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zu Einschränkungen. Konzerte mussten durch kurzfristige Saalbeschlagnahmungen oder Zerstörungen der Auftrittsorte abgesagt werden. Außerdem gab es Transportprobleme. Blinde UnterhaltungsmusikerInnen traten praktisch nur mehr bei Wehrmachtsveranstaltungen oder in Rüstungsbetrieben auf. In der Nacht vom 29. auf den 30. Jänner 1944 wurde das „Blindenkonzertamt“ in Berlin zerstört. Obwohl Konzerte mit blinden MusikerInnen auch während des „totalen Kriegseinsatzes“ ab Herbst 1944 stattfinden sollten, war in der Praxis die Durchführung kaum mehr möglich. Der Konzertbetrieb kam weitgehend zum Erliegen.882 6.8 Resümee In der NS-Zeit wurden zwar neue Berufsmöglichkeiten entwickelt und deren Ausbildung gefördert: Eine größere Anzahl von Zivilblinden fand aber keine Anstellung, obwohl für die Einrichtung neuer Ausbildungslehrgänge, wie das Beispiel für blinde Be­triebs­te­le­fo­ nistIn­nen zeigt, ein sehr hoher Aufwand betrieben wurde. Aus heutiger Sicht erscheint es als paradox, dass für die Schaffung neuer Berufsmöglichkeiten sogar gegen das NS-Postulat der „Produktivität“ verstoßen wurde, da Aufwand und Nutzen in keiner sinnvollen Relation standen. Anspruch und Wirklichkeit der NS-Propaganda über die Beschäftigungsmöglichkeiten für blinde Menschen gingen daher weit auseinander. Das erklärte Ziel der „Vollbeschäftigung“ wurde in keiner Phase auch nur annähernd erreicht. Die berufliche Situation verbesserte sich zwischen 1938 bis 1945 kaum. Vorbehalte gegenüber der „Leistungsfähigkeit“ von „behinderten“ ArbeiterInnen verstärkt durch die Propaganda gegen „Minderwertige“ und die mangelnde Erfahrung mit blinden Arbeitskräften begünstigten diese Entwicklung. Die begonnenen Ausbildungszweige zu TelefonistInnen, StenotypistInnen oder auch MasseurInnen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings ausgebaut, und blinde Menschen konnten sich in der Zweiten Republik in diesen Berufen etablieren. Heutzutage arbeitet beispielsweise ein Großteil der berufstätigen blinden Menschen als TelefonistInnen. 882 Vgl. Schrenk, Rudolf Kraemer, S. 222–223. 135 7.„Erholungsfürsorge“ „Die Ruhe ist wohltuend. Was haben wir berufstätigen Blinden, die wir täglich im Straßenverkehr so viel Nervenkraft brauchen, von einem belebten Kurort, wo wir vielleicht noch nicht einmal so sehr erwünscht sind?“883 Um ihre „Produktivität“ zu erhalten, wurden in der NS-Zeit insbesondere erwerbstätige blinde Menschen dazu angehalten, „Gesundheitspflege“884 zu betreiben. Diesbezügliche Agitation betrieb unter anderem der RBV-Gesundheitsrat Carl Siering. „Gesundheit wurde mit Leistungsfähigkeit gleichgesetzt.“885 Demnach gehörte die „körperliche Ertüchtigung“ zur „Pflicht“ eines jeden blinden „Volksgenossen“. An den Blindenanstalten wurden Turnstunden eingeführt,886 außerhalb der Schulen gründeten sich Blindensportvereine und Sporteinrichtungen der DAF sollten von den blinden SportlerInnen genutzt werden.887 Die so genannte „Erholungsfürsorge“ war Teil der NS-Gesundheitspflege blinder Menschen. Schon in der Zwischenkriegszeit waren in Deutschland und Österreich von den Selbsthilfeorganisationen Erholungsheime für blinde Menschen geschaffen worden. 1926 erwarb der „Verband der Blindenvereine Österreichs“ in St. Georgen am Reith ein Ein­kehr­ gast­haus und vergrößerte es durch einen Zubau. Ab 1. Juli 1927 konnten dort in zwei Zyklen je etwa 30 blinde Menschen einen Urlaub verbringen.888 Nach dem „Anschluss“ ging das Erholungsheim St. Georgen in den Besitz des RBV über, der 1938 über insgesamt sieben solcher Einrichtungen verfügte.889 Die „Erholungsfürsorge“ des RBV orientierte sich an, wie es hieß, „biologischvölkischen“ 890 Gesichtspunkten. Die Plätze sollten dementsprechend hauptsächlich „arbeitstauglichen“ 891 blinden Menschen zur Verfügung stehen. Dies spiegelt sich auch in den offiziellen RBV-Statistiken zur „Erholungsfürsorge“ wider. Von den 1939 insgesamt 1.293 blinden Erholungssuchenden waren 813 berufstätig. In den folgenden Jahren kamen immer weniger nichterwerbstätige Blinde in den RBV-Erholungsheimen unter. 1940 stellten sie noch einen Anteil von rund 20,5 Prozent. 1942 waren es nur mehr rund 11,7 Prozent.892 Auswirkungen hatten diese Regelungen auch auf den Frauenanteil unter den blinden Gästen. Da die Arbeitslosigkeit unter ihnen höher war als unter den blinden Männern, ging ihr Anteil von rund 44 Prozent im Jahr 1939 auf 39 Prozent 1942 zurück. 883 884 885 886 887 888 889 Friedrich, St. Georgen am Reith, S. 57–60, hier S. 60. Siering, Gesundheitspflege, S. 131–137. Jantzen, Sozialgeschichte, S. 149. Vgl. Kapitel II.4.2. Vgl. Siering, Gesundheitspflege, S. 131–137. Vgl. o. A., Geschichtlicher Abriss unseres Hauses. Blindenerholungsheime gab es in Wernigerode, Bad Oppelsdorf bei Zittau, auf dem Kniebis bei Freudenstadt im Schwarzwald, am Timmendorferstrand (Lübecker Bucht), Wertheim am Main, St. Georgen am Reith und in Marquartstein in Südbayern. 890 Siering, Gesundheitspflege, S. 131–137, hier S. 134. 891 Siering, Gesundheitspflege, S. 131–137, hier S. 134. 892 Die Berufsstatistiken der Jahre 1939 bis 1942 sind im Anhang des Manuskriptes meiner Dissertation dargestellt. Vgl. Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 537–538. 136 Ab 1943 bis zum Kriegsende 1945 veröffentlichte der RBV keine Statistiken zur „Erholungsfürsorge“ mehr.893 Aus den Angaben des RBV geht nicht hervor, ob das Haus in St. Georgen 1938 geöffnet war oder nicht. In die Auswertung des RBV wurde diese Einrichtung erst 1939 aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt verfügte die Einrichtung über 70 Betten.894 Pro Tag und Person mussten drei RM gezahlt werden. Unter Umständen konnten berufstätige Blinde allerdings einen kostenfreien Aufenthalt in den RBV-Erholungsheimen verbringen. An deren Finanzierung waren verschiedene Stellen beteiligt: das Reichsversicherungsamt, die Landesversicherungsanstalten, die Krankenkassen, die NSV, die Sozialämter der DAF, die zuständigen Einrichtungen der öffentlichen und „freien“ Wohlfahrtspflege sowie der RBV.895 175 blinde Gäste kamen 1939 nach St. Georgen. Insgesamt zählte der RBV in diesem Jahr 1.293 blinde Menschen in den RBV-Erholungsheimen. Der Kriegsbeginn unterbrach den Betrieb allerdings. Viele Gäste reisten ab und Anmeldungen wurden zurückgezogen.896 Ab 1939 kamen nach St. Georgen nicht mehr nur blinde Gäste aus der „Ostmark“: Blinde Menschen aus dem ganzen „Deutschen Reich“ konnten sich anmelden. Während 1940 die Gesamtzahl der Aufenthalte von blinden Gästen in den RBV Erholungs- und Kurheimen zurückging, konnte in St. Georgen eine leichte Steigerung verzeichnet werden. 206 blinde Menschen (1939: 175) mit ihren sehenden Begleitpersonen, insgesamt 289 Personen, verbrachten 6.054 so genannte „Pflegetage“897 dort. Im ganzen „Deutschen Reich“ zählte der RBV 1940 nur mehr 903 (1939: 1.293) blinde Gäste in den Erholungsheimen. Der RBV erklärte diesen Rückgang offiziell damit, dass drei der insgesamt sechs RBV Einrichtungen im „Altreich“ 1940 der Aufnahme von „Rückwanderern“ und „Umsiedlern“ gedient hätten.898 1941 war auch das Heim in St. Georgen davon betroffen. Bis Mitte April war es laut RBVAngaben ein „Umsiedlerlager“.899 Erst am 1. Juni wurde es wieder für blinde BesucherInnen geöffnet. Dementsprechend kamen 1941 nur mehr 52 blinde Menschen dorthin.900 Im Jahr 1942 wurden die Richtlinien für die Aufnahme in den Erholungsheimen geändert. Fast die Hälfte aller Plätze wurde blinden ArbeiterInnen, die in Rüstungs- oder kriegswichtigen Betrieben tätig waren, kostenfrei zur Verfügung gestellt.901 Durch diese Maßnahme sollte wohl eine Steigerung der Arbeitsleistung von blinden ArbeiterInnen in kriegswichtigen Unternehmen erreicht werden. Das Erholungsheim in St. Georgen war von diesen Regelungen nicht betroffen. In einem Aufsatz über die Geschichte dieser Einrichtung heißt es, dort seien 1942 eine „chemische Versuchsanstalt“ und „rumänische Umsiedler“ untergebracht worden.902 Die „Erholungsfürsorge“ des RBV wurde kriegsbedingt eingeschränkt. Die Aufenthaltsdauer für blinde 893 894 895 896 897 898 899 Für diese Studie wurden daher die Statistiken der Jahre 1939 bis 1942 herangezogen. Vgl. Siering, Gesundheitspflege, S. 131–137, hier S. 134. Vgl. Siering, Gesundheitspflege, S. 131–137, hier S. 136. Vgl. o. A., Unsere Kur- und Erholungsheime im Jahre 1939, S. 38. Vgl. o. A., Unsere Kur- und Erholungsheime im Jahr 1940, S. 34. Vgl. o. A., Unsere Kur- und Erholungsheime im Jahr 1940, S. 34. O. A., Bestimmungen für den Besuch unserer Kur- und Erholungsheime im Jahre 1941, S. 35–36, hier S. 35. 900 Vgl. o. A., Uebersicht über den Besuch unserer Heime im Jahre 1941, S. 58–61. 901 Vgl. Gersdorff, Bericht über die Arbeit des RBV [1942], S. 279–283, hier S. 280. 902 Vgl. o. A., Geschichtlicher Abriss unseres Hauses. 137 Menschen reduzierte sich 1943 von vier auf höchstens drei Wochen.903 1944 kam die „Erholungsfürsorge“ schließlich fast gänzlich zum Erliegen. Entweder waren die Einrichtungen für andere Zwecke von der Wehrmacht beschlagnahmt oder sie wurden gegen Kriegsende mit evakuierten blinden Menschen aus durch Luftangriffe gefährdeten Gebieten und mit obdachlosen Betroffenen belegt.904 Auch in St. Georgen kamen 1944 evakuierte blinde Menschen mit ihren Familien unter. Der Erholungsbetrieb im ursprünglichen Sinn konnte nach dem Ende des Krieges 1946 wieder eingeschränkt aufgenommen werden.905 Bis zum Sommer 2009 nutzte der ÖBSV die Einrichtung in St. Georgen als Urlaubspension „Zur Waldquelle“ für blinde Gäste. Aus finanziellen Gründen beschloss der ÖBSV 2009 den Betrieb einzustellen. 903 Vgl. o. A., Bestimmungen über den Besuch der Blindenerholungsheime 1943, S. 37–40, hier S. 37. 904 Vgl. Gersdorff, Blindenerholung 1944, S. 95–98, hier S. 96. 905 Vgl. o. A., Geschichtlicher Abriss unseres Hauses. 138 8.Blindheit und Eugenik 8.1 Einleitung Inwieweit blinde Menschen in der „Ostmark“ durch das eugenische Programm des NSRegimes betroffen waren, sollte durch eine eigenständige wissenschaftliche Arbeit erforscht werden. Gabriel Richter hat dies mit seiner 1986 publizierten Dissertation „Blindheit und Eugenik“ für Deutschland getan.906 Auf Grund fehlender und für ihn nicht zugänglicher Quellen konnte aber auch Richter seine Forschungsfragen teilweise nicht erschöpfend beantworten.907 Im Folgenden wird dementsprechend ein Überblick zum derzeitigen Erkenntnisstand über das Thema Blindheit und Eugenik in der „Ostmark“ gegeben. Als Quellen wurden unter anderem die Akten von 14 Verfahren, die am Wiener Erbgesundheitsgericht wegen „erblicher Blindheit“ geführt wurden, herangezogen.908 Der Bestand im WStLA umfasst 1.697 erstinstanzliche Verfahrensakten und 266 dazugehörige Beschwerdeverfahren.909 Unter dem von Francis Galton geprägten Begriff der Eugenik910 wurden Maßnahmen verstanden, welche zur „langfristigen Verbesserung des Erbanlagenbestands des deutschen Volkes durch Förderung der Fortpflanzung“ so genannter „Erbgesunder“ und der Verhinderung der Reproduktion „Erbkranker“ dienten.911 WissenschaftlerInnen setzten sich im 19. und 20. Jahrhundert mit den entsprechenden Ansichten auseinander.912 906 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik. Das GzVeN in Zusammenhang mit der Augenheilkunde im Nationalsozialismus hat der Leiter des ophthalmologischen Labors der Universitäts-Augenklinik Tübingen, Jens Martin Rohrbach, in einer 2007 publizierten Studie behandelt. Seine Arbeit ist für die Beantwortung medizinisch-historischer Fragen durchaus relevant, die Quellenangaben zu seinen Schilderungen insbesondere zum GzVeN sind allerdings mangelhaft. Auch stellt er in diesem Zusammenhang beispielsweise die wissenschaftlich unhaltbare Vermutung auf, die Mehrzahl der AugenärztInnen hätten mit den Sterilisationen etwas Gutes tun wollen. Die Arbeit von Rohrbach muss dementsprechend kritisch beurteilt werden und seine Aussagen wurden in dieser Studie nur nach einer ausführlichen Kritik herangezogen. Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, insb. S. 131. 907 Das Thema Eugenik wurde auch in Bezug auf andere Behinderungsgruppen untersucht. Vgl. Antor, Bleidick, Recht auf Leben; Büttner, Der Bann G; Ryan, Schumacher, Deaf People in Hitler’s Europe; Fuchs, „Körperbehinderte“; Biesold, Klagende Hände; Rudnik, Aussondern; Hamm, Zwangssterilisation und „Euthanasie“; Poore, Disability in Twentieth Century, pp. 116–124. 908 Claudia Spring hat den Bestand des Wiener Erbgesundheitsgerichts für ihre Dissertation, die 2009 publiziert wurde, bearbeitet. Freundlicherweise gab sie die Aktenzahlen dieser 14 Verfahren wegen „erblicher Blindheit“ bekannt, weshalb diese Unterlagen für diese Arbeit im WStLA eingesehen werden konnten. Vgl. Spring, „Zwangssterilisationen in Wien 1940–1945. [Publikation: Spring, Zwischen Krieg und Euthanasie.] 909 Vgl. Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 10. 910 Es ist an dieser Stelle nicht möglich, alle relevanten Monographien und Sammelbände zum Thema Eugenik zu zitieren, deshalb wird auch auf die in folgenden Werken angegebene Literatur und Quellen verwiesen. Vgl. u. a. diese sowie die in diesem Kapitel an anderer Stelle zitierte Literatur: Baader, Hofer, Mayer, Eugenik in Österreich; Bock, Zwangssterilisation; Gabriel, Neugebauer, Zwangssterilisierung zur Ermordung; Horn, Malina, Medizin im Nationalsozialismus; Henke, Tödliche Medizin; Goldberger, NSGesundheitspolitik; Malina, Neugebauer, NS-Gesundheitswesen und -Medizin, S. 696–720. 911 Vgl. Schmitz-Berning, Vokabular, S. 212. 912 Zur Geschichte der Eugenik und der Rassenhygiene vgl. auch die dort angegebene Literatur u. a. Seidler, Rassenhygiene und das völkische Menschenbild, S. 77–97; Spring, NS-Zwangssterilisation in der Heilund Pflegeanstalt Am Steinhof, S. 42–76, hier bes. S. 48–49; Malmanesh, Blinde, hier bes. S. 27–43; Hödl, 139 Das rassenhygienische Programm des NS-Regimes umfasste ein breites Spektrum. Es beinhaltete Handlungen der so genannten „positiven“ Eugenik,913 Zwangsmaßnahmen gegen „unerwünschte“ Bevölkerungsgruppen wie Zwangssterilisationen und Eheverbote sowie die „Vernichtung unwerten Lebens“ und den Holocaust.914 Im Folgenden soll vor allem auf die Bedeutung der Zwangssterilisationen, „Euthanasie“-Maßnahmen und Eheverbote für blinde Menschen eingegangen werden. Darüber hinaus werden die Auswirkungen der Propaganda, welche die Umsetzung der eugenischen Zwangsmaßnahmen begleitet haben, beschrieben.915 8.2 Zwangssterilisationen 8.2.1 Gesetzgebung Menschen, die als „erbkrank“ galten, sollten im NS-Staat keine Kinder bekommen und daher „unfruchtbar“ gemacht werden. Gesetzlich geregelt wurde dies durch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN), das am 1. Jänner 1934 in Deutschland in Kraft trat. Zu den Diagnosen, die eine Zwangssterilisation indizierten, zählte laut § 2, Ziffer 6 auch „erbliche Blindheit“.916 Die Verfahren wurden vor dem eigens dafür geschaffenen Erbgesundheitsgericht geführt, das in Österreich bei den Landesgerichten angesiedelt war. Verantwortlich für die Beschlüsse waren nach dem GzVeN zwei Ärzte, ein beamteter und ein in der „Erbgesundheitslehre“ versierter Arzt. Unter dem Vorsitz des Richters, der das Verfahren vorbereitete und für den formalen Ablauf verantwortlich war, wurde festgestellt, ob die betroffenen Frauen und Männer als „erbkrank“ anzusehen waren oder nicht.917 Gegebenenfalls wurde eine „Unfruchtbarmachung“ angeordnet. Dieser Eingriff konnte gegen den Willen der Betroffenen durchgeführt werden.918 Sich einer gerichtlich angeordneten Zwangssterilisation zu entziehen, war Betroffenen theoretisch nur dann möglich, wenn sie sich auf eigene Kosten in eine geschlossene Anstalt919 913 914 915 916 917 918 919 140 Rassenhygiene zum Nationalsozialismus, S. 136–157; Löscher, Katholische Eugenik in Österreich; Gabriel, Neugebauer, Eugenik, Rassenhygiene und Euthanasie. Dazu zählte die Förderung „erbgesunder“ Familien mit „erwünschter“ Nachkommenschaft. Das Spektrum der Maßnahmen reichte von Kinder-, Familien- und Ausbildungsbeihilfen über die staatlich subventionierte Bekämpfung der Kinderlosigkeit bis zur rassisch motivierten Ehevermittlung. Auch kinderreiche Familien, bei denen der Vater blind war, erhielten Förderungen. Vgl. Kapitel II.2.4.2; Goldberger, „Erb- und Rassenpflege“ in Oberdonau, S. 345–366, hier S. 351–353. Vgl. u. a. Schmitz-Berning, Vokabular, S. 212–213. Zum Begriff Holocaust vgl. Kapitel IV.1.1. Vgl. dazu weiterführend: Makowski, Eugenik. Weitere Diagnosen waren „angeborener Schwachsinn“, „Schizophrenie“, „erbliche Fallsucht“, „erblicher Veitstanz“, „erbliche Taubheit“, „schwere erbliche körperliche Mißbildungen“ sowie „Alkoholismus“. Vgl. Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, S. 56; zur Diagnose „erbliche Blindheit“ vgl. Kapitel II.8.2.2. Vgl. Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 55. Dies bestimmte § 12 des GzVeN. Zitiert nach: Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, S. 58; Bock, Zwangssterilisation, S. 254–298. Ein Teil der Betroffenen, die für eine solche Unterbringung die finanziellen Mittel aufgebracht hatten, wurden Opfer der Ermordung von 120.000 Anstaltsinsassen ab September 1939. Vgl. Bock, Zwangssterilisation, S. 264. aufnehmen ließen.920 Diese Bestimmung hatte aber kaum praktische Relevanz.921 Die Prozentzahlen lagen im Vergleich zu den durchgeführten Sterilisationen zwischen null und zwei Prozent.922 Gemeinsam mit dem „Ehegesundheitsgesetz“ (EGG) sollte das GzVeN am 1. Jänner 1939 auch in der „Ostmark“ in Kraft treten:923 Da eine Novellierung des GzVeN beabsichtigt war und insbesondere über die Beurteilung der GzVeN-Diagnosen „Schwachsinn“ und Epilepsie keine Einigung zwischen der Dienststelle des „Stellvertreters des Führers“ und dem Reichsinnen und -justizministerium bestand, verzögerte sich die Einführung beider Gesetze um ein Jahr.924 Daher traten das GzVeN und das EGG in der „Ostmark“ erst am 1. Jänner 1940 in Kraft.925 Zu diesem Zeitpunkt war ein Großteil der Zwangssterilisationen von blinden Menschen in Deutschland schon vollzogen worden. In Bayern waren zu Kriegsbeginn 81 Prozent der Zwangssterilisationen auf Grund der Diagnose „erbliche Blindheit“ bereits erfolgt.926 Außerdem trat das GzVeN in der „Ostmark“ angesichts der Kriegsvorbereitungen in einer eingeschränkten Form in Kraft:927 Seit einer Verordnung vom 31. August 1939928 galt, dass Zwangssterilisationen nach dem GzVeN nur noch bei „besonders großer Fortpflanzungsgefahr“929 vorgenommen werden sollten. Nach einer Novelle vom Juni 1935930 war in das GzVeN auch der § 10 a aufgenommen worden. Dieser legalisierte bei schwangeren Frauen, die zwangssterilisiert werden sollten, eine Abtreibung nach eugenischer Indikation.931 Ausdrücklich nicht erlaubt war dieser Eingriff allerdings, wenn die Frucht schon als lebensfähig galt. Die Schwangere oder ihre 920 Vgl. Ausführungsverordnung GzVeN Artikel 6 zu § 12 zitiert nach: Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, S. 65. 921 Richter, Blindheit und Eugenik, S. 177. 922 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 177; Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 244; TLA, Reichsstatthalterei in Tirol und Vorarlberg, IIIa1-M-II/3-19/1942, Jahresbericht über die Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, zitiert in: Pöll, Geschichte des Gesundheitswesens, S. 63. 923 Vgl. Spring, NS-Zwangssterilisation in der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof, S. 41–76, hier S. 45. 924 Spring, NS-Zwangssterilisation in der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof, S. 41–76, hier S. 45. Zu den Hintergründen dieser verzögerten Einführung vgl. außerdem ÖStA, AdR, 03, VG Rassenpflege 1939, Kt. 2417, GZ. 260.326/39, Protokoll einer Besprechung im RMI vom 23.8.1939, zitiert in: Spring, Antragsstellung trotz Kriegseinsatz, S. 181–199, hier S. 185; Spring, NS-Zwangssterilisation in der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof, S. 41–76, hier S. 45; Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–240, hier S. 235. 925 Weiterführende Quelle zur Einführung des GzVeN vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 155, Zl. 2354, Einführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und des Ehegesundheitsgesetzes im Lande Österreich. 926 Vgl Beckenbauer, Sterilisation in Bayern, S. 50–58, hier S. 56. 927 Vgl. Spring, NS-Zwangssterilisation in der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof, S. 41–76, hier S. 48. 928 Vgl. [D] RGBl., Teil 1, Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und des Ehegesundheitsgesetzes vom 31. August 1939, S. 1560–1561. 929 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 155, Zl. 2354, Kundmachung: Einführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und des Gesetzes zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes in der Ostmark mit 14. November 1939; GBlÖ, Nr. 1438/1939, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit vom 14. November 1939 [Verordnung vom 31. August 1939 angehängt]; Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 85–86. 930 Vgl. [D], RGBl., Teil I, Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 26. Juni 1935, S. 773. 931 Von den zehn Beschlüssen zur „Unfruchtbarmachung“ am Wiener Erbgesundheitsgericht auf Grund der Diagnose „erbliche Blindheit“ waren zwei schwangere Frauen betroffen, bei denen im angenomme- 141 gesetzliche Vertreterin bzw. ihr gesetzlicher Vertreter sollten außerdem zu dem Abbruch die „Einwilligung“ geben und das Leben oder die Gesundheit der werdenden Mutter durfte nach den Buchstaben des Gesetzes nicht gefährdet werden. Die Umsetzung dieser Regelungen erfolgte aber vielfach nicht gesetzeskonform. Abtreibungen auf Grund eugenischer Indikation wurden gegen den Willen der Schwangeren und nach dem sechsten Schwangerschaftsmonat durchgeführt.932 Anträge am Erbgesundheitsgericht konnten von verschiedener Seite eingebracht werden. Theoretisch war auch eine Selbstanzeige möglich. Am Wiener Erbgesundheitsgericht wurden 37 Prozent, also mehr als ein Drittel aller Verfahren, auf Grund der Anträge von Anstaltsdirektoren, vor allem von der Anstalt „Am Steinhof“, in Gang gebracht. 56 Prozent erfolgten auf Betreiben der Amtsärzte des Gesundheitsamtes.933 Das GzVeN sah die Möglichkeit der Beschwerde gegen einen Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes vor. Seit der GzVeN-Novelle aus dem Jahr 1935934 betrug die Frist dafür 14 Tage. Gegen 16 Prozent aller Beschlüsse wurde beim Erbgesundheitsobergericht in Wien als Revisionsinstanz eine Beschwerde eingebracht.935 Tatsächlich war es möglich, dass auf Grund eines fristgerecht eingebrachten Einspruchs eine Zwangssterilisation nicht durchgeführt wurde, wenn Zweifel an der erblichen Bedingtheit der diagnostizierten Krankheit vorlag. Claudia Spring schrieb dazu: „Dies erfolgte jedoch nicht, um die Betroffenen von den lebenslangen Folgen des Zwangseingriffs zu bewahren, sondern um zu gewährleisten, dass als erbgesund geltende Menschen – im Sinne der pronatalistischen Bevölkerungspolitik des NSRegimes, das selbstbestimmte Sterilisationen und Abtreibungen kriminalisierte – keineswegs an ihrer Fortpflanzung gehindert werden sollten.“936 8.2.2 Diagnose „erbliche Blindheit“ „Völlige Blindheit, das Fehlen jedes Lichtscheines, ist nicht erforderlich.“937 In einigen der bisher veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeiten über blinde Menschen unter dem NS-Regime wird davon ausgegangen, dass Personen, die wegen der Diagnose 932 933 934 935 936 937 142 nen dritten und fünften Schwangerschaftsmonat eine Abtreibung vorgenommen wurde. Vgl. WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 16, AZ 2 XIII 146/43 und Kt. 14, AZ 2 XIII 188/42. Vgl. Biesold, Klagende Hände, S. 45; Makowski, Eugenik, S. 150; Heitzer, Zwangssterilisation in Passau, S. 273–275. Vgl. Spring, Restitution der Fertilität, S. 367–392, hier S. 373. Vgl. [D], RGBl., Teil I, Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 26. Juni 1935, S. 773. Vgl. Spring, Antragsstellung trotz Kriegseinsatz, S. 181–199, hier S. 191. Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 129; Vgl. Spring, Restitution der Fertilität, S. 367–392, hier S. 376–382. Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, S. 107. „erbliche Blindheit“ vor dem Erbgesundheitsgericht standen, tatsächlich blind waren.938 Gabriel Richter berechnete beispielsweise auf der Grundlage von ausgewerteten Verfahren, die wegen der Diagnose „erbliche Blindheit“ geführt worden waren, die tatsächliche Anzahl von blinden Menschen, die zwangssterilisiert wurden.939 Dies ist allerdings eine Fehleinschätzung. Nach dem GzVeN kam es auch zu Verfahren vor einem Erbgesundheitsgericht wegen der Diagnose „erbliche Blindheit“, obwohl keine völlige oder auch nur praktische Blindheit vorlag.940 Die Annahme der Erblichkeit einer vorhandenen Sehbehinderung war das ausschlaggebende Kriterium, nicht deren Ausmaß. Für eine Zwangssterilisation kamen dementsprechend auch sehbehinderte Menschen in Frage. Martin Bartels, Leiter der Städtischen Augenklinik Dortmund, schrieb dazu 1939 im „Ratgeber für Blinde“: „Andererseits will das Gesetz unter Blindheit nicht nur völlige, sondern auch praktische Blindheit verstanden wissen und überhaupt jede Herabsetzung des Sehvermögens, die so beträchtlich ist, daß sie die Leistungsfähigkeit des Erbkranken wesentlich vermindert.“941 Die Zwangssterilisation von Menschen, die bei einer erblich bedingten Augenerkrankung noch über einen Sehrest verfügten, war laut Arthur Gütt, Ernst Rüdin und Falk Ruttke sogar besonders dringend. Ihrer Auffassung nach war bei sehbehinderten im Gegensatz zu blinden Menschen die Gefahr der „Weiterverschleppung der Krankheit“ besonders groß, weil sie auf Grund ihres Sehrestes „noch Ehepartner finden, während die Gefahr bei vollständig Blinden nicht so groß“ sei.942 Es war ein „Hauptdogma“943 der NS-Zeit, Menschen zu sterilisieren, die als leichtere Fälle galten.944 Opfer der NS-Sterilisationspolitik waren in erster Linie so genannte „Fortpflanzungsfähige“ bzw. „Fortpflanzungsgefährliche“. Ob bei einer diagnostizierten „erblichen Augenerkrankung“ eine Zwangssterilisation anzuordnen war oder nicht, wurde in dem bereits zitierten Kommentar zum GzVeN von Gütt, Rüdin und Ruttke festgelegt.945 Weiter ausgeführt wurden diese Indikationen im fünften Band des 1938 von Arthur Gütt herausgegebenen „Handbuch der Erbkrankheiten“.946 Dieses Werk gab nicht nur Auskunft über den damaligen wissenschaftlichen Forschungsstand, sondern auch über die als notwendig angesehenen eugenischen Maßnahmen.947 938 Vgl. u. a. Richter, Blindheit und Eugenik, insb. S. 147–151; Beckenbauer, Sterilisation in Bayern, S. 50–58; Friedlander, Holocaust Studies and the Deaf Community, pp. 15–31. 939 Gabriel Richter kam zu dieser Fehleinschätzung, obwohl ihm bekannt war, dass unter die Diagnose „erbliche Blindheit“ auch Sehbehinderte und Menschen mit einem guten Sehrest fielen, die eine angenommene erbliche Augenerkrankung hatten. Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 115–123; Kapitel II.8.2.3. 940 Vgl. u. a. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 234. Kapitel I.4. 941 Bartels, Hygiene, in: Meurer, Ratgeber, S. 1–15, hier S. 12. 942 Vgl. Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, S. 110. 943 Bock, Zwangssterilisierung, S. 308. 944 Vgl. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 234 und 238. 945 Vgl. Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, S.107–114. 946 Vgl. Gütt, Erbleiden. 947 Da es bis 1938 kein umfassendes Buch über die Erbleiden des Auges gab und die Erläuterungen zum GzVeN nach Gütt, Rüdin und Ruttke nur oberflächlich Auskunft gaben, war die Unsicherheit in Deutschland sehr groß, nach welchen Indikationen eine Zwangssterilisation wegen „erblicher Blindheit“ angeordnet werden sollte. Für die Durchführung des GzVeN in der „Ostmark“ lag das Standardwerk mit Beiträgen 143 Ausschlaggebend für die Empfehlung für oder gegen eine Zwangssterilisation war die Einschätzung, inwieweit eine „erblich bedingte Augenerkrankung“ die „Berufsfähigkeit“ der Betroffenen einschränkte. Nach Auffassung von Gütt, Rüdin und Ruttke konnten erblich bedingte Sehbehinderungen zu einer „schweren Berufsstörung“948 führen. Die Begründung, warum bei einer angenommenen „fleckigen Hornhauttrübung (Dystrophia corneae maculosa)“949 eine Zwangssterilisation anzuordnen sei, lautete daher beispielsweise: „Da die fleckige Hornhauttrübung schon in jüngeren Jahren das Sehen beeinträchtigt und im mittleren Lebensalter die Ausübung der meisten Berufe erschwert, wenn nicht unmöglich macht, sind die Träger dieser Erbkrankheit als – ‚blind‘ im Sinne des Gesetzes zu betrachten und unfruchtbar zu machen.“950 Es gab auch den umgekehrten Fall. Das heißt, Augenerkrankungen, die nach damaligem Wissensstand als „erblich“ galten, die aber keine Indikation für eine Zwangssterilisation oder ein Eheverbot darstellten, weil sie das Erwerbsleben der Betroffenen kaum beeinträchtigten.951 Als Beispiel kann hier das „Erbliche Augenzittern“952 (Nystagmus) genannt werden. Die Sehschärfe beim hereditären Nystagmus wurde vom 1. Assistenten der Universitätsklinik für Augenkrankheiten in Berlin, Heinrich Harms, als „recht gut“953 eingeschätzt. Die Berufsfähigkeit der Betroffenen sei daher nur „in bestimmter Richtung“ 954 eingeschränkt. Dass die Bewertung einer Augenerkrankung nach ihren Auswirkungen auf die „Berufsfähigkeit“ unter Umständen sogar den Ausgang eines Verfahrens nach dem GzVeN beeinflussen konnte, wird durch die Arbeit von Gabriel Richter bestätigt. Unter den von Richter ausgewerteten Verfahren befindet sich beispielsweise ein Mann, bei dem „Retinitis Pigmentosa“ diagnostiziert wurde. Diese fortschreitende Erkrankung der Netzhaut kann zur Erblindung führen und galt in den meisten Ausprägungen als erblich.955 Obwohl in diesem Fall eine familiäre Belastung bejaht wurde, kam es zu keiner angeordneten Zwangssterilisation, offenbar mit der Begründung, der betroffene sehbehinderte Mann sei „berufsfähig“.956 Jessika Hennig kommt auf Grund einer Auswertung von 439 Akten des Erbgesundheitsgerichtes Offenbach am Main (D) aus den Jahren 1934 bis 1944 zu dem Ergebnis, dass bei 948 949 950 951 952 953 954 955 956 144 vieler bekannter Augenheilkundler schon vor. Dies könnte auch die Indikationen bei den Verfahren wegen „erblicher Blindheit“ beeinflusst haben und zu einer anderen Praxis als im „Altreich“ geführt haben. Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 123. Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, S. 112. Bücklers, Erbliche Hornhauttrübungen, S. 74–96, hier S. 84. Bücklers, Erbliche Hornhauttrübungen, S. 74–96, hier S. 84. Vgl. Harms, Erbliches Augenzittern, S. 287–297, hier S. 296. Harms, Erbliches Augenzittern, S. 287–297, hier S. 289. Harms, Erbliches Augenzittern, S. 287–297, hier S. 289. Harms, Erbliches Augenzittern, S. 287–297, hier S. 296. Vgl. Kapitel II.1.2.2. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 148 [Mann Nr. 6 in Tabelle Nr. 15]. Jens Martin Rohrbach gibt in seiner Arbeit den Fall eines 16-Jährigen aus Hamburg aus dem Jahr 1938 wieder, bei dem „Retinitis Pigmentosa“ diagnostiziert wurde, der aber nur Probleme mit der Dunkeladaption hatte und dementsprechend voll „berufsfähig“ war. Das Erbgesundheitsgericht lehnte deshalb eine Zwangssterilisation ab. Auf Betreiben des Amtsarztes hob das Erbgesundheitsobergericht diesen Beschluss allerdings seinen Angaben nach wieder auf und ordnete den Zwangseingriff an. Rohrbachs Quellenangaben dazu sind aber mangelhaft, weshalb dieses Beispiel nicht verifizierbar ist. Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 129. den Diagnosen „erbliche Blindheit“ sowie „erbliche Taubheit“ und „schwere körperliche Mißbildung“ das Gericht vorsichtiger mit seinen Beschlüssen war, Zweifel an der „Erblichkeit“ eher zuließ und auch die Sichtweise der Betroffenen berücksichtigte. Für diese Beurteilung konnte sie allerdings nur drei Verfahren, die auf Grund der Antragsdiagnose „erbliche Blindheit“ geführt wurden, heranziehen. Nur in einem Fall kam es dabei zur Anordnung einer Zwangssterilisation.957 Welche diagnostizierten Augenerkrankungen tatsächlich zu einer Zwangssterilisierung auf Grund der Diagnose „erbliche Blindheit“ in der NS-Zeit führten, kann auf Grund des für diese Arbeit ausgewerteten Quellenmaterials nicht beantwortet werden. Gabriel Richter untersuchte für seine 1987 publizierte Studie lediglich eine regional beschränkte Auswertung von Indikationen für eine Zwangssterilisation auf Grund der GzVeN-Diagnose „erbliche Blindheit“, die im Raum Nürnberg, Fürth und Erlangen (Mittelfranken) vom „Institut für Humangenetik und Anthropologie“ in Erlangen und Nürnberg durchgeführt worden war.958 Diese Daten stammen zudem aus den 1970er Jahren. Aktuellere regionale Untersuchungen zu Zwangssterilisationen in Deutschland geben zu dieser Fragestellung keine Auskunft, weil in diesen lediglich die Anzahl von GzVeN-Verfahren auf Grund der Diagnose „erbliche Blindheit“ veröffentlicht wurde, nicht aber die angenommenen erblichen Augenerkrankungen, die ein Verfahren indizierten.959 Nach den Angaben von Richter kam es in Mittelfranken zwischen 1935 und 1944 zu Zwangssterilisationen von elf Männern und acht Frauen auf Grund der Diagnose „erbliche Blindheit“. Von den insgesamt 19 angeordneten Zwangssterilisierungen erfolgten zwei auf Grund einer Starerkrankung. In sechs Fällen sah das Erbgesundheitsgericht eine „Retinitis Pigmentosa“ als gegeben an und in vier Fällen erfolgte der Beschluss wegen einer „Opticusatrophie“960. Die restlichen Zwangssterilisierungen wurden auf Grund anderer Diagnosen angeordnet und bei insgesamt fünf Fällen ist die genaue Indikation, die zur Feststellung der „erblichen Blindheit“ führte, nicht bekannt.961 Bei elf Männern und einer Frau wurde die Sterilisation abgelehnt.962 Auf Grundlage dieser aufgearbeiteten Fälle aus dem Raum Mittelfranken kommt Richter zu dem Ergebnis, dass blinde Menschen auch in augenärztlich umstrittenen Fällen zwangssterilisiert wurden.963 Wie bereits im ersten Kapitel über die Ursachen von erblich bedingten Erblindungen ausgeführt wurde, war der wissenschaftliche Kenntnisstand über 957 Vgl. Hennig, Zwangssterilisation in Offenbach, S. 179. 958 Dafür wurde der Bestand der „Sippenakten“ Nr. 1 bis 30 443 bearbeitet. Vgl. Jobst Thürauf, Erhebungen über die im Rahmen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (G. z. V. e. N.) vom 14.7.1933 in den Jahren 1934–1945 durchgeführten Sterilisationen im Raume Nürnberg-Fürth-Erlangen (Mittelfranken), dargestellt an den Akten des Gesundheitsamtes der Stadt Nürnberg. I. Beitrag, Diss. [Manuskript], Erlangen 1970, Harald Hoffmann, [Ders. Titel]. II. Beitrag, Diss. [Manuskript], Erlangen 1971, Dieter Horn, [Ders. Titel]. III. Beitrag, Diss. [Manuskript], Erlangen 1972, Heidi Kreutzer, [Ders. Titel]. IV. Beitrag, Diss. [Manuskript], Erlangen 1972, zitiert in: Richter, Eugenik und Blindheit, S. 147–151. 959 Nur Jessika Hennig ging in ihrer Studie weitergehend auf die Diagnose „erbliche Blindheit“ ein. Vgl. Hennig, Zwangssterilisation in Offenbach, S. 111–113 und S. 179–183. Vgl. Braß, Zwangssterilisationen und „Euthanasie“ im Saarland, S. 90–91; Simon, Kriminalbiologie und Zwangssterilisation, S. 281–296. 960 Erkrankung der Sehnerven. Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 147–148. 961 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 147–148. 962 Richter konnte insgesamt 31 Verfahren auf Grund der GzVeN-Diagnose „erbliche Blindheit“ für seine Auswertung heranziehen. 963 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 150. 145 die Erblichkeit von zahlreichen Erkrankungen aber vielfach noch sehr bescheiden. In diesem Zusammenhang wurde insbesondere auf die aus heutiger Sicht häufig fälschlicherweise angenommene Erblichkeit der Starerkrankungen hingewiesen.964 Die Indikationsstellung für eine Zwangssterilisation muss schon auf Grund dieses Aspektes als willkürlich bezeichnet werden. Für diese Arbeit konnten durch die Angaben von Claudia Spring die Verfahrensakten von 14 Fällen auf Grund der angenommenen Diagnose „erbliche Blindheit“ aus dem Quellenbestand des Erbgesundheitsgerichts Wien eingesehen werden. In zehn Fällen endete das Verfahren mit dem Beschluss zur Unfruchtbarmachung. Eine dieser Zwangssterilisierungen wurde wegen „angeborenen Schwachsinns“ in Verbindung mit „erblicher Blindheit“ beschlossen. Bei drei der insgesamt 14 Betroffenen endete das Verfahren mit der Feststellung, dass keine „erblich bedingte Blindheit“ diagnostiziert werden konnte.965 Ein Verfahren wurde ohne Beschluss für die Dauer des Krieges eingestellt. Acht Männer und sechs Frauen waren betroffen. Bei vier Zwangssterilisationen ist der operative Eingriff dokumentiert. In fünf Fällen fehlen die Informationen dazu und ein Eingriff wurde auf Grund des „totalen Kriegs­ein­sat­ zes“ verschoben. Bei acht dieser 14 Fälle kann auf Grund von Hinweisen im vorhandenen Quellenmaterial der Eindruck gewonnen werden, keine Blindheit oder praktische Blindheit, sondern eine angenommene erblich bedingte Sehbehinderung habe das Verfahren indiziert. Anna H. zum Beispiel war auf Grund einer „fleckigen Hornhauttrübung“966 (Dystrophia cornea maculosa) sehbehindert. Wie bereits erwähnt, wurde auch diese Krankheit als „erblich“ eingestuft und eine negative Auswirkung auf die „Berufsfähigkeit“ angenommen, auch wenn die Betroffene zum Zeitpunkt des Verfahrens noch über einen relativ guten Sehrest verfügte. Anna H. war im dritten Monat schwanger. Am 7. Juli 1943 wurde bei ihr die gerichtlich angeordnete Zwangssterilisation und Abtreibung nach eugenischer Indikation vorgenommen.967 Bei Maria H.968 kam es zu einem Verfahren vor dem Erbgesundheitsgericht, obwohl sie nur eine Missbildung des rechten Auges hatte.969 Im März 1942 endete ihr Verfahren mit dem Beschluss, dass keine „Erbkrankheit“ vorlag.970 Im Vergleich mit den von Gabriel Richter zitierten Verfahren fällt auf, dass in Wien und im Raum Mittelfranken eine angenommene „Retinitis Pigmentosa“ zu der Indikation zählte, die am häufigsten zu einem Verfahren geführt hatte. In Wien erfolgten fünf der 14 Verfahren auf Grund dieser angenommenen Augenerkrankung. Vier Verfahren 964 Vgl. Kapitel II.1.2.2; Hennig, Zwangssterilisation in Offenbach, S. 182; Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 138. 965 Claudia Spring kommt zu dem Ergebnis, dass insgesamt 17 Prozent aller Verfahren damit endeten, dass eine Zwangssterilisation abgelehnt wurde. In 72 Prozent der Fälle wurde eine Zwangssterilisation angeordnet und elf Prozent hatten einen anderen Verfahrensausgang. In 93 Prozent der ablehnenden Beschlüsse galten die Frauen und Männer vor dem Erbgesundheitsgericht als nicht oder nicht sicher „erbkrank“, in sieben Prozent war die im GzVeN verankerte „besondere Fortpflanzungsgefahr“ nicht gegeben. Vgl. Spring, Antragsstellung trotz Kriegseinsatz, S. 181–199, hier S. 189–190. 966 WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 16, AZ 2 XIII 146/43. 967 Vgl. WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 16, AZ 2 XIII 146/43. 968 Die beiden Frauen, die hier als Beispiel ausgewählt wurden, sind nicht verwandt und haben nur durch Zufall bei ihren Nachnamen denselben Anfangsbuchstaben. 969 Personen, die nur auf einem Auge erblindet sind und auf dem anderen über einen guten Sehrest verfügen, haben meist kaum Schwierigkeiten bei der Alltagsbewältigung. 970 Vgl. WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 5, AZ 1 XIII 180/42. 146 endeten mit einer Anordnung zur „Unfruchtbarmachung“, eines wurde für die Dauer des Krieges eingestellt. Sechs der insgesamt 31 von Richter aufgearbeiteten Verfahren wurden auf Grund einer angenommenen „Retinitis Pigmentosa“ geführt. In fünf Fällen ordnete das Erbgesundheitsgericht eine Zwangssterilisierung an. Auf Grund der Tatsache, dass die Anzahl der zur Auswertung vorliegenden Verfahrensakten so gering ist, begründet diese Auffälligkeit keine generelle Aussage. Auch eine geschlechterspezifische Untersuchung der Indikationen ist aus diesem Grund nicht möglich. Zu Klärung dieser Fragestellung sind weitergehende wissenschaftliche Untersuchungen von Quellenmaterial, soweit vorhanden, zur Zwangssterilisationen notwendig. 8.2.3 Ausmaß der Zwangssterilisationen Auf Grund der im vorhergehenden Kapitel gemachten Aussagen über die Definition von Blindheit nach dem GzVeN ist es nicht möglich, auf Basis der wegen der Diagnose „erbliche Blindheit“ geführten Verfahren darauf zu schließen, wie viele blinde Menschen betroffen waren. Wie bereits erwähnt, fielen unter diese Diagnose nicht nur blinde Menschen, sondern auch sehbehinderte Personen, das heißt Menschen mit Sehrest. Im Folgenden kann daher nur wiedergegeben werden, wie hoch der Anteil dieser Diagnose an der Gesamtzahl der Verfahren war, und im Weiteren, wie viele Zwangssterilisationen auf Grund der GzVeNDiagnose „erbliche Blindheit“ angeordnet wurden. Außerdem ist es allgemein schwer zu sagen, wie hoch die Anzahl von Zwangssterilisationen im „Deutschen Reich“ war. Hier können nur Schätzungen angegeben werden. Gisela Bock nimmt an, dass in den elf Jahren, die das GzVeN wirksam war, rund 400.000 Menschen sterilisiert wurden.971 Für Österreich schätzt 1992 Wolfgang Neugebauer 6.000 durchgeführte Zwangssterilisierungen an Frauen und Männern.972 Claudia Spring sieht diese Schätzung durch neuere Forschungsergebnisse973 bestätigt.974 Nach ihren Untersuchungen der Akten des Erbgesundheitsgerichtes Wien wurden 1.200 Zwangssterilisierungen angeordnet.975 Demnach standen in Wien zwischen 1940 und 1945 anteilsmäßig weniger Menschen vor dem Erbgesundheitsgericht als im „Altreich“. In Wien entsprach die Anzahl der Verfahren nach einer Berechnung von Spring 0,1 Prozent der damaligen Bevölkerung.976 Gisela Bock errechnete für diesen Zeitraum einen Durchschnitt von einem Prozent, also das Zehnfache.977 Für den Gau Tirol-Vorarlberg errechnete Stefan Lechner, dass circa 0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung bei den Gesundheitsämtern angezeigt wurden.978 971 Vgl. Bock, Zwangssterilisation, S. 8. 972 Vgl. Neugebauer, Zwangssterilisierungen und „Euthanasie“, S. 17–28, hier S. 19. 973 Vgl. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 243; Goldberger, NS-Gesundheitspolitik in Linz, S. 799–906, hier S. 857; Laiding, Das Gesundheitswesen, S. 58–85, hier S. 85; Steiermärkisches Landesarchiv, Landesregierung, 200 II E 6/1944, zitiert in: Neugebauer, Zwangssterilisierung und „Euthanasie“, S. 17–28, hier S. 18. 974 Vgl. Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 54. 975 Vgl. Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 54. 976 Vgl. Spring, Antragsstellung trotz Kriegseinsatz, S. 181–199, hier S. 186. 977 Vgl. Bock, Zwangssterilisation, S. 232. 978 Vgl. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 238. 147 Zählungen und Hochrechnungen für das gesamte „Deutsche Reich“ ergaben, dass 95 Prozent aller Zwangssterilisationen auf Grund der psychiatrischen Diagnosen „Schwachsinn“, „Schizophrenie“, manisch-depressives „Irresein“ und Epilepsie erfolgten.979 In Wien machte die Diagnose „Schwachsinn“ 42 Prozent der Beschlüsse aus, gefolgt von „Schizophrenie“ mit 26 Prozent und „Fallsucht“ mit 16 Prozent.980 Der Anteil der Diagnose „erbliche Blindheit“ an der Gesamtzahl der Verfahren war dabei vergleichsweise niedrig, was charakteristisch für die Verfahren an Erbgesundheitsgerichten981 im gesamten „Deutschen Reich“ war, auch wenn die Häufigkeit der einzelnen Diagnosen regional zum Teil stark variierte.982 In Wien sind nach den Erkenntnissen von Spring, wie bereits erwähnt, 14 Verfahren wegen der GzVeN-Diagnose „erblicher Blindheit“983 durchgeführt worden. Das ergibt einen Anteil von 0,8 Prozent an der Gesamtzahl der überlieferten Verfahren. In zehn Fällen wurde eine Zwangssterilisation angeordnet. Einer von Wolfgang Neugebauer zitierten Quelle aus dem Steiermärkischen Landesarchiv zufolge lag der Anteil der Diagnosen „erbliche Blindheit“ und „erbliche Taubheit“ an den Zwangssterilisationen dort bei 6,5 Prozent.984 Dabei dürften mehr Verfahren zur Diagnose „erbliche Taubheit“ geführt worden sein. Nach Spring wurden wegen angenommener „erblicher Taubheit“ am Wiener Erbgesundheitsgericht etwas mehr Verfahren geführt als wegen „erblicher Blindheit“.985 Am Erbgesundheitsgericht Offenbach waren zwischen 1934 und 1944 von insgesamt 395 Verfahren nur vier auf Grund einer angenommenen „erblichen Blindheit“ indiziert. Das entsprach 0,76 Prozent der Antragsdiagnosen.986 Nach einer Zusammenstellung von verschiedenen Erbgesundheitsgerichten in Deutschland987 von Christoph Braß ergab sich ein Anteil der Diagnose „erbliche Blindheit“ an den Verfahren von 0,5 Prozent in Göttingen, bis zu 3,3 Prozent in Marburg.988 Henry Friedlander gab in seinem Aufsatz über Gehörlose an, dass 0,6 Prozent aller Zwangssterilisationen im Jahr 1934 auf Grund der GzVeN-Diagnose „erbliche Blindheit“ 979 Vgl. Goldberger, „Erb- und Rassenpflege“ in Oberdonau, S. 345–366, hier S. 355–356. Lechner gibt in diesem Zusammenhang 96 Prozent an. Vgl. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 234. 980 Vgl. Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 94; Spring, Restitution der Fertilität, S. 367–392, hier S. 376. Die meisten Zwangssterilisationen wurden unter der Diagnose „Schwachsinn“ gefällt. Vgl. dazu u. a. Bock, Zwangssterilisation, S. 311; Neugebauer, Zwangssterilisierung und „Euthanasie“, S. 17–28, hier S. 18; Malmanesh, Blinde, S. 48; Rüscher, NS-„Euthanasie“ im Bregenzerwald, S. 122. 981 Mit den Erbgesundheitsgerichten in den annektierten und besetzten Gebieten gab es 1941/42 181 solcher Gerichte. Vgl. Statistisches Jahrbuch, Jg. 59 (1941/42), S. 646, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 43. 982 Simon, Kriminalbiologie und Zwangssterilisation, S. 283. 983 Soweit das aus den vorliegenden Akten beurteilt werden kann, muss bei mindestens acht der vor dem Erbgesundheitsgericht angezeigten Personen davon ausgegangen werden, dass sie nicht blind, sondern sehbehindert waren. Vgl. Kapitel II.8.2.2. 984 Vgl. Landesregierung, 200 II E 6/1944, zitiert in: Neugebauer, Zwangssterilisierung und „Euthanasie“, S. 17–28, hier S. 18. 985 Vgl. Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 235 [Diagramm EGG 17: 1833 genannte GzVeN-Diagnosen in 1.695 Verfahren]. 986 Vgl. Hennig, Zwangssterilisation in Offenbach, S. 111. 987 Diese gab es bis 1938 in Saar, Frankfurt, Hamburg, Köln, Marburg und Göttingen. 988 Vgl. Braß, Zwangssterilisation, S. 91. [Der Wert für Marburg an der Lahn muss dabei als Ausnahme bewertet werden, weil dort die größte Blindenanstalt im „Deutschen Reich“ angesiedelt war und dementsprechend viele SchülerInnen dieser Einrichtungen dem dortigen Erbgesundheitsgericht gemeldet worden sein dürften.] 148 erfolgten.989 Insgesamt wurde in dieser Übersicht über die Durchführung des GzVeN aus dem Jahr 1934 von 201 Zwangssterilisationen wegen „erblicher Blindheit“ ausgegangen. 126 Männer (0,8 Prozent) und 75 Frauen (0,5 Prozent) wurden auf Grund dieser Diagnose sterilisiert.990 Achim Thom und Horst Spaar schätzen, dass etwa 0,5 Prozent der Sterilisationen infolge der Diagnose „erbliche Blindheit“ durchgeführt wurden.991 Gabriel Richter kommt durch eine von ihm erstellte Hochrechnung zu der näherungsweisen Angabe, dass in Deutschland ohne dem Saargebiet zwischen 2.400 und 2.800 Menschen wegen der Diagnose „erbliche Blindheit“ sterilisiert worden seinen.992 Bei einer angenommenen Gesamtzahl von 400.000 Zwangssterilisierungen im „Deutschen Reich“ ergibt sich dadurch ein Anteil von 0,6 bis 0,7 Prozent. In Hinblick auf die fragmentarische Quellenlage müssen alle diese Angaben als reine Näherungswerte angesehen werden. Es kann aber daraus geschlossen werden, dass maximal ein Prozent der angeordneten Zwangsterilisationen auf Grund der Diagnose „erbliche Blindheit“ erfolgt sind. Bei einer geschätzten Anzahl von 6.000 Zwangssterilisationen in Österreich würde das bedeuten, dass höchstens bei 60 Personen, die nach dem GzVeN als „erblich blind“ galten, der Beschluss zur Zwangssterilisation gefällt wurde. Die Zahl könnte allerdings durchaus höher liegen.993 Gabriel Richter kam in Deutschland durch Aussagen Betroffener zu dem Ergebnis, Zwangssterilisationen seien auch bei Minderjährigen vorgenommen worden. In dem schwer zugänglichen und fragmentarisch überlieferten Quellenmaterial sind die Zwangssterilisationen von Minderjährigen allerdings nicht dokumentiert.994 Ob diese Tatsache auch für die Zeit zwischen 1940 und 1945 für die „Ostmark“ galt, kann nicht beantwortet werden. Hier war die Praxis der Verfahren an den Erbgesundheitsgerichten, wie bereits erwähnt, unterschiedlich, auch bedingt durch den Kriegsausbruch und die späte, eingeschränkte Einführung des GzVeN. Ein weiteres Problem bei der vollständigen Erfassung der Fälle gibt Stefan Lechner in seinem Aufsatz über Zwangssterilisationen im Gau 989 Der Anteil der GzVeN-Diagnose „erbliche Taubheit“ war dabei 1934 mit einem Prozent etwas höher. Vgl. BA Koblenz (BAK), R 18/5585, Übersicht über die Durchführung des Gesetztes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, zitiert in: Friedlander, Holocaust Studies and the Deaf Community, pp. 15–31, hier p. 22; Friedlander, The Origin of Nazi Genocide, pp. 28–29. Auch Friedlander geht davon aus, dass Personen, bei denen „erbliche Taubheit“ diagnostiziert worden war, tatsächlich gehörlos waren. Es ist aber anzunehmen, dass für diese Indikation Ähnliches wie für die Diagnose „erbliche Blindheit“ galt. Vgl. Hennig, Zwangssterilisation in Offenbach, S. 179–183. 990 Vgl. Friedlander, The Origin of the Nazi Genocide, p. 29. 991 Vgl. Achim Thom, Horst Spaar, Medizin im Faschismus, Berlin 1983, S. 180 ff, zitiert in: Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 174. 992 Fälschlicherweise geht Richter hierbei davon aus, dass es sich tatsächlich um blinde Menschen gehandelt hat und nicht nur um Personen, die lediglich nach dem GzVeN als „erblich blind“ galten. Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 153–154; Kapitel II.8.2.2. 993 Im Rahmen meines Vortrages über die vorläufigen Forschungsergebnisse meiner Dissertationsarbeit auf dem Zeitgeschichtetag 2008 wurde von mir gesagt, die Zahl der in der „Ostmark“ zwangssterilisierten blinden Menschen sei auf unter 100 zu schätzen. Richtig ist die Annahme, dass es voraussichtlich nicht mehr Beschlüsse zur „Unfruchtbarmachung“ infolge der Diagnose „erbliche Blindheit“ in Österreich gegeben hat und dementsprechend weniger als 100 blinde und sehbehinderte [sic!] Personen zwangssterilisiert wurden. 994 Richter tätigte diese Aussage im Rahmen einer niedergeschriebenen Diskussion zu seinem Vortrag mit dem Titel „Eugenische Forderungen, die Praxis der NS-Rassenpolitik und die Haltung der Blindenorganisationen in der Öffentlichkeit“ auf dem bereits erwähnten Seminar im November 1989 in Berlin Wannsee. Vgl. Blinde unterm Hakenkreuz, S. 140. 149 „Tirol-Vorarlberg“ an. Für die Jahre 1944 und 1945 konnte er beispielsweise keine Angaben machen, weil die Verwaltungsarbeit kriegsbedingt stark eingeschränkt wurde und daher über diesen Zeitraum nur spärlich Dokumente vorhanden sind.995 8.2.4 Durchführung „Ich fahre freiwillig in kein Krankenhaus und lasse mich höchstens mit Gewalt wegtragen.“996 Ein Verfahren vor dem Erbgesundheitsgericht sollte klären, ob eine Person nach den Bestimmungen des GzVeN als „erbkrank“ einzustufen war oder nicht. Damit die Diagnose „erbliche Blindheit“ gestellt werden konnte, bedurfte es häufig umfassender Untersuchungen. In den Erläuterungen zum GzVeN heißt es sogar, dass in den meisten Fällen eine einfache „klinische Diagnose“ nicht ausreichen würde, sondern erst durch „eine fachärztliche genaue klinische Untersuchung“ in Verbindung mit einer „Untersuchung und Beobachtung der Blutsverwandten“ festgestellt werden könnte, ob eine vorliegende Sehbehinderung oder Blindheit „erblich“ bedingt sei.997 Damit sollte ausgeschlossen werden, dass eine Augenerkrankung durch äußere Ursachen, wie zum Beispiel eine Syphilis-Erkrankung 998, entstanden war.999 Auch in den Kriegsjahren wurden am Erbgesundheitsgericht Wien derartige Gutachten erstellt. Die Zahl dieser nahm während des Krieges sogar noch zu. Spring vermutet, diese Tatsache sei damit zu begründen, dass gerade in Zeiten des „totalen Krieges“ Menschen ausführlich begutachtet werden sollten, um festzustellen, ob sie als „erbgesund“ oder „erbkrank“ galten. „Erbgesunde“ Menschen sollten keinesfalls unfruchtbar gemacht werden, da dies laut der NS-Ideologie die „Volksgemeinschaft“ schädigen würde.1000 Auch bei zehn der untersuchten 14 Verfahren am Erbgesundheitsgericht Wien kam es auf Grund weitergehender medizinischer Gutachten und Untersuchungen zu einer Entscheidung.1001 Bei einem Fall wurde noch 1944 angeordnet, 15 Verwandte des betreffenden Mannes, bei dem „Retinitis Pigmentosa“ vermutet wurde, nach Wien zur fachärztlichen Untersuchung zu bringen. Die Umsetzung dieses Unterfangen gestaltete sich während des Krieges schwierig, unter anderem deshalb, weil einige der betreffenden Familienmitglieder zur Wehrmacht eingerückt waren. Von der Augenklinik in Wien wurde daher im November 1944 an das Erbgesundheitsgericht gemeldet, dass es wegen der Kriegsverhältnisse unmöglich sei, diese Untersuchungen durchzuführen. Das Verfahren wurde dann schließlich im Jänner 1945 für die Dauer des Krieges eingestellt.1002 Gutachter äußerten sich außerdem nicht nur über die angenommene Augenerkrankung, sondern beurteilten immer auch den „Geisteszustand“ der Betroffenen. Ein wichtiges 995 Vgl. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 243. 996 WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 21, AZ XIII 75/45. [Aussage des sehbehinderten Franz S. in einer Sitzung des Erbgesundheitsgerichtes vom 18. Februar 1944 zu der geplanten Zwangssterilisation.] 997 Vgl. Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, S. 108. 998 Zu den verschiedenen möglichen Ursachen von Erblindungen vgl. Kapitel II.1.2. 999 Vgl. Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, S. 108. 1000 Vgl. Spring, Antragsstellung trotz Kriegseinsatz, S. 181–199, hier S. 193. 1001 Vgl. Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 103. 1002 Vgl. WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 15, AZ 2 XIII 267/42. 150 Kriterium war dabei das Lesen und Schreiben. Im Fall von Franz S. wurde beispielsweise in Wien nicht nur „erbliche Blindheit“ auf Grund beidseitigen angeborenen Stars, sondern auch „Schwachsinn“ diagnostiziert. In der Begründung zur Entscheidung auf „Unfruchtbarmachung“ vom 22. Oktober 1942 hieß es, seine „mangelnde Sprachbildung“1003 und seine schlechten schulischen Leistungen würden darauf hinweisen. „Auch beim Leseversuch zeigt sich weitestgehende Unfähigkeit, die erfassten Buchstaben zu Silben und zu Worten zusammenzufassen.“1004 Unberücksichtigt blieb dabei, inwieweit die angeborene Sehbehinderung von Franz S. dafür verantwortlich war, dass er kaum lesen und in der Schule dem Unterricht nicht folgen konnte. Das Vorliegen von „angeborenem Schwachsinn“ galt aber für den Vorsitzenden Richter Alfred Tomanetz als gesichert. Im amtsärztlichen Gutachten vom 10. Februar 1942 wurde die Sehbehinderung nur als weitere „Teilerscheinung der schwer degenerativen Erbanlage des Prob[anten]“1005 angesehen. Stefan Lechner beschreibt in seinem 2002 publizierten Aufsatz den Fall einer 1920 geborenen Südtiroler Umsiedlerin, die 1941 wegen der Diagnose „erbliche Blindheit“ zwangssterilisiert werden sollte. Bei ihr war außer einer „Retinitis Pigmentosa“ auch „angeborener Schwachsinn“ diagnostiziert worden. Am 14. November 1941 schrieb die Betreffende an die „Reichskanzlei des Führers“ einen Brief, um die drohende Zwangssterilisation noch abzuwenden. Darin beklagte sie sich auch über den bei ihr vorgenommenen Intelligenztest, „der Fragen enthielte, die sie in der Schule überhaupt nicht gelernt habe.“1006 Mitunter, so zeigt dieser Fall, stellten also die Verfahren auch die „geistige Vollwertigkeit“ der blinden und sehbehinderten Menschen in Frage. Auf Grund der Altersstruktur der 14 Betroffenen kann nicht davon ausgegangen werden, dass unter ihnen SchülerInnen der „Blindenschule mit Heim“ in Wien waren. Unbestritten aber ist, dass die Blindenschulen erbbiologische Informationen für die Erstellung einer „Erbkartei“ weitergaben.1007 Eigentlich sollten die Verfahren am Erbgesundheitsgericht Wien im Oktober 1944 eingestellt werden. Das RM d. I. ordnete die Einstellung der Verfahren bis Kriegsende an. Verzögerte Postzustellung, Bombenangriffe und -schäden, Mangel an Heizmaterial für die Gerichtsräume und vor allem der kriegsbedingte Ärztemangel führten zu diesem Entschluss.1008 Bei einem für diese Arbeit untersuchten Fall wurde allerdings die Durchführung einer beschlossenen Zwangssterilisierung auf Grund des „totalen Kriegseinsatzes“ erst mit Beschluss vom Februar 1945 als nicht mehr erforderlich angesehen.1009 8.2.5 Medizinisch-psychische Aspekte Zwangssterilisierungen wurden in der Regel durch chirurgische Eingriffe vorgenommen. Nach dem Lehrbuch erfolgte diese Operation durch die Unterbindung oder Durchtrennung 1003 WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 13, AZ 2 XIII 96/42. 1004 WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 13, AZ 2 XIII 96/42. 1005 WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 13, AZ 2 XIII 96/42. 1006 Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 240. 1007 Vgl. Kapitel II.4.3. 1008 Vgl. Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 65. 1009 Vgl. WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 21, AZ XIII 75/45. 151 der Eileiter bei der Frau und des Samenleiters beim Mann.1010 Nach einer Änderung des GzVeN vom 4. Februar 19361011 war bei Frauen auch die Methode der Strahlenbehandlung durch Röntgen- oder Radiumbestrahlung zugelassen. Allerdings nur, wenn die betreffende Frau über 38 Jahre alt war.1012 Über die Durchführung der Eingriffe sollte ein „Ärztlicher Bericht“ an das Erbgesundheitsgericht erfolgen. Diese sind nur teilweise in den Verfahrensakten am Wiener Erbgesundheitsgericht enthalten. In den Dokumenten der zehn angeordneten Zwangssterilisierungen wegen der Diagnose „erbliche Blindheit“ befinden sich nur in vier Fällen die entsprechenden Formulare. Diese gaben Auskunft über Ort, Datum, Durchführung der Operation und gegebenenfalls Komplikationen. Bei Frauen, bei denen nach dem vorangegangenen Beschluss zur Zwangssterilisation eine Abtreibung erfolgte, wurde der Schwangerschaftsabbruch ebenfalls beschrieben.1013 Unter den Folgen und Nebenwirkungen dieser Eingriffe mussten die Betroffenen oft ein ganzes Leben leiden. Äußerlich blieb bei Männern nach dem Eingriff meist eine fünf bis zehn Zentimeter lange Narbe in den Leisten zurück.1014 Bei Frauen musste für die Operation ein Bauchschnitt unter Vollnarkose vorgenommen werden.1015 Der Eingriff war bei ihnen wesentlich schwerwiegender, dementsprechend war die Sterblichkeitsrate wesentlich höher,1016 insbesondere dann, wenn gleichzeitig ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen wurde.1017 Die durchschnittliche Todesrate lag in der „Ostmark“ bei 1,2 Prozent.1018 Bei drei Männern in Wien, bei denen auf Grund der Diagnose „erbliche Blindheit“ eine Zwangssterilisation angeordnet wurde, ist der Bericht über den durchgeführten Eingriff im Bestand des Wiener Erbgesundheitsgerichts erhalten. Daraus geht hervor, dass die Betroffenen vier bis fünf Tage nach der Operation das Krankenhaus wieder verlassen konnten. Angaben über den Eingriff bei Frauen mit der GzVeN-Diagnose „erbliche Blindheit“ finden sich nur in einem Fall. Die Betreffende konnte das Krankenhaus nach 14 Tagen wieder verlassen, allerdings war bei ihr auch eine Abtreibung durchgeführt worden. Vor allem in Interviews mit blinden und sehbehinderten Menschen, die von den NSZwangsmaßnahmen betroffenen waren, kommen die gravierenden, lebenslangen Folgen dieser Eingriffe zum Ausdruck. In der Publikation von Gabriel Richter ist ein Interview mit einer blinden Frau abgedruckt, die schon mit zwölf Jahren zwangssterilisiert worden war. Dabei kam es zu Komplikationen. Sie musste sich noch zwei weiteren Eingriffen unterziehen und bekam im Alter von 15 Jahren die gesamte Gebärmutter samt Scheidenstumpf entfernt.1019 Wolfgang Drave hat 28 blinde Frauen und Männer aus Deutschland befragt 1010 Vgl. Otmar Verschuer, Leitfaden der Rassenhygiene, Leipzig 1941, S. 122, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 88. 1011 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Zweites Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 4. Februar 1936, S. 119. 1012 Vgl. Goldberger, „Erb- und Rassenpflege“ in Oberdonau, S. 345–366, hier S. 362; Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 10. 1013 Auf dem Formular befanden sich vorgedruckte Felder, in denen unter anderem die Länge und Besonderheiten der Frucht aufgeführt werden sollten. 1014 Vgl. Beckenbauer, Sterilisation in Bayern, in: Blinde unterm Hakenkreuz, S. 50–58, hier S. 54. 1015 Vgl. Bock, Zwangssterilisation, S. 374. 1016 Vgl. Bock, Zwangssterilisation, S. 372–389; Heitzer, Zwangssterilisation in Passau, S. 335. 1017 Vgl. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 242. 1018 Vgl. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 231. 1019 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 290–295. 152 und diese Interviews wissenschaftlich aufbereitet. Im Kapitel „Wir waren Menschen, die fürs Vaterland nichts brachten“1020 fasste er die Aussagen der ZeitzeugInnen zur Zwangssterilisation und „Euthanasie“ zusammen. Es waren zwar nur zwei der GesprächspartnerInnen selbst von einer Zwangssterilisation betroffen, trotzdem beschäftigte dieses Thema fast alle der interviewten blinden Frauen und Männer.1021 Viele Betroffene wurden durch einen vorgenommenen Zwangseingriff allerdings so traumatisiert, dass sie auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht über die Zwangssterilisation reden konnten und sich keiner Organisation von Sterilisationsopfern anschlossen.1022 In der NS-Diktion wurden Betroffene nach dem vorgenommenen Eingriff „Sterilisierte“1023 genannt. Für die nach dem GzVeN zwangssterilisierten Personen hatte diese Operation auch gesellschaftliche Folgen. Ihre soziale Stellung war nicht geklärt. So gab es in der Führung der „Hitler-Jugend“ Uneinigkeit darüber, ob sie in den „Bann B“ aufgenommen werden konnten oder nicht.1024 Nicht geklärt war auch, ob sie zum Studium zugelassen werden sollten. Der in Kapitel II.6.6 erwähnte Erlass des Reichserziehungsministeriums aus dem Jahr 1936 legte für die „Blindenstudienanstalt“ in Marburg fest, dass blinde SchülerInnen, die für ein Studium in Frage kamen, unter anderem nach gesundheitlichen Kriterien auszusuchen waren.1025 Demnach konnte als „erbkrank“ geltenden blinden Menschen, selbst wenn sie zwangssterilisiert worden waren, ein angestrebtes Studium untersagt werden. Malmenesh beschreibt in seiner Arbeit den Fall des blinden Schülers M., der auf Grund einiger schriftlicher Eingaben im April 1944 dann doch zunächst als Gastschüler an der „Blindenstudienanstalt“ aufgenommen wurde. Ob er seine Ausbildung fortsetzen durfte, sollte durch ein Gutachten der Anstalt über seine Intelligenz geklärt werden. Bis zum Ende der NS-Zeit konnte M. die Studienanstalt allerdings provisorisch besuchen.1026 8.2.6 Die Auswirkungen der Propaganda Die bevölkerungspolitischen Maßnahmen der NS-Zeit wurden von einer breit angelegten Propagandakampagne begleitet. Die Darstellung kranker und behinderter Menschen erfolgte in der Öffentlichkeit auf diskriminierende Weise.1027 Zahlreiche Medienbeiträge diffamierten sie als „unbrauchbare“ Menschen, deren Versorgung dem Staat enorme Sum1020 Drave, Blinde Menschen erzählen, S. 127–158. 1021 Vgl. Drave, Blinde Menschen erzählen, S. 127. Eine Zusammenstellung mit signifikanten Aussagen von zwangssterilisierten blinden Menschen gab Ludwig Beckenbauer in seinem Vortrag auf einem Seminar im November 1989 in Berlin. Er hatte 1946 und Ende 1947 für den „Bayerischen Blindenbund“ Befragungen bei Betroffenen durchgeführt, um Zahlen und Argumente für beabsichtigte Entschädigungsverfahren zusammenzutragen. Sie zeigen die Dimension der psychischen und körperlichen Auswirkungen. Vgl. Beckenbauer, Sterilisation in Bayern, S. 50–58, hier S. 56–57. [Abgedruckt in: Hoffmann, Blinde Menschen in der Ostmark, S. 541.] 1022 Vgl. Diskussionsbeitrag von Klara Nowak in: Gespräch mit Zeitzeugen, in: Blinde unterm Hakenkreuz, S. 59–87, hier S. 76; Beispiele aus Tirol vgl. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 236–246. 1023 Bögge, Fragen zur Gesundheitsführung, S. 1–2, hier S. 1. 1024 Vgl. Kapitel II.5.4. 1025 Vgl. Malmanesh, Blinde, S. 203–204. 1026 Vgl. Malmanesh, Blinde, S. 204–207. 1027 Vgl. Büttner, Bann G, S. 35. Zur Darstellung von Menschen mit einer Behinderung durch die NS-Propaganda vgl. weiterführend: Poore, Disability in Twentieth Century, pp. 99–116. 153 men kosten würde. Auch wenn geistig behinderte Menschen, EpileptikerInnen oder andere an einer Psychose erkrankte Personen in diesem Zusammenhang zu den am häufigsten diskreditierten Menschen mit einer Behinderung zählten, waren auch blinde Menschen betroffen.1028 Der Reichsärzteführer Gerhard Wagner gab 1934 beispielsweise an, dass allein die Versorgung der „Erbblinden“1029 jährlich fünf Millionen RM kosten würden.1030 Alle zur Verfügung stehenden Medien und Kanäle wurden für diese Propagandatätigkeit genutzt. Auch in Wien wurden die einschlägigen Propagandafilme wie „Opfer der Vergangenheit“, „Sünden der Väter“, „Abseits vom Wege“ und „Erbkrank“ vor einem zahlreichem Publikum gezeigt.1031 Diese intensive Propagandatätigkeit hatte gravierende Auswirkungen. Blinde Menschen wurden wie alle anderen Personen mit einer Behinderung als „minderwertig“ abgestempelt.1032 Dies beeinflusste den Zusammenhalt unter blinden Menschen negativ. „Erbgesunde“ fingen an, sich von den „Erbkranken“ zu distanzieren.1033 Selbst Kriegsblinde und andere Kriegsopfer wurden in der Öffentlichkeit mit dem Vorurteil konfrontiert, ihre Behinderung sei eine körperliche „Missbildung“, die sich vererben könne.1034 Die NS-Propaganda versuchte dieser Entwicklung entgegenzuwirken, indem führende NS-Ras­sen­hy­gi­e­nikerIn­ nen öffentlich betonten, Kriegsopfer seien von dem GzVeN nicht betroffen.1035 Auch in der NSKOV-Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ wurden solche Vorurteile richtig gestellt.1036 Dieses Beispiel zeigt, wie tief die Theorie der Erblichkeit von Behinderungen in allen Bevölkerungsschichten verankert war. „Der Makel, erbkrank zu sein, befleckte selbst zu diesem Zeitpunkt [1944] noch jeden Behinderten […].“1037 Der RBV versuchte über seine geschulten Funktionäre und eigene Broschüren, den negativen Auswirkungen der Propaganda zur Rassenhygiene entgegenzuwirken, um so das Image der Zivilblinden zu verbessern.1038 Aber nicht nur in der so genannten „externen“ Öffentlichkeitsarbeit, sondern auch in den Medien für blinde Menschen wurde immer wieder deren „Leistungsfähigkeit“ betont.1039 Außerdem nutzte das NS-Regime die Zeitschriften für blinde Menschen dazu, eugenische Zwangsmaßnahmen als positiv darzustellen. Damit sollte die Akzeptanz von Zwangssterilisationen erhöht werden. Im RBV-„Ratgeber für Blinde“ schrieb der damalige Leiter der städtischen Augenklinik Dortmund 1939 dementsprechend Folgendes: 1028 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 87. 1029 Gerhard Wagner, Rasse und Volksgesundheit. Rede, gehalten auf dem Parteikongreß 1934, in: Ziel und Weg Nr. 4 (1934), S. 675–685, hier S. 679, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 142. 1030 Vgl. Gerhard Wagner, Rasse und Volksgesundheit. Rede, gehalten auf dem Parteikongreß 1934, in: Ziel und Weg Nr. 4 (1934), S. 675–685, hier S. 679, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 142. 1031 Vgl. Spring, Zwangssterilisationen, S. 53. 1032 Vgl. Poore, Disability in Twentieth Century, p. 126. 1033 Vgl. Lorenschat, Sterilisation Behinderter, S. 96. 1034 Vgl. Kapitel III.3.5. 1035 Vgl. Poore, Disability in Twentieth Century, p. 68. 1036 Vgl. Schütz, Verletzungen sind niemals vererblich, S. 9–10. 1037 Richter, Blindheit und Eugenik, S. 140. 1038 Vgl. Kapitel II.6.1. 1039 Vgl. Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 7–8; Pfannenstiel, Rassen-, Erbgesundheitspflege und Bevölkerungspolitik, S. 13–20. 154 „Gerade weil die mit keinem weiteren Leide behafteten erbkranken Blinden geistig und sittlich vollwertige Menschen sind, bedeutete die Unfruchtbarmachung für sie ein Opfer […]. Umsomehr dürfen die erbkranken Blinden erwarten, daß ihre geistige und sittliche Vollwertigkeit durch ihre Unfruchtbarmachung nicht irgendwie in Frage gestellt wird.“1040 Die Eingriffe bei Zwangssterilisationen wurden in der Propaganda für das GzVeN grundsätzlich verharmlost. Besonders in an blinde Menschen gerichteten Beiträgen kam diese Haltung zum Ausdruck. Der Eingriff wurde als „verhältnismäßig leicht“1041 dargestellt, die Operation als komplikationslos beschrieben:1042 „Daß die Sterilisierung einen Eingriff darstelle, der lediglich die Befruchtungsmöglichkeit ausschaltet, nicht aber die Möglichkeit des Geschlechtsverkehrs, brauche ich in diesem Kreise wohl nicht näher zu erörtern.“1043 Trotz der intensiven Propagandaarbeit zum GzVeN wehrten sich beispielsweise viele Männer gegen den Eingriff, da sie annahmen, kastriert statt zwangssterilisiert zu werden.1044 Öffentliche Proteste gegen die Durchführung der Zwangssterilisationen von blinden Menschen gab es kaum. Einzig der blinde Rechtsanwalt Rudolf Kraemer aus Deutschland kritisierte mit seiner 1933 veröffentlichten „Kritik der Eugenik. Vom Standpunkt des Betroffenen“1045 die rassenhygienischen Maßnahmen des NS-Regimes. Gisela Bock bezeichnete sein Werk als „eine einsame Blüte in der Landschaft des vorherrschenden zeitgenössischen ‚Schrifttums‘.“1046 Die Gleichschaltung des Blindenwesens verhinderte hier wohl weitgehend jede weitere öffentliche kritische Auseinandersetzung.1047 Die Reaktionen blinder Menschen auf die Einführung des GzVeN und die Propagandatätigkeit waren sehr unterschiedlich. Sie reichten von völliger Ablehnung über Tolerierung bis zum Aufruf zur freiwilligen Sterilisation.1048 Angeblich gab es unter den so genannten „Erbblinden“ einen besonders hohen Prozentsatz von Betroffenen, die sich freiwillig zur Sterilisation meldeten.1049 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass blinde Menschen in einem Spannungsfeld zwischen „Brauchbarmachung“ und Diskriminierung, Gleichstellung und „Minderwertigkeit“, bedroht durch gesellschaftliche Isolation, Zwangssterilisationen und „Euthanasie“ lebten. 1040 Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 13. 1041 Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 10. 1042 Vgl. Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 10. 1043 Pfannenstiel, Rassen-, Erbgesundheitspflege und Bevölkerungspolitik, S. 13–20, hier S. 18. 1044 Vgl. Rost, Sterilisation und Euthanasie, S. 59–83 zitiert in: Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 131; Makowski, Eugenik, S. 184–185. Beispiele aus Tirol führt Stefan Lechner an. Vgl. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 243–245. 1045 Kraemer, Kritik der Eugenik. 1046 Bock, Zwangssterilisation, S. 279. Zu Rudolf Kraemer vgl. Kapitel II.11.3. 1047 Vgl. Kapitel II.11. 1048 Vgl. Malmanesh, Blinde, S. 173. 1049 Vgl. Kühle, Lehrgang des Hauptamtes, Referat von Dr. Rudolf Schmidt, Freiburg, zitiert in: Makowski, Eugenik, S. 199. 155 8.3 „Euthanasie“1050 „Bis heute hält sich die Legende, den Blinden sei im ‚Dritten Reich‘ nichts geschehen.“1051 Die „Verhinderung erbkranken Nachwuchses“ war nur eine der eugenischen Maßnahmen des NS-Regimes. Zu Kriegsbeginn begann die Tötung von Menschen, die nach NS-Kriterien keinen „Lebenswert“ hatten.1052 Wolfgang Neugebauer schätzt, dass die NS-„Euthanasie“ in Österreich insgesamt mindestens 20.000 bis 25.000 Opfer gefordert hat.1053 Für das ganze „Deutsche Reich“ lässt sich eine Zahl von bis zu 300.000 Menschen berechnen, die getötet wurden.1054 Wie viele blinde Menschen darunter waren, ist bisher nicht systematisch untersucht worden. Im Folgenden wird geschildert, warum aber davon ausgegangen werden muss, dass auch eine, allerdings unbekannte, Anzahl von blinden Kindern, Frauen und Männern zu den Opfern der NS-„Euthanasie“ zählte. Im ersten Halbjahr 1939 schuf der Beraterstab der Kanzlei des „Führers“ eine Organisation mit der Tarnbezeichnung „Reichssausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ 1055, um die so genannte Kinder-„Euthanasie“ vorzubereiten. Ein geheimer Runderlass vom 18. August 1939 verpflichtete alle Hebammen und ÄrztInnen, Kinder mit einer angeborenen Behinderung an die Gesundheitsämter zu melden. Zu den meldepflichtigen Handicaps zählten „Idiotie“ sowie „Mongolismus“, vor allem in Verbindung „mit Blindheit und Taubheit“, „Mikrocephalie“1056, „Hydrocephalus“1057, „Mißbildungen jeder Art, besonders das Fehlen von Gliedmaßen, schwere Spaltbildungen des Kopfes und der Wirbelsäule“ sowie Kinder mit „Lähmungen einschließlich Littlescher Erkrankung“.1058 Blinde Kinder mit weiteren Beeinträchtigungen gehörten demnach zu dem meldepflichtigen Personenkreis. Ausgefüllte Meldebögen wurden an drei vom „Reichsausschuß“1059 beauftragte Gutachter weitergeleitet, die über Leben oder Tod der Kinder entschieden. Rund 5.000 Kinder fielen dieser Mordaktion zum Opfer.1060 1050 Bei den im Folgenden dargestellten Sachverhalten handelt es sich nicht um Euthanasie im eigentlichen Sinn, das heißt um Hilfestellung oder Begleitung für Sterbende. In der NS-Zeit wurde unter diesem Begriff die vorsätzliche Tötung von kranken und behinderten Menschen verstanden. 1051 Klee, Der blinde Fleck. 1052 Zur „Euthanasie“ in der NS-Zeit vgl. u. a. auch die dort angegebene Literatur: Kepplinger, Marckhgott, Reese, Tötungsanstalt Hartheim; Horn, Medizin im Nationalsozialismus; Gabriel, Neugebauer, NS-Euthanasie in Wien; Gabriel, Neugebauer, Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung; Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat; Friedlander, The Origins of Nazi Genocide; Wunder, Euthanasie in den letzten Kriegsjahren; Weber, Bereuter, Hammerer, Nationalsozialismus im Bregenzerwald; Poore, Disabiltiy in Twentieth Century, pp. 120–124; Schmuhl, Patientenmorde, S. 295–328. 1053 Vgl. Neugebauer, Zwangssterilisierung und „Euthanasie“, S. 17–28, hier S. 23. 1054 Vgl. Evans, Zwangssterilisierung, Krankenmord und Judenvernichtung, S. 295–328, hier S. 316. 1055 Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 80. 1056 Konfiguration des Hirnschädels mit Verkleinerung des Schädelumfanges. 1057 So genannter Wasserkopf. 1058 Vgl. Runderlass des RM d. I., IvB 30388/39 – 1079 abgedruckt in: Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 80–81. [Personen mit Littlescher Erkrankung sind unter dem Begriff Spastiker bekannt.] 1059 Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 80. 1060 Vgl. Neugebauer, Zwangssterilisierung und „Euthanasie“, S. 17–28, hier S. 22. 156 Kurze Zeit danach begann die Tötungsaktion „T 4“, bei der PatientInnen der psychiatrischen Anstalten im „Deutschen Reich“ in Tötungsanstalten1061 gebracht wurden. Betroffene aus Anstalten in der „Ostmark“ kamen vor allem nach Hartheim.1062 Der Personenkreis, der für diese Mordaktion in Frage kommen sollte, wurde durch im Oktober 1939 verschickte Meldebögen erfasst. Zu den anzugebenden Krankheiten zählte Blindheit auch diesmal nicht.1063 Eine gesetzliche Regelung für diese Tötungsaktion gab es nicht. Hitler lehnte diese aus politischen Gründen ab.1064 Im August 1941 befahl Hitler, die Vergasungen in den Tötungsanstalten einzustellen. Das in der Öffentlichkeit verbreitete Wissen um die Morde erschien dem NS-Regime als zu gefährlich. Trotzdem lief die Ermordung angeblich „minderwertiger“ Menschen in den Kinderfachabteilungen1065 und für die Erwachsenen in verschiedenen Anstalten bis Kriegsende weiter.1066 Eine zentrale Anweisung für diese Mordaktionen dürfte nicht vorgelegen sein, weshalb sich der Begriff „wilde Euthanasie“1067 dafür durchgesetzt hat. 1943/1944 kam es zu einer „erneuten Intensivierung“1068 des Mordprogramms. „In den späten Phasen der ‚Euthanasie‘ weitete sich der Kreis der Opfer zunehmend aus.“1069 Neben den psychisch Kranken kam es zur Tötung von BewohnerInnen von Altersheimen, „Trinkerheilstätten“ und Asylen sowie körperlich kranken Menschen. Betroffen waren ebenfalls die Gruppen der Kriegsversehrten und Ausländer, die zunächst aus „Gründen politischer Opportunität“1070 verschont geblieben waren. Auch blinde Menschen, die nicht von ihren Angehörigen versorgt wurden und in Altersheimen oder anderen Anstalten untergebracht waren, sowie wiederum mehrfachbehinderte Menschen und Kriegsblinde mit psychischen Beeinträchtigungen konnten in der letzten Phase der NS-„Euthanasie“ zu Opfern geworden sein.1071 Zahlen darüber sind bisher allerdings nicht erarbeitet worden. Für einige WissenschaftlerInnen, die zur NS-„Euthanasie“ geforscht haben, scheint aber festzustehen, dass unter 1061 Im Deutschen Reich gab es zeitweilig sechs „Euthanasieanstalten“ in Brandenburg (Zuchthaus an der Havel), Bernburg an der Saale, Schloß Grafeneck in Württemberg, Hadamar bei Limburg, Hartheim bei Linz und Sonnenstein bei Pirna. Vgl. Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 135–165. 1062 Vgl. Neugebauer, Zwangssterilisierung und „Euthanasie“, S. 17–28, hier S. 23; Weiterführende Literatur vgl. u. a. Kepplinger, Marckhgott, Reese, Tötungsanstalt Hartheim; Berührende Briefe und Dokumente aus Hartheim sind kommentarlos abgedruckt in: Neuhauser, Pfaffenwimmer, Hartheim. 1063 Das geht aus dem Merkblatt, das mit dem Meldeblatt versendet wurde, hervor. Abgedruckt in: Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 91–93. Vgl. Kräuse-Schmitt, Ermordung geistig behinderter Menschen, S. 8–10, hier S. 8; Michael Greve, Die organisierte Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ im Rahmen der „Aktion T 4“. Dargestellt am Beispiel des Wirkens und der strafrechtlichen Verfolgung ausgewählter NS-Tötungsärzte, [= Reihe Geschichtswissenschaft, 43], S. 42, zitiert in: Thomas Rüscher, NS-„Euthansie“ im Bregenzerwald, S. 142–153, hier S. 143. 1064 Vgl. Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 101. 1065 Vgl. dazu weiterführend: Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 379–389. 1066 Vgl. u. a. Friedlander, Motive, S. 47–59, hier S. 57; Neugebauer, Zwangssterilisierung und „Euthanasie“, S. 17–28, hier S. 23. 1067 Diesen Begriff prägte Viktor Brack, einer der Hauptverantwortlichen für die „Euthanasie“-Aktion in der „Kanzlei des Führers“. Vgl. Götz Aly, Die „Aktion Brandt“ – Bombenkrieg, Bettenbedarf und „Euthanasie“, in: Götz Aly (Hrsg.), Aktion T4 1939–1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin 1987, S. 168 ff, zitiert in: Neugebauer, Zwangssterilisierung und „Euthanasie“, S. 17–28, hier S. 23. 1068 Insgesamt 15 Anstalten beteiligten sich daran, Hadamar, Großschweidnitz und Meseritz-Obrawalde galten dabei als besonderes „berüchtigt“. Vgl. Schmuhl, Patientenmorde, S. 295–328, hier S. 315. 1069 Schmuhl, Patientenmorde, S. 295–328, hier S. 315. 1070 Schmuhl, Patientenmorde, S. 295–328, hier S. 315. 1071 Vgl. Friedlander, The Origins of Nazi Genocide, p. XI; Schmuhl, Patientenmorde, S. 295–328, hier S. 315. 157 den Opfern blinde Menschen waren. Henry Friedlander zitiert in diesem Zusammenhang beispielsweise den Psychiater Hermann Pfannmüller, der ab 1938 Direktor der Anstalt in Eglfing-Haar (D) war. Im Zuge der Nürnberger Medizingerichtsprozesse berichtete Pfannmüller, dass Kinder auf Grund der Diagnose „angeborene Blindheit“ getötet wurden.1072 Die bereits erwähnte Tötung von Kindern, die neben ihrer Erblindung noch weitere Beeinträchtigungen hatten, gilt ebenfalls als wissenschaftlich erwiesen.1073 Nach der „Reichsgebrechlichen Zählung“ von 1926/27 in Deutschland hatten rund zehn Prozent der blinden Menschen eine zusätzliche Behinderung.1074 Auch die für diese Studie interviewte Emma Leichter erinnert sich an eine blinde Mitschülerin in Ursberg, wohin die SchülerInnen der Blindenschule Innsbruck 1944 evakuiert worden sind, die voraussichtlich getötet wurde. Die Mitschülerin Edeltraut hatte einen Kopftumor und konnte auf Grund starker Kopfschmerzen häufig nicht am Unterricht teilnehmen. „Und einen schönen Tages ist halt die Edeltraut verschwunden“, erinnert sich Emma Leichter in dem Interview mit ihr vom 7. Juni 2010.1075 Ihrer Erinnerung nach passierte das voraussichtlich 1944. Später konnte die 1930 geborene Südtirolerin ein Gespräch von „Erzieherinnen“ mithören, die sich über die MitschülerInnen unterhielten. Offiziell wurde lediglich verlautbart, Edeltraut sei „gestorben“. Die Erzieherinnen glaubten aber offenbar, der Vater hätte Edeltraud „geopfert“, weil er sonst „irgendeine Stelle“ nicht erhalten hätte.1076 Darüber hinaus gibt es weitere Berichte über getötete blinde Menschen, allerdings nicht aus der „Ostmark“. 13 Insassen der Königsberger Blindenanstalt sollen laut Angaben von Pielasch und Jaedicke in Teupitz ermordet worden sein.1077 Der ehemalige geschäftsführende Vorstand des „Württembergischen Blindenvereins“ Otto Glänzel nennt 1948 außerdem namentlich fünf blinde Menschen, die nach der Ausbombung der Frankfurter Blindenanstalt zunächst in einem Altersheim1078 in Weilmünster untergekommen waren. Sie wurden von dort nach Hadamar abtransportiert.1079 Nach Angaben der in Hadamar eingerichteten Gedenkstätte gab Ernst Klee zu diesen fünf Fällen folgende Auskunft: Sie seien 1944 mit der Diagnose „Außer mit Blindheit mit keiner Krankheit behaftet“1080 dort getötet worden. Die blinden Menschen wurden etwa zwei Wochen nach ihrer Einlieferung ermordet. Klee erwähnt in seinem Aufsatz außerdem, dass sich in den Akten der Psychiatrie im fränkischen Ansbach in den Eintragungen über verstorbene Kinder der Vermerk „blind“1081 befindet. 1072 Vg. U. S. Military Tribunal, Official Transcript of the Proceedings in Case 1, United States v. Karl Brandt et al., 7304, zitiert in: Friedlander, Holocaust Studies, pp. 15–31, hier p. 25. 1073 Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 1971; A[lexander] Mitscherlich, F[red] Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frankfurt a. M. 1960, S. 210, zitiert in: Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 341; Richter, Blindheit und Eugenik, S. 73; Scheer, Jüdische Blinde, S. 14–15, hier S. 14 [Redaktion: Blinden- und Sehschwachenverband der DDR]; Demmel, Durch Nacht zum Licht, S. 212. 1074 Vgl. Kapitel II.1.1. 1075 Vgl. Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 12. 1076 Vgl. Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 12–13. 1077 Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 169. 1078 Die BewohnerInnen von Altenheimen wurden gegen Ende des Krieges häufiger in die „wilden“ „Euthanasie“-Maßnahmen“ einbezogen. Vgl. u. a. Aly, Medizin gegen Unbrauchbare, S. 9–74, hier S. 67. 1079 Vgl. Glänzel, Ermordung, S. 171. 1080 Klee, Der blinde Fleck. 1081 Klee, Der blinde Fleck. 158 Insgesamt dürfte aber im Vergleich zu Menschen mit einer geistigen Behinderung der Anteil blinder Menschen ohne weitere Beeinträchtigung an den „Euthanasie“-Opfern gering gewesen sein. Es kann angenommen werden, dass die Auffassung der NS-Führung, blinde Menschen könnten einer Erwerbstätigkeit nachgehen, viele vor der Tötung bewahrte.1082 Ab 1941 war die Einschätzung der „Arbeitsfähigkeit“1083 das zentrale Auswahlkriterium für die „Euthanasie“. Es sollten diejenigen getötet werden, die auch in den Anstalten keine „produktive“1084 Arbeit leisten konnten.1085 Blinde, gehörlose und unter gewissen Einschränkungen auch Menschen mit einer körperlichen Behinderung galten primär als „arbeitsfähig“ und damit auch nicht unbedingt als „lebensunwert“.1086 Zu den im Rahmen der NS-„Euthanasie“ ermordeten Menschen zählen laut einer Schätzung von Wolfgang Neugebauer auch mindestens 500 Menschen mit einer Beeinträchtigung jüdischer Herkunft aus der „Ostmark“.1087 Dieser Aspekt wird in Kapitel IV.6.2 erläutert. 8.4 Ehegesetzgebung „Ich hab’ […] den öffentlichen Umgang mit dem weiblichen Geschlecht vollkommen gemieden, weil ich gesagt hab’, meine männliche Vollwertigkeit ist mir lieber.“1088 Das Ehegesundheitsgesetz (EGG) trat in der „Ostmark“ gleichzeitig mit dem GzVeN in Kraft.1089 Für blinde Menschen war dies aus zweierlei Hinsicht von besonderer Bedeutung. Es verbot zum einen die Ehe zwischen als „erbkrank“ angesehenen blinden Menschen, wenn nicht beide unfruchtbar oder zwangssterilisiert worden waren. Zum anderen war die Verehelichung eines als „erbkrank“ geltenden blinden Menschen mit einer „gesunden“ Person nicht erlaubt, unabhängig davon, ob der oder die Betreffende unfruchtbar gemacht worden war.1090 Kriegsbedingt wurde das EGG in der „Ostmark“ allerdings nicht vollzogen. Es sollte zu keiner Anrufung des Erbgesundheitsgerichtes in „Ehegesundheitssachen“1091 kommen. Bei einer Eheschließung sollte eine ärztliche Untersuchung, ob eine „Erbkrankheit“ vorlag, nur bei Verdacht stattfinden, wenn auf Grund von Angaben aus der Vorgeschichte und nach 1082 Vgl. Hielscher, Blinde im Nationalsozialismus, S. 8. 1083 Schmuhl, Patientenmorde, S. 295–328, hier S. 315. 1084 Aly, Medizin gegen Unbrauchbare, S. 9–74, hier S. 29. 1085 Vgl. Aly, Medizin gegen Unbrauchbare, S. 9–74, hier S. 29. 1086 Zur „Euthanasie“ von gehörlosen und anderen Menschen mit einer Behinderung vgl. u. a.: Biesold, Klagende Hände, insb. S. 176; Runggatscher, Lebenssituation gehörloser Menschen, insb. S. 85; Büttner, Bann G, insb. S. 23; Romey, „Euthanasie“ war Massenmord, S. 55–81; Klee, Von der Asylierung zum Mord, S. 82–92. 1087 Vgl. Neugebauer, Juden als Opfer der NS-Euthanasie, S. 99–111, hier S. 111. 1088 Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 276. [Der Blinde Norbert Lorenz sagt dies in einem Gespräch mit Wolfgang Drave über sein Leben in der NS-Zeit.] 1089 Weiterführende Literatur zum Thema Ehe in der NS-Zeit vgl. u. a. Czarnowski, Das kontrollierte Paar. 1090 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 182. 1091 [D] RGBl., Teil 1, Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und des Ehegesundheitsgesetzes vom 31. August 1939, S. 1560–1561 [§ 7, Abs. 2]. 159 Abgleich mit der „erbbiologischen Kartei“1092 oder sonstigen Quellen Anhaltspunkte für ein Eheverbot vermutet wurden. Außerdem konnte der Standesbeamte ein so genanntes „Ehetauglichkeitszeugnis“1093 verlangen. Bevor das EGG in der „Ostmark“ am 1. Jänner 1940 in Kraft trat, kam es allerdings durch die Einführung der Ehestandsdarlehen1094 zu einer Variante,1095 auf Paare Druck auszuüben, sich vor der Eheschließung einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen. Wegen des wirtschaftlichen Interesses an der neuen finanziellen Eheförderung ließen sich allein von April bis Dezember 1938 43.257 Personen in der gesamten „Ostmark“ untersuchen.1096 Dabei sollte unter anderem festgestellt werden, ob bei den „EhestandsdarlehenswerberInnen“ eine „erbliche Belastung“ vorlag. 688 BewerberInnen wurden nach dieser Untersuchung als nicht „geeignet“ für die Ehe befunden. 199 von ihnen wurden als „erscheinungsbildlich gesund“1097 klassifiziert. Wegen negativ beurteilter Familienmitglieder wurde ihnen die „Eheeignung“ trotzdem nicht bescheinigt.1098 Bei einem Mann erfolgte dies auf Grund einer diagnostizierten „erblich bedingten Erblindung“ oder „Sehbehinderung“. Die meisten Ablehnungsgründe waren „angeborener Schwachsinn“, „Schizophrenie“ und „erbliche Fallsucht.“1099 Größer war die Zahl derer, denen wegen einer „eigenen“ Krankheit die „Eheeignung“ abgesprochen wurden.1100 Bei insgesamt 489 Personen war dies der Fall. Bei vier Frauen und drei Männern führte eine angenommene „erblich bedingte Erblindung“ oder eine „Sehbeeinträchtigung“ zu diesem Urteil.1101 Obwohl das EGG kriegsbedingt nicht mehr vollständig umgesetzt wurde, verhinderte es auch in der „Ostmark“ die Verehelichung blinder Menschen, denn die Betroffenen belastete das Wissen um das Eheverbot, hemmte sie in ihren persönlichen Kontakten und verstärkte die Tendenz zur Absonderung.1102 Außerdem verstärkte diese Gesetzgebung die ablehnende Haltung von blinden Menschen gegenüber NS-Maßnahmen.1103 Das RM d. I. versuchte dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Als ein brauchbarer Weg schien dabei die Einrichtung einer staatlichen Ehevermittlung von Gesundheitsämtern für als „erbkrank“ geltende Menschen. Der RM d. I. legte diesbezüglich in einem Runderlass 1092 Vgl. Kapitel II.4.3. 1093 [D] RGBl., Teil 1, Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und des Ehegesundheitsgesetzes vom 31. August 1939, S. 1560–1561 [§ 7, 1]; Gabriele Czarnowski, Eheeignung und Ehetauglichkeit. Körperbeschreibungen im administrativen Geschlecht positiver und negativer Rassenhygiene während des Nationalsozialismus, in: Baader, Hofer, Mayer, Eugenik in Österreich, S. 312–344, hier S. 316. 1094 Vgl. weiterführend: Makowski, Eugenik, S. 244–245. 1095 Schon vor der NS-Zeit kam es in Österreich im Rahmen der Diskussion um die Umsetzung eugenischer Maßnahmen zur Verwendung der Begriffe „Eheeignung“ und „Ehetauglichkeit“. Eine freiwillige Eheberatung in Wien und Graz war aber die einzige realisierte Maßnahme im Sinne einer eugenischen Ehepolitik. Vgl. Czarnowski, Eheeignung, S. 312–344, hier S. 312–315. 1096 Vgl. M. vom Mezynski, Der Gesundheitszustand der Ehestandsdarlehenbewerben in der Ostmark vom Jahre 1938, in: Reichsgesundheitsblatt 15, 1940, S. 101–105 [BAB, NS 5 VI 4906], zitiert in: Czarnowski, Eheeignung, S. 312–344, hier S. 316. Die folgenden Zitate und Zahlen stammen aus diesem Bericht. 1097 Czarnowski, Eheeignung, S. 312–344, hier S. 333–335. 1098 Vgl. Czarnowski, Eheeignung, S. 312–344, hier S. 333–335. 1099 Czarnowski, Eheeignung, S. 312–344, hier S. 333–335. 1100 Vgl. Czarnowski, Eheeignung, S. 312–344, hier S. 333–335. 1101 Vgl. Czarnowski, Eheeignung, S. 312–344, hier S. 333–335. 1102 Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 154. 1103 Siering, Unfruchtbarmachung, S. 122–125. 160 vom 23. Jänner 1941 fest, dass zwei Vermittlungsstellen in Berlin und Dresden mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet werden sollten, um alle im „Deutschen Reich in Frage kommenden Personen […] bei der Wahl eines passenden Lebensgefährten behilflich zu sein.“1104 Blinde Menschen nutzten dieses Angebot anfangs scheinbar nicht. Carl Siering begründet dies damit, dass sie mit den Vermittlungsstellen zunächst nicht in Blindenschrift kommunizieren konnten. Das heißt, sie waren bei der Korrespondenz auf die Hilfe von Sehenden angewiesen und hatten dementsprechend dabei keine Privatsphäre. Außerdem habe es bei den meisten Frauen eine große Scheu und Zurückhaltung gegenüber einer Eheschließung mit einem blinden Mann gegeben.1105 Ob auch Männer in Bezug auf die Heirat mit einer blinden Frau Hemmungen hatten, wird von Siering nicht erwähnt.1106 Auf Bestreben des RBV konnten ab 1942 blinde Menschen dann auch in Brailleschrift mit der „Reichsvermittlungsstelle beim Hauptgesundheitsamt“1107 korrespondieren. Inwieweit es sich hierbei um eine eher propagandistische Maßnahme handelte oder ob wirklich Ehen für blinde Menschen vermittelt wurden, kann auf Grund der für diese Arbeit ausgewerteten Quellen und der Sekundärliteratur nicht festgestellt werden. Bekannt ist ebenfalls nicht, ob diese Stellen auch Betroffene aus den „Alpen- und Donaureichsgauen“ betreuten. Die Ehegesetzgebung und ihre Auswirkungen zeigen aber, wie stark das alltägliche Leben blinder Menschen durch das NS-Regime eingeschränkt wurde. 1104 Gerl, staatliche Ehevermittlung, S. 63. 1105 Vgl. Siering, Achtung! Ehevermittlung, S. 29–31, hier S. 29–30. 1106 Vgl. Kapitel II.10. 1107 Siering, Achtung! Ehevermittlung, S. 29–31, hier S. 29–30. 161 9.Die Auswirkungen des Krieges „Wie stark verunsichert mußten blinde Menschen sein, wenn die Bomben das Haus in eine Ruine verwandelten und der Luftschutzkeller nur noch über Schuttberge verlassen werden konnte […].“1108 Der Alltag blinder Menschen zwischen 1939 und 1945 war geprägt von den Auswirkungen des Krieges und des NS-Herrschaftssystems. Bereits in den vorangegangenen Kapiteln wurde dies deutlich. Anhand einiger exemplarischer Beispiele sollen die Rahmenbedingungen, unter denen blinde Menschen in der „Ostmark“ lebten, veranschaulicht werden. Auf Grund fehlender AugenzeugInnenberichte und Aufzeichnungen von Betroffenen können ihre Lebensumstände allerdings nicht im Detail geschildert werden. Die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges stellten die Einrichtung des NS-Blindenwesens vor viele Herausforderungen. Dazu zählte beispielsweise die Unterbringung blinder Menschen, die durch die Luftangriffe ihre Unterkünfte verloren hatten, und derjenigen aus besonders gefährdeten Gebieten. Luftangriffe, Zerstörungen, Evakuierung und Flucht lösten darüber hinaus besonders bei den blinden Kindern Angst, Unsicherheit und Verzweiflung aus.1109 Ein geregelter Schulbetrieb konnte nicht mehr geführt werden. Grund dafür war unter anderem ein wachsender LehrerInnenmangel an den Blindenschulen. Ein Teil des Lehrpersonals war zur Wehrmacht eingezogen worden. Einige von ihnen leisteten ihren Wehrdienst in den Reservelazaretten für Kriegsblinde ab.1110 Der Unterricht in den Blindenschulen konnte auch wegen der Luftangriffe, die zu Unterrichtsausfällen führten, nicht mehr regelmäßig abgehalten werden.1111 Hatten SchülerInnen eine Nacht in einem Schutzkeller verbringen müssen, begann der Unterricht am folgenden Tag später, die Stunden wurden gekürzt oder die Schulstunden entfielen vollständig.1112 Einige Einrichtungen mussten auf Grund der anhaltenden Luftangriffe ihren Schulbetrieb gänzlich einstellen. Die blinden SchülerInnen der Innsbrucker Blindenschule, die direkt neben den Bahngleisen im Stadtteil Saggen untergebracht war, wurden beispielsweise zusammen mit den blinden Kindern der Blindenschule München nach Ursberg (Bayern) evakuiert.1113 Einige der Einrichtungen des Blindenwesens wurden während des Krieges vollständig zerstört. Dazu zählte die Wiener Blindenschule, die im April 1945 beschädigt wurde.1114 Zerstört wurden auch der RBV-Sitz in der Rotensterngasse1115 sowie viele Betriebe, die 1108 Demmel, Durch Nacht zum Licht, S. 253. 1109 Vgl. Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 141. 1110 Vgl. Kapitel III.4.1, III.4.2. 1111 Weiterführende Literatur zu den Luftangriffen in Österreich vgl. Siegfried Beer, Stefan Karner (Hrsg.), Der Krieg aus der Luft. Kärnten und Steiermark 1941–1945, Graz 1992; Franz Josef Fetz, Der Luftkrieg über Österreich im Zweiten Weltkrieg, Dipl. [Manuskript], Innsbruck 1985. 1112 Vgl. Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 73. 1113 Vgl. Kapitel II.4.5.3. 1114 Vgl. Kapitel II.4.5.1. 1115 Die Geschäftsstelle des RBV in Berlin wurde bereits 1943 nach Wernigerode verlegt. Vgl. Gersdorff, Bericht [1942], S. 279–283, hier S. 279; Kapitel II.3.4.1. 162 blinde Menschen beschäftigten.1116 Über den Zerstörungsgrad der anderen Institutionen konnte nichts in Erfahrung gebracht werden. Unbekannt ist ebenfalls, wie viele Zivilblinde obdachlos wurden. Einige von ihnen sowie Betroffene aus besonders gefährdeten Gebieten kamen 1944 im RBV-Erholungsheim in St. Georgen am Reith unter.1117 Viele blinde Menschen erlebten die Luft- und Bodenkämpfe in den Städten. Unter der Bevölkerung in Wien wurden daher Übersichtstafeln über die durch Luftangriffe besonders gefährdeten Orte verteilt. Die Wiener Blindenschule produzierte diese Karten in Reliefdruck, um damit diese Informationen blinden Menschen zugänglich zu machen.1118 Die Krater, Schutthaufen und Gebäudeteile auf den Straßen nach den Bombenangriffen machten es blinden Menschen allerdings fast unmöglich, sich auch in ihnen ursprünglich vertrauten Stadtteilen zurechtzufinden.1119 Aber nicht nur die Kampfhandlungen hatten Auswirkungen auf das Leben der blinden Menschen. Bereits ab 1940 konnten sie in Punktschrift nicht mehr mit Betroffenen aus anderen Ländern kommunizieren: Blindenschriftsendungen ins Ausland wurden gänzlich verboten.1120 Auch das Ausleihen von Punktschriftwerken in den dafür vorgesehenen Büchereien war nur mehr eingeschränkt möglich. Büchersendungen innerhalb des „Deutschen Reiches“ wurden beschränkt bzw. konnten teilweise gar nicht verschickt werden. Eine der größten Verleihbibliotheken war die „Deutsche Zentralbücherei für Blinde“ (DZB)1121 in Leipzig, die blinde Menschen im ganzen „Deutschen Reich“ mit Literatur in Punktschrift versorgte. 1942 verfügte sie über 3.400 verschiedene Werke.1122 Durch das Verbot von Autoren wie Heinrich Heine oder Thomas Mann und der gleichzeitigen Aufnahme von Werken, die der NS-Ideologie entsprachen, hatte sich die Auswahl der zur Verfügung stehenden Blindenschriftbücher bereits vor Beginn des Krieges stark verändert.1123 Im Dezember 1943 wurde die DZB bei einem Luftangriff schwer getroffen.1124 Auch in Österreich gab es 1938 zwei Blindenbüchereien, eine davon war eine Einrichtung für blinde Jüdinnen und Juden. Diese „Jüdische Blindenbibliothek“, die in der Unteren Augartenstraße in Wien untergebracht war, bestand erst seit 1935. 1938 wurde der Trägerverein aus dem Vereinsregister gelöscht und die Bibliothek ging in den Besitz des 1116 Vgl. ÖBSV, Protokoll der konstituierenden Versammlung des Österreichischen Blindenverbandes vom 9.3.1946, S. 2. 1117 Vgl. Gersdorff, Blindenerholung 1944, S. 95–98, hier S. 96; Kapitel II.7. 1118 Vgl. o. A., Zur Chronik des Blindenwesens. Wien [1944], S. 240. 1119 Vgl. Demmel, Durch Nacht zum Licht, S. 253. 1120 Gleichzeitig waren generell die Versendung von Ansichtspostkarten, aufgeklebten Fotos, Kreuzwort- und anderen Rätseln und der Gebrauch von Geheim- und Kurzschriften verboten worden. Vgl. Gerl, Verbotener Nachrichtenverkehr, S. 106. 1121 Zur Geschichte dieser Einrichtung vgl. Schiller, 100 Jahre DZB. 1122 Vgl. Schiller, 100 Jahre DZB, S. 74. 1123 Vgl. Schiller, 100 Jahre DZB, S. 74. Helmut Schiller nennt an dieser Stelle keine Beispiele. In einem Verzeichnis der Süddeutschen Blindenbücherei über „Nationalsozialistisches Schrifttum“ in Punktschrift sind aber beispielsweise mehrere Werke von Joseph Goebbels, Hermann Göring, Adolf Hitler oder Al­ fred Rosenberg aufgelistet. Vgl. Nationalsozialistisches Schrifttum der Süddeutschen Blindenbücherei der Blindenanstalt Nürnberg [AIDOS]. 1124 Viele der Blindenschriftbücher blieben erhalten, weil sie zu diesem Zeitpunkt ausgeliehen waren. Die blinden LeserInnen wurden daraufhin dazu aufgefordert, ausgeliehene Werke zunächst zu behalten und dann ab 1. August 1944 an ein Ausweichquartier in Döbeln in Sachsen zu senden. Vgl. o. A., Auf- und Ausbau der Deutschen Kriegsblinden-Bücherei, S. 70; Schiller, 100 Jahre DZB, S. 72–75. 163 „Israelitischen Blindeninstituts“ auf der Hohen Warte über.1125 Diese Institution dürfte für den weiteren Betrieb einer Bibliothek kaum die notwendigen Mittel gehabt haben.1126 Die zweite Einrichtung war die „Zentralbibliothek für Blinde in Österreich“ im 9. Wiener Gemeindebezirk. Der Bestand war allerdings zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ nicht sehr umfangreich, da sie noch im Aufbau begriffen war. Ab 1939 gehörte sie dem RBV.1127 Es ist nicht überliefert, ob der Bestand zwischen 1938 und 1945 erweitert wurde und ob diese Einrichtung weiterhin für Ausleihen geöffnet war. Geprägt war das Leben blinder Menschen außerdem durch die schlechte Versorgungslage mit Lebensmitteln und Gegenständen des alltäglichen Bedarfs, die schon zu Beginn des Krieges rationiert wurden. Berufstätige blinde Menschen konnten aber unter Umständen ebenso wie Kriegsblinde zusätzliche Bezugsscheine für bestimmte Waren erhalten. Die „Reichsstelle für industrielle Fettversorgung“ sah etwa ab 1941 vor, dass blinde Menschen, die für die Ausübung ihres Berufes die Punktschrift lesen mussten, zusätzlich ein Stück „Einheitsseife“ pro Monat erhalten sollten, damit sie ihre Finger sauber halten konnten.1128 Die gleiche Menge sollten auch die HalterInnen von Führhunden bekommen. Den Vorschlag des RBV, zusätzliche Seifenerzeugnisse für das Waschen von Führhunden zur Verfügung zu stellen, lehnte das zuständige Ministerium allerdings ab.1129 Gleichgestellt wurden die berufstätigen Zivilblinden 1941 mit den Kriegsblinden in Bezug auf die Zuteilung von Regenmänteln und Handschuhen. Nach Ansicht der Behörden hatten insbesondere BesitzerInnen von Führhunden, die ihren Vierbeiner jeden Tag ausführen mussten, daran einen erhöhten Bedarf. Das Reichswirtschaftsministerium erweiterte daher 1941 den Kreis der Bezugsberechtigten in Ergänzung des Erlasses vom 14. November 1940.1130 Diese Regelungen betrafen nur die ArbeitnehmerInnen unter den blinden Menschen. Die größte Gruppe der Zivilblinden war aber arbeitslos oder aus Altersgründen nicht mehr in der Lage, einer Erwerbsbeschäftigung nachzugehen. In den letzten Kriegsmonaten dürfte die Arbeit der Blindenorganisationen fast gänzlich zum Erliegen gekommen sein. Einige blinde Menschen rechneten nicht mehr mit einem Sieg von NS-Deutschland und begannen Pläne für die Zeit nach dem erwarteten Kriegsende. Schon im Herbst 1944 trafen sie sich zu diesem Zweck in einem Wiener Lokal in der Linken Wienzeile. Die anwesenden blinden Menschen konstituierten sich zur provisorischen Leitung des „Österreichischen Blindenverbandes“ und wählten Jakob Wald zu ihrem ersten Vorsitzenden.1131 1125 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 570, P 21, Verein Jüdische Blindenbibliothek, Untere Augartenstrasse Nr. 35; WStLA, Ma. Abt. 119, A 32, Zl. 1857/35, Jüdische Blindenbibliothek; Kapitel IV.5.5.1. 1126 Vgl. Kapitel IV.5.5.1. 1127 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 21, Zentralbibliothek für Blinde in Österreich. 1128 Vgl. Gerl, Seifenzuteilung, S. 184–185. 1129 Vgl. Gerl, Seifenzuteilung, S. 184–185. 1130 Vgl. o. A., Zuteilung von Regenmänteln und Handschuhen, S. 6–7. [Erlass: II Text 25520/40, Runderlass Nr. 669/40 BWU.] 1131 Vgl. ÖBSV, Protokoll der konstituierenden Versammlung des Österreichischen Blindenverbandes vom 9.3.1946, S. 1–2; Zu Jakob Wald vgl. Kapitel II.11.2, IV.4, IV.7. 164 10.Die Situation blinder Frauen unter dem NS-Regime Die Situation von blinden Frauen und Mädchen im NS-Staat wurde bisher nicht untersucht. 1992 veröffentlichte Ulrike Heitkamp zwar einen Aufsatz zu blinden Frauen im 19. und 20. Jahrhundert, die NS-Zeit behandelte sie aber darin mit der Begründung nicht, dass das Thema zu komplex für einen Aufsatz sei.1132 Auch die für diese Studie herangezogenen Quellen geben nur wenig Auskunft über die Lebensumstände blinder Frauen. Darüber hinaus gibt es bisher kaum Forschungsarbeiten über behinderte Frauen unter dem NS-Regime.1133 Eine tiefergehende Aufarbeitung dieses Themas wäre daher notwendig, im Folgenden wird lediglich ein Einblick in die Lebensbedingungen blinder Frauen und Mädchen während der NS-Zeit gegeben. Weibliche Blinde hatten in der NS-Zeit wesentlich schlechtere Ausbildungs- und Berufschancen als blinde Männer.1134 Die benachteiligte Behandlung blinder Frauen aus dem 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts setzte sich demnach fort. Blinde Frauen, die nicht von ihren Familien versorgt wurden, fanden häufig keine Erwerbsarbeit und waren auf andere Einkünfte angewiesen.1135 Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden im Zuge karitativer Bewegungen spezielle „Mädchenheime“1136 zur Unterbringung blinder Frauen gegründet. Schon zur Jahrhundertwende versuchten die Heimleitungen, die Arbeitsleistungen blinder Frauen zu fördern, damit sie zum Erhalt der Heime beitragen konnten.1137 Nach dem Ersten Weltkrieg konnten viele solcher Einrichtungen für blinde Frauen wegen Finanzierungsschwierigkeiten nicht mehr aufrechterhalten werden. Die meisten blinden Frauen in Österreich kamen daher nicht in gesonderten Unterkünften, sondern in den bestehenden Einrichtungen für blinde Menschen unter. 1938 scheint es nur mehr zwei spezifische Einrichtungen für blinde Frauen gegeben zu haben. Eine war das „Mädchenblindenheim Providentia“ in Wien, das in erster Linie blinde Frauen und Mädchen jüdischer Herkunft aus dem „Israelitischen Blindeninstitut“ aufnahm, die nach Beendigung ihrer Ausbildung keine Unterkunft und keinen Arbeitsplatz finden konnten.1138 In Kapitel IV.5.5 wird auf diese Unterkunft und den Trägerverein noch weiter eingegangen. Die andere Einrichtung war 1938 das „Mädchenblindenheim Elisabethinum“ in Melk. Diese konfessionelle Institution wurde unmittelbar nach dem „Anschluss“ mit der Begründung geschlossen, eine Weiterführung sei unrentabel. Nach Angaben der NSDAPOrtsgruppe Melk war das Gebäude auf die Unterbringung von 26 Personen ausgelegt, es beherbergte 1938 allerdings nur 13 blinde Frauen. Diese sollten in der Blindenanstalt Linz unterkommen und das Haus in Melk dem Wehrbezirkskommando überstellt werden.1139 1132 Vgl. Heitkamp, Situation blinder Frauen, S. 89–189. 1133 Vgl. dazu die Aufsätze in folgendem Sammelband: Burger, Du mußt Dich halt behaupten. 1134 Vgl. Sauer, Situation blinder Jugendlicher, S. 53. 1135 Vgl. Crzellitzer, Blindenwesen, S. 163–171, hier S. 168. 1136 Dieser Begriff muss in Anführungsstriche gesetzt werden, da, wie im Folgenden noch erläutert wird, in diesen Anstalten nicht nur junge blinde Frauen, sondern auch ältere untergebracht waren. 1137 Vgl. Heitkamp, Situation blinder Frauen, S. 89–189, S. 118. 1138 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 6720/22, Providentia Mädchenblindenheim und Verein zur Fürsorge blinder Frauen. 1139 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 20, NSDAP Ortsgruppe Melk an Herrn Pg. Schroeder beim Stillhaltekommissar Hoffmann vom 5.6.1938, Betreff: Mädchen-Blindenheim „Elisabethinum“. Ob die blinden Frauen tatsächlich in Linz unterkamen bzw. über ihr weiteres Schicksal geben die für diese 165 Gegen diese Pläne wehrten sich die HeimbewohnerInnen und richteten im Juni 1938 einen diesbezüglichen Hilferuf an den Generalbevollmächtigten für das Fürsorgewesen: „IN UNSERER HÖCHSTEN NOT RUFEN 13. BL. MÄDCHEN UM HILFE UND RETTUNG! MAN WILL UNS AUS UNSEREM HEIM TREIBEN, IN WELCHEM DIE MEISTEN SCHON ÜBER 30 JAHRE IHR LEBEN ZUBRINGEN. AM 8. JUNI ÜBERNIMMT DIE GEMEINDE MELK UNSER HEIM, […] WIR BITTEN UNS IN UNSEREN ALTEN JAHREN, UNSER OHNEHIN TRAURIGES LEBEN, NICHT NOCH SCHWERER ZU MACHEN. […] HEIL HITLER!“1140 Die Petition änderte allerdings nichts an den Plänen der NS-Behörden: Die Leitung der Einrichtung übernahm der Melker Rechtsanwalt Wilhelm Kreft. 1939 wurde das Heim aufgelöst und ging in den Besitz des RBV über.1141 Dieses Beispiel zeigt einen weiteren wichtigen Aspekt der Situation blinder Frauen. Die Einrichtung sowie die Unterkunft in Wien wurde „Mädchenheim“ genannt und auch die blinden Bewohnerinnen aus Melk bezeichneten sich in ihrem Hilferuf selbst so, obwohl sie eher ein fortgeschrittenes Alter hatten. Im damaligen Sprachgebrauch galten blinde Frauen häufig ihr Leben lang als „Mädchen“. Das hing mit dem Frauenbild dieser Zeit zusammen, das geprägt war von der Reduzierung der Frau auf ihre Aufgaben als Gattin, Hausfrau und Mutter. Blinden Frauen wurden diese Rollen von Seiten der BlindenlehrerInnenschaft und der Gesellschaft nicht zugetraut.1142 Diese Diskriminierung von blinden und anderen Frauen mit Beeinträchtigungen setzte sich auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fort. Ernst Klee meinte 1980: „Behinderte Frauen sind doppelt behindert, als Frau und als Behinderte. Eine behinderte Frau wird als Frau kaum wahrgenommen, ist als Partner[in] abgeschrieben.“1143 Diese Situation beeinflusste die Selbstsicht der Betroffenen, sie bezeichneten sich deshalb ihr Leben lang als „blinde Mädchen“.1144 Männern, deren Erblindung als nicht erblich galt, wurde die Rolle als Ehemann und Familienvater dagegen sehr wohl zugetraut. In der Durchführungsverordnung zur Gewährung von Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien vom 20. Dezember 1938 wurden die Frauen blinder Männer besonders berücksichtigt.1145 Für blinde Mütter gab es eine derartige Sonderregelung nicht. Auch in einem Artikel des RBV-Gesundheitsbeirates Carl Siering über staatliche Ehevermittlung geht dieser nur auf die Schwierigkeiten blinder Männer ein, eine sehende Frau zu finden. Den umgekehrten Fall behandelt er gar nicht.1146 Studie eingesehenen Quellen keine Auskunft. Unter Umständen befinden sich weitere Dokumente darüber im Oberösterreichischen Landesarchiv. 1140 ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 20, Heim/Melk an den bevollmächtigten General für das Fürsorgewesen Herrn Kuszi vom 3.6.1938 [Brief in gestanzter, tastbarer Normalschrift mit ausschließlich Großbuchstaben], Betreff: Hilferuf. 1141 Der RBV bekam dabei die Auflage, wenn die Wehrmacht das Grundstück erwerben würde, den Erlös der Stadtgemeinde Melk als Darlehen für die Errichtung von Offizierswohnungen zur Verfügung zu stellen. Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 20, Aktenschlussblatt vom 27.11.1939. 1142 Vgl. Heitkamp, Situation blinder Frauen, S. 89–189, hier S. 121. 1143 Klee, Behindert, S. 186. 1144 Zur Identitätsbildung und -entwicklung von Frauen mit Behinderung vgl. Meier Rey, Identitätsbildung und Identitätsentwicklung. 1145 Vgl. Kapitel II.2.4.2. 1146 Vgl. Siering, Achtung! Ehevermittlung, S. 29–31 166 In Bezug auf die Ehe von blinden Frauen gab es offenbar immer noch die Auffassung aus dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, sehende Männer könnten für sie höchstens Mitleid empfinden. Einer Verbindung auf dieser Basis, aber auch mit einem blinden Partner, wurden laut Heitkamp geringe Zukunftschancen eingeräumt, beeinflusst von der Überzeugung, blinde Frauen könnten keine eigenen Kinder erziehen.1147 Die Ehe eines blinden, „erbgesunden“ Mannes mit einer sehenden Frau galt dagegen als wünschenswert.1148 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen sich blinde Frauen in Deutschland gegen diese Benachteiligungen zu wehren und schlossen sich zusammen. Sie wollten sich von der Bezeichnung „Mädchen“ distanzieren und verstanden sich als „Frauenbewegung unter den Blinden“1149. 1912 wurde der „Verein der blinden Frauen und Mädchen“ gegründet, allerdings erst durch eine Satzungsänderung 1925 verschwand der Name „Mädchen“ aus dem Titel und die Organisation wurde in „Verein blinder Frauen Deutschlands e. V.“ umbenannt.1150 Einen Zusammenschluss blinder Frauen nach deutschem Vorbild gab es in Österreich nicht. Einzig der Frauenwohltätigkeitsverein „Providentia“ engagierte sich ab 1925 dezidiert für blinde Frauen und Mädchen jüdischer Herkunft.1151 Ihrem Aufbau nach war diese Organisation allerdings ein Blindenfürsorgeverein, da der Verein von sehenden Personen geleitet wurde. Statutenänderungen der Wiener Blindenorganisationen nach dem Ersten Weltkrieg zeigen aber, dass auch österreichische blinde Frauen auf eine stärkere Vertretung durch die Selbsthilfeorganisationen drängten. Der Blindenunterstützungsverein „Die Purkersdorfer“ führte 1920 in § 2 ausdrücklich die Bezeichnung „männliche und weibliche“ Blinde ein.1152 Von einer Gleichstellung der Frauen konnte aber keine Rede sein. Frauen wurden durch § 10 dezidiert davon ausgeschlossen, die Funktion des Vorsitzenden und Stellvertreters zu übernehmen.1153 Auch der „Blindenverein Typhlos“1154 in Wien nahm bei einer Satzungsänderung 1924 den Zusatz auf, dass wirkliche Mitglieder blinde Menschen „ohne Unterschied des Geschlechts“1155 werden konnten. Trotzdem waren blinde Frauen nur selten in den Vereinsleitungen der Selbsthilfegruppen. In einem Schreiben der Polizeidirektion Wien vom März 1938 wurden die Vorstände von sechs Blindenvereinen aufgelistet. Demnach gab es in den Vereinsgremien nur zwei Frauen: Theresa Albert war beim Blindenunterstützungsverein „Die Purkersdorfer“ zweite Schriftführerin und Anna Jurkovics Kassierin bei der 1147 Vgl. Heitkamp, Situation blinder Frauen, S. 89–189, S. 109. 1148 Vgl. Heitkamp, Situation blinder Frauen, S. 89–189, S. 109. 1149 H[ildegard] Mittelsten-Scheid, Die Frauenbewegung unter den Blinden, in: Der Blindenfreund, Jg. 46 (1926), S. 287–292, zitiert in: Heitkamp, Die Situation blinder Frauen, S. 89–189, hier S. 122. 1150 Vgl. Heitkamp, Die Situation blinder Frauen, S. 89–189, hier S. 142–145. 1151 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 6720/22, Providentia Mädchenblindenheim und Verein zur Fürsorge blinder Frauen. 1152 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 8453/25, Blindenunterstützungsverein „Die Purkersdorfer“, Statuten [1920]. 1153 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 8453/25, Blindenunterstützungsverein „Die Purkersdorfer“, Statuten [1920]. 1154 Der 1923 gegründete Verein trug zunächst den Namen „Blindenwerkstätte Typhlos“ und wollte vor allem Arbeitsplätze schaffen. 1924 wurde der Name dann zunächst in „Blindenverein Typhlos“ geändert. Im selben Jahr kam es zu einer weiteren Statutenänderung und die Organisation benannte sich in „Bund der später Erblindeten Österreichs“ um. Der Verein gehörte zu dem Zusammenschluss „Verband der Blindenvereine Österreichs“. Vgl. Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 531. 1155 WStLA, M. Abt. 119, Zl. 8290/23, Blindenwerkstätte „Typhlos“, Bund der später Erblindeten. 167 „Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten“. Bei diesem Verein handelt es sich um eine Neugründung des bereits erwähnten ehemaligen „Blindenvereins Typhlos“, der sich 1924 in „Bund der später Erblindeten Österreichs“ umbenannt hatte.1156 Ob der hohe Männeranteil unter den FunktionärInnen auch die Geschlechterdifferenz in der Mitgliedergruppe selbst widerspiegelte, kann nicht gesagt werden, da nicht bekannt ist, wie hoch der Anteil weiblicher Mitglieder gegenüber Männern in diesen Vereinen war. Eine Untersuchung von anderen Vereinen für behinderte Menschen aus dieser Zeit könnte klären, ob diese Unterrepräsentation von blinden Frauen damaligen gesellschaftlichen Tendenzen entsprach. Die geringe Beteiligung blinder Frauen in den Vereinsleitungen setzte sich jedenfalls in der NS-Zeit fort. In den überlieferten Informationen über die Vorstände der „Gaubünde“ des RBV findet sich keine einzige Frau. Auch nach dem Ende des Krieges wurde bei der ersten konstituierenden Versammlung des „Österreichischen Blinden- und SehbehindertenVerbandes“ am 9. März 1946 keine Frau in den Vorstand dieser neuen Organisation gewählt oder für einen solchen Posten vorgeschlagen.1157 Eine weitere Ursache für die schlechteren Lebensbedingungen blinder Frauen in der NSZeit war die negative Bewertung ihrer „Leistungsfähigkeit“ im Erwerbsleben. Vor allem in den traditionellen Blindenhandwerksberufen sowie in der Industrie galt diese im Vergleich zu der von blinden Männern als geringer.1158 Es gab sogar die Meinung, dass die Tätigkeiten in der Industrie oder in anderen Berufen außerhalb der Familie oder der Heime und Anstalten die Fähigkeiten der blinden Frauen übersteigen würden.1159 Das ist auch eine Erklärung für das schlechte Abschneiden der blinden Frauen 1938 in einer Berufsstatistik aus Deutschland, der zufolge 2.346 blinde Menschen eine Anstellung hatten. Davon waren nur 332 Frauen (14 Prozent).1160 Nach den Ergebnissen der „Reichsgebrechlichenzählung“ von 1926/27 überwog dagegen der Anteil von Männern an der Gesamtzahl blinder Menschen nur mit 57,72 Prozent gegenüber 42,28 Prozent Frauen.1161 Angesichts der schlechten Bedingungen für blinde Frauen auf dem Arbeitsmarkt bezogen utilitaristisch orientierte Maßnahmen des NS-Regimes im Blindenwesen zwischen 1938 und 1945 verstärkt blinde Frauen mit ein. Da sie nach Auffassung der NS-Machthaber nicht in der Lage waren, „gesunde Nachkommen“ zu bekommen und zu versorgen, sollte ihre Arbeitsleistung entsprechend gefördert werden: „Es muß gelingen, den Willen des Führers, der jede, auch die kleinste Arbeitskraft, dem Dienste der Allgemeinheit nutzbar gemacht sehen will, auch für die blinde Frau zu verwirklichen.“1162 Von blinden Frauen wurde zu diesem Zweck ein besonders harter Einsatz gefordert: „Blind sein heißt kämpfen. Dieses Wort gilt in besonderer Weise für die blinde Frau ist 1156 Vgl. ÖStA, AdR, Polizeidirektion Wien, Vereinsbüro 15, 2768, Zl. A. B. 97, Bundespolizeidirektion Wien an das Ministerium für Finanzen vom 23.3.1938, Betreff: Blindenvereine, Wertlotterie. 1157 Vgl. ÖBSV, Protokoll der konstituierenden Versammlung des Österreichischen Blindenverbandes vom 9.3.1946. 1158 Vgl. Hoelters, Betätigungsmöglichkeiten und Berufe für weibliche Blinde, S. 71–75. 1159 Vgl. o. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 71. 1160 Vgl. o. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 71. 1161 Vgl. Kapitel II.1.1. 1162 Hoelters, Betätigungsmöglichkeiten und Berufe für weibliche Blinde, S. 71–75, hier S. 75. 168 doch für sie der Existenzkampf unvergleichlich viel schwerer als für den nichtsehenden Mann.“1163 Die Schaffung von Arbeitsplätzen insbesondere für blinde Frauen sollte vom „Verein blinder Frauen Deutschlands e. V.“ reichsweit übernommen werden. Ende 1938 hatte dieser rund 800 Mitglieder und gab sechsmal im Jahr die Zeitschrift „Die Frauenwelt“ heraus. Der Verein arbeitete bereits seit den 1920er Jahre eng mit dem RBV zusammen und war diesem 1938 als selbständiger Verein angeschlossen.1164 Außerdem erscheint diese Organisation als einziger Verein für behinderte Frauen in einem Organigramm der „NS-Frauenschaft“ und des „Deutschen Frauenwerkes.“1165 Die Organisation „Blinde Frauen Deutschlands“ war dabei dem Mütterdienst untergeordnet, der die Aufgabe hatte, Frauen bei einer „gesunden Familiengründung“ und „Familienführung“ zu unterstützten.1166 Zu diesem Zweck wurden auch Lehrgänge in Haushaltsführung angeboten.1167 In der NS-Zeit war es ein dezidiertes Ziel, blinde Frauen vermehrt in der Hausarbeit zu schulen. Auch die Blindenschulen wurden dazu aufgefordert.1168 Sie sollten dadurch entweder sehende Familienmitglieder ersetzen, damit diese für andere Erwerbstätigkeiten zur Verfügung standen, oder eine Anstellung in diesem Bereich finden.1169 Auf Grund eines Berichts von Walther Otto Fürstenberg, dem Leiter des RBV Gaubundes „Niederdonau“, ist bekannt, dass der „Verein blinder Frauen Deutschlands e. V.“ auch blinde Frauen aus dem Gau „Niederdonau“ beschäftigte.1170 Wie im Kapitel über die Berufsmöglichkeiten bereits ausgeführt wurde, sollten für blinde Frauen Erwerbsmöglichkeiten geschaffen werden, die ihrer „Weiblichkeit“ entsprachen.1171 Viele blinde HandarbeiterInnen arbeiteten an Flach- und Rundstrickmaschinen und produzierten Kleidungsstücke. Im Krieg stieg der Bedarf an diesen ArbeiterInnen, da die Wehrmacht entsprechende Aufträge erteilte. Als besonders geeignet galten für blinde Frauen ebenfalls die Tätigkeiten im Büro. Sie wurden daher in diesem Bereich verstärkt ausgebildet. Unter den sechs AbsolventInnen des ersten StenotypistInnenkurses in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ waren vier Frauen.1172 Berufsstatistiken aus der NS-Zeit, die Auskunft darüber geben könnten, wie viele blinde Frauen erwerbstätig waren, sind nicht überliefert. Es ist daher nicht überprüfbar, ob sich durch die Aufträge der Wehrmacht die Beschäftigungssituation blinder Frauen tatsächlich änderte: An der insgesamt benachteiligten Stellung weiblicher Blinder, die sich in allen Lebensbereichen widerspiegelte, dürfte sich wenig geändert haben. 1163 Hoelters, Betätigungsmöglichkeiten und Berufe für weibliche Blinde, S. 71–75, hier S. 71. 1164 Vgl. o. A., Verein der blinden Frauen Deutschlands e. V., S. 145–146, hier S. 145. 1165 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 270; Heitkamp, Die Situation blinder Frauen, S. 89– 189, hier S. 144; Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 542. 1166 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 269. 1167 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 269. 1168 Vgl. Hoelters, Betätigungsmöglichkeiten und Berufe für weibliche Blinde, S. 71–75, hier S. 71–72. 1169 Vgl. Gersdorff, Bericht über die Arbeit [1942], S. 279–283. 1170 Vgl. Fürstenberg, Die Blinden von Niederdonau, S. 287–289, hier S. 288. 1171 Vgl. Kapitel II.6.1. 1172 Bei einer Person in der Liste der AbsolventInnen fehlt die Angabe des Vornamens. Es könnten dementsprechend auch fünf blinde Frauen diesen Kurs absolviert haben. Vgl. Klebert, Prüfung blinder Stenotypisten, S. 270–271. 169 11.Zivilblinde als AkteurInnen des NS-Regimes 11.1 Die wissenschaftliche Diskussion um blinde, gehörlose und körperlich behinderte „TäterInnen“ Bevor in den folgenden Kapiteln die Haltung blinder Menschen zur nationalsozialistischen Ideologie und dem NS-Regime aufgezeigt wird, soll der Forschungsstand zu dieser Fragestellung wiedergegeben werden. In der öffentlichen Darstellung galten Menschen mit einer Behinderung bis in die 1990er Jahre weitgehend ausschließlich als Opfer1173 des Na­tio­ nal­so­zia­lis­mus. In einigen neueren Forschungsarbeiten konnte aber aufgezeigt werden, dass sich auch Menschen mit einer körperlichen Behinderung, Gehörlose und Blinde in den jeweiligen NS-Selbsthilfeorganisationen „Reichsbund der Körperbehinderten“ (RBK), „Reichsverband der Gehörlosen Deutschlands“ (REGEDE) sowie im RBV betätigten, freiwillig zu Mitgliedern in der NSDAP und SA wurden und öffentlich ihre Loyalität zum NS-Regime äußerten.1174 Dementsprechend hatten sie unter dem NS-Regime nicht nur eine passive Opferrolle inne, sondern waren auch AkteurInnen. Die Tatsache, dass Menschen mit einer Behinderung AnhängerInnen oder GegnerInnen des Nationalsozialismus waren, wurde bisher allerdings nur in Ansätzen wissenschaftlich untersucht.1175 In diesem Zusammenhang ging die Wissenschaft insbesondere der Frage nach, ob einige der betreffenden behinderten Menschen als „TäterInnen“ eingestuft werden müssten. Petra Fuchs stellte 2001 in diesem Zusammenhang fest, dass körperbehinderte Menschen die Teilhabe am nationalsozialistischen System gesucht haben.1176 Sie hält den Begriff der „Täterschaft“1177 aber auf Grund der von Ungleichheit, Stigmatisierung und Diskriminierung geprägten gesellschaftlichen Stellung körperbehinderter Menschen unter dem NS-Regime für nicht anwendbar. Die FunktionärInnen und Mitglieder des „Reichsbundes der Körperbehinderten“ hätten außerdem nur einen sehr eingeschränkten Einflussbereich gehabt. Die Ausübung von Macht war auf andere Betroffene sowie teilweise auf die Eltern von Kindern mit einer körperlichen Beeinträchtigung beschränkt. Für die teilweise demonstrativ pronationalsozialistische Haltung einiger körperlich behinderter Personen habe es ihrer Meinung nach allerdings auch keine Veranlassung gegeben.1178 Jochen Muhs wies 1996 darauf hin, dass eine durchaus beachtliche Anzahl gehörloser Menschen AnhängerInnen der NS-Ideologie waren.1179 Er berichtete über gehörlose Men1173 Zur Problematisierung des „Opfer“-Begriffes und seiner unterschiedlichen Verwendung im NS-Regime und in der Nachkriegszeit vgl. u. a. Botz, Opfer/Täter-Diskurse. 1174 Vgl. u. a. Büttner, Der Bann G; Fuchs, „Körperbehinderte“; Biesold, Klagende Hände; Malmanesh, Blinden; Richter, Blindheit und Eugenik; Ryan, Schumacher, Deaf people; Blinde unterm Hakenkreuz; Poore, Disability in Twentieth Century, pp. 125–134; Klee, Der blinde Fleck. 1175 Vgl. Büttner, Bann G, S. 17. 1176 Vgl. Fuchs, „Körperbehinderte“, S. 13. 1177 Fuchs, „Körperbehinderte“, S. 228. 1178 Vgl. Fuchs, „Körperbehinderte“, S. 228. 1179 Vgl. Jochen Muhs, Followers and Outcasts. Berlin’s Deaf Community under National Socialism (1933– 1945), in: Renate Fischer, Thomas Vollaber (Ed.), Collage. Works on international Deaf History, [= International Studies on Sign Language and Communication of the Deaf, Vol. 33], Hamburg 1996, pp. 195–204, hier p. 204, zitiert in: Büttner, Der Bann G, S. 17. 170 schen in der SA, in der „Hitler-Jugend“ und in der NSDAP. Muhs resümierte in einem 2002 herausgegebenen Sammelband über gehörlose Menschen in der NS-Zeit, dass es unter ihnen sowohl „Opfer“ als auch „TäterInnen“ gab.1180 Malin Büttner geht in seiner 2005 publizierten Arbeit über den „Bann G“ für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche in der „Hitler-Jugend“ außerdem auf den sensiblen Hintergrund ein, vor dem diese Diskussion geführt wurde: „Die Debatte um Aspekte der Mittäterschaft behinderter Menschen während des ‚Dritten Reiches‘ ist vor allem durch Scheu und Vorsicht von allen Seiten gekennzeichnet.“1181 Lange Zeit galten nach dem GzVeN zwangssterilisierte Menschen zudem rechtlich nicht als Opfer der NS-Zeit. Österreich und Deutschland zeigten erst spät eine entsprechende Wiedergutmachungsgeste.1182 2007 schildert Lothar Scharf in seiner im Eigenverlag erschienen Studie die Beteiligung von gehörlosen Menschen in NS-Organisationen vor allem in Bezug auf die in der „Gehörlosen-Presse“1183 verbreiteten antisemitischen Hetzkampagnen.1184 Scharf beschränkt sich dabei auf die Darstellung von Gegebenheiten und unterlässt eine Bewertung der von ihm aufgezeigten aktiven Rolle gehörloser Menschen unter der NS-Diktatur. Ebenfalls 2007 thematisiert die US-amerikanische Germanistin Carol Poore in ihrer kulturgeschichtlichen Studie „Disability in Twentieth Century German Culture“ die Beteiligung von Menschen mit einer Behinderung am NS-Regime in einem Kapitel mit dem Titel „Collaborators or Self-Advocates?“.1185 Darin beschreibt sie die Aktivitäten blinder, gehörloser und körperbehinderter Menschen in NS-Organisationen. Zu einem generellen Urteil kommt sie allerdings nicht, weil aus ihrer Sicht das alltägliche Leben von gehörlosen, körperlich beeinträchtigten sowie blinden Menschen noch nicht ausreichend erforscht sei, um beispielsweise deren persönliche Einstellung gegenüber den NS-Vereinen RBV, REGEDE und RBK zu kennen.1186 Die Rolle blinder Menschen in Deutschland zwischen 1933 bis 1945 wurde seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges von verschiedenen Seiten her beleuchtet. Dass es unter blinden Menschen NationalsozialistInnen gab, wurde erstmals 1948 in der „Ostzone“ Deutschlands thematisiert. Dort hatte eine neue Selbsthilfegruppe blinder Menschen ihre Arbeit aufgenommen und brachte die Zeitschrift „Die Gegenwart“ heraus. Darin gab es die Rubrik „Der Nazispiegel“. Dieser stellte sich die Aufgabe, das deutsche Blindenwesen von ehemaligen, aktiven Nationalsozialisten zu „reinigen“.1187 Bereits in der vierten Doppelheftnummer im Jahr 1948 wurde der „Nazispiegel“ allerdings wieder eingestellt mit Hinweis auf den SMADBefehl vom 10. März 1948, mit dem die Entnazifizierung der „Ostzone“ für beendet erklärt worden war.1188 Von einer wirklichen Aufklärung über die Aktivitäten blinder Menschen 1180 Vgl. Muhs, Deaf People as Eyewtnesses, pp. 78–97, hier p. 95. 1181 Büttner, Der Bann G, S. 17. 1182 Erst im Juli 2005 erklärte sich die Republik Österreich bereit, neben anderen bis dato nicht anerkannten Opfergruppen Zwangssterilisation explizit als „Schädigung in erheblichem Ausmaß“ zu bewerten. Vgl. u. a. [Ö] BGBl., Nr. 86/2005, Anerkennungsgesetz 2005, Artikel 2, 2. § 1, Abs. 2 lit. j; Spring, Restitution der Fertilität, S. 367–392; Spring, Zwangssterilisationen in Wien, insb. S. 45 und S. 218. 1183 Scharf, Gehörlose Juden, S. 41. 1184 Vgl. Scharf, Gehörlose Juden, S. 31–52. 1185 Vgl. Poore, Disability in Twentieth Century, pp. 125–134. 1186 Vgl. Poore, Disability in Twentieth Century, p. 125. 1187 Bartsch, Vorbemerkungen, S. 41–42, hier S. 41. 1188 Vgl. o. A., Der Nazispiegel eingestellt, S. 170–171, hier S. 170. 171 im NS-Regime kann aber bei diesen Schriftstücken keine Rede sein. In erster Linie wurden blinde Menschen, die im westlichen Teil Deutschlands lebten, als NationalsozialistInnen diffamiert. Der selbst blinde Autor Max Schöffler, der in der NS-Zeit als Mitglied der KPD verfolgt worden war,1189 interpretierte die politische Haltung von blinden Menschen, die An­hän­ gerIn­nen des NS-Regimes waren, in seinem 1956 publizierten Buch „Der Blinde im Leben des Volkes“ als „geistige Umnachtung“.1190 Der erste Wissenschaftler, der blinden Menschen eine aktive Rolle insbesondere bei der Durchführung des GzVeN zuordnete, war der Historiker und Mediziner Gabriel Richter mit seiner 1986 publizierten Dissertation „Blindheit und Eugenik“.1191 Wie bereits in Kapitel II.8.2.6 erwähnt, gab es beispielsweise Aufrufe von blinden Menschen zu freiwilligen Sterilisationen und in den NS-Selbsthilfeorganisationen setzten blinde Menschen radikal die NS-Ideologie um.1192 In einem Aufsatz kritisiert Richter 1989 dementsprechend, dass sich blinde Menschen nach 1945 ihr „Mitläufertum“ und ihre zum Teil erfolgte „Mittäterschaft“ nie eingestanden hätten.1193 Als Sehender wurde er für seine Forschungsarbeit von einigen blinden Personen angegriffen.1194 Sie sahen seinen Vorwurf als ungerechtfertigt an. Der blinde Hans-Eugen Schulze empfand Richters Aussagen als „Kränkung aller Blinden“.1195 Die unterschiedlichen Haltungen in Deutschland in dieser Diskussion kommen auch im Rahmen der abgedruckten Beiträge und Diskussionen des Seminars zum Thema „Blinde unterm Hakenkreuz“1196 in Berlin-Wannsee 1989 zum Ausdruck. Bei der 2002 veröffentlichten Dissertation von Mohammed Reza Malmanesh über die „Blindenstudienanstalt“ in Marburg an der Lahn wird die Fragestellung nach einer eventuellen MittäterInnenschaft blinder Menschen nur am Rande thematisiert. Ausführlich behandelte Malmanesh aber die Haltung des Direktors Carl Strehl1197 und die Rolle blinder Menschen und des VdBA bei Aufrufen zur freiwilligen Sterilisation nach dem GzVeN.1198 In Österreich wurde die Frage einer aktiven Rolle blinder Menschen in der Zeit von 1938 bis 1945 wissenschaftlich bisher nicht aufgearbeitet. Nur der Wiener Historiker und ehemalige Mitarbeiter des DÖW Herbert Exenberger erwähnte in seinem Vortrag über die Verfolgung blinder Menschen jüdischer Herkunft in Wien 1999, dass auch „verblendete Blinde“1199 Mitglieder der SA waren. Exenberger zitierte darin aus einer Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der „Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen“ aus dem Jahr 1985.1200 1189 Vgl. Kapitel II.11.3. 1190 Vgl. Schöffler, Blinde im Leben des Volkes, S. 178. 1191 Richter, Blindheit und Eugenik. 1192 Vgl. Kapitel II.3.4, II.11.2. 1193 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik. Zwischen Widerstand und Integration, S. 16–34, hier S. 16. 1194 Vgl. Büttner, Der Bann G, S. 17. 1195 Schulze, Wir Blinden und das Dritte Reich, S. 57–60, hier S. 57. [Abgedruckt ebenfalls in: Blinde unterm Hakenkreuz, S. 35–45.] 1196 Blinde unterm Hakenkreuz. 1197 Vgl. Malmanesh, Blinde, insb. S. 80–91. 1198 Vgl. Malmanesh, Blinde, insb. S. 176–181. 1199 Exenberger, Jüdische Blinde in Wien. 1200 Vgl. o. A., Mitten im Lebensstrom, S. 16–19, hier S. 17. 172 11.2Blinde AkteurInnen In einem Aufsatz von Karl Satzenhofer aus dem Jahr 1939 über die Neuorganisation des RBV werden fast alle genannten RBV-Funktionäre als Parteigenossen bezeichnet.1201 Bereits vor dem „Anschluss“ scheint es eine regelrechte NS-Blindenbewegung gegeben zu haben. Deren Vorsitzender war Walther Otto Fürstenberg, der spätere Leiter des RBV-Gaubundes „Niederdonau“.1202 Auch weitere RBV-Funktionäre wurden von Satzenhofer als „verdiente Nationalsozialisten“1203 bezeichnet. Den Stellvertreter des RBV-Vorsitzenden Gersdorff in der „Ostmark“, den Klaviervirtuosen Otto Binder, titulierte er als „Vorkämpfer für den Nat.-Sozialismus“.1204 Leiter des RBV-Gaubundes Wien war Gustav Adolf Besser. Der blinde Musiklehrer gehörte ebenfalls der NSDAP an und zählte angeblich zu den „ersten Kämpfern“1205 zur Verbreitung des Nationalsozialismus in Österreich. Besser war Leiter der 1926 gegründeten „Interessengemeinschaft für blinde Musiker und Klavierstimmer“. Diese Organisation führte mit Genehmigung der Behörden bereits 1937 den „Arierparagraphen“ ein.1206 Dieses Beispiel belegt, dass unter den blinden Menschen Antisemitismus verbreitet war. Außerdem fällt auf, dass viele der von Karl Satzenhofer in seinem Aufsatz genannten leitenden Funktionäre des RBV „Ostmark“ Musiker waren. Diese Interessengemeinschaft könnte daher durchaus als Auffangbecken für illegale NSDAPler und Anhänger der NSBewegung unter blinden Menschen in der Zeit ihres Verbotes zwischen 1933 und 1938 gedient haben. Außer den genannten späteren RBV-Funktionären gab es noch weitere blinde Menschen, die sich schon vor 1938 der NSDAP anschlossen. In einem Schreiben an den Stillhaltekommissar Albert Hoffman verwies zum Beispiel Hans Klug als Obmann der „Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten Österreichs“ auf seine seit dem 18. Juni 1933 aufrechte Mitgliedschaft in der NSDAP Ortsgruppe 1/3, Breitensee Wien XIII.1207 Das Datum seines Beitritts zur NSDAP ist dabei bemerkenswert: Angeblich trat der 67-Jährige dieser Organisation, einen Tag bevor die NSDAP verboten wurde, bei. In der NS-Terminologie galten die Jahre bis 1938 als „Verbotszeit“, da jegliche Betätigung für die NSDAP untersagt worden war.1208 1945, durch eines der ersten Gesetze der provisorischen Staatsregierung, das „Verbotsgesetz“ vom 8. Mai 1945, wurde die Zugehörigkeit zur NSDAP in der „Verbotszeit“, die in dieser Zeit terroristische Anschläge verübte, nachträglich als Hochverrat geahndet.1209 1201 Nur Georg Briedl, der den Vorsitz des RBV-Gaubundes „Oberdonau“ übernahm, Josef Schwaiger als Vorsitzender der Salzburger Gaugruppe sowie Ernst Neubacher, der den RBV-Gaubund „Tirol-Vorarlberg“ leitete, waren laut Satzenhofer keine Mitglieder der NSDAP. Vgl. Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160– 162. 1202 Vgl. Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160–162. 1203 Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160–162. 1204 Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160–162. 1205 Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160–162. 1206 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer, Bescheid M. Abt. 2/4019/37 vom 15.7.1937, Betreff: Umbildung wird nicht untersagt. 1207 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 24, Bund der später Erblindeten Österreichs. 1208 Vgl. [Ö] BGBl., Nr. 240/1933, Verordnung der Bundesregierung vom 19. Juni 1933 auf Grund des Gesetzes vom 24. Juni 1917 (Kriegswirtschaftliches Ermächtigungsgesetz), womit der nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei und dem Steirischen Heimatschutz jede Betätigung in Österreich verboten wird, zitiert in: Garscha, Nationalsozialisten in Österreich 1933–1938, S. 100–120, hier S. 100. 1209 Vgl. Garscha, Nationalsozialisten in Österreich 1933–1938, S. 100–120, hier S. 115. 173 Blinde Menschen wurden demnach zu einer Zeit zu NSDAP-Mitgliedern, in der ihnen dies in ihrem alltäglichen und beruflichen Leben nicht nur wenige Vorteile einbrachte, sondern ihnen dafür sogar Strafverfolgung drohte. Die Beteiligung blinder Menschen in der NSDAP schon vor 1938 ist aber nicht nur vor dem Hintergrund der Terroraktivitäten der illegalen NSDAP bemerkenswert. „Volksgenossen“, die für den Dienst in der Wehrmacht als untauglich galten, sollten eigentlich nur dann in die NSDAP aufgenommen werden, wenn sie nicht „mit schweren körperlichen und geistigen Gebrechen behaftet“1210 waren. Laut den Vorgaben im Organisationshandbuch der NSDAP war ein Antrag vor allem dann abzulehnen, wenn dieser von einer Person gestellt wurde, die nach dem GzVeN als „erbkrank“ galt.1211 Trotzdem wurden blinde Menschen in die NSDAP aufgenommen. Es kann als gesichert angenommen werden, dass es blinde Menschen gab, die sich aus eigenem Antrieb für die nationalsozialistische Idee begeistert haben.1212 Darüber hinaus gab es nach dem „Anschluss“ offenbar noch eine weitere Möglichkeit, wie blinde Menschen in Österreich zu Mitgliedern der NSDAP wurden. Sie wurden durch ihre Teilnahme am „Reichsbann B“ der „Hitler-Jugend“, automatisch in die NSDAP aufgenommen. Auskunft darüber geben die Vereinsakten der „Interessengemeinschaft blinder Arbeiter“1213, die 1935 gegründet, aber 1938 aus dem Vereinsregister gelöscht und in den RBV eingegliedert wurde. Nach Ende des Krieges beantragten der ehemalige Leiter Erwin Horacek gemeinsam mit Maria Köhrer, Therese Riha, Leopold Urbans und Karl Phillip beim Wiener Magistrat, die 1938 erfolgte Löschung ihrer Gruppierung aus dem Vereinsregister rückgängig zu machen. Dabei kam es automatisch zu einer Überprüfung der AntragsstellerInnen auf ihre Mitgliedschaft in der NSDAP.1214 Einer der Beteiligten, Karl Phillip, wurde dabei von der Gemeinde Wien als NSDAP-Mitglied von Juni 1944 bis April 1945 ausgewiesen, nur seine Mitgliedsnummer war nicht bekannt. Phillip gab in einer Stellungnahme dazu an, dass er von der „Hitler-Jugend“ automatisch als Mitglied der NSDAP überstellt worden war.1215 Erst nachdem ein erneuter Antrag auf Reorganisation des Vereines ohne Karl Phillip als Mitglied des provisorischen Vereinsvorstandes gestellt wurde, trat mit Bescheid vom 3. Oktober 1945 die Löschung des Vereines aus dem Jahre 1938 wieder außer Kraft.1216 1210 Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 6b. 1211 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 6c. 1212 Auch von gehörlosen Menschen aus Deutschland ist bekannt, dass sie ab 1933 öffentlich ihre Unterstützung und Sympathie für Adolf Hitler zeigten. Vgl. Muhs, Deaf People als Eyewitnesses, pp. 78–97, hier pp. 82–83. 1213 WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 6299/35, Interessengemeinschaft blinder Arbeiter; ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 22, Interessengemeinschaft blinder Arbeiter. 1214 Auch von anderen Vereinen ist bekannt, dass sie sich nach dem Ende des Krieges um eine Reorganisation bemühten. Einsehbar sind diese Akten allerdings nur dann, wenn die betreffenden Organisationen im Laufe der Nachkriegszeit ihre Tätigkeit wieder einstellten. Die „Interessengemeinschaft blinder Arbeiter“ löste sich bereits 1948 wieder auf. Von bestehenden Vereinen, wie dem ÖBSV und der „Hilfsgemeinschaft“, können diese Unterlagen im Archiv der Vereinspolizei nur mit Genehmigung des Vereinsvorstandes eingesehen werden. Von diesen beiden Selbsthilfeorganisationen konnten für diese Arbeit dementsprechend nur die Quellen begutachtet werden, die der jeweilige Vorstand zur Einsicht freigab. Eine vollständige Einsicht des Aktenmaterials erfolgte daher nicht. Daher konnten keine weiteren Beispiele für blinde Menschen gefunden werden, die als ehemalige NSDAP-Mitglieder nach 1945 wieder im Blindenwesen tätig sein wollten. Vgl. Kapitel V. 1215 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 6299/35, Interessengemeinschaft blinder Arbeiter, Fortl. Nr. 2177 Gemeinde Wien, Meldeblatt zur Registrierung der Nationalsozialisten vom 19.7.1945, Betreff: Phillip Karl. 1216 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 6299/35, Interessengemeinschaft blinder Arbeiter, M. Abt. VII/2 3981/45, Bescheid vom 3.10.1945, Betreff: Außerkrafttreten der Löschung. 174 Auch wenn blinde Menschen Mitglied der NSDAP waren, vollständig integriert in diese Organisation waren sie sicherlich nicht. Ein Schreiben des NSDAP-Gaus Wien Kreis III aus dem Jahr 1943 an alle Kreishauptamtsleiter weist darauf hin. Anlässlich eines Appells zum Besuch des „Reichsorganisationsleiters“ Robert Ley am 6. Juni 1943 wurde darin Folgendes festgehalten: „Körperbehinderte politische Leiter sind grundsätzlich in die Marschblocks nicht einzuteilen und können daher an dieser Kundgebung nicht teilnehmen.“1217 Es ist anzunehmen, dass auch zivilblinde NSDAP-Mitglieder von einigen Veranstaltungen ausgeschlossen wurden. Das Gleiche dürfte für zivilblinde Menschen gegolten haben, die sich der SA angeschlossen hatten. Einige blinde Männer in SA-Uniform sollen dabei gewesen sein, als der Vorsitzende der 1935 gegründeten „Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten“ Jakob Wald1218 1938 gezwungen wurde, das Vereinsbüro zu verlassen.1219 Wald hatte sich zwar taufen lassen, galt aber nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ als Jude.1220 Beschrieben ist diese Situation in der Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der „Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten“. Namentlich erwähnt wurden die beteiligten blinden Menschen darin allerdings nicht. Bis zur Löschung der „Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten“ aus dem Vereinsregister und der Eingliederung des restlichen Vermögens in den RBV im November 19381221 wurde so der Stellvertreter Walds, Hans Klug, der bereits erwähnte NSDAP-Mann, zu seinem Nachfolger. 1222 Jakob Wald gehörte zu den aktivsten blinden Männern im österreichischen Blindenwesen der 1920er und 1930er Jahre. Der 1887 geborene Sohn eines Rechtsanwaltes aus Galizien war während seines Studiums nach einem Unfall vollständig erblindet. 1924 hatte er zusammen mit anderen blinden Menschen den „Bund der später Erblindeten“ gegründet und 1935 die „Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten“.1223 Das Beispiel Jakob Wald zeigt, was für das österreichische Blindenselbsthilfewesen in der Zeit bis zum „Anschluss“ charakteristisch war: Blinde Menschen, die sich zum Judentum bekannten oder nach den 1217 Bezirksmuseum Landstraße, NSDAP-Gau Wien Kreis III, Rundschreiben Nr. 12/43 an alle Kreishauptamtsleiter, Ortsgruppenleiter und Amtsleiter des Kreises III vom 2.6.1943, Betreff: Besuch Reichsorganisationsleiter Ley in Wien. 1218 Vgl. ÖStA, AdR, Polizeidirektion Wien, Vereinsbüro 15, 2768, Zl. A. B. 97, Bundespolizeidirektion Wien an das Ministerium für Finanzen vom 23.3.1938, Betreff: Blindenvereine, Wertlotterie. 1219 O. A., Mitten im Lebensstrom, S. 16–19, hier S. 17. 1220 Bachleitner, Vogel, Jakob Wald, S. 32–33, hier S. 32. 1221 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 9, Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten Österr. 1222 Jakob Wald war bis 1934 Obmann des „Bundes der später Erblindeten“. Aus dieser Funktion wurde er allerdings 1934 enthoben. Jakob Wald beteiligte sich daraufhin 1935 an der Gründung der „Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten“ und wurde auf der konstituierenden Generalsversammlung einstimmig zum Obmann gewählt. Hans Klug fungierte als 1. Obmannstellvertreter. Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 24, Bund der später Erblindeten Österreichs; Hilfsgemeinschaft, Verhandlungsabschrift der konstituierenden Generalversammlung des Vereines „Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten Österreichs“ vom 20.8.1935. Zu Jakob Wald vgl. IV.3.2. 1223 1938 tauchte Wald unter. Die näheren Umstände sind nicht bekannt. Die ebenfalls blinde Frau von Wald galt als „Arierin“. Seine Tochter Inge musste die Schule mit 13 Jahren beenden, da sie als „Mischling ersten Grades“ galt. Wald und seine Familie überlebten den Krieg. 1945 arbeitete er mit an der Neuorganisation des Blindenwesens und wurde auch zum stellvertretenden Obmann des ÖBSV, bevor er die Reorganisation des „Hilfsgemeinschaft der später Erblindete“ mit initiierte. Er verstarb am 9. September 1952. Vgl. Bachleitner, Vogel, Jakob Wald, S. 32–33. 175 „Nürnberger Rassengesetzen“ ab 1938 als Jüdinnen oder Juden galten, arbeiteten eng mit den anderen FunktionärInnen zusammen. Für zivilblinde Jüdinnen und Juden gab es seit 1911 zwar eine eigene Organisation, den „Hilfsverein der jüdischen Blinden“.1224 Gemeinsam mit vier weiteren Blindenselbsthilfeorganisationen bildete der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ 1924 den „Verband der Blindenvereine Österreichs“. Außerdem hatte der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ zusammen mit den VertreterInnen von anderen Einrichtungen und Organisationen des Blindenwesens einen Sitz in der von der Gemeinde Wien 1924 gegründeten Blindenfürsorgestelle. Als weitere jüdische Einrichtung war dort auch das „Israelitische Blindeninstitut“ vertreten. An diesen Sitzungen nahm ebenfalls der spätere Autor der RBV-Zeitschrift „Die Blindenwelt“, Karl Satzenhofer, in seiner Funktion als „Obmann des Ersten Österreichischen Blindenvereins“ teil.1225 Außerdem gründete er gemeinsam mit dem jüdischen blinden Juristen David Schapira1226 und dem Kriegsblinden F. Guggi im Herbst 1930 den „Verein blinder Intellektueller Österreichs“.1227 Nach dem „Anschluss“ verschwieg Satzenhofer in einem Aufsatz über das Blindenselbsthilfewesen in Österreich zwischen 1934 und 1938 allerdings diese Zusammenarbeit.1228 Als nach dem „Anschluss“ die Blindenvereine gelöscht wurden und nur der RBV „Ostmark“, der den „Arierparagraphen“ in seine Statuten aufgenommen hatte, tätig sein durfte, endete diese Gemeinschaftsarbeit praktisch über Nacht. Langjährige Vereinsfunktionäre wie Jakob Wald wurden von ihren Ämtern enthoben und die Mitglieder jüdischer Herkunft ausgeschlossen.1229 Viele blinde Menschen, die nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ als Jüdinnen und Juden galten,1230 mussten fliehen oder wurden getötet. Gegen die Verfolgung ihrer ehemaligen jüdischen VereinskollegInnen scheinen die Zivilblinden keinen Widerstand geleistet zu haben, der RBV „Ostmark“ versuchte sogar die wichtigste jüdische Einrichtung für blinde Menschen in Wien in seinen Besitz zu bekommen. Dies war das „Israelitische Blindeninstitut“ auf der Hohen Warte, welches ab November 1938 von der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) als „Alters- und Siechenheim mit Blindenabteilung genutzt wurde.1231 Franz Hartl, kommissarischer Geschäftsführer und Leiter der RBV Landesgruppe „Ostmark“, stellte den undatierten Antrag, dieses Gebäude im 19. Wiener 1224 Vgl. Kapitel IV.5.2.1; WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 3257/20, Hilfsverein der jüdischen Blinden; ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden. Die jüdischen Kriegsblinden hatten keine eigene Organisation, sondern waren im „Verband der Kriegsblinden“ Österreichs integriert. Dieser wurde von Hans Hirsch, einem Kriegsblinden jüdischer Herkunft, geleitet. Vgl. Kapitel IV.3.3.4, IV.7. 1225 WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 8290/23, Blindenwerkstätte „Typhlos“, Bund der später Erblindeten, Abschrift Blinden-Unterstützungsverein die „Purkersdorfer“ in Wien an die Vaterländische Front z. Hd. Bundesleiter Stellv. Hauptmann Reichl vom 5.4.1934, Betreff: Verhältnisse im roten Blindenverband. 1226 David Schapira war Kriegsblinder des Ersten Weltkrieges und überlebte den Holocaust. Vgl. Kapitel IV.3.3.3, IV.6.4.3, IV.7. 1227 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 75; Hoffmann, Kriegsblinde, S. 176. 1228 Vgl. Satzenhofer, Blindenselbsthilfewesen, S. 127–130, hier S. 127. 1229 Dies führte zu einem Anstieg der Mitgliederzahlen des „Hilfsvereines der jüdischen Blinden“, der seine Tätigkeit fortsetzen durfte, allerdings gravierend von den NS-Repressalien betroffen war. Vgl. Kapitel IV.5.2.1. 1230 Vgl. Kapitel IV.4. Zu den bekanntesten blinden Menschen, denen eine Flucht aus der „Ostmark“ gelang, zählt heute Robert Vogel. Vgl. Vogel, Zwischen hell und dunkel, S. 47–81. 1231 Vgl. Kapitel IV.5.3. 176 Gemeindebezirk mit dem damaligen Vereinssitz der Zivilblinden in der Rotensterngasse (Wien II) zu tauschen. Hartl legitimierte sein Anliegen damit, dass das Gebäude auf der Hohen Warte geräumiger sei und außerdem noch in einem ausgesprochen „arischen“1232 Viertel liegen würde. In einem nichtautorisierten handschriftlichen Vermerk auf diesem Schreiben wurde das Ansuchen allerdings abgelehnt, mit der Begründung, dass im „Israelitischen Blindeninstitut“ „auch andere Körpergeschädigte“1233 untergebracht seien und daher eine Räumung erst in einem Jahr möglich sei.1234 Der RBV war also aktiv an Repressalien gegen blinde Menschen jüdischer Herkunft beteiligt. Die blinden Funktionäre und Mitglieder unterstützten mit ihrem Engagement und ihren Beiträgen aktiv das NS-Regime und trugen damit zur Machtübernahme und -erhaltung der NS-Bewegung bei. 11.3Blinde Menschen im Widerstand Durch die Intensität der Repressionen von politischen GegnerInnen war es sehr schwer, Widerstand gegen das NS-Regime zu leisten. Vor allem blinde Menschen, die in wirtschaftlich desolaten Verhältnissen und in einer gesellschaftlichen Außenseiterposition lebten, hatten kaum Möglichkeiten, sich gegen die NS-Machthaber zur Wehr zu setzen.1235 Dementsprechend gibt es kaum Berichte über blinde Menschen im Widerstand. Die wenigen bekannten Persönlichkeiten müssen als Ausnahmeerscheinungen gelten. Zu diesen zählt beispielsweise der blinde Franzose Jacques Lusseyran, der 17-jährig innerhalb der Résistance-Bewegung nach der Besetzung Frankreichs eine Organisation von Jugendlichen gründete, die gegen die deutsche Besatzungsmacht kämpfte. Lusseyran und seine Gruppe wurden 1943 verhaftet. Der blinde Franzose erlebte das Ende des Zweiten Weltkrieges im KZ Buchenwald.1236 Eine Beteiligung blinder Menschen am organisierten Widerstand in Österreich ist nicht bekannt, kann aber nicht ausgeschlossen werden. Zu den Formen des Protestes in Österreich zählte auch der nicht organisierte Widerstand von Einzelnen. Dieser zeigte sich unter anderem durch passive Resistenz, Nonkonformismus, soziales Protestverhalten oder auch regimefeindliche Äußerungen.1237 Letztere wurden nach dem „Heimtückegesetz“ geahndet und spiegelten bis zu einem gewissen Grad die Stimmung der Bevölkerung wider, weil sie in den meisten Fällen ein spontaner Ausdruck der Enttäuschung, der Erbitterung und des Hasses auf das NS-Regime waren.1238 Dass auch blinde Menschen sich an dieser Form des Widerstands beteiligten, belegt ein Gerichtsakt, der im DÖW archiviert ist. Darin finden sich Unterlagen zu Siegfried S., der wahrscheinlich auf Grund einer Syphilis-Erkrankung fortschreitend erblindete. Laut dieser Quelle galt er außerdem als „Psychopath“, der „geistig 1232 ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 558, Mappe B 9, Undatierte Bericht von Franz Hartl. Vgl. Kapitel II.3.4.2, IV.5.3.2. 1233 ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 558, Mappe B 9, Undatierte Bericht von Franz Hartl. Vgl. Kapitel II.3.4.2, IV.5.3.2. 1234 Vgl. Kapitel IV.5.3. 1235 Vgl. weiterführend: Karner, Duffek, Widerstand in Österreich. 1236 Vgl. Lusseyran, Das wiedergefundene Licht, S. 135. 1237 Vgl. auch die dort angegebene Literatur: Neugebauer, Widerstand und Opposition, S. 187–212, hier S. 205. 1238 Vgl. Neugebauer, Widerstand und Opposition, S. 187–212, hier S. 205. 177 und körperlich allmählich“ verfallen würde.1239 Der aus Brixlegg (Tirol) stammende S. soll am 16. November 1942 gesagt haben: „Der Hitler, der Hund, gehört umgebracht, der Hitler, den soll der Teufel holen.“1240 Diese Aussage tätigte der damals 42-Jährige angeblich, als er in einem Geschäft vergeblich versuchte Tabakwaren zu erhalten. Zwei Frauen sagten gegen ihn aus. Wegen „heimtückischer Äußerungen gegen die Person des Führers“1241 wurde er zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Das Strafmaß konnte bis zu fünf Jahre betragen. Mildernd bewertet wurde bei dem Urteil gegen S. unter anderem sein Gesundheitszustand. Seit 1942 war er so weit erblindet, dass er angeblich bei jedem Schritt geführt werden musste. Im Laufe des Verfahrens hatte S. keine Chance, einer Verurteilung zu entgehen, obwohl er die Aussage bestritt und auch eine Entlastungszeugin benannte. Diese wurde allerdings nicht angehört. Außerdem erstattete der Gendarmerieposten Brixlegg am 17. November 1942 einen Bericht an den Oberstaatsanwalt beim Landesgericht Innsbruck, in dem S. als „Untermensch“1242 beschrieben wurde. „Einflußreiche Persönlichkeiten“ und die „Allgemeinheit“ würden sich für eine dauernde „Verwahrung“ aussprechen.1243 Dieses Beispiel zeigt, welche gravierenden Folgen ein an das NS-Regime unangepasstes Verhalten haben konnte. Durch die propagandistisch-ideologische Durchdringung der Bevölkerung war zudem die Gefahr der Denunziation groß. Auch aus Deutschland gibt es dementsprechend nur wenige Berichte über blinde Menschen, die Widerstand leisteten.1244 Der bekannteste ist der blinde Jurist Rudolf Kraemer, der im Februar 1933 seine Schrift „Kritik der Eugenik“1245 veröffentlichte und sich damit als einziger blinder Mensch öffentlich gegen die Zwangssterilisierung aussprach.1246 Die freiwillige Sterilisation aus eugenischer Indikation lehnte allerdings auch Kraemer nicht ab.1247 1934 untersagte ihm die NSV seine Arbeit als Rechtsberater. Kraemer fand aber trotzdem eine andere Anstellung und wurde ab 1941 zum Geschäftsführer der Konzertgemeinschaft blinder Künstler aus Südwestdeutschland. Er starb am 30. Juli 1945 an einem Herzinfarkt. Dem Widerstand zugeordnet wird ebenfalls der blinde Max Schöffler (8.12.1902– 1.1.1964). Schöffler schloss sich 1920 der KPD an und engagierte sich in den folgenden Jahren für die Rechte blinder ArbeiterInnen. 1931 ging er von Leipzig nach Bayern, um dort als Geschäftsführer des „Bayerischen Blindenbundes“ zu arbeiten. Auf einer Generalversammlung dieser Organisation wurde er am 10. März 1933 von der SA verhaftet.1248 Als der 1239 Vgl. DÖW, Archivalie 11567, K MS 2/43 10/43, Sondergericht beim Landesgericht Innsbruck, Urteil gegen Siegfried S. vom 1.2.1943. 1240 DÖW, Archivalie 11567, K MS 2/43 10/43, Sondergericht beim Landesgericht Innsbruck, Urteil gegen Siegfried S. vom 1.2.1943. 1241 DÖW, Archivalie 11567, K MS 2/43 10/43, Sondergericht beim Landesgericht Innsbruck, Urteil gegen Siegfried S. vom 1.2.1943. 1242 DÖW, Archivalie 11567, Tgb. Nr. 478, Gendarmerie-Posten Brixlegg an den Oberstaatsanwalt beim Landesgericht Innsbruck vom 17.11.1942, Betreff: Siegfried S. 1243 Vgl. DÖW, Archivalie 11567, Tgb. Nr. 478, Gendarmerie-Posten Brixlegg an den Oberstaatsanwalt beim Landesgericht Innsbruck vom 17.11.1942, Betreff: Siegfried S. 1244 Vgl. Blinde unterm Hakenkreuz, S. 149–187. 1245 Kraemer, Kritik der Eugenik. 1246 Vgl. Kapitel II.8.2.6; Bock, Zwangssterilisation, S. 279. Weiterführende Literatur zu Rudolf Kraemer: Martin Jaedicke, Dr. Dr. Rudolf Kraemer, S. 149–152; Schrenk, Kraemer; Poore, Disability in Twentieth Century, pp.135–138. 1247 Vgl. Lorenschat, Sterilisation Behinderter, S. 93. 1248 Vgl. Beckenbauer, Sterilisation in Bayern, S. 50–58, hier S. 52. 178 Vorstand dagegen protestierte, wurde der Bund unter Zwangsverwaltung und Polizeiaufsicht gestellt.1249 Erst 1939 erhielt der Verein die RBV-Satzungen und setzte unter Aufsicht der NSV seine Tätigkeit fort.1250 Max Schöffler wurde bis 1945 noch fünfmal verhaftet und 1941/42 für 15 Monate in Bautzen inhaftiert.1251 Das Beispiel des „Bayerischen Blindenbundes“ zeigt, dass für politisch anders denkende Menschen im NS-Staat kein Platz war. Die Vorgehensweise in diesem Fall dürfte auch in Österreich bekannt gewesen sein und das Verhalten blinder Menschen, sich dem NS-Regime anzupassen, beeinflusst haben. 11.4 Resümee: Die gesellschaftliche Stellung blinder Menschen und ihre Haltung zum Nationalsozialismus Blinde Menschen lebten unter dem NS-Regime in einem sehr großen Spannungsfeld: Auf der einen Seite wurden sie durch die NS-Propaganda als „Minderwertige“ stigmatisiert.1252 Gleichzeitig stellte das NS-Regime blinden Menschen durch die Beteiligung in den NSOrganisationen RBV, NSDAP, SA sowie im „Reichsbann B“ der „Hitler-Jugend“ eine gewisse gesellschaftliche Integration in Aussicht. Einige blinde Menschen erwarteten sich daher eine soziale Besserstellung im Vergleich zu der Zeit vor dem „Anschluss“.1253 Zu dieser Entwicklung kam, dass die Zivilblinden praktisch von den Kriegsblinden vorgelebt bekamen, dass auch blinde Menschen durchaus einen höheren Status sozialer Integration erreichen konnten. Die Kriegsblinden waren durch ihre Rentenansprüche und ihre bessere berufliche Situation, rund zwei Drittel aller Kriegsblinden hatten beispielsweise durch eine an sie vergebene Tabaktrafik ein zusätzliches Einkommen,1254 wirtschaftlich wesentlich besser gestellt.1255 Ab 1938 kam es dann nach Fuchs zu einer „völligen Umkehrung des Begriffes der Selbsthilfe“.1256 In der nationalsozialistischen Gesellschaft nahm nun die Gemeinschaft gegenüber dem Individuum eine absolute Vorrangeinstellung ein. Demnach wurde die Selbsthilfe 1249 Vgl. Jaedicke, Max Schöffler, S. 152–157; Beckenbauer, Sterilisation in Bayern, S. 50–58, hier S. 52. 1250 Vgl. Beckenbauer, Sterilisation in Bayern, S. 50–58, hier S. 52–53. 1251 Vgl. Jaedicke, Wer erinnert sich noch an Max Schöffler, S. 8–9, hier S. 8. [Nach 1945 wurde Schöffler Direktor der Deutschen Zentralbibliothek für Blinde in Leipzig Vgl. Kapitel II.9.] Der 1897 in Dassow (D) geborene Ernst Puchmüller erlebte ebenfalls als inhaftierter Kommunist das Kriegsende. Puchmüller war im Dezember 1936 wegen seiner Aktivitäten in der KPD zu neun Jahren und sechs Monaten Zuchthaus verurteilt worden. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung 1935 konnte er allerdings noch sehen. Erst die Bedingungen der Haft sollen ein bereits vorhandenes Augenleiden so verschlimmert haben, dass er vollständig erblindete. Puchmüller lebte nach Ende des Krieges in der späteren DDR. Sein Todesdatum ist nicht bekannt. In den 1960er Jahren veröffentlichte er seine Memoiren „Mit beiden Augen“, die unter dem DDRRegime zweimal aufgelegt wurde. In diesem Buch stellt er seine Lebensgeschichte als Paradegeschichte eines kommunistischen „Arbeiterfunktionärs“ dar. Die von ihm in diesem Buch gemachten Angaben sind tendenziös und in Zweifel zu ziehen. Vgl. Puchmüller, Mit beiden Augen. 1252 Vgl. Kapitel II.8.1, II.8.2.6. 1253 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 187. 1254 Vgl. Mit Stand vom 31. Dezember 1922 hatten rund 77 Prozent aller Kriegsblinden eine eigene Tabaktrafik. Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 170. 1255 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 209–213. 1256 Fuchs, „Körperbehinderte“, S. 179. 179 zur moralischen „Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der Volksgemeinschaft“.1257 Die na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Ideologie räumte damit den nach ihren Wertmaßstäben „leistungsbereiten und -fähigen“, „geistig normalen“ und „erbgesunden“ Menschen mit einer Behinderung, wie blinden, gehörlosen und körperbehinderten Menschen, auf die diese Attribute zutrafen, auch ein „vorläufiges Lebensrecht“ ein.1258 Maßnahmen des NS-Regimes zur Steigerung der Berufsmöglichkeiten gaben den Betroffenen Aussicht auf ein eigenes Einkommen.1259 Das Versprechen der NS-Propaganda in den zensierten Medien des Blindenwesens, „erbgesunde“ blinde Menschen, die keine weitere Behinderung hatten, zu „vollwertigen Mitgliedern der Volksgemeinschaft“ zu machen, führte bei einigen Betroffenen zu einer gewissen Dankbarkeit gegenüber dem Nationalsozialismus, der ihnen trotz ihres Status als „Mindersinnige“ eine eingeschränkte, gesellschaftliche Integration anbot.1260 Eingeschränkt deshalb, weil sie zeitlich begrenzt war, da sie von der Beurteilung der „Brauchbarkeit“ blinder Menschen abhing. Vor diesem Hintergrund muss die Haltung blinder Menschen zum Nationalsozialismus beurteilt werden.1261 Durch die in diesem Kapitel aufgezeigte aktive Rolle vieler blinder Menschen im NS-System – insbesondere die Funktionäre des RBV unterstützten beispielsweise die Durchführung von Zwangssterilisationen – trugen blinde Menschen damit auch eine Mitverantwortung an NS-Verbrechen. Auf Grund dieser Aktivitäten könnten sie durchaus als TäterInnen oder MittäterInnen bezeichnet werden, allerdings ist dies, abgesehen davon, dass wesentliche Quellen zu diesem Thema fehlen, auch eine ethisch-moralisch zu beurteilende Frage. Auf der anderen Seite steht fest, dass es blinde Menschen gab, die durch den NS-Staat zu Opfern wurden. In diesem Zusammenhang müssen beispielsweise die diffamierende Propaganda gegen „Minderwertige“, eugenische Zwangsmaßnahmen, die „Euthanasie“ sowie die Diskriminierung blinder Menschen, die keiner Arbeit nachgehen konnten, durch das NS-Fürsorgesystem genannt werden. Blinde Menschen, die auf Grund ihres Alters berufsunfähig oder mehrfachbehindert waren, zählte das NS-Regime zu den „Ballastexistenzen“. Dementsprechend war ihr Lebensunterhalt nicht gesichert. Sie konnten auch nicht den Mitgliedsbeitrag für den RBV aufbringen und waren daher vom NS-Blindenvereinswesen ausgeschlossen. Ein besonders schweres Schicksal traf diejenigen blinden Menschen, die nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ ab 1938 in der „Ostmark“ als Jüdinnen und Juden galten. Von denjenigen Kriegs- oder Zivilblinden jüdischer Herkunft, die nicht fliehen konnten, überlebten nur wenige das NS-Regime.1262 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam es, wie eingangs bereits erwähnt, zu keiner Aufarbeitung der Rolle blinder Menschen als Opfer und AkteurInnen des NS-Regimes. Dies muss vor dem Hintergrund beurteilt werden, dass es auch im österreichischen Blindenselbsthilfewesen nach 1945 personelle Kontinuitäten zur NS-Zeit gab. Auf der konstituierenden Versammlung des „Österreichischen Blindenverbandes“ am 9. März 1946 1257 Fuchs, „Körperbehinderte“, S. 179. 1258 Vgl. Fuchs, „Körperbehinderte“, S. 141. 1259 Vgl. Kapitel II.6. 1260 Zu dieser Einschätzung kommt Hermann Haarman in Bezug auf die Gehörlosen in seinem Vorwort zu der Arbeit von Martin Büttner. Vgl. Büttner, Der Bann G, S. 7–8, hier S. 8. 1261 Vgl. weiterführend: Demmel, Durch Nacht zum Licht, S. 228. 1262 Vgl. Kapitel IV.7. 180 wurde beispielsweise besagter Karl Phillip zum fünften Vorstandsmitglied gewählt.1263 Phillip galt, wie bereits erwähnt, als Mitglied der NSDAP.1264 An einer in Salzburg am 26. August 1946 stattgefundenen Vorbesprechung der „Obmänner und Vertreter der Blindenvereine von Kärnten, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol und Vorarlberg“ zur bevorstehenden „Länderkonferenz“ des „Österreichischen Blindenverbandes“ in Wien waren von sieben anwesenden blinden Männer drei ehemalige Vorsitzende von RBV-Gaubünden gewesen.1265 Demnach übernahmen Ernst Neubacher in Tirol und Vorarlberg1266, Georg Briedl in Oberösterreich und Josef Schwaiger in Salzburg auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges weiterhin Funktionen in Blindenverbänden. Diese drei waren 1939 allerdings die einzigen Funktionsträger im RBV gewesen, die von Karl Satzenhofer in seinem Beitrag in den „Marburger Beiträgen“ nicht als „Parteigenossen“ bezeichnet wurden.1267 Da die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht dezidiert Teil der wissenschaftlichen Fragestellung dieser Arbeit ist, soll an dieser Stelle nur exemplarisch auf diese Gegebenheit hingewiesen werden. Eine eigene Untersuchung sollte klären, in welchem Ausmaß Funktionäre von NS-Blindenorganisationen auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder im Blindenwesen tätig waren. 1263 Vgl. ÖBSV, Protokoll der konstituierenden Versammlung des Österreichischen Blindenverbandes vom 9.3.1946 1264 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 6299/35, Interessengemeinschaft blinder Arbeiter, Fortl. Nr. 2177 Gemeinde Wien, Meldeblatt zur Registrierung der Nationalsozialisten vom 19.7.1945, Betreff: Phillip Karl; Kapitel II.11.2. 1265 Vgl. ÖBSV, Abschrift, Protokoll über die in Salzburg, Landesblindenheim, stattfindende Vorbesprechung der Obmänner und Vertreter der Blindenvereine von Kärnten, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol und Vorarlberg zur Länderkonferenz in Wien vom 26.8.1946. 1266 In Vorarlberg gab es nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst keine eigene Blindenselbsthilfegruppe, sondern nur eine gemeinsame Organisation mit Tirol. Erst im November 1949 kam es zur Gründung einer eigenständigen Landesgruppe des ÖBSV in Vorarlberg. Vgl. Österreichischer Blinden- und Sehbehinderten-Verband, 60 Jahre ÖBSV, S. 24–25. 1267 Vgl. Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160–162 181 III. Kriegsblinde 1.Ausmaß, Ursachen und medizinische Aspekte von Kriegsblindheit 1.1 Ausmaß Der Anteil der Augenverletzungen auf Grund von Kampfhandlungen in den Kriegen des 20. Jahrhunderts ist im Vergleich zum Jahrhundert davor stark gestiegen. Vor allem die Weiterentwicklung der Waffentechnik und der Einsatz von Granaten waren dafür verantwortlich.1268 Die Steigerung der Splitterwirkung von Bomben und Granaten sowie die „vermehrte Feuerdichte der modernen Kriegswaffen“1269 führten zu einer Zunahme von Augenverletzungen.1270 Auf Grund der lückenhaften Überlieferung zum Sanitätswesen der Wehrmacht und dem Fehlen eines Kriegssanitätsberichts1271 können keine exakten Werte für den Zweiten Weltkrieg eruiert werden. Daten über das Ausmaß von Augenverletzungen im Zweiten Weltkrieg sind allerdings von einem Nebenschauplatz, dem griechisch-italienischen Krieg von 1940 bis 1941, erhalten.1272 Der Oberarzt der Universitäts-Augenklinik Athen, J. Fronimopoulos, gibt in einem 1943 publizierten Aufsatz an, dass der Anteil der Augenverletzungen an der Gesamtzahl der Kriegsverletzungen in dieser kriegerischen Auseinandersetzung auf griechischer Seite 9,9 Prozent betrug. Dabei handelte es sich nach seinen Angaben allerdings nur um einen groben Annäherungswert, da nicht alle zur Bestimmung dieses Wertes notwendigen Unterlagen vorgelegen hätten.1273 Wie viele dieser verwundeten Soldaten dauerhaft erblindeten, ist nicht bekannt. Da nicht jede Augenverletzung zu einer völligen oder teilweisen Erblindung führte, geben solche Zahlen nur bedingt Auskunft über die Anzahl von Kriegserblindungen. Die Anzahl von Augenverletzungen an der Gesamtzahl von Verwundungen ist immer auch abhängig von den spezifischen Gegebenheiten der Kriegsschauplätze und der Kampfführung. In einem Stellungskrieg, bei dem sich die Soldaten in Schützengräben gegenüberstehen, z. B. an der West- und Isonzofront im Ersten Weltkrieg, ist die Gefahr, im oberen Körperbereich, im Gesicht oder an den Augen verletzt zu werden, sehr hoch. Auch die Bodenbeschaffenheit spielt eine Rolle. Kämpfe auf staubigen, steinigen und sandigen Böden führen meist zu einer hohen Anzahl von Augenverletzungen.1274 1268 Vgl. Wong, See, Ang, Eye Injuries, pp. 433–459, hier p. 435. [Download über Verlagsportal www.sciencedirect.com]; Uhthoff, persönliche Erfahrungen, S. 3; Hoffmann, Kriegsblinde, S. 31; J. Fronimopoulos, Augenärztliche Erfahrungen, S. 542–550, hier S. 549. 1269 Fronimopoulos, Augenärztliche Erfahrungen, S. 542–550, hier S. 549. 1270 Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 173. Vgl. zu dieser Publikation auch die Ausführungen in der ersten Fußnote von Kapitel II.8.1. 1271 Vgl. Roth, Vorwort, S. 7–8. 1272 Vgl. Fronimopoulos, Augenärztliche Erfahrungen, S. 542–550, hier S. 549; Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 173. 1273 Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 173. 1274 Bei der Operation „Desert Strom“ der USA im Irak und in Kuwait 1991 hatten die Augenverletzungen einen Anteil von 13 Prozent an allen Verwundungen. Zurückgeführt wird dies auf die Kampfbedingungen in der Wüstenlandschaft. Vgl. Wong, See, Ang, Eye Injuries, pp. 433–459, hier pp. 435–436. 183 Nach dem Ersten Weltkrieg mussten in Österreich so viele Kriegsblinde versorgt werden wie noch nie zuvor.1275 Am 1. Dezember 1938 lebten nach einer Angabe des „Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit“ in Österreich noch 336 ehemalige Soldaten, die zusätzlich zu ihrer Invalidenrente den Blindenzuschuss erhielten.1276 Die NS-Behörden gingen daher 1939 von rund 300 Kriegsblinden aus, für die nach dem „Anschluss“ die nationalsozialistische Kriegsopferversorgung zuständig war.1277 In Deutschland lebten zu diesem Zeitpunkt noch rund 3.000 Kriegsblinde des Ersten Weltkriegs.1278 Am 1. September 1939 griff NS-Deutschland Polen an, der Zweite Weltkrieg begann. Er sollte 512 Tage länger dauern als der Erste Weltkrieg. Nach Angaben von Otto Jähnl erblindete schon kurz nach Kriegsbeginn, am 15. September 1939, Othmar Topil als erster Österreicher im Zweiten Weltkrieg. Der 1917 geborene Wiener verlor als Soldat der Wehrmacht im Angriffskrieg gegen Polen sein Augenlicht.1279 Noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erlitt allerdings ein Tiroler schwere Augenverletzungen, auf Grund derer er spätestens ab 1941 versorgungsrechtlich als Schwerkriegsgeschädigter anerkannt wurde.1280 Das SA-Mitglied Erhard W. hatte sich bei Böllerschüssen zur Verkündung der Ergebnisse der Volksabstimmung im Kreis Reutte im April 1938 derart verletzt, dass er erblindete.1281 Das SA-Mitglied hatte sich schon in der so genannten „Verbotszeit“ für die NSDAP betätigt und galt zwischen 1938 und 1945 als „alter Kämpfer für den Nationalsozialismus“. Im Zuge der terroristischen Aktivitäten der „illegalen NSDAP“ zwischen 1933 und 1938 hatten einige Parteimitglieder und Angehörige von der NSDAP angeschlossenen paramilitärischen Formationen dauerhafte körperliche Beeinträchtigungen erlitten. Sie sollten die gleichen Vergünstigungen wie Kriegsopfer erhalten.1282 Ab 1938 war für ihre Versorgung dementsprechend die NSKOV zuständig.1283 Die gesetzliche Grundlage für ihre Versorgungsansprüche bildete das „Gesetz über die Versorgung der Kämpfer für die nationale Erhebung“, das am 1. Oktober 1938 in der „Ostmark“ in Kraft trat und die Versorgung von Mitgliedern 1275 Zu den Kriegserblindungen und deren Versorgung vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 25–28. 1276 Vgl. ÖSTA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 56, eingelegt in: Zl. 1944, GZ. 551.087/Abt.1/1938, Versorgung der Kriegsopfer, Ministerium für Wirtschaft und Arbeit an den Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs vom 19.7.1938, Betreff: Versorgung der österreichischen Kriegsopfer. 1277 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/18, GZ VW II 8/39 9164, RM d. I. an den Reichskommissar für die Wiedervereinigung vom 26.4.1939, Betreff: Antrag der Deutschen Kriegsblindenstiftung auf Ausdehnung der Genehmigung zur schriftlichen Geldspendensammlung auf das Land Österreich. 1278 Vgl. BAB, Reichsverkehrsministerium, R 5/3048, Auszug 194. Sitzung der ständigen Tarifkommission der Deutschen Eisenbahnverwaltung in München vom 6., 7., 8.12.1938, S. 141. 1279 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 114. 1280 In seinem Akt im ÖStA ist eine entsprechende Bescheinigung für die vergünstigte Nutzung der Eisenbahn enthalten. Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale Fürsorge Erhard W. 1281 Vgl. Kapitel III.1.2.4; ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale Fürsorge Erhard W. 1282 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Zl. 2150, 2. Teil a Tabakregie, NSKOV Gauamtsleiter an Joseph Bürckel vom 2.12.1939, Betreff: Tabakgeschäfts-Lizenzen für Witwen nach „Gehenkten“. 1283 In Deutschland war die NSKOV auch für die Versorgung der NSDAP-Mitglieder aus der Zeit vor der Machtübertragung an Hitler zuständig. Außerdem wurde für diese am 27. Februar 1934 das „Gesetz über die Versorgung der Kämpfer für die nationale Erhebung“ erlassen. Vgl. Diehl, Disabled Veterans in the Third Reich, pp. 705–736, hier p. 716 [=JSTOR, <http://www.jstor.org/stable/1879949>, Download am 12.1.2009]. 184 der NSDAP und der ihr angeschlossenen paramilitärischen Formationen regelte, die sich vor dem 11. April 1938 für die NS-Bewegung betätigt hatten und sich dabei irreversible Verwundungen zugezogen hatten.1284 Dementsprechend führten die versorgungsrechtlichen Bestimmungen1285 zwischen 1938 und 1945 dazu, dass Erblindungen, die mit einem Kriegseinsatz nicht in Verbindung standen, trotzdem als Kriegserblindungen eingestuft wurden. Deren Anzahl dürfte allerdings sehr gering gewesen sein. Genaue Angaben dazu ließen sich nicht eruieren. Außer Erhard W. ließ sich aus den eingesehenen Quellen im ÖStA kein weiterer Fall eruieren. Auch darüber, wie viele Menschen im eigentlichen Sinn, das heißt durch die unmittelbaren Auswirkungen der Kampfhandlungen, insgesamt bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges erblindeten, liegen nur Schätzungen vor. Otto Jähnl ging von rund 1.000 neu erblindeten Menschen aus, die nach Kriegsende in Österreich lebten. Dazu kamen noch rund 200 Überlebende aus dem Ersten Weltkrieg.1286 Nach einer in der von der „Zentralorganisation der Kriegsopferverbände Österreichs“ herausgegebenen Zeitschrift „Österreichs Kriegsopfer“ veröffentlichten Kriegsblindenstatistik bezogen mit Stichtag 1. Juli 1949 aber nur 736 der insgesamt 168.974 Kriegsinvaliden eine Blindenzulage.1287 Der Kriegsblindenverband gab 1979 eine Zahl von 900 im Zweiten Weltkrieg erblindeten Personen an.1288 Auf Grund dieser Angaben muss von rund 800 bis 1.000 im Zweiten Weltkrieg erblindeten Personen ausgegangen werden. Auch für Deutschland liegen keine verlässlichen Daten vor. Im Gebiet der späteren Bundesrepublik Deutschland und der DDR lebten 1945 nach Schätzung von Martin Jaedicke rund 8.000 im Krieg erblindete Personen.1289 Max Schöffler ging von einer höheren Zahl aus. Er schätzte die Anzahl von Kriegsblinden in seinem 1955 publizierten Buch auf etwa 8.500.1290 Amtliche Zahlen konnte er für diese Berechnung nur aus Westdeutschland heranziehen. Dort wurden 6.225 Kriegsblinde mit Stichtag 1. Jänner 1955 gezählt. 4.935 davon erblindeten im Zweiten Weltkrieg und 1.690 waren Betroffene aus dem Ersten Weltkrieg. Insgesamt machten sie damit etwa 18,52 Prozent an der Gesamtzahl aller blinden Menschen aus.1291 Der im Krieg erblindete Willi Finck, der 2005 eine Arbeit über Kriegsblinde in der DDR publizierte, gab an, dass 2.356 Kriegsblinde nach Kriegsende in der sowjetischen Besatzungszone lebten.1292 Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg erblindeten im Zweiten Weltkrieg nicht nur Militärangehörige, sondern auch Zivilpersonen, darunter Kinder und Frauen, vor allem durch den so genannten „Luftkrieg“. Das jüngste Mitglied des 1946 neu gegründeten österreichischen Kriegsblindenverbandes war dementsprechend erst drei Jahre alt. Das Kleinkind erlitt schwerste Verletzungen, als eine Bombe das Haus der Familie traf.1293 Bedauerlicherweise ist der Anteil von ZivilistInnen an der Gesamtzahl der Kriegsblinden auf Grund der mangelhaften Quellenlage derzeit nicht eruierbar. 1284 Vgl. Kapitel III.2.1. 1285 Vgl. Kapitel III.2. 1286 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 187–188. 1287 Vgl. o. A., Kriegsopferstatistik, S. 10. 1288 Vgl. Poisel, Festansprache, S. 19–23, hier S. 21. 1289 Vgl. Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 334. 1290 Vgl. Schöffler, Blinde im Leben des Volkes, S. 76. 1291 Vgl. Schöffler, Blinde im Leben des Volkes, S. 76. 1292 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 34. 1293 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 117–118. 185 Folglich kann hier auch nicht dargestellt werden, wie sich die Kriegsblinden nach Geschlecht, Alter etc. aufteilten.1294 Im ÖStA sind lediglich die Akten von 252 Kriegsblinden erhalten,1295 die zwischen 1938 und 1945 in die Zuständigkeit des Hauptversorgungsamtes (HVA) „Ostmark“ fielen. 158 davon erblindeten im Zweiten Weltkrieg, 91 waren Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges und bei drei Betroffenen sind die Akten so unvollständig, dass keine Zuordnung möglich war. Verwertbare statistische Angaben können aus diesem Datenmaterial kaum erhoben werden. Unter anderem auch deshalb, weil nicht feststellbar ist, nach welchem System diese Akten in den insgesamt fünf Kartons überliefert sind. So fällt auf, dass sich unter dem auswertbaren Quellenmaterial nur eine erblindete Zivilperson befindet, die zudem als Sonderfall gewertet werden muss,1296 alle anderen stammten von erblindeten Soldaten. Es ist daher anzunehmen, dass im Zweiten Weltkrieg erblindete Zivilpersonen getrennt erfasst wurden. Soweit dazu Angaben gemacht wurden, sind in diesem Bestand im ÖStA auch kaum Personen vermerkt, die in den letzten Kriegsmonaten verwundet wurden. Nur einer der dort vermerkten Soldaten erblindete nach einer Verwundung aus dem Jahr 1945.1297 Dabei müsste eigentlich, folgt man den Angaben des Reichswirtschaftsministeriums, gerade zu dieser Zeit die Zahl der Kriegserblindungen besonders hoch gewesen sein. Denn in den letzten zwei Kriegsjahren 1944/45, als sich die Wehrmacht auf dem Rückzug befand, war die Anzahl der Toten und Verwundeten größer als in den vorangegangenen Kriegsjahren zusammen.1298 Im Reichswirtschaftsministerium ging man daher im November 1944 davon aus, dass monatlich im ganzen „Deutschen Reich“ etwa 150 Soldaten erblindeten.1299 Was das Alter der erblindeten Militärpersonen betrifft, nahm Otto Jähnl an, dass sie eher jung waren. Der Historiker schrieb dazu lapidar: „Es traf meist junge, zum Teil hastig ausgebildete Soldaten signifikant höher als ‚erfahrene Haudegen‘.“1300 Aber nicht nur zu den Kriegsblinden, auch zu den Kriegsopfern insgesamt gibt es bis dato keine einheitlichen Zahlen. Nach Gregory Weeks hatten 1945 7.500 zivile Opfer der Bombenangriffe in Österreich Anspruch auf eine Rentenversorgung.1301 Eine amtliche Statistik aus dem Jahre 1955 gibt 24.300 ZivilistInnen aus dem österreichischen Staatsgebiet an, die durch Luftangriffe, Kampfhandlungen und deren Auswirkungen umgekommen 1294 Zu dem Thema im und durch den Krieg erblindete Frauen vgl. Kapitel III.9. 1295 Auch wenn alle dort registrierten Kriegsopfer als „Kriegsblinde“ tituliert wurden, waren nicht alle vollblind. Von den insgesamt 252 registrierten Personen ist bei 65 das Ausmaß der Augenverletzung nicht feststellbar. 159 müssen als vollblind oder praktisch blind gelten. Bei 27 scheint auf Grund des vorhandenen Aktenmaterials eine Sehbehinderung vorgelegen zu haben. Eine Person galt als nur „leicht“ sehbehindert. 1296 Dabei handelt es sich um die kriegsblinde Frau Maria T. Vgl. Kapitel III.9. 1297 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge von S. [Vorname nicht registriert, Akt unvollständig]. 1298 Vgl. Guth, Sanitätsdienst der Wehrmacht, S. 11–24, hier S. 20. 1299 Vgl. BAB, Reichswirtschaftsministerium, Abteilung 2, R 3101/11890, RTK III A 9 d, Reichsbeauftragte für Tabak und Kaffee an die Gruppenarbeitsgemeinschaft Tabak und Tabakwaren in der Reichsgruppe Handel vom 2.11.1944, Betreff: Sonderversorgung der Kriegsblinden mit Tabak. 1300 Jähnl, Kriegsblinden, S. 117. 1301 ÖStA, AdR, Group 03, Carton 89, Kriegsbeschädigte 1947, I-13.000, Document II AV-120.005 11/45, Vorläufige Maßnahmen zur Entschädigung der Kriegsopfer (Staatsamt für Soziale Verwaltung), sheet 2, zitiert in: Weeks, Fifty Years of Pain, pp. 229–250, hier p. 232. 186 waren. Dazu kamen noch 170.800 getötete Soldaten und 76.200 Vermisste.1302 Etwa 170.000 Kriegsversehrte wurden laut Karl Ernst am Ende des Krieges gezählt.1303 Im Dezember 1949 lebten nach denselben Angaben insgesamt 510.474 versorgungsberechtigte Kriegsversehrte, Witwen, Waisen und Eltern in Österreich.1304 Der Oberösterreichische Kriegsopferverband gab 1949 an, dass 116.313 Soldaten mit einer Behinderung Renten bezogen.1305 1.2 Wie wurden Kriegserblindungen verursacht? 1.2.1 Militärische Aspekte Nach dem Angriff von NS-Deutschland auf Polen am 1. September 1939 wurde Polen innerhalb von zweieinhalb Wochen eingenommen und zwischen Deutschland und der Sowjetunion nach dem Hitler-Stalin-Pakt aufgeteilt. In der folgenden Phase der so genannten „Blitzkriege“1306 konnte die Wehrmacht rasch Dänemark, Norwegen, Niederlande, Belgien und Frankreich besetzen. Am 6. April 1941 kapitulierte nach elf Tagen die königliche Armee Jugoslawiens. Am 22. Juni 1941 griff das „Deutsche Reich“, unterstützt von Italien, Rumänien, Ungarn und der Slowakei, die Sowjetunion an. Im November 1942 eröffneten US-amerikanische und britische Truppen eine zweite Front in Nordafrika, im Sommer 1943 eroberten sie Sizilien. Als Wende des Krieges wird aber Stalingrad bezeichnet, wo die deutsche 6. Armee am 2. Februar 1943 kapitulierte.1307 Der Zweite Weltkrieg wurde größtenteils als Bewegungskrieg geführt. Im Gegensatz zum Stellungskrieg zeichnet sich dieser durch schnelle, raumgreifende Operationen aus. Dies wirkte sich negativ auf die Sanitätsversorgung1308 der deutschen Landstreitkräfte aus, die von Anfang an mangelhaft war.1309 Ab März 1941 gab es erste Luftangriffe in Kärnten und der Steiermark.1310 Am 13. August 1943 begannen die Bombardements der alliierten Luftstreitkräfte mit einem Angriff auf Wiener Neustadt. Der „Luftkrieg“ führte zu schweren Verletzungen und Verlusten unter der 1302 Vgl. Zöllner, Geschichte Österreichs, S. 554. Die gleiche Angabe macht auch Hubert Fischer. Vgl. Grazer Garnisonsmuseum, Ehem. K. u. K. Inf. Rgt. 47, zitiert in: Fischer, Der deutsche Sanitätsdienst [Band 5], S. 3804. 1303 Vgl. Ernst, 50 Jahre Kriegsopferversorgung, S. 225–320, hier S. 236. 1304 Vgl. Ernst, 50 Jahre Kriegsopferversorgung, S. 225–320, hier S. 230. Laut der bereits zitierten Statistik, die von der Zentralorganisation der Kriegsopfer Österreichs veröffentlicht wurde, betrug diese Zahl mit Stichtag vom 1. Juli 1949 510.655 Personen. Vgl. o. A., Kriegsopferstatistik, S. 10. 1305 Vgl. Weeks, Fifty Years of Pain, pp. 229–250, hier p. 232. 1306 Schmitz-Berning, Vokabular, S. 104–105. 1307 Weiterführende Literatur zum Krieg gegen die Sowjetunion: Karner, Schöpfer, Der Krieg gegen die Sowjetunion. Zur Militärgeschichte des Zweiten Weltkrieges vgl. u. a. Militärgeschichtliches Forschungsamt Deutschland, Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg [10 Bände]; Dear, Foot, The Oxford companion to World War II. Zur Überblicksdarstellung des Zweiten Weltkriegs vgl. Dornik, Österreich 1914 bis 2004, S. 37–65, hier S. 51. 1308 Zur Militärmedizin des Zweiten Weltkrieges vgl. u. a. die angegebene Literatur in folgendem Aufsatz: Eckart, Neumann, Einleitung, S. 9–15. 1309 Vgl. Kapitel III.1.4. 1310 Vgl. Beer, Karner, Krieg aus der Luft, S. 40. 187 Zivilbevölkerung. Im Zuge der Befreiung von der NS-Diktatur im Frühjahr 1945 durch die alliierten Truppen kam es bei Bodenkämpfen zu weiteren Opfern unter der Zivilbevölkerung. 1.2.2 Explosions- und Schussverletzungen „[…] Splitter der explodierten Granate trafen mich im Gesicht, am Hals und an der aufgestützten Hand. Ich wurde auf die andere Seite des Erdlochs geworfen und kam direkt auf dem Kameraden Kirchner zu liegen, der offenbar noch schwerer getroffen worden war.“1311 Die häufigsten Ursachen für Kriegserblindungen1312 im 20. Jahrhundert waren Verletzungen durch Splitter von Explosionsgeschossen. 50 bis 80 Prozent der Augenverletzungen wurden nach Angaben einer Studie aus dem Jahr 1997 von MitarbeiterInnen des „Singapore National Eye Center“ und einem Major der „Singapore Armed Forces“ durch diese Munition verursacht.1313 In 15 bis 25 Prozent der Fälle waren beide Augen betroffen.1314 Ursache Keine Angaben II. WK Prozent I. WK Prozent Gesamt 24 15,19 70 76,92 1 0,63 3 3,30 4 Granatsplitter 55 34,81 3 3,30 58 Minen 17 Schrapnellgeschoss 94 16 10,13 1 1,10 Explosiv-/Infranteriegeschoss 7 4,43 0 0,00 7 Bombensplitter 7 4,43 0 0,00 7 Schussverletzungen 13 8,23 6 6,59 19 Verwundung 18 11,39 1 1,10 19 3 1,90 0 0,00 3 Sehnervenentzündung Geschlechtskrankheit 1 0,63 0 0,00 1 Krankheit 7 4,43 2 2,20 9 Sonstige 6 3,80 5 5,49 11 158 100,00 91 100,00 249 Abb. 09: Auswertung der Ursachen von Kriegserblindungen in den Akten des HVA „Ostmark“. 1311 Lindmayr, Erfülltes Leben; S. 199. 1312 Vgl. Zu den Ursachen von Kriegserblindungen im Ersten Weltkrieg vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 33. 1313 Vgl. Wong, See, Ang, Eye Injuries, pp. 433–459. 1314 Vgl. S. Duje-Elder (Ed.), War injuries. System of Ophthalmology, [=CV Mosby, Vol. 14], St. Louis 1972, pp. 1015–1017, zitiert in: Wong, See, Ang, Eye Injuries, pp. 433–459, hier p. 433. 188 Eine Auswertung von 249 für diese Fragestellung verwertbaren Akten von Kriegsblinden im ÖStA zeigt,1315 dass Explosivgeschosse 54,43 Prozent der dort registrierten Augenverletzungen des Zweiten Weltkrieges verursachten. Zusammen mit den Schussverletzungen machten diese 62,66 Prozent aus. Doch dürfte der Anteil wesentlich höher gewesen sein, da in rund 16 Prozent der Fälle die Ursache der Erblindung nicht angegeben wurde und bei rund 18 Kriegsblinden (11,39 Prozent) in den Akten im ÖStA lediglich die Angabe „Verwundung“1316 stand. Wie bereits erwähnt, sind diese Daten nicht repräsentativ, aber die Angaben in den Versorgungsakten der Kriegsblinden geben Aufschluss über die vielen verschiedenen Munitionsarten, die den betreffenden Soldaten die schweren Verwundungen zugefügt hatten: Handgranaten, Panzergranaten, Infanteriegeschosse, Minen, Bombensplitter, Fliegerbombensprengstücke sowie die Explosion einer Flakgranate wurden genannt. Welche verschiedenen Geschossarten zu Augenverletzungen führten, geht auch aus dem bereits zitierten Bericht des griechischen Augenarztes Fronimopoulos aus dem Jahr 1943 hervor.1317 Diese Studie stellte fest, dass der Hauptanteil der Augenverletzungen im griechisch-italienischen Krieg 1940–1941 auf griechischer Seite auf die Splitterwirkung von Granatwerfergeschossen zurückzuführen war. Deren Anteil betrug rund 58 Prozent aller Augenverletzungen.1318 Eine Studie von dem Marineoberstabsarzt Hans Schlichting der Universitäts-Augenklinik Königsberg aus dem Jahr 1941, also aus der Anfangsphase des Krieges gegen die Sowjetunion, bestätigt den hohen Anteil von Verwundungen durch Granaten.1319 Diese auf den Zeitraum vom 22. Juni bis 22. Dezember 1941 beschränkte Untersuchung erfasste an den Augen verletzte Soldaten der Wehrmacht aus dem Raum „Petersburg bis etwa Tula“.1320 Für Schlichting überraschend war, dass 17,5 Prozent dieser Verwundungen durch Gewehrgeschosse verursacht worden waren.1321 Diese Verletzungen waren allerdings nicht unbedingt von Munitionsteilen, die ins Auge eingedrungen waren, hervorgerufen worden, sondern vor allem durch den „Splitterregen“1322, der entstand, wenn die Gewehrgeschosse auf den Boden aufschlugen.1323 Diese Tatsache ist ein Charakteristikum von Augenverletzungen in kriegerischen Auseinandersetzungen. Häufig reichte schon die Druckwelle von Detonationen aus, den Betroffenen dauerhafte Verletzungen zuzuführen. Einige der Verwundeten erblindeten sogar, obwohl nicht ihre Augen direkt betroffenen waren, sondern Splitter der 1315 Vgl. Kapitel III.1.1. 1316 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1–5. 1317 Vgl. Fronimopoulos, Augenärztliche Erfahrung, S. 542–545, hier S. 545. 1318 Die Aufteilung auf die verschiedenen Waffenarten war Folgendermaßen: Artilleriegranaten (10,6 Prozent), Handgranaten (12,20 Prozent), Fliegerbomben (5 Prozent) und andere Ursachen (13,98 Prozent). Fronimopoulos betont allerdings, dass es sich dabei um Näherungswerte handelt, da nicht alle notwendigen Statistiken vorhanden waren und die Angaben von verschiedenen AugenärztInnen über diese kriegerischen Auseinandersetzungen stark differierten. Vgl. Fronimopoulos, Augenärztliche Erfahrung, S. 542–545, hier S. 544–545. 1319 Bei den Waffen bzw. der Munition, die Verletzungen der Augen herbeigeführt haben, handelte es sich, abgesehen von einigen Ausnahmen, um Granaten, Minen, Gewehrgeschosse, Handgranaten, Bomben und Zünder mit folgenden Verhältniszahlen: 100:36:33:13:4:3. Vgl. Schlichting, Fremdkörper bei Kriegsverletzungen. 1320 Schlichting, Fremdkörper bei Kriegsverletzungen, S. 16. 1321 Vgl. Schlichting, Fremdkörper bei Kriegsverletzungen, S. 17. 1322 Schlichting, Fremdkörper bei Kriegsverletzungen, S. 17. 1323 Vgl. Schlichting, Fremdkörper bei Kriegsverletzungen, S. 17. 189 Geschosse das Gehirn verletzten. Dies konnte unter anderem eine so genannte „Seelenblindheit“ hervorrufen. Der heutige Fachterminus dafür lautet „visuelle Agnosie“1324. Bei einer Verletzung im Bereich des Okzipitallappens1325 kommt es bei den Verwundeten trotz normaler Sehleistung zu Störungen des Erkennens.1326 Bei dem Kriegsblinden Anton G. aus Ebensee am Traunsee führte beispielsweise eine Granatsplitterverletzung zu einer solchen Schädigung des Sehzentrums in der Gehirnrinde.1327 „Seelenblindheit“ konnte auch durch Schussverletzungen hervorgerufen werden. Allerdings führten weit häufiger so genannte „Orbitalschüsse“ zu beidseitigen Erblindungen. Gemeint war damit ein Durchschuss des Kopfes. Diese Art der Verwundung war bereits im Ersten Weltkrieg sowie durch Selbstmordversuche bekannt.1328 Im Akt von August A. wurde zum Beispiel vermerkt, dass nach einer solchen Schussverletzung seine beiden Augen „ausgeronnen“1329 seien. 1.2.3 Infektionskrankheiten Einige der Erblindungen von Soldaten standen nicht unmittelbar in Zusammenhang mit den direkten Kampfhandlungen. Zu weiteren Erblindungsursachen zählten etwa Geschlechtskrankheiten.1330 Insbesondere eine Tripper-Erkrankung konnte zu einer so genannten „gonorrhöischen Augenentzündung“ führen. Diese wurde ausgelöst, wenn die Erreger der Krankheit durch Hände oder Wäschestücke direkt in die Augen gelangten. Diese Infektion konnte zu einer dauerhaften Hornhautschädigung führen. In den überlieferten Akten des HVA „Ostmark“ ist ein solcher Fall registriert. Der Obergefreite Robert A. wurde im Jänner 1942 im Lazarett Kontop (Sowjetunion) wegen einer Geschlechtskrankheit mit Neosalvan behandelt. Trotzdem kam es bei ihm zu einer dauerhaften Schädigung der Augen.1331 Seine Erblindung wurde als „Wehrdienstbeschädigung“1332 anerkannt. Mit Kriegsbeginn begann die Zahl geschlechtskranker Angehöriger der Wehrmacht sowie in der Bevölkerung zu steigen. 1939 gab es in Feldheer und Ersatzheer 7.637 Neuerkrankungen. 1943 belief sich diese Zahl auf 65.367.1333 Den Höchststand von an Tripper und Syphilis erkrankten Soldaten, gemessen an der Iststärke der Wehrmacht, gab es aber im zweiten Kriegsjahr. Die Zahl der Geschlechtserkrankungen erreichte 1,58 Prozent.1334 1324 Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, S. 29. 1325 Hinterster Teil des Großhirns. 1326 Vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, S. 29. 1327 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Anton G. 1328 Vgl. Uhthoff, persönliche Erfahrungen, S. 34 1329 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge August A. 1330 Vgl. Kapitel II.1.2.1. 1331 Zur Diagnose und Behandlung der Geschlechtskrankheiten „Tripper“ und Syphilis vgl.: Mai, Geschlechtskrankheiten, insb. S. 52–73. 1332 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt.1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Robert A. Zu den Besonderheiten bei den Versorgungsansprüchen von Kriegsblinden, deren Erblindung nicht in unmittelbaren Zusammenhang mit dem Kampfeinsatz stand vgl. Kapitel III.1.2.4. 1333 Vgl. Mai, Geschlechtskrankheiten, S. 51. Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 544. 1334 Vgl. Hans Müller, Vorläufiger Sanitätsbericht des deutschen Heeres (1939–1943), Manuskript ohne Datum, S. 10, zitiert in: Neumann, Heeressanitätsinspektion, S. 240. 190 Alexander Neumann begründete dies mit der Beendigung der Kampfhandlungen in Frankreich, die dazu geführt haben soll, dass die Soldaten über mehr Freizeit verfügten.1335 Wie häufig eine Geschlechtserkrankung zu irreversiblen Augenschädigungen führte, ist bisher allerdings nicht untersucht worden. Eine weitere Infektionskrankheit, die unter Umständen zu einer Erblindung führen konnte, ist das Trachom. Bei der Abheilung dieser Virusinfektion der Augen kann es zur Narbenbildung kommen. Im Endstadium ist eine Erblindung durch ein Übergreifen der Infektion auf die Hornhaut möglich.1336 Im Ersten Weltkrieg hatte es noch so viele trachomkranke Soldaten gegeben, dass sie zu eigenen Bataillonen zusammengefasst wurden.1337 Durch gezielte Maßnahmen gegen eine weitere Verbreitung dieser Krankheit nach dem Ende des Ersten Weltkrieges konnte die Trachom-Endemie weitgehend eingedämmt werden. 1939 wurden noch vereinzelt „Trachomherde“ in Österreich festgestellt, aber deren Bedeutung für die Verursachung von Erblindungen war gering.1338 Auch in der Wehrmacht gab es im Zweiten Weltkrieg kaum mehr Trachominfektionen. Laut einer Untersuchung von 4.000 augenkranken Soldaten im Mai 1943 im Nordteil der Ostfront hatten lediglich drei eine Trachomerkrankung.1339 Im selben Abschnitt fand man unter 400 Zivilpersonen 15 Trachomkranke,1340 dennoch schätzten die „Beratenden Fachärzte“1341 auf der 3. Arbeitstagung Ost im Mai 1943 die Gefahr von Übertragungen durch mit dem Trachomerreger infizierte Zivilpersonen als gering ein, weil diese Krankheit nur durch das unmittelbare Hereinbringen von infektiösem Sekret in den Bindehautsack übertragen wurde.1342 Im Ersten Weltkrieg geschah dies beispielsweise noch viel häufiger, weil zehn bis zwölf Soldaten das gleiche Handtuch benutzten.1343 Im Zweiten Weltkrieg wurde versucht, solche Ansteckungsquellen auszuschalten. Anfang der 1940er war es außerdem gelungen, Trachomerkrankungen mit Sulfonamiden, wie z. B. Albucid,1344 wirkungsvoll zu behandeln.1345 Auf Grund von Übertragungen durch Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, heimkehrende Soldaten von der Ostfront und Flüchtlinge, insbesondere aus den Ostgebieten des „Deutschen 1335 Vgl. Neumann, Heeressanitätsinspektion, S. 241. 1336 Vgl. Kapitel II.1.2. 1337 Die erkrankten Militärpersonen wurden zwar behandelt, aber weiterhin vor allem in den staubfreien Kampfgebieten im Gebirge eingesetzt. Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 43–44. 1338 Vgl. Kapitel II.1.2. 1339 Vgl. Valentin, Krankenbataillone, S. 9. 1340 Ob es sich bei diesen Zivilpersonen um Augenkranke oder gesunde Personen gehandelt hat, wurde von Valentin nicht angegeben. 1341 Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden, wie im Ersten Weltkrieg, viele Mitglieder des „Wissenschaftlichen Senats“ als „Beratende Ärzte“ tätig. Sie unterrichteten den Armeearzt über wichtige Beobachtungen und Erfahrungen aus ihrem Fachgebiet und unterstützten die Sanitätsoffiziere. Es gab auch „Beratende Ophthalmologen“. Vgl. Fischer, Der deutsche Sanitätsdienst [Band 4], S. 3316–3327. 1342 Vgl. Valentin, Krankenbataillone, S. 9. 1343 Vgl. Valentin, Krankenbataillone, S. 9. 1344 Albucid gehört zur Gruppe der Sulfonamide, deren antibakterielle Wirkung 1935 von dem deutschen Chemiker Gerhard Domagk entdeckt wurde. Das Sulfonamid Prontosil wurde im Zweiten Weltkrieg von NS-Deutschland zur Behandlung von Wundinfektionen eingesetzt. Ab 1940 wurde der Einsatz von Sulfonamiden wie Albucid, Eubasin oder Salosept als erste Chemotherapeutika in Tablettenform bei Tra­chom­ er­k ran­kun­gen evaluiert. Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 157. 1345 Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 157; o. A., Zur Chronik des Blindenwesens. Wien, in: Die Blindenwelt, Nr. 10, Jg. 29 (1941), S. 269. Zu den Fortschritten bei der Behandlung von Trachomerkrankungen trug unter anderem der Wiener Augenarzt Karl David Lindner, 1928–1953 Vorstand der II. Wiener-Augenklinik, bei. Vgl. Scholtz, Julius-Hirschberg-Gesellschaft tagte in Salzburg; o. A., Zur Chronik des Blindenwesens. Wien, in: Die Blindenwelt, Nr. 10, Jg. 29 (1941), S. 269. 191 Reiches“, dürfte es nach Einschätzung des Ophthalmologen Jens Martin Rohrbach in der letzten Phase des Krieges allerdings zu einem Ansteigen von Trachomerkrankungen gekommen sein.1346 Trotzdem waren auch seiner Meinung nach die Folgen für das Gesundheitswesen insgesamt gering, das heißt, es kam nur in seltenen Fällen zu dauerhaften Schädigungen der Augen.1347 1.2.4 Außergewöhnliche Ursachen für Kriegserblindungen Zu den außergewöhnlichen Erblindungsursachen zählten Fälle, bei denen die Betroffenen erst Jahre nach dem Krieg erblindeten. Melanie Abraham interviewte für ihre Arbeit über historische und gegenwärtige Aspekte des Phänomens „Kriegsblindheit“ einen Zeitzeugen, der erst im Sommer 1948 vollständig erblindet war. Herr C. erlitt im Krieg eine schwere Verwundung durch eine Fliegerbombe in Kassel, die als dauerhafte Schädigung eine Erblindung des linken Auges zur Folge hatte. Im Sommer 1948 begann sich dann die Netzhaut des rechten Auges abzulösen. Die behandelnden ÄrztInnen vermuteten, dass dafür die Gehirnerschütterung verantwortlich war, die Herr C. im Zuge seiner Kriegsverletzung erlitten hatte. Herr C. war daher im Unterschied zu den meisten anderen Kriegsblinden erst in einem schleichenden Prozess erblindet.1348 Bei dieser Art der Erblindung hatten die Betroffenen häufig Schwierigkeiten, dass ihre Erblindung als Kriegserblindung von den zuständigen Versorgungsbehörden anerkannt wurde. Zu diesen Sonderfällen muss auch der bereits genannte Erhard W. gezählt werden, der sich bei Böllerschüssen anlässlich der Bekanntgabe des Ergebnisses der „Volksabstimmung“ 1938 so schwer verletzte, dass er in der Folge erblindete.1349 Ebenso sind Fälle von Soldaten dokumentiert, die außerhalb ihres direkten Kriegseinsatzes erblindeten. Zu diesen zählte der Tiroler Fridolin L., der bei einem Autounfall im Rahmen seines Militärdienstes am 25. März 1940 in Landeck schwere Gesichtsverletzungen erlitt. Dabei verlor er das linke Auge und auf Grund einer bereits vorhandenen Hornhautschädigung auf dem rechtem Auge galt er als „praktisch blind“.1350 1.2.5 Kriegserblindungen in der Zivilbevölkerung In der NS-Propaganda wurden im und durch den Krieg erblindete ZivilistInnen „durch Feindeinwirkung erblindete Volksgenossen“1351 genannt. Als Haupterblindungsursache 1346 Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 157. 1347 Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 157. 1348 Vgl. Abraham, Historische und gegenwärtige Aspekte. 1349 Vgl. Kapitel III.1.1. 1350 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Fridolin L., Niederschrift über die Berufsberatung vom 16.9.1941. Das Versorgungsamt Innsbruck gewährte ihm allerdings zunächst nicht die Höchstrente für Kriegsblinde, weil sie davon ausgingen, dass er seinen Zustand als schlimmer darstellte, als er war. Erst 1943 erhielt er die für Kriegsblinde üblichen Rentenzahlungen mit Blindenzulage. 1351 BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, NSKOV Fachabt. Erblindeter Krieger an den Herrn Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda vom 19.5.1941, Betreff: Rundfunkempfangsgeräte für Kriegsblinde des jetzigen Einsatzes. 192 können die Auswirkungen des „Luftkrieges“ sowie Verletzungen durch „Fundmunition“1352 angenommen werden.1353 Die Luftkriegsanstrengungen im Zweiten Weltkrieg erreichten ein großes Ausmaß. Allein die „US Air Force“ flog auf dem europäischen Kriegsschauplatz zwischen 1942 und 1945 insgesamt 2.310.465 Einsätze und warf dabei 1.463.423 Tonnen Bomben ab.1354 Rund 20.000 ÖsterreicherInnen fielen diesen Angriffen zum Opfer.1355 Mindestens 7.500 Zivilpersonen erlitten dauerhafte körperliche Beeinträchtigungen.1356 Wie hoch die Zahl der Erblindungen in der Bevölkerung war, ist aber nicht bekannt.1357 Haupt­ er­blin­dungs­ur­sa­che unter der Zivilbevölkerung waren Verletzungen durch Bombensplitter und versprengte Trümmerteile. Vereinzelt führten Unfälle bei den Aufräumarbeiten der zerstörten Gebäude zu Erblindungen. Viele Verwundungen erfolgten außerdem durch von den Streitmächten deponierte oder zurückgelassene Munition sowie sonstige Kampfmittel. Bei landwirtschaftlichen Arbeiten oder durch das Hantieren mit aufgefundenen Sprengkörpern kam es immer wieder zu Explosionen. Vor allem Kinder und Jugendliche erlitten durch gefundene Munition schwerste Verletzungen, die häufig verbunden waren mit dem dauerhaften Verlust von Gliedmaßen, insbesondere die Hände und Arme waren davon betroffen.1358 Nach den Angaben des Kriegsblinden Bernhard Lindmayr wurden auf diese Weise erblindete Kinder nach Kriegsende in Österreich umgangssprachlich „Sprengkapselbuben“1359 genannt: „Ich habe ein paar gekannt, der eine ist durch Bomben erblindet, mit fünf oder sechs Jahren, der andere, der ist am Schulweg erblindet, da haben sie einen Drehbleistift gefunden. Und den hebt sein Freund auf. […] Drückt auf den Knopf und […] [sagt] der geht ja gar nicht. Dieser Adolf K. sagt, gib her, das gibt’s doch gar nicht. Lass mich probieren. Und er drückt drauf. Das reißt ihm einige Finger weg. Verletzt ihn schwer an Bauch und Brust und beide Augen kaputt.“1360 Für die Zeit des Zweiten Weltkrieges existieren keine genauen Zahlen über die erblindeten Zivilpersonen, weil es offenbar Probleme bei der Erfassung der Betroffenen gab. Während die erblindeten Soldaten über den Sanitätsdienst der Wehrmacht direkt von der Kriegsopferversorgung registriert wurden, musste bei den Zivilpersonen die Meldung über die ÄrztInnen und Angestellten der öffentlichen und privaten Krankenanstalten erfolgen. Die vor allem gegen Ende des Krieges völlig überlasteten Einrichtungen kamen dieser Aufgabe allerdings nicht immer nach. Nach Angaben in der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ startete Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti daher im „Deutschen Ärzteblatt“ im Mai 1944 1352 Finck, Geschichte der Kurfürsorge, S. 74. 1353 Vgl. Ernst, 50 Jahre Kriegsopferversorgung, S. 225–320, hier S. 228. 1354 Vgl. Beer, Karner, Krieg aus der Luft, S. 338. 1355 Vgl. Beer, Karner, Krieg aus der Luft, S. 337. 1356 Vgl. Kapitel III.1.1. Nach Angaben von Hubert Fischer 1984 forderte der Luftkrieg in Deutschland 600.000 Tote und 620.000 Verletzte. Vgl. Fischer, Der deutsche Sanitätsdienst [Band 3], S. 1886. 1357 Vgl. Kapitel III.9. 1358 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 33; Finck, Geschichte der Kurfürsorge, S. 74; Ernst, 50 Jahre Kriegsopferversorgung, S. 225–320, hier S. 228–229. 1359 Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am 15.9.2006, Transkription S. 16. 1360 Lindmayr erwähnte nicht, woher dieser Drehbleistift kam. Vgl. Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am 15.9.2006, Transkription S. 16. 193 einen Aufruf, alle durch „Fliegerangriffe erblindeten Personen“1361 bei der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ zu melden.1362 Schwierigkeiten bereitete gegen Ende des Zweiten Weltkrieges auch die ärztliche Versorgung der Zivilbevölkerung. Zivil- und Militärlazarette wurden durch Bombentreffer zerstört, die Bettennot verschärfte sich ständig. Eine notwendige stationäre Krankenbehandlung war in vielen Fällen nicht mehr durchführbar. Die Strom-, Wasser- und Gasversorgung fiel nach Luftangriffen häufig aus.1363 Unter diesen Umständen konnten schwerwiegende Kopf- und Augenverletzungen nicht mehr adäquat versorgt werden. 1.3 Kriegsverletzungen und psychische Erkrankungen zusätzlich zur Blindheit „Es ist erschütternd. Man will nicht weiterleben. Man stellt sich Zeitziele. Wenn mir, [sic!] ich erinnere mich genau, wenn ich bis Weihnachten nicht mehr sehe, dann beende ich mein Leben selbst.“1364 Eine Erblindung ändert das Leben der Betroffenen schlagartig. Hans Schmalfuß, Schriftleiter der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“, zählte zu den Folgen einer Kriegserblindung eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit, „Erschwerung der geistigen Ernährung“1365, Verzicht auf optische Wahrnehmung, Verminderung der beruflichen Möglichkeiten, wirtschaftliche Nachteile, Verteuerung der Lebenserhaltungskosten durch das Angewiesensein auf Hilfsmittel und Isolierung von sehenden Menschen sowie Minderwertigkeitsgefühle.1366 Viele der Kriegsblinden hatten neben ihrer irreversiblen Augenverletzung noch weitere, zum Teil schwerwiegende, dauerhafte körperliche Beeinträchtigungen. Willi Finck gibt an, dass 58 Prozent der deutschen Kriegsblinden mehrfachbehindert waren.1367 In den Akten zur Versorgung der Kriegsblinden des HVA „Ostmark“ wurde bei rund einem Drittel, das waren 58 Betroffene, weitere dauerhafte körperliche Beeinträchtigungen vermerkt.1368 Sie reichten vom Verlust einiger Finger und Zehen bis zur Amputation ganzer Gliedmaßen. Einigen Kriegsblinden mussten mehrere Körperteile operativ entfernt werden. Die Detonation von Explosionsgeschossen fügte den Kriegsopfern häufig dauerhafte Hörschäden zu, die auch zur völligen Gehörlosigkeit führen konnten. Die Beschreibung der multiplen körperlichen Schädigungen, wie zum Beispiel im Fall des erst 20-jährigen Kriegsblinden Stefan M., konnte mitunter lang ausfallen. Der Unteroffizier verlor beide Augen, den rechten Oberarm bis zum Schultergelenk, mehrere 1361 O. A., Erblindete des Luftkrieges, S. 79. 1362 Vgl. o. A., Erblindete des Luftkrieges, S. 79. 1363 Vgl. Fischer, Der deutsche Sanitätsdienst [Band 3], S. 1883–1884. 1364 Interview mit Berhard Lindmayr vom 15.9.2006, Transkription S. 6. 1365 Schmalfuß, Reichsarbeitstagung der NSKOV, S. 195–99, hier S. 196. 1366 Vgl. Schmalfuß, Reichsarbeitstagung der NSKOV, S. 195–199, hier S. 196. 1367 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 27. 1368 Die Anerkennung einer zusätzlichen körperlichen Einschränkung zur Blindheit war vor allem von fürsorgerechtlicher Bedeutung. Nach dem WFVG erhielten BezieherInnen einer AVU-Rente eine erhöhte Blindenzulage. Vgl. Kapitel III.2.3. 194 Zähne, verletzte sich am linken Handrücken, erlitt eine beidseitige Innenohrschädigung, eine Verengung der Nasenhöhle und litt an Gelenksbeschwerden.1369 Die mannigfaltigen Folgen der Verletzungen waren schon durch die Behandlungen der Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges1370 bekannt und wurden in der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ auch thematisiert. Der Berliner Arzt Johannes Scherler nannte in einem 1938 veröffentlichten Beitrag über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Kriegsblinden Amputationsbeschwerden, Knochendefekte, Schlafstörungen sowie Verletzungen des Gesichtes, die beispielsweise dazu führen konnten, dass die Nasenatmung eingeschränkt war.1371 Anfang 1944 berichtete ein nicht näher genannter Autor über erblindete Soldaten in den Lazaretten: „Für Kameraden in der Zahnklinik, die außer dem Verlust des Augenlichts oft noch schwere Kieferverletzungen aufweisen, beginnt ein neuer Lebensabschnitt in dem Augenblick, in dem sie die erste Zigarette zwischen die Zähne bekommen.“1372 Als häufigste gesundheitliche Beeinträchtigung hoben die Autoren solcher Aufsätze in der NSKOV-Propagandaschrift „Der Kriegsblinde“ allerdings die Schlaflosigkeit hervor.1373 Bei Kriegsblinden, denen beide Augen entfernt werden mussten, sollte der Verlust des Lichteinflusses dafür verantwortlich sein.1374 Dass gerade die Störungen der Nachtruhe von der Zeitschrift der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“1375 so betont wurden, stand wohl auch damit in Zusammenhang, dass das Image des Kriegsblinden als „Held der Nation“ nicht durch die Beschreibung ihrer anderen, zum Teil schwerwiegenden körperlichen Behinderungen beeinträchtigt werden sollte.1376 Diese Intention verfolgte wohl auch der abgedruckte Vortrag eines im „Blindensammellazarett“ in Wien arbeitenden Arztes über die Versorgung der Kriegsblinden aus dem Jahr 1942 in einem Sonderabdruck. Der Autor Franz Schubert hebt darin hervor, dass die jungen erblindeten Soldaten „in verhältnismäßiger kurzer Zeit fröhlich und heitere Menschen“1377 wurden. Nur „hin und wieder“ könne ein „Blinder die Einstellung zu seiner Erblindung längere Zeit nicht finden […]; mit der Zeit wird er aber doch auch von der heiteren Stimmung der anderen mitfortgerissen […].“1378 1369 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Stefan M. 1370 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 121–127. 1371 Vgl. Scherler, Ursache der Schlafstörungen, S. 254–256, hier S. 255. 1372 E., An Kameradenbetten in Lazaretten, S. 1–2, hier S. 2. 1373 Vgl. Ludwig, Stand der erwerbs- und berufstätigen Kriegsblinden, S. 199–202, hier S. 201; Scherler, Ursache der Schlafstörungen, S. 254–256, hier S. 255; o. A., Blinde Volksgenossen, die schlecht schlafen, S. 85–86. 1374 Auch der kriegsblinde Autor Bernhard Lindmayr nimmt diese Ursache als Grund für seine Schlafstörungen an. Vgl. Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 219. 1375 Die NSKOV-Fachabteilung hieß bis 1940 „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ und wurde ab 1941 als „Fachabteilung erblindeter Krieger“ weitergeführt. Vgl. Kapitel III.3.3. 1376 Vgl. Kapitel III.3.5.1, III.3.5.2. 1377 Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 1–2. 1378 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 2. 195 Dass viele der Betroffenen schwerwiegende physische und psychische Beeinträchtigungen hatten, blieb in diesen Berichten weitgehend unerwähnt.1379 Der Verlust von Fingern oder Händen wirkte sich bei den Erblindeten aber besonders fatal auf ihr späteres Leben aus: Sie konnten das Lesen der Blindenschrift nicht oder nur sehr schwer erlernen. Für diejenigen unter ihnen, die beide Hände verloren, hatte sich bereits seit dem Ersten Weltkrieg der Begriff „Ohnhänder“ etabliert.1380 Otto Jähnl berichtet in seiner Arbeit von einem „kriegstaubblinden Ohnhänder“.1381 Mit diesen mehrfachen Behinderungen war er nicht allein: Zusammen mit vierzehn anderen, auf die gleiche Weise beeinträchtigten Kriegsopfern aus Deutschland, verbrachte Franz Hirmann nach Kriegsende jährlich einen Aufenthalt in einem Rehabilitationszentrum in Bad Berleburg (D).1382 Von den 661 Mitgliedern des Kriegsblindenverbandes im Jahr 1969 waren 14 beide Hände amputiert worden.1383 Mit Stichtag 1. Jänner 1993 hatten von den noch 360 Angehörigen des Kriegsblindenverbandes 50 im Krieg einen Fuß oder eine Hand verloren und neun beide Hände.1384 Nach einer Auflistung über die Gesamtzahl der Kriegsblinden in der DDR aus dem Jahr 1961 hatten rund 30 Prozent von ihnen folgende zusätzliche Beeinträchtigungen: 262 (11,9 Prozent) waren hörgeschädigt, 203 (9,2 Prozent) „gehirngeschädigt“, 39 (1,8 Prozent) „Ohnhänder“, 75 (3,4 Prozent) armamputiert und 61 (2,7 Prozent) beinamputiert.1385 Viele der Kriegsopfer hatten Narben am ganzen Körper. Diese waren unter anderem durch Granatsplitter verursacht worden. Diese Munitionsteile konnten häufig nicht entfernt werden und verblieben im Körper. Bernhard Lindmayr gab 2006 an, noch 105 solcher Geschossteile von der Größe eines Hirsekorns bis hin zu einem Maiskorn im Körper zu haben.1386 Die meisten dieser Splitter waren abgekapselt und verursachten keine Beschwerden. Sie konnten aber unter Umständen durch den Körper wandern oder sich entzünden. Die Betroffenen mussten diese dann oft noch Jahre nach der Kriegsverletzung operativ entfernen lassen. Schwer in Mitleidenschaft gezogen waren aber nicht nur die Körper der Kriegsopfer. Infolge ihrer Behinderung litten sie an „Minderwertigkeitskomplexen“.1387 Im Augenblick der Verletzung verhinderte zwar meist ein Schock die Wahrnehmung über die Tragweite der Verletzung.1388 Der Moment, in dem die Betroffenen allerdings realisierten, dass sie wahrscheinlich für immer blind bleiben würden, löste bei vielen eine schwere Depression aus.1389 In einer englischen Studie aus dem Jahr 1946 werden die Gedanken von erblindeten, britischen Soldaten folgendermaßen zusammengefasst: 1379 Zu den sozialen Problemindikatoren nach Kriegen vgl. Bieber, Die Hypothek des Krieges, S. 35–156. Zur Versorgung und Behandlung von „Kriegsneurotikern“ vgl. Blaßneck, Militärpsychiatrie im Nationalsozialismus. 1380 Der bekannteste „Ohnhänder“ unter den Kriegsblinden war Hans Hirsch. Vgl. Kapitel IV.3.3.4, IV.7. 1381 Jähnl, Kriegsblinden, S. 130. 1382 Dort fanden Lehrgänge für diese Betroffenen statt. Vgl. Nachrichten des Verbandes der Kriegsblinden Österreichs, Jg. XIIL., Nr. 6/7, (1973) S. 10, zitiert in: Jähnl, Kriegsblinden, S. 130. 1383 Vgl. o. A., Fünfzig Jahre Schicksalsgemeinschaft der österreichischen Kriegsblinden, S. 7–20, hier S. 15. 1384 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 131. 1385 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 75. 1386 Vgl. Interview mit Bernhard Lindmayr am 15.9.2006, Transkription S. 1. 1387 Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 80. [Schanzer war selbst Kriegsversehrter.] 1388 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 112; Abraham, Historische und gegenwärtige Aspekte, S. 54; 1389 Vgl. das Eingangszitat zu diesem Kapitel von Bernhard Lindmayr; Wittkower, Davenport, The war blinded, pp. 121–137, hier p. 127. 196 „They believe that they will be a burden of their families, incapable of looking after themselves, of carrying on with their old trade or even of earning a living. If they are married, they wonder how their wives will take it – will she think the same of me? If they are single, they believe that no girl will care for them.“1390 Teilweise kam es bei den Kriegsopfern durch Verletzungen des Gehirnes oder die traumatischen Kriegsereignisse zu noch schwerwiegenderen psychischen Beeinträchtigungen.1391 So zeigten rund 15 Prozent der englischen Kriegsblinden des Zweiten Weltkrieges, die in der Rehabilitationseinrichtung St. Dunstan untergebracht waren, gravierendere Ver­hal­ tens­auf­fäl­lig­kei­ten, die von einer aggressiven Psychose bis zu Schizophrenie reichten.1392 Auch in den Akten der Kriegsblinden des HVA „Ostmark“ sind solche psychischen Folgeschäden vermerkt. Versorgungsrechtlich waren sie damals deshalb relevant, weil sie die „Arbeitsfähigkeit“ der Kriegsinvaliden beeinträchtigten.1393 Der 1924 geborene Josef B. musste so laut einer Mitteilung in seinen Fürsorgeakten wegen seines „Nervenzustandes“1394 seiner Grundausbildung im Reservelazarett Wien fernbleiben. Josef B. hatte im September 1943 einen Schädelbruch erlitten und gab an, häufig an Kopfschmerzen zu leiden. Im Februar 1945 sollte der 20-Jährige seine berufliche Rehabilitation fortsetzen. Im März 1945 wurde auch eine erneute „Berufsberatung“ durchgeführt. In dem Bericht hieß es dazu, dass B. „offenbar zu Depressionszuständen“1395 neigen würde. Trotzdem wollte Ferdinand Ehmann, der Gebietsleiter der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ für die „Alpen- und Do­nau­reichs­gaue“, dass B. an einer Schulung zum Betriebstelefonisten teilnahm. Er sollte dann in einer Arbeitsstelle mit geringerer Beanspruchung eingesetzt werden.1396 Die Folgen von Hirnverletzungen waren bei einigen Betroffenen allerdings so schwer, dass sie als „arbeitsunfähig“ galten und nach der Entlassung aus der Wehrmacht dauerhafter Pflege bedurften.1397 Zu diesen schwer beeinträchtigten Kriegsblinden zählte beispielsweise Gustav Atteneder. Auf Grund seiner Hirnverletzungen lebte er nach Kriegsende in der geschlossenen Anstalt „Am Steinhof“. Seine Ehefrau nahm ihn im Februar 1957 gegen Revers mit nach Hause. Am 5. September 1957 wurde Frau Atteneder, Mutter von drei Kindern, von ihrem Mann aus nicht näher bekannten Gründen erschossen.1398 Für diese 1390 Wittkower, Davenport, The war blinded, pp. 121–137, hier p. 122. 1391 Zu den so genannten „Kriegsneurosen“ und der Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg vgl. Komo, Militärpsychiatrie in den Weltkriegen. 1392 Vgl. Wittkower, Davenport, The war blinded, pp. 121–137, hier p. 127. 1393 Vgl. Kapitel III.3.5.1, III.4.2. sowie weiterführend Webers, Die Beschäftigung von Kriegsblinden, S. 90–92. 1394 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Josef B.; HVA Wien, Bericht über die Berufsberatung Kriegsblinder im Reservelazarett IXa Wien vom 7.3.1943. 1395 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Josef B.; HVA Wien, Bericht über die Berufsberatung Kriegsblinder im Reservelazarett IXa Wien vom 7.3.1943. 1396 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Josef B.; HVA Wien, Bericht über die Berufsberatung Kriegsblinder im Reservelazarett IXa Wien vom 7.3.1943. 1397 Vgl. Kapitel III.10.3. 1398 Vgl. Nachrichten des Verbands der Kriegsblinden Österreichs, Nr. 10, Jg. XXVI (1957), S. 107 zitiert in: Jähnl, Kriegsblinden, S. 125. 197 Tat kam er in Untersuchungshaft, wurde in eine geschlossene Einrichtung eingewiesen und entmündigt.1399 1.4 Die Sanitätsversorgung der erblindeten Soldaten Die Sanitätsversorgung der deutschen Landstreitkräfte war von Beginn des Zweiten Weltkrieges an mangelhaft. Dies hing unter anderem mit dem „Blitzkrieg“ zusammen: Die zurückliegenden Sanitätseinheiten hatten erhebliche Schwierigkeiten, den Anschluss zu den sich schnell bewegenden Fronteinheiten zu halten.1400 Generell erfolgte der Rücktransport von verwundeten oder erkrankten Soldaten über folgende Stationen: Vom so genannten „Verwundetennest“ über den Truppen- zum Hauptverbandsplatz, von dort über das Feld- und Kriegslazarett schließlich zum Reservelazarett1401 in die Heimat.1402 Die erste ärztliche Hilfe erhielt ein Verwundeter durch den Truppenarzt auf dem Truppenverbandsplatz seines Bataillons oder seiner Abteilung.1403 Viele der Augenverletzten wurden dort das erste Mal operiert, und wenn die medizinische Indikation dazu bestand, wurden ein oder beide Augen entfernt.1404 In den Feldlazaretten war allerdings nur eine Notfallversorgung möglich, da für die operativen Eingriffe nur in geringem Umfang augenärztliches Operationsbesteck zur Verfügung stand, etwa ein Ophthalmoskop, eine batteriebetriebene Taschenlampe und Sehprobentafeln.1405 Vor allem zu Kriegsbeginn war die Behandlung Augenverletzter in der Wehrmacht unzureichend. In Frontnähe gab es kaum fachärztliche Abteilungen. Dabei war aber für die Genesung einer Augenverletzung die Zeit, die bis zur medizinischen Versorgung verging, von entscheidender Bedeutung.1406 Je schneller eine entsprechend fachärztliche Behandlung erfolgte, um so eher bestand die Chance einer Heilung ohne irreversible Schädigung. Aber erst die von der Front weiter entfernten Kriegslazarette waren auf umfassendere ophthalmologische Operationen eingerichtet.1407 In den Augenabteilungen Warschau der Lazarettbasis Ost kamen aber bis zum September 1942 rund 36 Prozent der Augenverletzten mit einer Verzögerung von 7,7 Tagen unversorgt an. Bei Fällen, die bereits im Vorfeld behandelt werden konnten, dauerte es im Schnitt 16,6 Tage. Bei 26 bis 33 Prozent aller Fälle musste eine chirurgische Nachversorgung erfolgen. Diese Eingriffe bestanden zu 56 Prozent in der 1399 Vgl. Nachrichten des Verbands der Kriegsblinden Österreichs, Nr. 11, Jg. XXVI. (1957), S. 120, zitiert in: Jähnl, Kriegsblinden, S.125–128. 1400 Vgl. Eckart, Krankheit und Verwundung im Kessel, S. 69–91, hier S. 70. 1401 Vgl. Kapitel III.4.1, III.4.2. 1402 Vgl. Guth, Sanitätsdienst der Wehrmacht, S. 11–24, hier S. 12. 1403 Vgl. Fischer, Notchirurgie, S. 47–76, hier S. 48. 1404 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Alexander S.; Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am 15.9.2006, Transkription S. 2. 1405 Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 174. 1406 Vgl. Wong, Seet, Ang, Eye injuries, pp. 433–459, hier p. 433; F. Ring, Zur Geschichte der Militärmedizin in Deutschland, Berlin 1962, S. 313, zitiert in: Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 336; Fronimopoulos, Augenärztliche Erfahrungen, S. 542–550, hier S. 549. 1407 Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 175. 198 Entfernung der Augäpfel.1408 Bis zum Beginn der Rückzugsbewegungen der Wehrmacht 1943 konnte die Versorgung von Augenverwundungen allerdings verbessert werden.1409 Wohl auch, um auf die Dringlichkeit ihrer Behandlung hinzuweisen, bekamen an den Augen oder am Kopf verletzte Soldaten auf den „Verwundetenbegleitzetteln“, die den Betroffenen von der Erstversorgung bis zum Heimatlazarett mitgegeben wurden, den Eintrag: „Spezialfall Auge“.1410 Die augenärztliche Versorgung der Soldaten bekam demnach erst im Verlauf des Zweiten Weltkrieges im Sanitätsdienst der Wehrmacht eine vergleichsweise hohe Bedeutung.1411 Die operativ-taktische Vorgehensweise der Wehrmacht erschwerte allerdings die Versorgung der Verwundeten. Es kam an der Ostfront zu Einschließungen von ganzen „Armeen“ und zu so genannten „wandernden Kesseln“.1412 Stalingrad war einer der wenigen starren „Kessel“. Dies führte wiederum zu Problemen bei der Sanitätsversorgung, die auf längerfristige Einkesselungen sowie umfangreiche Rückzugsbewegungen nicht eingerichtet war. Gekennzeichnet war die unzureichende medizinische Versorgung unter anderem durch zu geringe Transportkapazitäten. Sanitätsmaterialien konnten nicht in die Hauptkampfzone gebracht werden, weil der Großteil der Transportmittel für die Heranführung neuer Verbände und den Munitionstransport benötigt wurde. Gleichzeitig konnten Verwundete nicht mehr in angemessener Zeit und in angemessenem Umfang in rückwärtige Lazarette gebracht werden. Aus den „Kesseln“ zum Beispiel war ein Abtransport nur mehr mit Flugzeugen möglich, in denen die Anzahl der Liegeplätze stark beschränkt war. Nur wenige Schwerverletzte konnten mit Sanitätsflugzeugen ausgeflogen werden.1413 Gesichts- und Hirnverletzungen, die im Überlebensfall oft zum Verlust eines Auges oder beider Augen führten, zählten unter diesen Umständen zu den Verwundungen mit dem höchsten Sterblichkeitsrisiko.1414 In den überlieferten Akten des HVA „Ostmark“ befinden sich die Dokumente von zwei Soldaten, die in Stalingrad schwer verwundet wurden, aber überlebten. Der Obergefreite Wenzel L. aus Dresden verletzte sich, einen Tag bevor sich der „Kessel von Stalingrad“ schloss, am 21. November 1942, durch eine Handgranate. Dabei verlor er nicht nur seine Augen, sondern auch seinen linken Unterarm. Er überlebte und kam zur Rehabilitation 1943 nach Wien.1415 Leopold W. aus dem Kreis Rohrbach (Oberösterreich) erblindete rund drei Wochen vor der endgültigen Niederlage in Stalingrad durch eine Mine. Neben seiner Augenverletzung hatte er noch Erfrierungen an mehreren Fingern. Auch er wurde noch vor der Kapitulation in Stalingrad am 2. Februar 1943 ausgeflogen und kam nach Wien in das dortige Reservelazarett für Kriegsblinde.1416 1408 Vgl. F. Ring, Zur Geschichte der Militärmedizin in Deutschland, Berlin 1962, S. 313, zitiert in: Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 335. 1409 Vgl. Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 336. 1410 Vgl. Scholz, Divisionsarzt einer Panzerdivision, S. 77–100, hier S. 94. 1411 Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 175. 1412 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 111. 1413 Vgl. Eckart, Krankheit und Verwundung, S. 69–91, hier S. 70–71. 1414 Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 166; Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 334. 1415 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 5, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Wenzel L. 1416 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Leopold W. 199 In den letzten Kriegsmonaten wurde die Infrastruktur des Sanitätswesens im „Deutschen Reich“ und in den noch besetzten Gebieten schließlich immer ineffizienter.1417 Vor allem für die schwerverletzten Soldaten, die in den letzten Wochen des Krieges verwundet wurden, hatte dies negative Folgen. Obwohl sie nach ihren Augenoperationen zur Steigerung der Heilungsprognose Ruhe benötigten, mussten sie mit den anderen Verwundeten den Rückzug antreten oder wurden auf Grund mangelnder Transportmöglichkeiten zurückgelassen. Der Wiener Walter Malasek war gegen Ende 1944 in Debiza (Polen) schwer an den Augen und am Kiefer verwundet worden. Außerdem musste ihm ein Arm amputiert werden. Mit einem Flugzeug war er vom Hauptverbandsplatz nach Krakau gekommen, wo sein linkes Auge entfernt wurde. Das andere konnte allerdings noch operiert werden und nach dem Eingriff erkannte er durch die Augenklappe einen Lichtschein. Zwei Tage nach der Operation wurde das Lazarett auf Grund der herannahenden sowjetischen Truppen nach Görden bei Brandenburg verlegt. Durch den Transport entstand ein Bluterguss in seinem linken Auge: Malasek verlor in der Folge auch auf dieser Seite sein Sehvermögen.1418 Bernhard Lindmayr wurde am 24. April 1945 schwer verwundet. Er befand sich in einem Lazarett in Tabor, das nur wenige Tage nach seiner Einlieferung evakuiert werden sollte. Der Stabsarzt erklärte den Schwerverletzten allerdings für nicht transportfähig, da für die Beförderung nur ein Güterzug ohne entsprechende Sanitätseinrichtungen mit Strohsäcken auf dem Boden zur Verfügung stehen würde. Aus Angst vor Repressalien durch die gegnerischen Truppen und mit Hilfe eines anderen Soldaten konnte er aber dann doch seine Mitnahme erreichen.1419 Die mangelhafte Sanitätsversorgung führte demnach zu weiteren Erblindungen, die bei einer schnelleren und besseren medizinischen Versorgung unter Umständen vermeidbar gewesen wären. 1.5 Resümee In diesem Kapitel konnte veranschaulicht werden, wie mannigfaltig die Ursachen von Kriegserblindungen im Zweiten Weltkrieg waren. Besonders tragisch für die Betroffenen war, dass ihre Blindheit häufig nicht die einzige Beeinträchtigung war, die sie durch eine Kriegsverletzung erlitten hatten. Die zusätzlichen körperlichen und seelischen Schäden erschwerten eine „Rückkehr“ in ihr gewohntes alltägliches Leben nach Beendigung der Rekonvaleszenz. Durch den zusätzlichen Verlust von Fingern, Armen oder anderen Körperteilen konnten einige Kriegsblinde nicht auf die Hilfsmittel zurückgreifen, die blinden Menschen ansonsten den Alltag erleichterten. Beinamputierte, die sich nur mit Hilfe von Krücken fortbewegen konnten, waren nicht in der Lage, einen Blindenstock zu verwenden. Ihre Gesichter waren teilweise vernarbt und entstellt, was ihr Selbstvertrauen zusätzlich beeinträchtigte und Minderwertigkeitskomplexe verstärkte. Viele Kriegsblinde hatten daher Schwierigkeiten, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Viele suchten 1417 Vgl. Guth, Sanitätsdienst der Wehrmacht, S. 11–24, hier S. 20. 1418 [Malasek], Vom Waffenrock zum Blindenstock, S. 1–57, hier S. 15–17 [Bibliothek BBI]. 1419 Vgl. Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 202–203. 200 folglich mehr Kontakt zu anderen Kriegsblinden, die für ihre physische und psychische Verfassung mehr Verständnis aufbringen konnten, als zu Menschen, die nicht das gleiche Schicksal erlebt hatten und deren Umgang mit Kriegsblinden auch von Mitleidsgefühlen bestimmt war.1420 1420 An dieser Stelle wird weiterführend auf die persönlichen Berichte vieler Kriegsblinder in dem 2000 veröffentlichten Jahrbuch des „Bund der Kriegsblinden Deutschlands e. V.“ verwiesen. Vgl. Bund der Kriegsblinden Deutschlands e. V. (Hrsg.), Kriegsblinden Jahrbuch 2000, Bonn 2000 [Selbstverlag]. 201 2.Gesetzliche Grundlagen und Versorgung der Kriegsblinden 2.1 Überblick: Gesetzeslage und die Grundsätze der nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung Die Kriegsopfer des Ersten Weltkrieges wurden in Österreich nach den Bestimmungen des seit dem 1. Juni 1919 gültigen „Invalidenentschädigungsgesetzes“ (IEG) versorgt, das bis 1938 fünfzehnmal novelliert wurde.1421 Die Kriegsblinden zählten zu den Kriegsversehrten mit den höchsten versorgungsrechtlichen Ansprüchen des Ersten Weltkrieges.1422 Trotzdem verschlechterte sich auch ihre ökonomische Situation durch die Weltwirtschaftskrise, unter anderem durch die damit einhergehende Geldentwertung. Mehr als die Hälfte aller Kriegsblinden besaß eine Trafik, 1929 hatten 223 von 309 rentenversorgten Kriegsblinden eine solche Verkaufsstelle.1423 Durch den „Anschluss“ 1938 sollten sich die gesetzlichen Grundlagen ändern und die Bestimmungen des „Deutschen Reiches“ eingeführt werden. Aus organisatorischen Gründen blieb die österreichische Kriegsopferversorgungsgesetzgebung zunächst allerdings bestehen. Der Reichsarbeitsminister verfügte aber per Erlass vom 1. April 1938, allen IEGRentenempfängern eine außerordentliche Zuwendung auszuzahlen,1424 in der Höhe der sonst nur im Dezember fälligen Zulagen.1425 Zudem wurden den Betroffenen unmittelbar nach dem „Anschluss“ weitere Sondermittel in Aussicht gestellt.1426 In den Publikationsorganen für Kriegsblinde wurde das NS-Regime als eine Regierung dargestellt, die großes Verständnis für die Bedürfnisse der Kriegsopfer zeigen würde. Die Kriegsblinden und andere Kriegsopfer sollten dahingehend beeinflusst werden, dass sie zu AnhängerInnen der NS-Regimes wurden.1427 Anstelle des „Invalidenentschädigungsgesetzes“ (IEG) trat am 1. Oktober 1938 das „Reichsversorgungsgesetz“ (RVG) zunächst teilweise in Kraft.1428 1421 Vgl. Hasiba, Kriegsopferversorgung seit 1945, S. 21–32, hier S. 21. Zur Versorgung der Kriegsblinden und anderen Kriegsopfer des Ersten Weltkrieges vgl. u. a. auch die dort angegebene Literatur: Hoffmann, Kriegsblinde; Cohen, Disabled Veterans; Kienitz, Beschädigte Helden. 1422 Mit der VII. Novelle des IEG vom 7. Juli 1922 bekamen die Kriegsblinden einen Rentenzuschuss ausbezahlt, der höher war als für allen anderen als „hilflos“ eingestuften Kriegsversehrten. Vgl. [Ö] StGBl., Nr. 439/1922, Bundesgesetz zur Abänderung und Ergänzung des Invalidenentschädigungsgesetzes [VII. Novelle des IEG], § 15.2; [Ö] StGBl., Nr. 256/1924, Bundesgesetz zur Abänderung und Ergänzung des Invalidenentschädigungsgesetzes vom 18. Juli 1924 [VIII. Novelle des IEG]; Hoffmann, Kriegsblinde, S. 143–144. 1423 Vgl. o. A. Die gesetzlichen Grundlagen der Trafikverleihungen an Kriegsblinde, S. 60–63, hier S. 61. Vgl. Kapitel III.5.5. 1424 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 56, Zl. 1944, Ministerium für soziale Verwaltung an alle Landesinvalidenämter vom 6.4.1938, Betreff: Einmalige Zuwendung an die Rentenempfänger. 1425 Vgl. Ehmann, Einführung des Reichsversorgungsgesetzes, S. 313–317, hier S. 313. 1426 Vgl. Ehmann, Einführung des Reichsversorgungsgesetzes, S. 313–317, hier S. 313; o. A., Hilfe für Österreichs Kriegsopfer, S. 156. 1427 Vgl. Diehl, Disabled Veterans, pp. 705–736, hier pp. 705–706. 1428 Dieses Gesetz galt für die Kriegsgeschädigten und Kriegshinterbliebenen des Ersten Weltkrieges und Personen, die im Zuge einer militärischen Dienstleistung vor dem 14. März 1938 einen Versorgungsanspruch nach dem IEG erworben hatten. Vgl. GBlÖ, Nr. 450/1938, Verordnung über die Einführung von Versorgungsgesetzen vom 24. September 1938. 202 Für die Angehörigen der so genannten „neuen deutschen Wehrmacht“ wurde das „Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsgesetz“ (WFVG) am 26. August 1938 erlassen.1429 Mit geringen Abweichungen galt das WFVG auch für die Versorgung der im Reichsarbeitsdienst erblindeten „Arbeitsmänner“.1430 Die im WFVG enthaltenen versorgungsrechtlichen Bestimmungen waren ursprünglich auf die „üblichen Schadensfälle eines Militärdienstes“1431 ausgerichtet und im Falle eines Krieges nicht ausreichend.1432 Auf Grund der Kriegsvorbereitungen wurde daher als Erweiterung der Bestimmungen des WFVG das „Einsatzfürsorge- und -versorgungsgesetz“ (EWFVG) am 6. Juli 1939 verkündet.1433 Für ZivilistInnen, die durch die Kampfhandlungen des Zweiten Weltkrieges „Schäden an Leib oder Leben“ erlitten hatten, galt die „Verordnung über die Entschädigung von Personenschäden“ (Personenschädenverordnung) vom 1. September 1939.1434 Diese Verordnung war damit am Tag des deutschen Überfalles auf Polen erlassen worden und trat rückwirkend mit 26. August 1939 im „Deutschen Reich“ in Kraft. Dies ist damit ein weiteres Indiz dafür, dass dieser Krieg von langer Hand vorbereitet worden war. Für die Betroffenen galten die §§ 66 bis 135 des WFVG, die die Versorgungsansprüche von Kriegsgeschädigten und deren Angehörigen regelten.1435 Relevant für die Integration der Kriegsopfer in die Arbeitswelt war das bereits in Zusammenhang mit den Zivilblinden ausführlich vorgestellte „Invalidenbeschäftigungsgesetz“.1436 Es blieb bis 1945 in Kraft, wurde aber 1940 weitgehend an die Bestimmungen des deutschen „Gesetzes zur Beschäftigung Schwerbeschädigter“ angepasst. Die nationalsozialistische Kriegsopferversorgung basierte offiziell auf folgenden Grundsätzen: Der Anspruch der Soldaten auf Versorgung entstand aus einer Dienstleistung für die „Volksgemeinschaft“.1437 Ausmaß und Höhe der versorgungsrechtlichen Ansprüche sollten sich gemäß der NS-Ideologie daran orientieren, welche „Leistungen“ und „Opfer“ die Betroffenen erbracht hatten.1438 Kriegsblinde nahmen aber in dem komplexen fürsorgerechtlichen Konstrukt der NSZeit eine Sonderstellung ein. Gesetzlich manifestiert wurde dies beispielsweise durch die Verordnung über die Fürsorge für Kriegsblinde und „hirnverletzte“ Kriegsgeschädigte vom 28. Juni 1940.1439 1429 Vgl. GBlÖ, Nr. 411/1938, Fürsorge- und Versorgungsgesetz für die ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht und ihre Hinterbliebenen (WFVG) vom 26. August 1938. 1430 Vgl. Schwendy, Versorgung und Fürsorge, S. 105–109, hier S. 108; Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 85–87. 1431 Hasiba, Kriegsopferversorgung, S. 21–32, hier S. 22. 1432 Vgl. Diehl, The Thanks of the Fatherland, p. 43. 1433 Vgl. GBlÖ, Nr. 879/1939, Fürsorge- und Versorgungsgesetz für die ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht bei besonderem Einsatz und ihre Hinterbliebenen – Einsatzfürsorge- und -versorgungsgesetz (EWFVG) vom 6. Juli 1939. 1434 Vgl. GBlÖ, Nr. 1201/1939, Verordnung über die Entschädigung von Personenschäden (Personenschädenverordnung) vom 1. September 1939. 1435 Vgl. Kapitel III.9. 1436 Vgl. Kapitel II.2.2.3. 1437 Vgl. Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 185. 1438 Vgl. o. A., Rückschau und Ausblick, in: Der Kriegsblinde, Nr. 1, Jg. 18 (1934), S. 6. 1439 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Fürsorge für Kriegsblinde und hirnverletzte Kriegsbeschädigte vom 28. Juni 1940, S. 937. 203 In den Bestimmungen des WFVG stand der Gedanke der Rehabilitation und In­te­ gra­ti­on in die Arbeitswelt vor dem der Rentenversorgung.1440 Hauptziel des NS-Regimes war es, dass möglichst alle Betroffenen einem Beruf nachgingen.1441 Während erblindete Soldaten nach dem IEG als „Hilfslose“ und nach dem RVG als „erwerbsunfähig“1442 eingestuft wurden,1443 galten sie nach der Einschätzung der zuständigen Beamten der na­tio­ nal­so­zia­lis­ti­schen Kriegsopferversorgung als „arbeitsverwendungsfähig“1444. Das WFVG sollte das nationalsozialistische Leistungsprinzip umsetzen. Renten bekamen durch die NS-Propaganda ein negatives Image. Anton Schanzer, ein selbst Kriegsversehrter Dissertant der Wirtschaftswissenschaften schrieb ihnen 1944 beispielsweise eine „lähmende Wirkung auf den Lebens- und Arbeitswillen“1445 zu. Die im Folgenden beschriebenen Versorgungsansprüche und -leistungen für Kriegsblinde waren auch von propagandistischem Kalkül indiziert: Kriegserblindete zogen nach ihrer Entlassung aus der Wehrmacht große Aufmerksamkeit in der Bevölkerung auf sich, da der Verlust des Sehvermögens als eine der schlimmsten Formen einer Behinderung galt. Kriegsblinde sollten sich daher in ihrem Umfeld nach dem geleisteten Militärdienst über ihre Versorgungsleistungen möglichst positiv äußern: „Denn ist erst einmal ein Kriegsversehrter unzufrieden, so zieht das die Mißstimmung seiner Angehörigen und Bekannten nach sich, die in ihm ein bedauernswertes Wesen sehen, dem geholfen werden muß.“1446 Das NS-Regime befürchtete einen Stimmungsumschwung seiner AnhängerInnenschaft, wenn die Kriegsversehrten nicht, wie propagandistisch versprochen, bestmöglich versorgt gewesen wären. Dies hätte nach Meinung von beispielsweise Schanzer die „Geschlossenheit des Volksbewußtseins“1447 beeinträchtigt. 2.2 „Reichsversorgungsgesetz“ (RVG) Die Kriegsopfer des Ersten Weltkrieges in Deutschland wurden nach den Bestimmungen des RVG versorgt. Das Gesetz war im Mai 1920 erlassen worden.1448 Rund ein Jahr nach der 1440 Vgl. Schwendy, Fürsorge und Versorgung, S. 90–100, hier S. 90; Diehl, The Thanks of the Fatherland, p. 50. 1441 Vgl. o. A., Gauleiter der Ostmark vor Kriegsblinden, in: Der Kriegsblinde, Nr. 3, Jg. 23 (1939), S. 73–74. 1442 Vgl. Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 270–271. 1443 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 142. 1444 BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Tagesordnung und Niederschrift über die Tagung am 10. und 11.11.1942, Betreff: Erblindete Soldaten, S. 6; Kapitel III.2.3. 1445 Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 65. 1446 Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 61. 1447 Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 53. 1448 Viele Kriegsopfer empfanden die Bestimmungen des RVG als unzureichend, auch wenn die Höhe der zugebilligten Renten durchaus höher war, als in anderen Ländern wie England oder Frankreich. James Diehl ging daher davon aus, dass nicht nur durch die Weltwirtschaftkrise bedingte Rentenkürzungen, sondern auch andere Gründe dafür verantwortlich waren, dass dieses Gesetz von einigen Betroffenen negativ beurteilt wurde: „[…] it failed to meet the psychological needs of German war victims.“ Vgl. Diehl, Disabled Veterans, pp. 705–736, hier p. 718; Cohen, Disabled Veterans, insb. pp. 4–6. 204 Machtübertragung an Hitler am 30. Jänner 1933 erfuhr das RVG eine seiner wichtigsten Änderungen unter dem NS-Regime: 1934 wurde eine Frontzulage für Kriegsgeschädigte, die am Kampfplatz verwundet worden waren, eingeführt.1449 Am 24. September 1938 wurde das RVG mit einigen Einschränkungen in der „Ostmark“ verkündet und das IEG außer Kraft gesetzt.1450 Die Verordnung galt ab 1. Oktober 1938. Allerdings richteten sich Art, Umfang, Gewährung und Durchführung der so genannten „Heilbehandlung“1451 sowie die Bezahlung der fachlichen und ärztlichen Leistungen weiterhin nach den Vorschriften des IEG.1452 Die Aufhebung der österreichischen Versorgungsgesetzgebung für Kriegsgeschädigte und die Einführung der Regelungen des „Altreiches“ sollte demnach erst schrittweise erfolgen. Was sich ab 1. Oktober 1938 aber sofort änderte, waren die Renten der Kriegsversehrten. Für einige der Betroffenen bedeutete dies eine Erhöhung ihrer Bezüge. Es sollte zu keiner Schlechterstellung kommen, da keine niedrigeren Renten als nach dem IEG ausbezahlt wurden.1453 Nach den Bestimmungen des RVG in der Fassung, die am 1. Oktober 1938 in der „Ostmark“ in Kraft trat, erhielten Kriegsblinde die Vollrente.1454 Diese bestand aus einer „Grundrente“, der „Schwerbeschädigtenzulage“, einer „Ausgleichszulage“ und gegebenenfalls einem Zuschuss für Kinder bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres.1455 Die Frontzulage wurde in der „Ostmark“ zunächst nicht eingeführt.1456 Dies geschah erst mit einer „Verordnung über die Versorgung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen“ vom 28. Februar 1939.1457 Auf Grund einer Änderung des RVG vom 31. März 1939 wurde das RVG in einer neuen Fassung am 1. April 1939 in der „Ostmark“ verkündet. Dem Wortlaut dieser Gesetzesänderung entsprechend erhielten Kriegsblinde „stets die Rente eines Erwerbsunfähigen“.1458 Kriegsblinden stand im Regelfall die höchste Pflegezulage zu.1459 Kriegsblinde betraf dabei insbesondere die Abänderung des § 62 des RVG. Dieser regelte das Ruhen der Versorgungsansprüche, wenn sie nach dem RVG Versorgungsberechtigte einer Beschäftigung im öffentlichen Dienst nachgingen. Für als „erwerbsunfähig“ eingestufte Kriegsversehrte und die Empfänger einer Pflegezulage – beides traf auf die Kriegsblinden zu – galt diese Vorschrift nicht. Ihre Rentenbezüge wurden also nicht reduziert, wenn sie wieder einer Erwerbstätigkeit nachgingen.1460 Diese Regelung war ein Anreiz für die schwergeschädigten Kriegsopfer, wieder einer Tätigkeit nachzugehen. 1449 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Gesetz über die Änderung auf dem Gebiete der Reichsversorgung vom 3. Juli 1934, S. 541–544; Vgl. Diehl, Disabled Veterans, pp. 705–736, hier pp. 720–721. 1450 Vgl. GBlÖ, Nr. 450/1938, § 5a. [Das IEG trat laut dieser Verordnung dezidiert außer Kraft, obwohl einige Vorschriften, wie beispielsweise zur „Heilbehandlung“, weiterhin gültig bleiben sollten.] 1451 GBlÖ, Nr. 450/1938, § 2.3. 1452 Vgl. GBlÖ, Nr. 450/1938, § 2.3. 1453 Vgl. Ehmann, Einführung des Reichsversorgungsgesetzes, S. 313–316, hier S. 314. 1454 Vgl. GBlÖ, Nr. 450/1938, RVG, § 29. 1455 Vgl. GBlÖ, Nr. 450/1938, RVG, §§ 29, 30. 1456 Vgl. GBlÖ, Nr. 450/1938, RVG, §§ 29, 30. 1457 Mit dieser Verordnung traten einige Bestimmungen des „Gesetzes über die Änderung auf dem Gebiete der Reichsversorgung“ vom 3. Juli 1934 in Österreich in Kraft. Vgl. GBlÖ, Nr. 374/1939, Verordnung über die Versorgung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen vom 28. Februar 1939. 1458 GBlÖ, Nr. 459/1939, Neue Fassung des Reichsversorgungsgesetzes vom 1. April 1939, § 27,4. 1459 Vgl. GBlÖ, Nr. 459/1939, Neue Fassung des Reichsversorgungsgesetzes vom 1. April 1939, § 31,1. 1460 Vgl. GBlÖ, Nr. 459/1939, § 62,4. 205 Im Vergleich mit dem IEG bekamen nach dem RVG verheiratete Kriegsgeschädigte, deren Erwerbsunfähigkeit als 50 Prozent und höher beurteilt worden war, eine Frauenzulage.1461 Höher als nach den Sätzen des IEG fiel die Kinderzulage aus. Allerdings endete die Auszahlung nicht wie im IEG vorgesehen nach Vollendung des 18. Lebensjahres,1462 sondern bereits nach Beendigung des 16. Lebensjahres.1463 Die Höhe der Bezüge nach dem RVG richtete sich auch nach dem Wohnort der Betroffenen.1464 Aus einer Vergleichstabelle der Reichsversorgung, gültig ab 1. November 1938, geht allerdings hervor, dass diese Ortszulagen in der „Ostmark“ je nach Grad der „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ meist deutlich niedriger waren als im „Altreich“.1465 Für die Kriegsblinden von Bedeutung waren auch die Bestimmungen des RVG zur „Heilbehandlung“. Diese umfasste die ärztliche Behandlung, Versorgung mit Medikamenten, Gewährung von Kuren in einer Heilanstalt,1466 Ausstattung mit Hilfsmitteln sowie den Anspruch auf Instandhaltung und Ersatz Letzterer. Das galt auch für Führhunde. Für den Unterhalt der Hunde erhielten deren Besitzer jährlich zwischen 180 und 240 RM. Die Höhe war davon abhängig, unter welche Ortsklasse die Betroffenen fielen.1467 Die Kriegsversehrten, die nach dem RVG versorgt wurden, hatten darüber hinaus Anspruch auf „soziale Fürsorge“1468. Darunter waren in erster Linie Maßnahmen zu verstehen, die den Kriegsversehrten in die Berufswelt integrieren sollten. Kriegsblinde konnten demnach eine unentgeltliche Ausbildung oder Umschulung für den beruflichen Wiedereinstieg absolvieren. In der „Ostmark“ wurde dieser Paragraph nach dem „Anschluss“ insbesondere für Kriegsblinde des Ersten Weltkriegs relevant, die Besitzer einer Tabaktrafik waren. Da ihre Geschäfte nicht mehr ausreichenden Gewinn abwarfen, wurden sie zu Bürstenbindern umgeschult, um neben ihrem Trafikgeschäft eine weitere Einnahmequelle zu haben.1469 Für die Kriegsblinden und „Hirnverletzten“ wurde außerdem in § 22 b des RVG explizit festgelegt, dass die Hauptfürsorgestellen der Kriegsgeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge für ihre Versorgung zuständig waren.1470 1461 Vgl. GBlÖ, Nr. 459/1939, § 29; Ehmann, Einführung des Reichsversorgungsgesetzes, S. 313–317, hier S. 314. 1462 Vgl. [Ö] StGlB., Nr. 245/1919, Gesetz über die staatliche Entschädigung der Kriegsinvaliden, -witwen und -waisen (Invalidenentschädigungsgesetz) vom 25. April 1919, § 15,1. 1463 Vgl. GBlÖ, Nr. 459/1939, § 30,1. 1464 Vgl. GBlÖ, Nr. 459/1939, § 31a; § 51. 1465 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 56, Zl. 1944, Vergleichstabelle in der Reichsversorgung gültig ab 1. November 1938. 1466 Vgl. Kapitel III.6. 1467 Vgl. GBlÖ, Nr. 459/1939, § 7. 1468 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Franz L., Reg. Inspektor Graz Sachgebiet Fürsorge an Herrn L., o. Datum, Betreff: Soziale Fürsorge für Kriegsbeschädigte. 1469 Vgl. Kapitel III.5.2.1. Auf eine weitere Sonderstellung von Kriegsblinden, die im Zusammenhang mit der Zuständigkeit der Versorgungsämter steht, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Vgl. Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark, S. 270–271. 1470 Vgl. GBlÖ, Nr. 459/1939, § 22. 206 2.3 „Wehrmachtsfürsorge- und Wehrmachtsversorgungsgesetz“ (WFVG) und das „Einsatzfürsorge- und Einsatzversorgungsgesetz“ (EWFVG) Wie einleitend bereits erwähnt, basierte die nationalsozialistische Kriegsopferversorgung auf zwei Systemen, dem RVG und dem WFVG.1471 Dies manifestierte sich zunächst unter anderem dadurch, dass das RVG unter der Verwaltung des RAM stand und für die Umsetzung des WFVG und des EWFVG das Kriegsministerium zuständig war. Unmittelbar nach Ausbruch des Krieges am 8. September 1939 bekam allerdings das OKW die Oberaufsicht über die Durchführung beider Gesetze.1472 Mit einem Erlass Hitlers über die Wehrmachtsfürsorge und -versorgung vom 11. Oktober 1943 wurde dieser Entschluss wieder rückgängig gemacht: Die Zuständigkeit für alle ehemaligen Soldaten der „alten Wehrmacht“ und deren Hinterbliebenen sowie für die Nichtberufssoldaten der „neuen Wehrmacht“ samt Hinterbliebenen ging an den RAM. Das OKW behielt aber die Verantwortlichkeit für die Fürsorge und Versorgung der Berufssoldaten der „neuen Wehrmacht“ inklusive deren Hinterbliebenen. 1473 Während sich das RVG noch an die Gesetzgebung der Zwischenkriegszeit anlehnte, entsprach das WFVG1474 folgenden nationalsozialistischen Grundsätzen: Bezugspunkt war nicht mehr der Geschädigte als Mitglied der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft, sondern der Soldat mit seinen militärischen Leistungen und seinen Verletzungen. Dementsprechend wurde die am Grad der Erwerbsfähigkeit bemessene Grundrente abgelöst durch das Versehrtengeld, das sich zunächst in drei, später in vier Stufen an der Art der Verletzung und nicht an deren Auswirkungen auf die Reintegration in einen Zivilberuf orientierte.1475 Wer eine Wehrdienstbeschädigung nach dem WFVG erlitten hatte, bekam unabhängig von jedem anderen Einkommen, mit Ausnahme von Beamtenbezügen, das Versehrtengeld für die Dauer der körperlichen Beeinträchtigung ausbezahlt.1476 Kriegsblinde erhielten die höchste Stufe. Das Versehrtengeld sollte als eine Art „Ehrensold“1477 verstanden werden. In den Durchführungsbestimmungen zum WFVG wurde eine Kriegserblindung definiert: „Blind ist, wer nichts oder nur so wenig sieht, daß er sich in einer Umwelt, die ihm nicht ganz vertraut ist, allein nicht zurecht finden [sic!] kann.“1478 Als praktisch erblindet1479 galten diejenigen Menschen, die sich zwar noch in einer ihnen bekannten Umgebung zurechtfinden 1471 Vgl. Diehl, Disabled Veterans, pp. 705–736, hier p. 733. 1472 Vgl. Diehl, Disabled Veterans, pp. 705–736, hier p. 733; [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Reichsversorgungsverwaltung vom 8. September 1939, S. 1742. 1473 Vgl. [D] RBGl., Teil I, Erlaß des Führers über die Wehrmachtsfürsorge und -versorgung vom 11. Oktober 1943, S. 569. 1474 Vgl. GBlÖ., Nr. 411/1938. 1475 Vgl. GBlÖ., Nr. 411/1938, § 84; Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 187. 1476 Vgl. Schwendy, Fürsorge und Versorgung, S. 90–101, hier S. 93. 1477 Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 187. 1478 [D] RBGl., Teil I, Durchführungsbestimmungen zum WFVG vom 29. September 1938, S. 1293–1308, Erläuterungen zu § 93.1. 1479 Die Grenzen zu einer Sehbehinderung lagen bei einem Fünfzigstel bis einem Fünfundzwanzigstel der normalen Sehschärfe. Darunter wurde das Sehvermögen verstanden, das unter Verwendung einer Brille erreicht werden konnte. Vgl. [D] RBGl., Teil I, Durchführungsbestimmungen zum WFVG vom 29. September 1938, S. 1293–1308, Erläuterungen zu § 93.1.; Schwendy, Fürsorge und Versorgung, S. 90–100, hier S. 91; Kapitel I.1.4. 207 konnten, aber „trotz gewöhnlicher Hilfsmittel so wenig“ sahen, „daß der Rest an Sehvermögen wirtschaftlich nicht mehr verwendbar“ war.1480 Nicht bekannt ist, wie eine praktische Erblindung diagnostiziert wurde. Eine Einstufung als blind oder praktisch blind war aber von fürsorgerechtlicher Relevanz: Nach dem WFVG § 77 zählten zur „Heilfürsorge“1481 nicht nur die Krankenpflege, die körperliche Rehabilitation und Kuraufenthalte,1482 wenn diese bei Kriegsblinden die „Arbeitsverwendungsfähigkeit“1483 verbessern konnten, sondern auch die Ausstattung mit Körperersatzstücken.1484 Für die Kriegsblinden kamen hierbei unter anderem künstliche Augen, Hilfsmittel und Führhunde in Frage.1485 Die Durchführungsbestimmungen legten fest, dass bei „praktischer Blindheit“ ein Führhund „nicht immer erforderlich“ sei.1486 Betroffene, die keinen Führhund verwenden konnten, hatten die Möglichkeit, Beihilfen für „besondere Unkosten“1487 gewährt zu bekommen. Was darunter zu verstehen war, wurde in den Durchführungsbestimmungen allerdings nicht näher ausgeführt.1488 Kriegsblinde, die einen Führhund besaßen, bekamen für diesen Unterhalt bezahlt, dessen Höhe sich an Ortsklassen orientierte. Außerdem sollten sie Winterhandschuhe erhalten. Allen Kriegsblinden stand darüber hinaus die Ausstattung mit Regenmänteln, Blindenuhren und Verkehrsschutz-Blindenabzeichen zu.1489 Die Zuteilung war genau geregelt, so wurde vom OKW für die Regenmäntel zum Beispiel eine „Mindesttragzeit“1490 festgelegt. Beim WFVG stand der „Gedanke der Fürsorge und Arbeitsbeschaffung“1491 vor dem der Rentenversorgung. Für Kriegsblinde und „Hirnverletzte“1492 galten hierbei Sonderbestimmungen. Die erblindeten Soldaten sollten eine berufliche Umschulung oder Ausbildung erhalten, um wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können. Diese konnte bis zu einem Jahr und in besonderen Fällen auf Genehmigung durch das OKW auch länger dauern.1493 Für die Dauer dieser Ausbildung hatten die Betroffenen nach § 87 Anspruch auf eine Übergangsunterstützung.1494 Eine Rente für Arbeitsverwendungsunfähige (AVU-Rente) bekamen Kriegsblinde bis 1940 nur dann, wenn sie auf Grund ihrer Behinderung eine Berufsausbildung nicht 1480 Vgl. Schwendy, Fürsorge und Versorgung, S. 90–100, hier S. 91. 1481 GBlÖ, Nr. 411/1938, § 76. 1482 Vgl. Kapitel III.6; GBlÖ, Nr. 411/1938, § 76. 1483 RBGl., Teil I, Durchführungsbestimmungen zum WFVG vom 29. September 1938, S. 1293–1308, Erläuterungen zu § 77,1. 1484 Vgl. RBGl., Teil I, Durchführungsbestimmungen zum WFVG vom 29. September 1938, S. 1293–1308, Erläuterungen zu § 77,1. 1485 Vgl. RBGl., Teil I, Durchführungsbestimmungen zum WFVG vom 29. September 1938, S. 1293–1308, Erläuterungen zu § 77,1. Zu den Hilfsmitteln für Kriegsblinde vgl. auch Kapitel III.4.3. 1486 Vgl. RBGl., Teil I, Durchführungsbestimmungen zum WFVG vom 29. September 1938, S. 1293–1308, Erläuterungen zu § 77,2. 1487 GBlÖ, Nr. 411/1938, § 77,4. 1488 Vgl. GBlÖ, Nr. 411/1938, § 77,4. 1489 Vgl. [D] RBGl., Teil I, Durchführungsbestimmungen zum Fürsorge- und Versorgungsgesetz WFVG vom 29. September 1938, S. 1293–1308, Erläuterungen zu § 77,1. 1490 GBlÖ, Nr. 411/1938, § 77,3. 1491 Schwendy, Fürsorge und Versorgung, S. 90–101, hier S. 90. 1492 Vgl. Kapitel III.1.3, [D] RBGl., Teil I, Durchführungsbestimmungen WFVG vom 29. September 1938, S. 1293–1308, Erläuterungen zu § 86. 1493 Vgl. GBlÖ, Nr. 411/1938, § 86,1. 1494 Vgl. GBlÖ, Nr. 411/1938, § 87. 208 fortsetzen, ihrer bisherigen oder einer anderen Arbeit nicht nachgehen und auch nicht an einer Umschulung teilnehmen konnten.1495 Hier zeigt sich der charakteristische Zug der nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung: Durch die NS-Propaganda wurde die Illusion geschaffen, Kriegsblinde seien „Ehrenbürger der Nation“1496 und würden entsprechend versorgt werden.1497 Die eben beschriebene Bestimmung bedeutete aber zunächst eine deutliche Schlechterstellung der Kriegsblinden im Vergleich zu den nach dem RVG versorgungsberechtigten Kriegsblinden: Ihnen stand generell eine Vollrente zu, unabhängig davon, ob sie arbeiteten oder nicht.1498 Das OKW revidierte allerdings diesen WFVG-Passus am 27. November 1940 mit Wirkung vom 1. Dezember 1940, wahrscheinlich weil öffentliche Proteste von Kriegsblinden befürchtet wurden. Demnach bekamen alle „wehrdienst- und einsatzbeschädigten Blinden die AVU-Rente des WFVG […] stets […] neben jedem anderen Einkommen“.1499 Damit hatten die Kriegsblinden die höchsten Versorgungsansprüche. Andere Kriegsversehrte bekamen diese Rente nur, wenn ihnen eine Arbeitsverwendungsunfähigkeit bescheinigt wurde.1500 Die Höhe der AVU-Rente wurde nach dem Familienstand, Wohnort, der früheren beruflichen Tätigkeit sowie dem Dienstgrad bemessen. Die Differenzierung von Versorgungsleistungen nach dem militärischen Rang der Versehrten bedeutete nach Einschätzung von Sachße und Tennstedt einen „Rückschritt zu den Grundsätzen der Militärversorgung von vor 1918“.1501 Erblindete Soldaten des Zweiten Weltkrieges wurden auf Grund der Schwere ihrer Verwundung, und um ihnen höhere Rentenauszahlungen zu ermöglichen, meist zu Unteroffizieren oder Feldwebeln befördert.1502 Zur AVU-Rente wurde „hilflosen Wehrdienstbeschädigten“1503 eine Pflegezulage ausbezahlt. Für Kriegsblinde galt dies allerdings nicht: Für sie war im WFVG eine eigene „Blindenzulage“1504 vorgesehen. 1938 betrug diese 100 RM monatlich. Wurde eine weitere körperliche Behinderung als „Wehrdienstbeschädigung“ anerkannt, erhielten die Betroffenen eine erhöhte „Blindenzulage“ von 125 RM monatlich.1505 Die Pflegezulage für andere als „hilflos“ eingestufte Kriegsgeschädigte betrug zu diesem Zeitpunkt nur 50 RM monatlich. Eine erhöhte Pflegezulage, die ebenfalls bis zu 125 RM ausmachen konnte, bekamen alle nicht blinden Schwerkriegsgeschädigten nur dann zugebilligt, wenn sie dauerhafte Krankenpflege benötigten oder bei „Siechtum“.1506 Mit der Schaffung einer eigenen „Blindenzulage“ sollte außerdem sichergestellt werden, dass die Kriegsblinden diese ein Leben lang beziehen 1495 Vgl. Schwendy, Fürsorge und Versorgung, S. 90–101, hier S. 95. 1496 Schmalfuß, Mit vereinten Kräften, S. 73–79, hier S. 75. 1497 Vgl. Diehl, The Thanks of the Fatherland, p. 46. 1498 Vgl. Kapitel III.2.2. 1499 OKW 30a/a 12 W Vers (I), 5215/40 vom 27.11.1940, Betreff: AVU-Rente für Blinde, zitiert in: Gottfried Schwendy, Einige Änderungen in der Fürsorge und Versorgung der erblindeten Krieger der Deutschen Wehrmacht, in: Marburger Beiträge, Nr. 4, Jg. 11 (1940), S. 102–105, hier S. 105; Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 106. 1500 Vgl. Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 105. 1501 Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 187. 1502 Dadurch wurden nicht nur ihre Renten höher berechnet, sondern sie erhielten während ihres Aufenthaltes in einem Reservelazarett eine höhere Kriegsbesoldung. Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 9. 1503 GBlÖ, Nr. 411/1938, § 93. 1504 GBlÖ, Nr. 411/1938, § 93. 1505 Vgl. GBlÖ, Nr. 411/1938, § 93. 1506 GBlÖ, Nr. 411/1938, § 92. 209 konnten: Die Pflegezulage wurde dagegen nur ausbezahlt, bis die „völlige Hilflosigkeit“ der Betroffenen überwunden war.1507 Wie bereits eingangs erwähnt, basierte die Versorgung von im Zweiten Weltkrieg aus dem Wehrdienst entlassenen Soldaten nicht nur auf dem WFVG, sondern auch auf dem EWFVG, das rückwirkend mit dem 1. Oktober 1938 in Kraft trat, allerdings erst am 6. Juli 1939 bekannt gemacht wurde.1508 Für eine „Beschädigung bei besonderem Einsatz“1509, das bedeutete in erster Linie im Kampfgebiet, erhielten die Betroffenen neben dem Versehrtengeld nach § 7 noch eine Versehrtenzulage.1510 Kriegsblinde hatten hierbei wiederum Anspruch auf die höchste Stufe. Das EWFVG brachte nach Meinung von Gottfried Schwendy außerdem eine besondere Vergünstigung für Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges: Der Regierungsrat aus Breslau ging davon aus, dass sie während des Zweiten Weltkrieges als „Abhorcher von feindlichen Flugzeugen“ in die Wehrmacht wieder eingestellt würden, „wie dies in Italien vorgesehen“ sei.1511 Nach den §§ 24 und 30 des EWFVG hätten sie in diesem Fall weiterhin ihre vollen Bezüge nach dem RVG erhalten. Wie bereits ausgeführt,1512 erwies es sich allerdings als unmöglich, blinde Menschen zur Ortung von Flugzeugen einzusetzen. Nur im Nachrichtenwesen oder als Dolmetscher ergab sich in wenigen Einzelfällen eine Anstellung von Nichtsehenden in der Wehrmacht.1513 Am 20. August 1940 erließ das NS-Regime ein Gesetz zur Änderung und Ergänzung des EWFVG.1514 Der Personenkreis der Versorgungsberechtigten wurde erweitert. Demnach wurden „Wehrdienstbeschädigungen“ anerkannt, die auf Unfälle und Umstände zurückführten, die sich aus den „eigentümlichen“ Verhältnissen im Krieg ergaben.1515 Nach der Einschätzung von Gottfried Schwendy konnten so auch körperliche Beeinträchtigungen, die Folge einer Infektionskrankheit waren, anerkannt werden.1516 Dementsprechend dürften nach dieser Erweiterung des EWFVG auch Soldaten, die infolge einer Geschlechtskrankheit erblindeten, als Kriegsblinde versorgt worden sein.1517 Dies war nicht von Anfang an im WFVG vorgesehen: Nach § 67, der die Versorgung von durch Körperschäden ohne Wehrdienstbeschädigungen „dienstunfähig“ gewordenen Soldaten regelte, hatten Betroffene, die wegen einer Geschlechtskrankheit von der Wehrmacht nicht mehr eingesetzt werden konnten, keinen Anspruch auf eine Versorgung als „Wehrdienstbeschädigte“.1518 1507 Vgl. Schwendy, Fürsorge und Versorgung, S. 90–101, hier S. 97. 1508 Vgl. GBlÖ, Nr. 879/1939. 1509 GBlÖ, Nr. 879/1939, § 7. 1510 Vgl. GBlÖ, Nr. 879/1939, § 7. 1511 Vgl. Schwendy, Fürsorge und Versorgung, S. 90–101, hier S. 99. 1512 Vgl. Kapitel II.5.3, II.6.4. 1513 Vgl. Kapitel II.6.4, III.5.1, III.8. 1514 Vgl. [D], RGBl., Teil I, Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Einsatzfürsorge- und -versorgungsgesetzes vom 20. August 1940, S. 1166–1167. 1515 Vgl. D], RGBl., Teil I, Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Einsatzfürsorge- und -versorgungsgesetzes vom 20. August 1940, S. 1166–1167, 1. ad § 2 Abs. 2. 1516 Vgl. Schwendy, Änderungen in der Fürsorge, S. 102–105, hier S. 103. 1517 Vgl. Kapitel III.1.2.3. 1518 Vgl. GBlÖ, Nr. 411/1938, § 67. Auf Grund der Änderung dieser Bestimmung durch das EWFVG wurde daher der 1942 infolge einer Geschlechtskrankheit erblindete Robert A. vom HVA „Ostmark“ als Kriegsblinder versorgt. Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt.1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Robert A. 210 1941 kam es zu einer weiteren Änderung der nationalsozialistischen Kriegsopfergesetzgebung. Ehemalige Angehörige der Wehrmacht, die nach dem RVG oder dem WFVG versorgungsberechtigt waren, erhielten nach Vollendung des 55. Lebensjahres eine Alterszulage ausgezahlt, wenn auf Grund ihrer Kriegsverletzung ihre Erwerbsfähigkeit um mindestens 30 von Hundert gemindert war oder sie nach § 84 des WFVG eine Versehrtenzulage unabhängig von jedem anderen Einkommen ausbezahlt bekamen.1519 Diese Regelung galt dem Wortlaut des Gesetzes entsprechend nicht für die zivilen Kriegsopfer des Zweiten Weltkriegs und führte damit zu einer Schlechterstellung dieser Gruppe. 2.4 Besondere Verordnungen und Bestimmungen für erblindete Soldaten Das NS-Regime und das OKW erließen darüber hinaus weitere Bestimmungen, um die Versorgung der erblindeten Soldaten im Vergleich zu anderen Kriegsversehrten günstiger zu regeln. Die „Wehrmachtsfürsorge und -versorgungsbestimmungen“ vom 15. Dezember 1939 erläuterten die „Betreuung“ von „versehrten Wehrdienst- und Einsatzbeschädigten“.1520 Für erblindete Soldaten sollte dabei nach einem besonderen Merkblatt verfahren werden.1521 Die Behandlung der erblindeten Soldaten wurde den Chefärzten zur „besonderen Pflicht“1522 gemacht. Ihre Aufgabe war es, dem zuständigen Wehrmachtsfürsorgeoffizier einen erblindeten Soldaten sofort zu melden. Dieser setzte sich dann in der „Ostmark“ mit den zuständigen Versorgungsämtern in Verbindung und verständigte die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“.1523 Sobald die schwer verwundeten Soldaten transportfähig waren, begann die Verlegung in ein Reservelazarett, das auf die Berufsausbildung von erblindeten Soldaten spezialisiert war.1524 Die Versorgung der Kriegsblinden war nach Ansicht des OKW im Vergleich zu anderen Kriegsversehrten besonders dringlich zu behandeln. Die Schreiben des Reservelazarettes Wien zum Beispiel an das zuständige HVA wurden daher mit einem roten Stempel „Sonderfall Kriegsblinder!“ versehen. Das sollte offenbar auf die Priorität der Schreiben hinweisen. 1519 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Gewährung einer Alterszulage für Wehrdienstbeschädigte vom 20. April 1940, S. 210. Eine weitere Novellierung gab es am 26. September 1942. Vgl. [D] RBGl., Teil I, Verordnung zur Änderung der Verordnung über die Gewährung einer Alterszulage für Wehrdienstbeschädigte vom 26. September 1942, S. 562. 1520 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Betreuung der versehrten Wehrdienst- und Einsatzbeschädigten, S. 161–162. 1521 Oberkommando der Wehrmacht, Merkblatt. Ärztliche Fürsorge für erblindete Soldaten, S. 164–165, hier S. 164. 1522 Oberkommando der Wehrmacht, Merkblatt. Ärztliche Fürsorge für erblindete Soldaten, S. 164–165, hier S. 164. 1523 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Merkblatt. Ärztliche Fürsorge für erblindete Soldaten, S. 164–165, hier S. 164, Kapitel III.4.2.1. 1524 Vgl. Kapitel III.4.1, III.4.2. 211 Abb. 10: Stempel Sonderfall Kriegsblinder. Mit einer Verordnung des RAM und des Reichsministers des Inneren vom 28. Juni 1940 wurde die „Fürsorge“ für Kriegsblinde und „hirnverletzte“ Kriegsgeschädigte zentralisiert.1525 Es wurde festgelegt, dass die gesamte „öffentliche Fürsorge“, unter der die „Behebung von Notständen“ verstanden wurde, für diese Kriegsgeschädigten im „Altreich“ von den Landesfürsorgeverbänden (Hauptfürsorgestellen) durchzuführen waren. Bisher waren die Bezirksfürsorgeverbände dafür zuständig gewesen. Dadurch hatten sich regionale Unterschiede in der Betreuung ergeben. Hinter dieser Sonderregelung stand die Auffassung des NS-Regimes, dass infolge „der Schwere und Eigenart ihres Opfers“ die Kriegsblinden und „hirnverletzten“ Kriegsgeschädigten zu einer „fürsorgerechtlich vordringlich zu betreuenden Gruppe“ zählten und daher Anrecht auf eine einheitliche, verbesserte Versorgung hatten.1526 Auf Grund der geänderten Zuständigkeit in der „Ostmark“ blieben in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ allerdings die Versorgungsämter für alle sozialrechtlichen Belange der Kriegsblinden und „hirnverletzten“ Kriegsgeschädigten zuständig.1527 Anspruch auf Unterstützung durch die Versorgungsämter in der „Ostmark“ hatten auch die Familienmitglieder von bedürftigen Kriegsblinden. Allerdings war es nach Auffassung des NS-Regimes nicht legitim, wenn die Hauptfürsorgestellen dabei die Kosten für Angehörige mit einer Behinderung übernahmen.1528 „Geisteskranke, Idioten, Epileptiker, Taubstumme, Blinde und Krüppel“1529, die in Anstalten untergebracht waren, oder Familienmitglieder, die unter die Verordnung zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten vom 1. Dezember 1938 fielen, waren ausdrücklich ausgenommen.1530 Im Laufe des Zweiten Weltkrieges nahm die Zahl erblindeter Soldaten und anderer Kriegsgeschädigter ständig zu. Das OKW erweiterte daher 1942 die 1939 erlassenen Richtlinien mit den Fürsorge- und Versorgungsbestimmungen.1531 Diese Entwicklung wird im Kapitel III.4 über die Rehabilitation der Kriegsblinden erläutert. 1525 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Fürsorge für Kriegsblinde und hirnverletzte Kriegsbeschädigte vom 28. Juni 1940, S. 937; Rhode, Fürsorge für Kriegsblinde, S. 115–118, hier S. 117. 1526 Diese Verordnung betraf neben den „hirnverletzten“ Kriegsgeschädigten alle blinden und praktisch blinden Menschen, die nach der NS-Gesetzgebung als Kriegsblinde galten. Vgl. Rhode, Fürsorge für Kriegsblinde, S. 115–188, hier S. 116–117. 1527 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Fürsorge für Kriegsblinde und hirnverletzte Kriegsbeschädigte vom 28. Juni 1940, S. 937, § 4. 1528 Vgl. Rhode, Fürsorge für Kriegsblinde, S. 115–118, hier S. 116. 1529 [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Fürsorge für Kriegsblinde und hirnverletzte Kriegsbeschädigte vom 28. Juni 1940, S. 937, § 2. 1530 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Fürsorge für Kriegsblinde und hirnverletzte Kriegsbeschädigte vom 28. Juni 1940, S. 937, § 2. 1531 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht (Hrsg.), 91. Richtlinien für die ärztliche und Berufsbetreuung, S. 77–80. [BAB, DGT, R 36, Zl. 1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung]. 212 2.5 Vergünstigungen für Kriegsblinde 2.5.1 Steuergesetzgebung Kriegsblinde erhielten die gleichen Vergünstigungen, etwa eine Befreiung von Rundfunkgebühren, wie Zivilblinde.1532 Da diese und andere Regelungen, wie beispielsweise auch die Bestimmungen der Post für Blindenschriftsendungen, schon im Kapitel II.2.4 über die Zivilblinden ausführlich behandelt wurden, wird an dieser Stelle nur darauf hingewiesen. Für Kriegsblinde galten in Bezug auf die Lohnsteuergesetzgebung die gleichen Regelungen wie für andere „schwerbeschädigte“ Kriegsversehrte.1533 Nach § 26 war auf Antrag an das Finanzamt bei erwerbstätigen ArbeitnehmerInnen ein bestimmter Betrag des Einkommens steuerfrei, wenn wegen einer Kriegs- oder Dienstbeschädigung ein Anspruch auf Versorgung nach dem RVG und Versehrtengeld nach dem WFVG oder dem Reichsarbeitsdienstversorgungsgesetz bestand.1534 BezieherInnen einer „Pflegezulage“, „Blindenzulage“ oder einer erhöhten „Verstümmelungszulage“ bekamen dabei die höchstmöglichen monatlichen Freibeträge.1535 Kriegsblinde Unternehmer waren darüber hinaus wie die Zivilblinden von der Umsatzsteuer befreit, wenn sie nicht mehr als zwei ArbeitnehmerInnen beschäftigten und die Voraussetzungen der Steuerfreiheit durch eine Bescheinigung des Bezirksfürsorgeverbandes nachweisen konnten.1536 Nach dem Gewerbesteuergesetz gab es keine besonderen Bestimmungen zur Befreiung für die Kriegsblinden.1537 Zu den Aufgaben der nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung gehörte auch die Schaffung von Eigenheimen.1538 Anstelle einer gewährten Rente konnten Kriegsblinde zu diesem Zweck Kapitalabfindungen erhalten. Dieses Vorhaben wurde durch eine entsprechende Steuergesetzgebung unterstützt. Kriegsgeschädigte und deren Hinterbliebene erhielten beim Kauf von Grundstücken, Wohnungen und Häusern steuerliche Vergünstigungen, die beispielsweise zu einer Verringerung der Grundsteuer und der Einkommensteuer führten.1539 2.5.2 Ermäßigungen im öffentlichen Verkehr und bei kulturellen Veranstaltungen Kriegsblinde konnten wie andere Schwergeschädigte zu vergünstigten Preisen mit der „Deutschen Reichsbahn“ fahren. Dafür bekamen sie eine Bestätigung zur Benützung der zweiten Klasse mit einem Fahrausweis der dritten Klasse. Während die Bestimmungen des „Altreiches“ über die Fahrpreisermäßigungen für berufstätige Zivilblinde erst am 1. Jänner 1532 Vgl. Kapitel II.2.4; o. A., Nachprüfung von Rundfunkgebührenbefreiung bei Kriegsblinden, S. 26. 1533 Vgl. Kapitel II.2.4.1. 1534 Vgl. GBlÖ, Nr. 1446/1939, Lohnsteuerdurchführungsbestimmungen 1939 vom 10. März 1939, § 26. 1535 Vgl. Schumacher, Steuerliches, S. 107–110, hier S. 108. 1536 Vgl. Kapitel II.2.4.1; Schumacher, Steuerliches, S. 107–110, hier S. 110. 1537 Vgl. Schumacher, Steuerliches, S. 107–110, hier S. 110. 1538 Vgl. Kapitel III.3.1, III.3.2. 1539 Vgl. Weiske, IV. Siedlungswesen, S. 202–203, hier S. 203. 213 1939 in der „Ostmark“ eingeführt wurden,1540 sollten die Bestimmungen für Kriegsgeschädigte und die „Opfer der nationalen Erhebung“ am 15. Juni 1938 in der „Ostmark“ in Kraft treten.1541 Die für die Inanspruchnahme der Vergünstigungen für Kriegsgeschädigte erforderlichen Bescheinigungen wurden in der „Ostmark“ von den Versorgungsämtern ausgestellt. Diese vergaben auch Ausweise zur Benützung des Zugabteils für Schwerkriegsgeschädigte.1542 Kriegsblinde konnten außerdem kostenlos einen sehenden Begleiter bzw. eine sehende Begleiterin und/oder einen Führhund mitnehmen. Dafür benötigten sie allerdings eine dritte Bescheinigung, die von der Eisenbahnverwaltung erteilt wurde.1543 Ab 1. April 1944 trat eine neue gesetzliche Bestimmung, welche Vergünstigungen im öffentlichen Personenverkehr „reichseinheitlich“ regelte, in Kraft.1544 Kriegsblinde und andere schwer Kriegsgeschädigte hatten gegen Vorzeigen eines amtlichen Ausweises Anspruch auf eine unentgeltliche Beförderung in Straßenbahnlinien, im Ortslinienverkehr mit Kraftomnibussen sowie mit den S-Bahnen in Berlin und Hamburg. Das galt auch für eine Begleitperson und Führhunde. Als gültige Bescheinigung für die Inanspruchnahme dieser und anderer Vergünstigungen galt ein ab 1. März 1944 ausgegebener neuer „Schwerkriegsbeschädigtenausw eis“.1545 Diesen gab es in drei verschiedenen Farben, gelb, grau und orange, je nach den zuerkannten Vergünstigungen.1546 Kriegsblinde erhielten den Ausweis C in oranger Farbe. Darauf war der volle Umfang der Ermäßigungen, die diesen Schwerkriegsgeschädigten zustanden, aufgelistet: Sie erhielten neben der unentgeltlichen Beförderung in öffentlichen Verkehrsmitteln Eintrittspreisermäßigungen bei kulturellen Veranstaltungen, eine bevorzugte Abfertigung vor Amtsstellen sowie die Benutzung der zweiten Wagenklasse mit einem Fahrausweis der dritten Klasse bei Eisenbahnfahrten.1547 Begleitpersonen von Kriegsgeschädigten, die auf ständige Unterstützung angewiesen waren, wozu auch die Kriegsblinden zählten, hatten zudem einen Anspruch auf verbilligte Karten beim Besuch einer kulturellen Veranstaltung. 2.5.3 Die Verteilung von Rundfunkgeräten Die Ausstattung der Kriegsblinden mit Rundfunkgeräten durch das „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ war Teil der NS-Agitation. Im Folgenden wird ausführlich darauf eingegangen, weil dieses Beispiel zeigt, mit welchem großen Aufwand und propagandistischen Kalkül Kriegsblinde behandelt wurden. 1540 Vgl. Kapitel II.2.4.3. 1541 Aus der Quelle geht nicht hervor, ob die Umsetzung tatsächlich zu diesem Datum erfolgte. Vgl. o. A., Fahrpreisermäßigungen in Österreich, S. 232. 1542 Vgl. o. A., Schwerkriegsbeschädigte auf der Reise, S. 23. 1543 Vgl. o. A., Verlängerung der Gültigkeitsdauer der Ausweise zur Erlangung von Fahrpreisvergünstigungen für Kriegsbeschädigte, S. 13–14, hier S. 13. 1544 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über Vergünstigungen für Kriegsbeschädigte im öffentlichen Personenverkehr vom 23. Dezember 1943, S. 5–6. [Ausgegeben am 8. Januar 1943.] 1545 O. A., Neuer Schwerkriegsbeschädigtenausweis, S. 26–27, hier S. 27. 1546 Vgl. o. A., Neuer Schwerkriegsbeschädigtenausweis, S. 26–27, hier S. 27. 1547 Vgl. o. A., Neuer Schwerkriegsbeschädigtenausweis, S. 26–27, hier S. 27. 214 Nach damaliger Auffassung waren Rundfunkgeräte von besonderer Bedeutung für die Kriegsblinden: „[…] es ersetzt ihm das verlorene Augenlicht zum Teil und läßt ihn vor allem lebendig teilnehmen an den Geschehnissen unserer großen Zeit, für deren Gestaltung er wohl mit das größte Opfer gebracht hat.“1548 Die Vergabe von Geräten an Kriegsblinde begann nach einem Besuch des „Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda“, Joseph Goebbels, am 3. September 1940 im Berliner Sammellazarett für erblindete Soldaten. Goebbels schenkte zunächst ausschließlich den Betroffenen dort 60 Rundfunkapparate.1549 Am 5. September wurden die Empfangsgeräte ausgeliefert. Trotzdem hielt der ausführende Regierungsrat Schaefer die Geräte im letzten Moment zurück: Vereinbarungsgemäß waren 60 „Deutsche Kleinempfänger“1550 geliefert worden. Zehn der Kriegsblinden in dem Reservelazarett hatten allerdings bereits Apparate durch eine Spende eines namentlich nicht genannten Berliner Rechtsanwaltes bekommen. Dies waren Radios des Typs „Körting Gross Super“1551, also größere und hochwertigere Geräte als die vom „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ vorgesehenen. Der mit der Angelegenheit beauftragte Regierungsrat schlussfolgerte daher, dass es für Goebbels „nicht tragbar“1552 sei, die kleineren Apparate zu verteilen. Das „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ besorgte daher größere Rundfunkempfänger für die Kriegsblinden, um den Erfolg der Kampagne für die NS-Propaganda nicht zu schmälern. Die Aktion sollte die Sympathiewerte Joseph Goebbels in der Bevölkerung verbessern. Die Verteilung der Geräte wurde daher stets dem persönlichen Engagement Goebbels zugeschrieben.1553 1548 BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, AZ F/LU, NSKOV Fachabt. erblindeter Krieger an den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda vom 12.5.1941, Betreff: Rundfunkempfangsgeräte für Kriegsblinde des jetzigen Einsatzes. 1549 Vgl. BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Rfk 3635, Ministerbüro Oberstaatsanwalt Spieler an Leiter Rundfunk vom 4.9.1940, Betreff: Rundfunkgeräte für Kriegsblinde. 1550 BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Rfk 3635, Abteilung Rundfunk an Oberstaatsanwalt Spieler, Ministerbüro vom 5.9.1940, Betreff: Beschaffung von Rundfunkgeräten für 60 Kriegsblinde; BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Ministerbüro Oberstaatsanwalt Spieler an Abteilung Rundfunk vom 10.9.1940, Betreff: Schreiben vom 5.9.1940. 1551 BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Rfk 3635, Abteilung Rundfunk an Oberstaatsanwalt Spieler, Ministerbüro vom 5.9.1940, Betreff: Beschaffung von Rundfunkgeräten für 60 Kriegsblinde; BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Ministerbüro Oberstaatsanwalt Spieler an Abteilung Rundfunk vom 10.9.1940, Betreff: Schreiben vom 5.9.1940. 1552 BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Rfk 3635, Abteilung Rundfunk an Oberstaatsanwalt Spieler, Ministerbüro vom 5.9.1940, Betreff: Beschaffung von Rundfunkgeräten für 60 Kriegsblinde; BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Ministerbüro Oberstaatsanwalt Spieler an Abteilung Rundfunk vom 10.9.1940, Betreff: Schreiben vom 5.9.1940. 1553 Vgl. BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Rfk. 3635/16.4.41 Re 1/1, Referent Gonefeld an NSKOV Fachabt. erblindeter Krieger vom 22.7.1941, Betreff: Rundfunkgeräte für kriegsblinde Soldaten und durch Feindeinwirkung erblindete Volksgenossen; BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, AZ F/LU, NSKOV Fachabt. erblindeter Krieger an den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda vom 12.5.1941, Betreff: Rundfunkempfangsgeräte für Kriegsblinde des jetzigen Einsatzes. 215 Die anfänglich auf das Berliner Reservelazarett beschränkte Aktion wurde in der Folge auf alle Kriegsblinden des „Deutschen Reiches“ sowie auf die Gruppe der durch beispielsweise Luftangriffe oder herumliegende Munition erblindeten ZivilistInnen1554 ausgedehnt. Damit auch diejenigen Kriegsblinden, die bereits aus der Wehrmacht entlassen worden waren, ein Gerät erhielten, erfolgte die Vergabe der Geräte über die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“.1555 Damit hatten Kriegsblinde einen Sonderstatus, denn zur Versorgung von Wehrmachtsangehörigen mit Radios gab es bereits die „Dr. Goebbels-Rundfunkspende“.1556 Für diese Aktion war eine Abteilung in der NSDAP-Reichsleitung, Hauptamt Rundfunk, zuständig.1557 Mit den Agenden der Kriegsblinden betraute das „Reichsministerium für Propaganda und Volksaufklärung“ diese Stelle allerdings dezidiert nicht, weil die zuständigen NS-Beamten der Auffassung waren, nur die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ könne die Übergabe auf solch besondere Art und Weise gestalten, dass bei den Kriegsblinden der Eindruck „der kameradschaftlichen Fürsorge des Ministers für seine Person“1558 entstand. Noch ein weiter Aspekt bei der Vergabe von Rundfunkgeräten an Kriegsblinde ist bemerkenswert: In Einzelfällen gingen die ausführenden Stellen auf die psychische Verfassung der Kriegsblinden ein. Der im Krieg erblindete Unteroffizier Hans Jürgen S. erhielt beispielsweise ein gesondertes Schreiben beim Erhalt seines Rundfunkempfängers, in dem nicht der „Ausdruck ‚kriegsblinde‘ [sic!] […] in Erscheinung treten“ durfte.1559 Hans-Jürgen S. hatte nach seiner Kriegserblindung an der Ostfront seine dauerhafte Behinderung noch nicht akzeptiert und hoffte auf eine Besserung seines Sehvermögens. Woher das zuständige „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ diese Informationen hatte, ist nicht bekannt.1560 Am 16. Jänner 1942 erhielt Hans-Jürgen S. schließlich ein Telefunkengerät des „Typs 975“1561, allerdings trat im dazugehörigen Schreiben nicht die zuständige NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ auf, sondern die Reichsdienststelle Berlin der NSKOV. Die Anschrift entsprach aber der des „Adolf-Hitler Kriegsblindenhauses“ 1554 Vgl. Kapitel III.1.2.5. 1555 Vgl. BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Rfk. 3635/164.41 Re 1/1, Oberregierungsrat Müller an die Wirtschaftsstelle der deutschen Rundfunkindustrie vom 13.6.1941, Betreff: Beschaffung von Rundfunkgeräten für Kriegsblinde. 1556 BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, NSDAP Reichsleitung, Preispropagandaleitung, Hauptamt Rundfunk an den Herrn Reichspropagandaleiter, vom 2.10.1941, Betreff: Rundfunkgeräte für kriegsblinde Soldaten und durch Feindeinwirkung erblindete Volksgenossen. 1557 Vgl. BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, NSDAP Reichsleitung, Preispropagandaleitung, Hauptamt Rundfunk an den Herrn Reichspropagandaleiter, vom 2.10.1941, Betreff: Rundfunkgeräte für kriegsblinde Soldaten und durch Feindeinwirkung erblindete Volksgenossen. 1558 BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Leiter Rundfunk an das Ministeramt im Haus vom 4.10.1941, Betreff: Stellungnahme zum Schreiben der Reichspropagandaleitung, Hauptamt Rundfunk vom 2.10.1941. 1559 Vgl. BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Leiter Rundfunk an Rundfunkwirtschaftsreferat, z. Hd. Oberregierungsrat Müller, vom 5.1.1942, Betreff: Rundfunkgerät für einen Kriegsblinden. 1560 Vgl. BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Leiter Rundfunk an Rundfunkwirtschaftsreferat, z. Hd. Oberregierungsrat Müller, vom 5.1.1942, Betreff: Rundfunkgerät für einen Kriegsblinden. 1561 BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Leiter Rundfunk an Rundfunkwirtschaftsreferat, z. Hd. Oberregierungsrat Müller, vom 5.1.1942, Betreff: Rundfunkgerät für einen Kriegsblinden. 216 ohne selbiges zu nennen.1562 Auch der Text des Standardschreibens wurde entsprechend abgeändert.1563 Diese individuelle Behandlung von Kriegsblinden dürfte im Laufe des Krieges organisatorisch nicht mehr bewältigbar gewesen sein. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 erhöhte sich die Anzahl der Kriegserblindungen stark.1564 Die zuständige NSKOV „Fachabteilung erblindete Krieger“ konnte spätestens Ende 1943 nicht mehr allen Kriegsblinden Rundfunkgeräte übergeben. Bis zu diesem Zeitpunkt waren dem NSKOV 1.712 Rundfunkempfänger vom Propagandaministerium zur Vergabe an Kriegsblinde geliefert worden.1565 Weitere 1.000 Apparate höherer Qualität wurden Anfang 1944 benötigt.1566 Das war unter den damaligen Umständen eine enorme Menge, da laut Aussage der Wirtschaftsgruppe Elektroindustrie im Reichswirtschaftsministerium überhaupt lediglich 2.000 bis 3.000 solcher hochwertigen Geräte monatlich zur Verfügung standen.1567 Wie die Verteilung von Rundfunkgeräten bis zum Kriegsende bewerkstelligt wurde, ist aus den hier zitierten Akten im BAB nicht ersichtlich. Die zu dieser Thematik vom „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ überlieferten Dokumente enden Anfang 1942 und die letzten Schreiben des Reichswirtschaftsministeriums zu dieser Angelegenheit stammen aus den ersten beiden Monaten des Jahres 1944. 2.6 Weitere Versorgungsansprüche und Beispiele Eine Überprüfung der Umsetzung der geschilderten fürsorgerechtlichen Ansprüche von Kriegsblinden anhand der überlieferten Akten des HVA „Ostmark“ kann auf Grund der unvollständigen Überlieferung dieser nicht erfolgen. Aus den Dokumenten geht aber der Umfang der staatlichen Versorgungsleistungen hervor. Das HVA „Ostmark“, ab Sommer 1942 wurde die Stelle umbenannt in HVA „Wien“, koordinierte die Umsetzung der nationalsozialistischen Versorgungsgesetze für die Kriegsblinden. Für die Umsetzung waren die jeweiligen Versorgungsämter zuständig. Hauptaufgabe war die berufliche Integration der Kriegsblinden sowie die Feststellung und Abwicklung der Rentenzahlungen. Dies umfasste 1562 Vgl. Kapitel III.3.3. 1563 BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Rfk. 3635/16.4.41 Re 1/1, Referent Gonefeld an NSKOV Fachabteilung erblindeter Krieger vom 22.7.1941, Betreff: Rundfunkgeräte für kriegsblinde Soldaten und durch Feindeinwirkung erblindete Volksgenossen; BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, AZ F/L, NSKOV Reichsdienststelle Berlin [NSKOV Fachabteilung erblindeter Krieger] an Unteroffizier Hans Jürgen S. vom 16.1.1942, Betreff: Zuteilung Rundfunkgerät. 1564 Vgl. BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, AZ F/L, NSKOV Fachabteilung erblindeter Krieger an den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, z. Hd. Oberregierungsrat Müller vom 25.11.1941, Betreff: Rundfunkgeräte für Kriegsblinde. 1565 Vgl. BAB, Reichswirtschaftsministerium, R 3101/11652, Rfk/W 3635/1.2.43 W. R. I 1/1, Reichministerium für Volksaufklärung und Propaganda an das Reichswirtschaftsministerium vom 14.12.1943, Betreff: Rundfunkgeräte für kriegsblinde Soldaten und durch Feindeinwirkung erblindete Volksgenossen. 1566 Vgl. BAB, Reichswirtschaftsministerium, R 3101/11652, Nr. II 2/8 – 462/43, Reichswirtschaftsminister an Wirtschaftsgruppe Elektroindustrie vom 11.1.1944, Betreff: Rundfunkgeräte für kriegsblinde Soldaten und durch Feindeinwirkung erblindete Volksgenossen. 1567 Vgl. BAB, Reichswirtschaftsministerium R 3101/11652, II 2/“–393/44, Reichswirtschaftsminister an Wirtschaftsgruppe Elektroindustrie vom 9.2.1944, Betreff: Rundfunkgeräte für Kriegsblinde. 217 zum Beispiel auch, dass die Kriegsblinden Hilfsmittel, die sie für ihre berufliche Tätigkeit benötigten, wie zum Beispiel Schreibmaschinen oder Werkzeuge für Handwerker, erhielten.1568 Sobald ein erblindeter Soldat aus der „Ostmark“ in einem Reservelazarett unterkam, wurde dies an das HVA in Wien gemeldet und die zuständigen Stellen über die zu erwartenden Versorgungsansprüche informiert. Die Betroffenen erhielten bis zu ihrer endgültigen Entlassung aus der Wehrmacht eine Übergangsunterstützung. Nach ihrer Entlassung aus der Wehrmacht sollten die Kriegsblinden in ihr ziviles Leben zurückkehren und nach Wunsch des OKW möglichst bald ihre Uniform ablegen.1569 Kriegsblinde hatten daher Anspruch auf eine „Einkleidungshilfe“.1570 Da es kriegsbedingt zu Versorgungsengpässen bei fast allen Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs kam, war es den zuständigen Versorgungsämtern allerdings nicht immer möglich, die benötigten Kleidungsstücke zu besorgen.1571 Aus überlieferten Anträgen und Bewilligungsschreiben in den Akten des HVA in Wien geht darüber hinaus hervor, dass die Kriegsblinden für die Anschaffung notwendiger Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs, wie beispielsweise Möbel für die Gründung eines neuen Hausstandes, einmalige, nicht rückzahlbare Unterstützungen ausbezahlt bekamen. Bei dem Kriegsblinden Julius B. waren dies 1943 beispielsweise 1.000 RM.1572 Die zuständigen NS-Behörden waren außerdem dafür verantwortlich, den Kriegsblinden gegebenenfalls geeignete Wohnungen zu beschaffen. Wie in den folgenden Kapiteln noch ausgeführt wird, war dies durch die kriegsbedingte Wohnungsnot fallweise sehr schwierig.1573 Weiters zeigen die Dokumente des HVA in Wien, dass Kriegsblinde besondere Bezugsscheine für Kaffee und Rauchwaren erhielten.1574 Noch im Oktober 1944 wurde dieser Versorgungsanspruch vom Reichswirtschaftsministerium bestätigt. Kriegsblinde sollten weiterhin monatlich 70 Zigaretten, 18 Zigarren und 20 Gramm Rauchtabak über den NSKOV erhalten, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Versorgungslage vom zuständigen Referenten bereits als „verschärft“1575 bezeichnet wurde.1576 1568 Vgl. Kapitel III.5. 1569 Vgl. z. B. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Stefan M. 1570 BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Tagesordnung und Niederschrift über die Tagung am 10. und 11.11.1942 in Berlin, Betreff: Erblindete Soldaten, S. 6. 1571 Der am 8. März 1914 geborene Kärntner erblindete zu einem unbekannten Zeitpunkt auf Grund einer Minenexplosion in der Sowjetunion. Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Friedrich K. 1572 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Julius B. 1573 Vgl. Kapitel III.5.4, III.7. 1574 Vgl. Kapitel III.3.3. 1575 Vgl. BAB, Reichswirtschaftsministerium, R 3101/11890, RTK III A 9 d, Reichsbeauftragte für Tabak und Kaffee an die Gruppenarbeitsgemeinschaft Tabak und Tabakwaren in der Reichsgruppe Handel vom 11.10.1944, Betreff. Tabakwarenzuteilung für Kriegsblinde. 1576 Vgl. BAB, Reichswirtschaftsministerium, R 3101/11890, RTK III A 9 d, Reichsbeauftragte für Tabak und Kaffee an die Gruppenarbeitsgemeinschaft Tabak und Tabakwaren in der Reichsgruppe Handel vom 11.10.1944, Betreff. Tabakwarenzuteilung für Kriegsblinde. 218 Durch die hier geschilderten Beispiele und die vorangegangene Darstellung der Versorgungsansprüche von Kriegsblinden sollte veranschaulicht werden, dass die Versorgung dieser Kriegsgeschädigten einen besonders hohen Stellenwert hatte. Die getroffenen Sonderregelungen für Kriegsblinde dienten aber in erster Linie ihrer beruflichen Integration: Am Ende der Rekonvaleszenz wurde den Kriegsblinden ein Beruf zugewiesen, den sie auch ausüben sollten, selbst wenn ihre körperliche Verfassung dies nur schwer zuließ.1577 1577 Vgl. Kapitel III.4.2, III.4.4, III.5.1, III.5.4, III.5.6. 219 3.Die Organisation der Kriegsblinden 3.1 Die Vereinigungen von Kriegsblinden bis 1938 Nach Ende des Ersten Weltkrieges gründeten erblindete ehemalige Soldaten in Wien im Mai 1919 eine eigene Selbsthilfegruppe, den „Kriegsblindenverband“. Damit waren die Kriegsblinden zu diesem Zeitpunkt die einzige Gruppe von Kriegsopfern, die sich zu einem eigenen Verband zusammengeschlossen hatten.1578 Dieser Kriegsblindenverband blieb bis 1934 bestehen. 1932 kam es allerdings zu einer Abspaltung. Einige Kriegsblinde verließen den Kriegsblindenverband und schlossen sich zum „Bund der österreichischen Kriegsblinden“1579 als Sektion des christlich-sozialen Reichsbundes für Kriegsopfer zusammen.1580 Im autoritären „Ständestaat“ wurde der „Kriegsblindenverband“1581 und der „Bund der österreichischen Kriegsblinden“ 1934 in den „Österreichischen Kriegsopferverband“ und in weiterer Folge 1936 durch das „Kriegsopferverbandsgesetz“1582 dem staatlich gelenkten „Einheitsverband der Kriegsopfer Österreichs“1583 eingegliedert.1584 In Deutschland hatte bis 1933 der 1916 gegründete „Bund erblindeter Krieger“ als unabhängige Kriegsblindenorganisation bestanden. 1921 zählte der Bund 2.521 Mitglieder. Insgesamt gingen die Behörden damals von 2.547 Kriegsblinden aus, die Organisationsquote des „Bundes erblindeter Krieger“ betrug demnach 99 Prozent.1585 1933 wurde diese Vereinigung zunächst zur „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“1586 in der „Nationalsozialistischen Kriegsopferorganisation e. V.“ (NSKOV). In dieser Abteilung wurden nach dem „Anschluss“ auch die Kriegsblinden der „Ostmark“ organisiert. Ferdinand Ehmann übernahm 1938 die Leitung der Landesgruppe „Ostmark“ der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“. Ehmann hatte im Ersten Weltkrieg sein Augenlicht und 1578 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 159. 1579 Im Register des WStLA gibt es einen Akt zu diesem Verein. Eine Bestellung dieser Unterlagen ist allerdings fehlgeschlagen, da der Akt nicht gefunden werden konnte. Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 6678/32, Bund der österreichischen Kriegsblinden. 1580 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 79; Hoffmann, Kriegsblinde, S. 164. 1581 Der Historiker Otto Jähnl nannte sein Kapitel über den Zeitraum von 1934 bis 1945, in dem der Kriegsblindenverband nicht als eigenständige Organisation bestanden hat, „Intermezzo“. Auch wenn der „Kriegsblindenverband“ vereinsrechtlich in dieser Zeit tatsächlich nicht bestand, gab es aber sehr wohl personelle Kontinuitäten, wie das im Folgenden geschilderte Beispiel von Ferdinand Ehmann aufzeigen wird. Die Kriegsblindenorganisation von 1934 bis 1945 war allerdings nicht Teil Jähnls wissenschaftlicher Fragestellung. Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 109. 1582 Vgl. [Ö] BGBl., Nr. 79/1936, Bundesgesetz betreffend die Amtsdauer der Organe der Vereine der Kriegsinvaliden und Kriegshinterbliebenen (Kriegsopferverbandsgesetz) vom 12. März 1936. 1583 Karrer, Geschichte der Kriegsopferorganisation, S. 37–40, hier S. 38–39. 1584 Vgl. Karrer, Geschichte der Kriegsopferorganisation, S. 37–40, hier S. 38–39; Menzel, Ein Rückblick, S. 69– 70. [Menzel arbeitete ab 1920 im Sekretariat des Kriegsblindenverbandes und war auch für die NSKOVFachabteilung für Kriegsblinde tätig.] 1585 Vgl. Gerber, Disabled Veterans, pp. 899–916, hier p. 904. 1586 1940 erfolgte die endgültige Auflösung des Bundes und die damit verbundene Umbenennung in NSKOV„Fachabteilung erblindeter Krieger“. Bei Aussagen, die sich dieser Organisation zeitlich nicht zuordnen lassen, sondern sich auf den gesamten, in dieser Studie relevanten Zeitraum von 1938 bis 1945 beziehen, wird die Bezeichnung „Fachabteilung erblindeter Krieger“ verwendet. Der „Bund erblindeter Krieger“ hatte allerdings bereits mit seinem Anschluss an die NSKOV seine Selbständigkeit verloren, bevor Ende 1940 die endgültige Auflösung erfolgte. Vgl. Kapitel III.3.3, III.3.4, III.3.5, III.3.6. 220 beide Hände verloren und war schon in der Wiener Landesgruppe des österreichischen Kriegsblindenverbandes aktiv gewesen, in welcher Funktion und in welchem Zeitraum ist nicht bekannt.1587 3.2 Aufbau und Ziele der NSKOV e. V. Im September 1930 richtete die NSDAP in Deutschland unter der Leitung von Hanns Oberlindober ein Referat für Kriegsopferversorgung ein,1588 woraus sich die NSKOV entwickelte. Zu diesem Zeitpunkt war das Kriegsopfervereinswesen in Deutschland stark zersplittert.1589 Unter dem NS-Regime sollten die vielen einzelnen Gruppierungen in einer Zentralorganisation zusammengefasst werden. Dieser Prozess war im Juli 1933 weitgehend abgeschlossen und die NSKOV galt als offizielle Vereinigung aller deutschen Kriegsopfer.1590 Die NSKOV gehörte zu den der NSDAP angeschlossenen Verbänden1591 und unterstand dem „Hauptamt für Kriegsopfer“. Nach dem „Organisationshandbuch der NSDAP“1592 von 1943 waren als Mitglieder alle Kriegsopfer und deren Angehörige sowie Mitglieder der Polizei, SA, SS, Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK), des RAD und der NSDAP, die auf Grund des so genannten „Kampf[es] um die nationale Erhebung“ invalide geworden waren, zugelassen.1593 Darüber hinaus mussten sie „deutscher Abstammung“ sowie „im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte“ sein, sich zum „Staate Adolf Hitlers“ bekennen und einen „[u] nbescholtenen [sic!] Lebenswandel“ führen.1594 Die Beauftragten der NSKOV wurden 1934 per Gesetz bevollmächtigt, Kriegsopfer bei den Versorgungsbehörden und Gerichten vertreten zu können.1595 Die Integration der Kriegsopfer in die Arbeitswelt und die Schaffung von Wohnraum für NSKOV-Mitglieder zählten zu den offiziellen Hauptaufgaben dieser NS-Organisation.1596 Die NSKOV verstand sich als „Frontkämpfergemeinschaft“1597, war aber keinesfalls eine reine Interessenvertretung, sondern erfüllte in erster Linie politische Aufgaben: „As with the most NSDAP affiliates the main purposes of the NSKOV were social control and propaganda.“1598 1587 Vgl. Hirsch, Die Kriegsblinden in der Zentralorganisation, S. 109. Die Mitteilungen der Kriegsblindenvereinigung wurden als eigene Beilage zu jeder Ausgabe der Zeitschrift „Österreichs Kriegsopfer“ beigelegt. Per Fernleihe konnte der betreffende Beitrag allerdings nicht bestellt werden, weil in der Universität 1588 Vgl. Diehl, Disabled Veterans, pp. 705–736, hier p. 706. 1589 Vgl. Diehl, Disabled Veterans, pp. 705–736, hier p. 709. 1590 Vgl. Diehl, Disabled Veterans, pp. 705–736, hier p. 711. 1591 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 239. 1592 Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch. 1593 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 239. 1594 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 239. 1595 Vgl. [D] RBGl., Teil I, Fünftes Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen, S. 544–547; Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 240. 1596 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 240. 1597 Schmalfuß, An unsere Leser, S. 1. [Schmalfuß war von 1926 bis 1945 Schriftleiter der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“.] 1598 Diehl, Disabled Veterans, pp. 705–736, hier p. 728; Vgl. auch Diehl, The Thanks of the Fatherland, p. 46; Vgl. weiterführend: Zeck, Erziehung zu soldatischem Geist, S. 193–195, hier S. 193; Karrer, Geschichte der Kriegsopferorganisation, S. 37–40, hier S. 39. 221 3.3 Entstehung und Entwicklung der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ Im Juli 1933 wurde der „Bund erblindeter Krieger“ zu einer Abteilung der NSKOV.1599 Im Gegensatz zu anderen Kriegsopferorganisationen behielt diese Organisation zunächst formal ihre Selbständigkeit.1600 Erst 1940 löste sich der Bund endgültig auf.1601 Die eigene Abteilung für Kriegsblinde blieb bestehen, sie wurde aber in „Fachabteilung erblindeter Krieger“ umbenannt, um die Auflösung des „Bundes erblindeter Krieger“ auch nach außen hin zu demonstrieren. Die Fachabteilung unterstand der „Betreuungsabteilung“1602 der NSKOV.1603 Die Kriegsblinden und die „Hirnverletzten“ waren die einzigen Gruppen von Kriegsopfern, für die in der NSKOV Spezialabteilungen zuständig waren. Ein Grund dafür war, dass die Rehabilitation von „hirnverletzten“ und kriegsblinden Soldaten als besonders aufwendig galt und daher die NSKOV ein behindertenspezifisches Angebot zur besseren Integration dieser Kriegsopfer in die Arbeitswelt als notwendig erachtete. Es gab allerdings Kriegsblinde, die in die Zuständigkeit beider Spezialabteilungen fielen, da einige Soldaten auf Grund einer schwerwiegenden Kopfverletzung erblindet waren und eine Sehbehinderung auch die Folge einer dauerhaften Hirnschädigung sein konnte.1604 In den Akten eines Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges, Heinrich H., für den das Versorgungsamt Linz zuständig war, befindet sich etwa ein ausgefüllter Fragebogen der „NSKOV Gruppe hirnverletzter Krieger“1605 vom Juli 1939.1606 Von 1929 bis 1936 fungierte Peter Plein als Vorsitzender des „Bundes erblindeter Krieger“ und der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“.1607 Wie die führenden Funktionäre der Zivilblindenorganisationen verhielt er sich nach der Machtübertragung an Hitler dem neuen Regime gegenüber loyal.1608 1933, noch vor dem Erlass der „Nürnberger Rassengesetze“ 1934, führte der „Bund erblindeter Krieger“ den „Arierparagraphen“ ein und schloss bis Dezember des gleichen Jahres 17 Mitglieder wegen ihrer jüdischen Herkunft aus.1609 Die NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ betrieb einen extremen Führerkult und verbreitete über die monatlich erscheinende Zeitschrift „Der 1599 Vgl. o. A., Bund erblindeter Krieger e. V., S. 146–147, hier S. 146; Schmalfuß, An unsere Leser, S. 1. 1600 Vgl. o. A., Bund erblindeter Krieger e. V., S. 146–147, hier S. 146. 1601 In einem historischen Abriss gibt der „Bund der Kriegsblinden Deutschlands“, der sich offiziell als Nachfolgeorganisation des „Bundes erblindeter Krieger“ ansieht, an, zwischen 1933 und 1945 weiterhin eigenständig gewesen zu sein. Vgl. o. A., Geschichte des BKD, <http://www.kriegsblindenbund.de/geschichte. htm>, Download am 9.2.2009. 1602 Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 242. 1603 Vgl. Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 338; Schöffler, Hohe Begräbniskosten, S. 121– 122, hier S. 121. 1604 Vgl. Kapitel III.1.2.2, III.1.3. 1605 Nach 1939 wurde diese Gruppe, die ihren Sitz in München hatte, offenbar in „Fachabteilung hirnverletzter Krieger“ umbenannt. 1606 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Heinrich H., Fragebogen NSKOV Gruppe hirnverletzter Krieger vom 3.7.1939. 1607 Peter Plein war Vorsitzender des „Bundes erblindeter Krieger“ von 1929–36 und von 1949–52 der Nachfolgeorganisation Bund der Kriegsblinden Deutschlands. Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 219–220; o. A., Geschichte des BKD. 1608 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 193. 1609 Wie das NS-Regime mit jüdischen Kriegsblinden umging, wird in einem eigenen Kapitel behandelt. Vgl. Kapitel IV.3.3; Richter, Blindheit und Eugenik, S. 16–34, hier S. 21; Pielasch, Jaedicke, Geschichte des 222 Kriegsblinde“ die NS-Propaganda, wie beispielsweise Hetzkampagnen gegen Menschen jüdischer Herkunft.1610 Peter Plein wurde 1936 von der NSKOV zum Rücktritt gezwungen, da er die Selbständigkeit des „Bundes erblindeter Krieger“ innerhalb der NSKOV erhalten wollte.1611 Bis 1940 fungierte dann August Martens als Bundesobmann.1612 Im Zuge der endgültigen Auflösung des Vereines übernahm Josef Friedel aus Würzburg 1941 seine Funktion.1613 Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges begann die Wehrmacht, die NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ in die Versorgung der erblindeten Soldaten mit einzubeziehen.1614 Wie im vorherigen Kapitel beschrieben, setzte das OKW Vertreter dieser NSKOV-Spezialabteilung zur Rehabilitation erblindeter Soldaten in Reservelazaretten ein. Sie nahmen an den so genannten „Berufsberatungen“1615 teil, vertraten die Kriegsblinden in sozialrechtlichen Angelegenheiten und sollten durch persönliche Besuche vor allem dazu beitragen, den psychischen Zustand der Betroffenen zu verbessern.1616 Seinen Geschäftssitz hatte die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ im „AdolfHitler-Kriegsblindenhaus“ in Berlin, Wilhelmshöhe. 1934 steuerte Adolf Hitler zur Errichtung 50.000 RM bei und gab auch die Genehmigung zur Verwendung seines Namens für das Haus.1617 Im Kriegsblindenhaus befanden sich die Geschäftsstelle der NSKOVSpezialabteilung, die „Deutsche Kriegsblindenstiftung“1618, eine Bücherei, die Räumlichkeiten der „Deutschen-Kriegsblinden-Arbeitsfürsorge“1619 und vier Doppelzimmer, in denen Mitglieder übernachten konnten.1620 Aus den Mitteln der Kriegsblindenstiftung finanzierte die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ beispielsweise Tastuhren, die die Organisation im Zweiten Weltkrieg jedem erblindeten Soldaten überreichte. Auch für die Benutzung durch blinde Menschen speziell adaptierte Gesellschaftsspiele verteilte die NSKOV aus diesen Mitteln an Betroffene.1621 Darüber hinaus zahlte die Stiftung Beihilfen und Darlehen aus, beispielsweise bei Eheschließungen,1622 und finanzierte Erholungsaufenthalte.1623 Die Gelder der „Kriegsblindenstiftung“ stammten aus Spendensammlungen, die nach dem Sammlungsgesetz vom 5. November 1934 genehmigungspflichtig waren. Blindenwesens, S. 162; Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 206–209; Bab, Leben und Tod des deutschen Judentums, S. 105. 1610 Vgl. Kapitel III.3.5.1; Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 193. 1611 Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesen, S. 162. 1612 Vgl. o. A., Bund erblindeter Krieger, S. 146–147; Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 220. 1613 Nach dem Ende des Krieges übernahm Friedel zwischen 1967 bis 1971 die Funktion des Vorsitzenden des Landesverbandes Bayern des „Bundes der deutschen Kriegsblinden“ Vgl. Fincke, Kriegsblinde in der DDR, S. 220–221. 1614 Vgl. Schmalfuß, Mit vereinten Kräften, S. 73–79, hier S. 74. 1615 Vgl. Kapitel III.4.1, III.4.2.2, III.5. 1616 Vgl. Kapitel III.2.3. 1617 Als Zentrum des deutschen Kriegsblindenwesens wurde dieses Gebäude, in Anlehnung an den Sitz der NSDAP-Reichsleitung in München, auch als „das braune Haus auf der Wilhelmshöhe“ bezeichnet, Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 214. 1618 Claessens, Von der Deutschen Kriegsblindenstiftung, S. 69–70. 1619 Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 215. 1620 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 215. 1621 Vgl. Klingel, Erholungsheim zum Mittelpunkt, S. 65–66, hier S. 65. 1622 Vgl. Kapitel III.7. 1623 Vgl. Jantzen, Die Tätigkeit der Deutschen Kriegsblindenstiftung für 1937, S. 204; Kapitel III.6. 223 Hierbei galten die gleichen Bestimmungen wie für die Organisationen der Zivilblinden.1624 Nach dem „Anschluss“ wollte diese Stiftung ihre Spendenwerbung auch auf die „Ostmark“ ausweiten. Im „Altreich“ war ihr per Erlass vom 11. April 1939 der Postversand von bis zu 100.000 Spendenschreiben an Personen, die diese Organisation schon in früheren Jahren unterstützt hatten, bereits genehmigt worden. Am 20. Mai 1939 erteilte der „Reichsminister des Inneren“ dann die Bewilligung, diese Sammlungstätigkeit auch auf die „Ostmark“ auszudehnen.1625 Während die zugelassenen Vereine für Zivilblinde, der DBV und der RBV, nur in eingeschränktem Maße nach dem „Anschluss“ in der „Ostmark“ Spendenmittel lukrieren konnten, erfuhr die Kriegsblindenstiftung der NSKOV hier eine wesentlich günstigere Behandlung.1626 Die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ und ihre Einrichtungen blieben bis 1943 in Berlin. Im Laufe dieses Jahres übersiedelte die Geschäftsstelle wegen der Luftangriffe nach Braunlage im Harz. Dort besaß die NSKOV-Spezialabteilung für Kriegsblinde das „Paul Silex Heim“.1627 Die Geschäftsstelle der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ in Berlin wurde 1944 durch Bombentreffer zerstört.1628 Das ehemalige Erholungsheim in Braunlage diente gegen Kriegsende allerdings nicht nur als Sitz der Geschäftsstelle: In zwei Werkstatträumen und einem Schulzimmer, die provisorisch eingerichtet worden waren,1629 erhielten Kriegsblinde, die ohne eine entsprechende Schulung aus der Wehrmacht entlassen worden waren,1630 und im Krieg erblindete Zivilpersonen eine Berufsausbildung. Außerdem kam in Braunlage auch die Zentralstelle der „Deutschen Kriegsblinden-Arbeitsgemeinschaft“ unter, die kriegsblinden HandwerkerInnen Arbeitsaufträge erteilte und Rohstoffe besorgte.1631 Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges besaß diese Organisation auch eine Zweigstelle in Wien.1632 Durch die Zerstörung der Geschäftsstelle in Berlin musste die Bücherei der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ nach Braunlage verlegt werden. Die Kriegsblinden, die Bücher ausgeliehen hatten, sollten diese dorthin schicken und wurden noch im Herbst 1944 zu Spenden aufgerufen, um einen neuen Bücherbestand aufbauen zu können.1633 1624 Vgl. Kapitel II.3.8. 1625 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/18, GZ VW II 9 u. 10/39-9164, Reichsminister des Inneren an die Deutsche Kriegsblindenstiftung vom 20.5.1939, Betreff: Antrag vom 21.4.1939; Jantzen, Ludwig, Bundestag 1939, S. 145–151, hier S. 148. Mit den gesammelten Geldern in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ sollte unter anderem die Renovierung des „ostmärkischen“ Erholungsheimes für Kriegsblinde in Eibischwald finanziert werden. Vgl. Kapitel III.6. 1626 Vgl. Kapitel II.3.8. 1627 Vgl. Klingel, Erholungsheim zum Mittelpunkt, S. 65–66, hier S. 65. 1628 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 217; Klingel, Erholungsheim zum Mittelpunkt, S. 65–66, hier S. 65. 1629 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 217; Klingel, Erholungsheim zum Mittelpunkt, S. 65–66, hier S. 65. 1630 Vgl. Kapitel III.4.2.4. 1631 Vgl. Kapitel III.5.2; Klingel, Erholungsheim zum Mittelpunkt, S. 65–66, hier S. 65. 1632 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Fritz H., HVA Wien an Reichsstatthalter in Sachsen, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte in Dresden vom 26.8.1944, Betreff: Kriegsblinder Fritz H. [Über weitere Geschäftsstellen ist nichts bekannt.] 1633 Vgl. o. A., Auf- und Ausbau der Deutschen Kriegsblinden-Bücherei, S. 70. 224 3.4 Die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ in der „Ostmark“ Wie bereits eingangs erwähnt, gab es 1938 keinen selbständigen Kriegsblindenverband in Österreich, sondern nur eine entsprechende Sektion des „ständestaatlich“ gelenkten Einheitsverbandes der Kriegsopfer.1634 Ferdinand Ehmann wurde nach dem „Anschluss“ 1938 zunächst kommissarisch zum Obmann des „Landesverbandes Ostmark“ der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ bestimmt, Rudolf Fuchs zu seinem Stellvertreter.1635 Sitz der Organisation wurde das Palais Esterhazy in Wien.1636 Dem „Landesverband Ostmark“ sollten sich möglichst alle Kriegsblinden der „Alpen- und Donaureichsgaue“ anschließen. Nach eigenen Angaben traten 305 Kriegsblinde bei.1637 Dementsprechend wären in der „Ostmark“ ebenfalls nahezu alle Kriegsblinden von dieser NSKOVSpezialabteilung erfasst worden.1638 1939 gliederte sich die NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ in insgesamt 15 „Landesverbände“, die wiederum in 47 Bezirke unterteilt waren. Die Landesgruppe „Ostmark“ verfügte in allen „Alpen- und Donaureichsgauen“ außer in Wien über eine eigene Bezirksvertretung.1639 Wahrscheinlich ist, dass Ehmann für die Kriegsblinden Wiens zuständig war. Als NSDAP-Mitglied war Ehmann wie seine Amtskollegen im „Altreich“ ein Anhänger des NS-Regimes.1640 Im Mai 1938 reiste Ehmann zusammen mit zehn anderen namentlich nicht genannten Kriegsblinden aus der „Ostmark“1641 nach Berlin zu einem Treffen mit dem Vorsitzenden der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“, August Martens. Unter anderem besuchten sie das „Adolf-Hitler-Kriegsblindenhaus“. Anlass der Reise war die jährlich stattfindende „Reichskriegsopfertagung“ der NSKOV in Northeim.1642 Diese erste Zusammenkunft diente den Kriegsblinden der „Ostmark“ in erster Linie zur ideologischen Schulung. Die Kriegsblinden der „Ostmark“ sollten sich nicht nur mit den versorgungsrechtlichen Grundlagen und Aufgaben, sondern vor allem mit dem „Leistungsprinzip“1643 der nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung vertraut machen.1644 1634 Daneben existierte noch der 1916 gegründete „Verein Kriegsblindenheimstätten“, der mittellosen Kriegsblinden Wohnraum finanzierte, allerdings 1938 über kein nennenswertes Vereinsvermögen mehr verfügte. Der Stillhaltekommissar ordnete an ihn aufzulösen. Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 73–75 und S. 177–180; Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 294; M. Abt. 119, A 32, Zl. 2891/22, AZ IV Ad 38, Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände an die Polizeidirektion Wien vom 1.8.1938, Betreff: Kriegsblindenheimstätten. 1635 Vgl. Fuchs, Unser Führer in Wien, S. 132–134. 1636 Vgl. o. A., Fünfzig Jahre Schicksalsgemeinschaft der österreichischen Kriegsblinden, S. 7–20, hier S. 17. 1637 Vgl. Jantzen, Ludwig, Bundestag 1939, S. 145–151, hier S. 146. 1638 Am 1. Dezember 1938 lebten nach einer Angabe des Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit in Österreich noch 336 ehemalige Soldaten, die zusätzlich zu ihrer Invalidenrente den Blindenzuschuss erhielten. Vgl. ÖSTA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 56, GZ. 551.087/Abt.1/1938 eingelegt in: Zl. 1944, Versorgung der Kriegsopfer, Ministerium für Wirtschaft und Arbeit an den Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs vom 19.7.1938, Betreff: Versorgung der österreichischen Kriegsopfer; Kapitel III.1.1. 1639 Vgl. o. A., Mitteilungen der Fachabteilung, S. 257–279, hier S. 278. 1640 Vgl. Ehmann, Ein österreichischer Kriegsblinder erlebt den Sieg, S. 129–132. 1641 Vgl. Schmalfuß, Northeim, S. 161–163. 1642 Vgl. Ehmann, Die österreichischen Kriegsblinden bei der Reichsarbeitstagung, S. 163–165, hier S. 164. 1643 Ehmann, Die österreichischen Kriegsblinden bei der Reichsarbeitstagung, S. 163–165, hier S. 164; Vgl. Diehl, The Thanks of the Fatherland, p. 45. 1644 Vgl. Ehmann, Die österreichischen Kriegsblinden bei der Reichsarbeitstagung, S. 163–165. 225 Vom 21. bis 24. Jänner 1939 fand dann eine umfangreichere Schulung für alle Funktionäre des „Landesverbandes Ostmark“ in den Räumen der Handelskammer am Stubenring in Wien statt. Zu diesem Zweck reisten Vertreter der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ aus dem „Altreich“, unter anderem der Vorsitzende Martens, sein Stellvertreter Friedel und Schmalfuß, der Schriftleiter der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“, nach Wien.1645 Abb. 11: Teilnehmer der NSKOVSchulung für Kriegsblinde im Januar 1939 in Wien. Im Rahmen dieser Veranstaltung fand auch ein so genannter „Appell“ statt, wozu die Kriegsblinden aus Wien, „Oberdonau“ und „Niederdonau“ mit Betroffenen aus dem Sudetenland „antraten“.1646 Die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ verwendete durchgängig diese militärische Sprache, um bei den Mitgliedern das Selbstverständnis als ehemalige Soldaten zu fördern. Die Durchführung solcher Versammlungen und abendlichen Zusammenkünfte, die teilweise monatlich stattfanden, gehörten zu den wichtigsten Aufgaben der Bezirksorganisationen.1647 An derartigen Treffen nahmen auch regelmäßig hochrangige Vertreter der NSDAP, der NS-Verwaltung sowie der Wehrmacht teil, wodurch den Kriegsblinden vermittelt werden sollte, die Kriegsopfer lägen dem NS-Regime „besonders am Herzen“.1648 Zur Weihnachtsfeier des „Landesverbandes Ostmark“ am 13. Dezember 1939 in Wien kamen beispielsweise Gauleiter Josef Bürckel und SS-Oberführer Karl Scharizer sowie mehrere namentlich nicht genannte Offiziere der Wehrmacht.1649 Auf der Weihnachtsfeier 1940 hielten unter anderem der Reichsstatthalter in Wien Baldur von Schirach sowie der Gauleiter von „Niederdonau“ Hugo Jury Ansprachen.1650 Darüber hinaus wurden diese Zusammenkünfte zur „politischen Ausrichtung“1651 genutzt. Beim „Jahresappell“ der „Gaufachabteilungen“ Tirol, Salzburg und „Oberdonau“ hielt 1645 Vgl. Fr[iedel], Die Kameraden der Ostmark traten an, S. 71–73, hier S. 71. 1646 Vgl. Fr[iedel], Die Kameraden der Ostmark traten an, S. 71–73, hier S. 72. 1647 Vgl. o. A., Bund erblindeter Krieger, S. 146–147, hier S. 146. 1648 Hitler, Gauleiter bei Kriegsblinden, S. 4; o. A., Gauleiter der Ostmark vor Kriegsblinden, S. 73–74. 1649 Vgl. B., Aus dem Bundesleben. Landesverband Ostmark, S. 31. 1650 Vgl. o. A., Weihnachtsfeier in Wien, S. 18–19, hier S. 18. 1651 Huber, Aus dem Kameradenkreis, S. 109; Weghofer, Ein Stimmungsbild, S. 104–105, hier S. 104. 226 Ehmann zu diesem Zweck einen Vortrag über den „Opferbegriff als Nationalsozialist und Kriegsblinder“.1652 Außerdem demonstrierten solche Veranstaltungen, an denen Vertreter der NSDAP und des Militärs teilnahmen, die vermeintliche Einheit von „Partei und Wehrmacht“.1653 Die Funktionäre der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ waren außerdem dazu angehalten, Kriegsblinde, die auf dem Land wohnten, regelmäßig persönlich zu besuchen.1654 Gegen Ende des Krieges konnte die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ ihre Tätigkeit kaum mehr ausüben. Bereits am Sonntag, den 10. September 1944, wurde ihr Sitz in Wien durch einen Bombentreffer zerstört.1655 Im April 1945 begannen einige Kriegsblinde die Grundlagen für eine neue Selbsthilfeorganisation zu legen. Hans Hirsch, der als einziger Kriegsblinder, der nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ als Jude galt, die Zeit der NS-Diktatur in Wien überlebt hatte und den Kriegsblindenverband nach dem Ersten Weltkrieg mit aufgebaut und bis 1934 geleitet hatte, verfasste am 5. Mai 1945 den ersten Rundbrief an die Betroffen in Wien mit der Bitte, sich zu einer neuen Vereinigung zusammenzuschließen.1656 Auf die Person Hans Hirsch wird u. a. im Kapitel IV.3.3.4 sowie in Kapitel III.10.2 näher eingegangen. 3.5 Die Propagandatätigkeit der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ 3.5.1 Die Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ Das wichtigste Medium der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ war die Monatsschrift „Der Kriegsblinde“.1657 Im Lauf des Krieges verringerte sich allerdings der Umfang der Zeitschrift und ab 1942 kamen nur mehr Doppelnummern heraus.1658 Mit 31. Dezember 1944 gab der NSKOV im Editorial bekannt, die Zeitschrift endgültig für die Dauer des Krieges einzustellen.1659 1652 Vgl. Huber, Aus dem Kameradenkreis, S. 109. 1653 Vgl. Diehl, The Thanks of the Fatherland, p. 49. 1654 Vgl. o. A., Bund erblindeter Krieger, S. 146–147, hier S. 146; Fr[iedel], Die Kameraden der Ostmark traten an, S. 71–73, hier S. 71; Jantzen, Ludwig, Bundestag 1939, S. 145–151, hier S. 147. 1655 Vgl. o. A., Fünfzig Jahre Schicksalsgemeinschaft der österreichischen Kriegsblinden, S. 7–20, hier S. 17. 1656 Vgl. Kapitel IV.3.3.4, IV.7; Jähnl, Kriegsblinden, S. 117, 129; Alois Poisel, Festansprache, S. 19–23, hier S. 20. 1657 Ab 1934 erschien diese mit dem Zusatztitel „Zeitschrift der Deutschen National-Sozialistischen Kriegsopferversorgung e. V. Fachabteilung Bund erblindeter Krieger e. V.“. Als 1940 der „Bund erblindeter Krieger“ endgültig aufgelöst wurde, änderte sich damit auch die Titelseite: Die Zeitschrift bekam 1941 den Titel „Deutsche Kriegsopferversorgung. Fachblatt: Der Kriegsblinde“ und als Herausgeber fungierte der „Reichskriegsopferführer“ Hanns Oberlindober. Der Vorsitzende der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ wurde nicht mehr wie in früheren Ausgaben auf dem Titelblatt genannt. 1658 In den Jahren davor erschien nur in den Sommermonaten jeweils eine Doppelnummer pro Jahr. 1659 Vgl. o. A., An unsere Leser, in: Der Kriegsblinde, Nr. 11/12, Jg. 28 (1944), S. 73. 227 Zur Zielgruppe des Mediums zählten nach eigenen Angaben in erster Linie Kriegsblinde.1660 1940 erreichte „Der Kriegsblinde“ eine Auflage von 5.600 Stück.1661 Die Stückzahl war damit doppelt so hoch wie die der Zeitschrift „Die Blindenwelt“ des RBV. Diese erschien 1941 mit einer Auflage von 2.450 Stück,1662 obwohl im „Deutschen Reich“ wesentlich mehr Zivilblinde lebten. Die Kriegsblinden machten 1940 nur etwa zehn Prozent der Gesamtzahl der blinden Menschen aus.1663 Ein weiterer Unterschied zur RBV-Zeitschrift war, dass „Der Kriegsblinde“ zwar ein Medium für blinde Menschen war, aber trotzdem nicht in Punktschrift erschien. Es gab nur eine Schwarzschriftausgabe. Auf einer Arbeitstagung der „Gebiets- und Gaufachleiter“ der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ im Jahr 1941 wurde zwar die zusätzliche Herausgabe in Brailleschrift angedacht, „ein offenkundiges Bedürfnis“ der Kriegsblinden konnte aber nicht nachgewiesen werden.1664 Die NS-Herausgeber gingen davon aus, dass die erblindeten Soldaten genügend Möglichkeiten hätten, sich die Beiträge vorlesen zu lassen. Viele Kriegsblinde beherrschten ferner die Punktschrift nur rudimentär. Die Ausbildung der Kriegsblinden im Lesen der Brailleschrift hatte sowohl nach dem Ersten als auch nach dem Zweiten Weltkrieg nur wenige Monate betragen und den Betroffenen große Schwierigkeiten bereitet.1665 Die Information über sozialrechtliche Angelegenheiten spielte in der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ nur eine untergeordnete Rollte. Die meisten Berichte waren Teil der NSPropaganda.1666 Charakteristisch war außerdem die Verwendung von militärischen Ausdrücken.1667 Kriegsblinde, die in der NSKOV „Fachabteilung für erblindete Krieger“ tätig waren, wurden dementsprechend auch als „politische Soldaten des Führers“1668 bezeichnet. Viele Beiträge waren antisemitisch. Ab 1934 begann in der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ eine „systematische Diffamierungs- und Hetzkampagne“1669 gegen Menschen, die nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ als Jüdinnen und Juden galten. Auffallend häufig erschienen 1939 antijüdische Artikel zu Überschriften wie „Eine alte Schuld muß beglichen werden. Die Sünden der Juden am deutschen Volk“1670 oder „Wie ich Judengegner wurde“.1671 Außerdem erschienen Beiträge, die das Selbstwertgefühl der Betroffenen ansprachen. Kriegsblinde sollten sich als eine eigene, separate Gruppe von blinden Menschen begreifen. In diesem Zusammenhang wurde auch die NS-Argumentation zur Rassenhygiene widerlegt, die alle Menschen mit einer Behinderung als „minderwertig“ stigmatisierte.1672 Der NS-Ideologie entsprechend wurden Kriegserblindungen daher moralisch höher bewertet als zivile Erblindungsursachen.1673 1660 Vgl. Schmalfuß, Fachzeitschrift, S.65–68, hier S. 66. 1661 Vgl. Schmalfuß, Fachzeitschrift, S.65–68, hier S. 66. 1662 Vgl. Kapitel II.3.4.1. 1663 Vgl. Schmalfuß, Fachzeitschrift, S. 65–68, hier S. 67. 1664 Vgl. Schmalfuß, Kriegs-Arbeitstagung Söcking, S. 65–68, hier S. 68. 1665 Vgl. Kapitel III.4.2.1; Hoffmann, Kriegsblinde, S. 82–83. 1666 Vgl. Schmalfuß, Fachzeitschrift, S. 65–68, hier S. 67. 1667 Vgl. Zeck, Erziehung zu soldatischem Geist, S. 193–195; Huber, Soldatentum der Kriegsblinden, S. 17–18. 1668 Haule, Unsere Freizeitgestaltung, S. 84–85, hier S. 84. 1669 Richter, Blindheit und Eugenik, S. 82. 1670 O. A., Eine alte Schuld muß beglichen werden, S. 15–16. 1671 Mettel, Wie ich Judengegner wurde, S. 16 [Abdruck aus „Der Stürmer“]. 1672 Vgl. Kapitel II.8.2.6; Schmalfuß, Reichsarbeitstagung der NSKOV, S. 195–199, hier S. 197. 1673 Vgl. Schmalfuß, Reichsarbeitstagung der NSKOV, S. 195–199, hier S. 198. 228 Aus heutiger Sicht absurd erscheinen publizierte Beiträge über angebliche Heldentaten von blinden Menschen, die die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ offenbar platzierte, um den Kriegsblinden das Gefühl zu geben, auch als Menschen mit einer Beeinträchtigung „leistungsfähig“ zu sein. 1939 erschien beispielsweise ein Bericht über einen blinden Vater, der sich angeblich mit seinen 32 [sic!] blinden Söhnen aus Sorrento (Italien) an der gewaltsamen Machtübernahme von Benito Mussolini beteiligt haben soll. Dieser Artikel beschrieb, wie die blinden Männer die so genannten „Freiheitskämpfer“ um die „nationale Einigung“ Italiens nachts, durch unwegsame Sümpfe geführt hatten, was nur ihnen auf Grund ihrer durch die Blindheit geschulten Orientierungsfähigkeit möglich gewesen sei.1674 In der vorhergehenden Ausgabe wurde von einem ehemaligen Frontsoldatem des Ersten Weltkrieges berichtet, dem wegen eines vor kurzem entdeckten Minensplitters ein Auge entfernt werden musste. Die Hornhaut des Auges wurde einem zehnjährigen Jungen in der Universitätsklinik Tübingen eingesetzt, der daraufhin wieder sehen konnte.1675 Die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ schreckte außerdem nicht davor zurück, über angebliche medizinische Forschungsergebnisse zu berichten, die den Kriegsblinden Hoffnungen machten, eines Tages wieder sehen zu können.1676 Dieser Aspekt war allerdings von besonderer Tragik für die Betroffenen, da aus damaliger medizinischer Sicht eine Wiedererlangung des Sehvermögens in den allermeisten Fällen unmöglich war. Die Aussicht, wieder sehen zu können, behinderte zudem die Rehabilitation der Betroffenen. Franz Schubert, Lehrer im „Blindensammellazarett“ kritisierte 1943 dezidiert die ÄrztIn­nen in den Lazaretten, die die erblindeten Soldaten nicht über das Ausmaß ihrer irreversiblen Augenverletzung informierten, weshalb die Betroffenen ihre Blindheit nur als vorübergehend einschätzten. Viele erblindete Soldaten sahen daher keinen Sinn darin, in einem Reservelazarett für Kriegsblinde die Blindenschrift und andere für blinde Menschen zur Alltagsbewältigung notwendige Fertigkeiten zu lernen.1677 Dieses Beispiel zeigt, was charakteristisch für die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ war: Sie war keine Interessenvertretung von Kriegsveteranen, sondern die NSKOV und ihre Abteilungen dienten in erster Linie der Verbreitung der NS-Propaganda und der Umsetzung der NS-Ideologie.1678 3.5.2 Die Rolle von Kriegsblinden in der NS-Propaganda Die Propagandawirksamkeit von Kriegsblinden in der Öffentlichkeit spielte beim Umgang des NS-Regimes mit ihnen eine besondere Rolle. Der NS-Staat setzte die erblindeten Kriegsopfer gezielt für die Verbreitung seiner Anliegen, beispielsweise zur Militarisierung der Gesellschaft im Zuge der Wiederaufrüstung, ein.1679 Kriegsblinde nahmen auch bei Paraden auf Ehrenplätzen teil.1680 1935 veranstaltete der NSKOV vom 2. bis 16. Juni in Stuttgart eine 1674 Vgl. o. A., Blinder Vater mit 32 blinden Söhnen, S. 58. 1675 Vgl. o. A., Ein totes Auge macht einen Blinden sehend, S. 10–11. 1676 Vgl. u. a.: o. A., Durch Hornhaut-Überpflanzung wieder sehend, S. 300; Kirst, Sehprothese, S. 35–36; o. A., Forschungsarbeit für Sehprothesen, S. 79. 1677 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 1–10, hier S. 3. 1678 Vgl. Diehl, The Thanks of the Fatherland, p. 49. 1679 Vgl. Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 328; Poore, Disability in Twentieth Century, p. 72. 1680 Vgl. Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 329. 229 Ausstellung unter dem Titel „3000 deutsche Kriegsblinde – ihr Schicksal und Schaffen“.1681 Auf dem Titelblatt der Broschüre zur Ausstellung war ein heroisch dargestellter Soldat mit verbundenen Augen unter dem Hakenkreuz zu sehen. Abb. 12: Titelbild der Broschüre zur „Kriegsblinden­ausstellung“ 1935 in Stuttgart. Bei diesen Veranstaltungen wurden insbesondere die beruflichen Leistungen der Kriegsblinden inszeniert. Sie wurden zu einem Symbol für die Stärke deutscher Soldaten hochstilisiert, die bereitwillig ihr Augenlicht für das „Vaterland“ „geopfert“ hätten. Der Kult um Kriegsblindheit und andere „Kriegshelden“ war charakteristisch für das NS-Regime und sollte motivieren: „Die geistige Mobilmachung der Nation, insbesondere der männlichen Jugend war das vordingliche Ziel“ dieser „Heldenverehrung“.1682 Auch in der „Ostmark“ wurden Kriegsblinde zu Propagandazwecken eingesetzt. Die NSDAP nahm beispielsweise Ferdinand Ehmann 1941 in den Rednerstab des Gaues Wien auf und setzte ihn auf Massenveranstaltungen ein.1683 1943 bestellte die NSDAP Othmar Huber, leitender Funktionär der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ in Graz, zum „Gauredner“.1684 Im weiteren Verlauf des Zweiten Weltkrieges änderte sich die Rolle von Kriegsblinden in der Propaganda. Die Darstellung veränderte sich, da die realen Fronterlebnisse nicht mehr mit den durch den Kult um die Kriegshelden geschürten Erwartungen an den Krieg 1681 O. A., Führer durch die Ausstellung. Zur Darstellung von Kriegsopfern durch die NS-Propaganda vgl. Poore, Disability in Twentieth Century, pp. 69–75. 1682 Schilling, „Helden der Wehrmacht“, S. 550–572, hier S. 570. 1683 Vgl. o. A., Aus dem Kameradenkreis, in: Der Kriegsblinde, Nr. 4, Jg. 25 (1941), S. 91. 1684 Vgl. o. A., Aus dem Kameradenkreis, in: Der Kriegsblinde, Nr. 7/8, Jg. 27 (1943), S. 60–61, hier S. 60. 230 übereinstimmten.1685 Erblindete Männer entsprachen nicht mehr dem Bild des Helden, da sie kampfunfähig und als Menschen mit einer Behinderung mit negativen Eigenschaften besetzt waren.1686 Die Kriegsblinden dienten der NS-Propaganda nun dazu, der Öffentlichkeit zu demonstrieren, wie sehr sich das NS-Regime um ihre Rehabilitation und Integration in ein ziviles Leben bemühe. „Der Kriegsblinde“ war in diesem Zusammenhang ein wichtiges Medium der NSKOV, die persönliche Haltung und Meinung der Kriegsblinden zu beeinflussen. Kriegsblinde, die in ihrem Umfeld dadurch auffielen, dass sie ihre Behinderung nicht akzeptieren konnten und Minderwertigkeitskomplexe hatten, waren ein Widerspruch zum Heldenkult und den Versprechungen des NS-Regimes, die Kriegsopfer umfassend zu versorgen. Die Veranstaltungen der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ sollten einer depressiven Verstimmung der Kriegsblinden entgegenwirken. Den Kriegsblinden wurde durch die NS-Propaganda suggeriert, eine hohe gesellschaftliche Stellung als „die ersten Bürger im Reich“1687 einzunehmen.1688 Dementsprechend sollten sich die Kriegsblinden auch äußerlich von anderen blinden Menschen unterscheiden. Sie trugen nicht das nach der STVO für Zivilblinde und andere Menschen mit einer Behinderung vorgesehene gelbe Abzeichen mit den drei schwarzen Punkten.1689 Das Kennzeichen für Kriegsblinde war das des Eisernen Kreuzes, umrahmt von drei schwarzen Punkten auf gelbem Grund.1690 3.5.3 Der Personenkult um Adolf Hitler „Mein Führer! Ich werde Dich nie sehen können. Doch Deine Stimme bringt mir Dein Bild in das Herz. Deiner Größe, Deinem Heldentum und Deiner Liebe haben wir es zu verdanken, daß auch wir nicht vergeblich gelebt haben.“1691 Der Personenkult um Adolf Hitler spielte in der NSKOV eine wichtige Rolle. Hitler wurde als Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges verehrt, der endlich das realisierte, wofür die Soldaten gekämpft hatten.1692 In Bezug auf die Kriegsblinden kam dabei ein weiterer Aspekt hinzu, der mit der Kriegsteilnahme von Hitler zusammenhing: Adolf Hitler stellte seine gegen Ende des Ersten Weltkrieges durch „Senfgas“1693 erlittene Augenverletzung als vorübergehende 1685 Vgl. Schilling, „Helden der Wehrmacht“, S. 550–572, hier S. 572. 1686 Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 168. 1687 Schmalfuß, An unsere Leser, S. 1; Vgl. Poore, Disability in Twentieth Century, p. 69. 1688 Vgl. weiterführend o. A., Beleidigung eines Kriegsblinden, S. 58. 1689 Vgl. Kapitel II.2.6. 1690 Vgl. Friedrich, Das Doppelfahrrad, S. 48–50, hier S. 49. 1691 Ehmann, Ein österreichischer Kriegsblinder erlebt den Sieg, S. 130. [Zitat von Ehmann in einem Bericht darüber, wie er den „Anschluss“ erlebt hat.] 1692 Vgl. Diehl, The Thanks of the Fatherland, p. 31 und p. 48. 1693 Zu den bekanntesten und wirkungsvollsten „sesshaften“ Kampfstoffen des Ersten Weltkrieges gehörte das Senfgas. Die Dämpfe verursachten Bindehautentzündungen, die sehr schmerzhaft waren. Die betroffenen Soldaten waren zudem extrem lichtempfindlich, weshalb ihnen die Augen verbunden wurden. 231 Erblindung in Aufsätzen und Reden dramatisch dar.1694 Tatsächlich litt Hitler im Oktober 1918 an einer schweren Bindehautentzündung, die von den Dämpfen dieses chemischen Kampfstoffes hervorgerufen worden war. Diese Reizung dauerte zwar meist sehr lange an, zu dauerhaften Schädigungen kam es allerdings nur vereinzelt.1695 Nach seiner eigenen Darstellung rechnete Hitler, der auf Grund seiner Augenverletzung zu Kriegsende in einem Lazarett in Pasewalk medizinisch versorgt wurde, allerdings damit, nie wieder vollständig sehen zu können: „Der bohrende Schmerz in den Augenhöhlen ließ nach; es gelang mir langsam, meine Umgebung in groben Umrissen wieder unterscheiden zu lernen. Ich durfte Hoffnung hegen, wenigstens so weit wieder sehend zu werden, um später irgendeinem Berufe nachgehen zu können. Freilich, daß ich jemals wieder würde zeichnen können, durfte ich nicht hoffen.“1696 Der von der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ betriebene Kult um Adolf Hitler nahm solche Ausmaße an, dass sogar übliche Begrifflichkeiten abgeändert wurden. Bis 1933 wurden beispielsweise die ausgebildeten Hunde von blinden Menschen in der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ als „Führerhunde“ bezeichnet. Auch in der Fassung des RVG vom 12. Mai 1920 wurde dieser Begriff verwendet.1697 Die NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ ersetzte nach der Machtübertragung an Hitler 1933 dieses Wort durch den Begriff „Führhund“1698, der dann auch im WFVO Verwendung fand. Ein weiterer Ausdruck, den die NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ nach 1933 verwendete, war „Leithund“.1699 Nach dem „Anschluss“ nutzte die NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ diesen Führermythos in der „Ostmark“, um die Kriegsblinden an das NS-Regime zu binden.1700 Rudolf Fuchs gab eine Rede Hitlers in Wien im Mai 1938 folgendermaßen wieder: „Als der Führer auf seine fast vollständige Erblindung zu sprechen kommt – auf jenen Schicksalsschlag, den wir in unserer ewigen Nacht wohl am besten mitfühlen und beurteilten können – da herrscht unter den Zuhörern eine tiefe Ergriffenheit.“1701 Dementsprechend existieren einige Bilder von Soldaten des Ersten Weltkrieges mit Augenbinden, das bekannteste stammt wohl von John Singer Sargent und ist eines der Exponate im Imperial War Museum London. Die Auffassung, dass der Einsatz von „Giftgas“ im Ersten Weltkrieg zu einer Zunahme von Kriegserblindungen im Ersten Weltkrieg geführt hätte, ist dementsprechend weit verbreitet. Tatsächlich erblindeten nur vereinzelt Soldaten durch chemische Kampfstoffe. Schuss- und Explosionsverletzungen waren die häufigsten Erblindungsursachen. Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 31–43. 1694 Vgl. Kershaw, Hitler. 1889–1936, S. 143–146; Hitler, Mein Kampf, S. 202–206; Rohrbach, Augen Adolf Hitlers, S. 644–650. 1695 Vgl. Zecha, Unter die Masken, S. 60–61. 1696 Hitler, Mein Kampf, S. 203. 1697 Vgl. GBlÖ, Nr. 450, RVG, § 5. 1698 Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 195; WFVO § 77, 3. 1699 O. A., Arbeits- und Berufskunde. Blindenarbeit in Flugzeugwerken, S. 10. 1700 Vgl. Fuchs, Unser Führer in Wien, S. 132–134, hier S. 132; Martens, Unsere österreichischen Kameraden zum Gruß, S. 97–98, hier S. 98. 1701 Fuchs, Unser Führer in Wien, S. 132–134, hier S. 132. 232 Hitler wurde den Kriegsblinden als ein Mensch präsentiert, der mit ihnen das „Schicksal“ einer Kriegsblindheit „mehrere Monate“ geteilt habe.1702 Auf Grund dieser persönlichen Erfahrung hätte Hitler für die Anliegen der Kriegsblinden besonderes Verständnis.1703 Den Kriegsblinden wurde suggeriert, das NS-Regime würde ihre Interessen daher besonders großzügig berücksichtigen. Außerdem versprachen sich die Kriegsblinden dadurch eine Aufwertung ihres sozialen Status. 3.6 Resümee In diesem Kapitel konnte aufgezeigt werden, dass sich die Kriegsblinden bedingungslos dem NS-Regime anschlossen. Die kriegsblinden Funktionäre unterstützten die antisemitische Hetzkampagnen und durch ihre Propagandatätigkeit auch die Vorbereitungen zum Zweiten Weltkrieg und dessen Rechtfertigung. Kriegsblinde waren daher in einem noch wesentlich umfangreicheren Ausmaß als die Zivilblinden1704 Akteure des NS-Regimes, weil das NSRegime sie auf Grund ihrer öffentlichen Wirksamkeit stärker einband und beispielsweise als Redner einsetzte. Kriegsblinde verbreiteten die NS-Ideologie damit weit über den engen Kreis der Betroffenen hinaus. Es ist daher notwendig, ihre Rolle im NS-Regime genauer zu beleuchten. Das wird in Kapitel III.10 geschehen. 1702 Vgl. Martens, Unsere österreichischen Kameraden zum Gruß, S. 97–98, hier S. 98. 1703 Vgl. Martens, Unsere österreichischen Kameraden zum Gruß, S. 97–98, hier S. 98; Fuchs, Unser Führer in Wien, S. 132–134, hier S. 132. 1704 Vgl. Kapitel II.11.2, II.11.4. 233 4.Die Rehabilitation erblindeter Soldaten 4.1 Reservelazarette für Kriegsblinde Einige Soldaten des Zweiten Weltkrieges waren infolge ihrer Verwundung so schwer behindert, dass sie ohne Umschulungsmaßnahmen keinem Erwerb nachgehen konnten. Um Soldaten, die infolge ihrer Kriegsverletzung dauerhaft behindert waren, wieder in ein ziviles Berufsleben integrieren zu können, verlegte das OKW diese in auf ihre Rehabilitation spezialisierte Reservelazarette. Mit Beginn der Mobilmachung im August 1939 führten alle im Heimatkriegsgebiet bereits bestehenden und neu aufgestellten Lazarette die Bezeichnung „Reservelazarett“.1705 Einige dieser Einrichtungen waren auf bestimmte Erkrankungen oder Behinderungen spezialisiert, beispielsweise auf Augenverletzungen.1706 Die Reservelazarette waren im Rahmen des „Verwundeten-Rücktransport-Systems“1707 der Wehrmacht von der Front in die Heimat die letzte Station für schwer Verwundete und Erkrankte vor ihrer Entlassung aus der Wehrmacht oder gegebenenfalls ihrer Rückkehr zur kämpfenden Truppe.1708 Für die Einrichtung der Lazarette wurden auch zivile Heil- und Pflegeanstalten herangezogen. Deren PatientInnen wurden verlegt oder zu Opfern der NS-„Euthanasie“.1709 Die Wehrkreiskommandanten veranlassten auch in den annektierten Gebieten die Schaffung solcher Einrichtungen.1710 Die Wehrmacht verfügte bis 1943 über etwa 800.000 Betten in Reservelazaretten.1711 Erblindete Soldaten kamen nach Abschluss ihrer medizinischen Behandlung in so genannte „Blindensammellazarette“.1712 Die Sammellazarette für Kriegsblinde waren militärische Einrichtungen1713 und ihrem Konzept nach eine Mischung aus Krankenanstalt 1705 Einleitung zum Bestand „RH 55 Sanitätsdienststellen und Reservelazarette im Heimatkriegsgebiet und in besetzten Gebieten“ im Bundesarchiv Deutschland, MA von Antje Märke, September 2005. Online zugänglich und in der Zweigstelle des Bundesarchivs in Freiburg. 1706 Zu den Reservelazaretten existieren im Militärarchiv des Bundesarchivs in Freiburg nur noch Schriftgutreste. Weiterführende Literatur und Quellen: Müller, Wege zum Ruhm, insb. S. 52–72; Fischer, Sanitätsdienst in den ersten Kriegsmonaten des Jahres 1939, S. 26–27; MA, RH 55, Sanitätsdienststellen und Reservelazarette im Heimatkriegsgebiet und in besetzten Gebieten sowie die in den Fußnoten zu Kapitel III.4.4 genannten weiterführenden Quellenbestände. Zu den Sonderlazaretten des Heeres und den Sonderformationen vgl. Valentin, Die Sonderlazarette des Heeres, S. 167–182; Valentin, Krankenbataillone. 1707 Blaßneck, Militärpsychiatrie, S. 55. 1708 Vgl. Blaßneck, Militärpsychiatrie, S. 57. 1709 Vgl. Thom, Die Entwicklung der Psychiatrie, S. 127–165, hier S. 141. Im Rahmen der „Euthanasie Aktion T 4“ wurden nach einer Aufstellung von Ernst Klee bis Ende 1941 31.058 Betten von zivilen Anstalten für Reservelazarette frei gemacht. Vgl. Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 341. Vgl. weiterführend: Blaßneck, Militärpsychiatrie, S. 57–58; Neumann, Heeressanitätsinspektion, S. 187–188; Kepplinger, NS-Euthanasie in Österreich, S. 35–62, hier S. 53–54; Müller, Militärpsychiatrie, insb. S. 60–64. 1710 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 114. 1711 Vgl. D. Dankert, Der deutsche und alliierte Sanitätsdienst während des II. Weltkrieges unter besonderer Berücksichtigung der Invasion 1944, in: Wehrmedizinische Monatsschrift, Jg. 27 (1983), S. 68–84, hier S. 73, zitiert in: Blaßneck, Militärpsychiatrie, S. 58. 1712 Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 3; Vgl. Thiermann, Ins Leben zurück, S. 34–36, hier S. 35. 1713 Robert Müller berichtet in seinem 2001 publizierten Buch über die Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg anhand des Beispiels Marburg an der Lahn, dass die in Reservelazaretten behandelten Soldaten mit psychischen Erkrankungen nicht als Patienten behandelt wurden, sondern „Eigentum der Deutschen 234 und Schulungsstätte.1714 Einige der erblindeten Soldaten befanden sich dementsprechend noch in Rekonvaleszenz und bei anderen erforderte ihre Verletzung weitere medizinische Eingriffe. Immer wieder kam es vor, dass Kriegsblinde für eine weitere Operation ihre Ausbildungszeit unterbrechen mussten und gegebenenfalls für einen operativen Eingriff in ein anderes Lazarett verlegt wurden.1715 Für die medizinische Versorgung war der Chefarzt zuständig. In den Richtlinien aus dem Jahr 1942 legte das OKW fest, dass die fürsorgerechtlichen Maßnahmen zum Aufgabengebiet des zuständigen Wehrmachtsfürsorgeoffiziers gehörten.1716 Den Ablauf der Rehabilitation regelten die Fürsorge- und Versorgungsbestimmungen der Wehrmacht. 1939 hatte das OKW erstmals Vorschriften für Kriegsblinde erlassen. 1942 wurden diese Anordnungen erweitert und adaptiert.1717 Dabei wurde die Durchführung der Ausbildung genauer geregelt, um den Aufenthalt der erblindeten Soldaten in den Reservelazaretten so kurz wie möglich zu halten. Auf Grund der steigenden Anzahl von Kriegsversehrten begann das OKW den Ablauf der Rehabilitation zu rationalisieren.1718 Der erste Schritt der Rehabilitation erblindeter Soldaten war eine fünfmonatige „blindentechnische“1719 Grundausbildung. Im Schnitt sechs bis acht Wochen nach Start dieses Unterrichts begann die so genannte „Berufsberatung“. Diese Bezeichnung ist allerdings irreführend. Zur „Berufsberatung“ trat eine Kommission zusammen, die über die berufliche Zukunft der betreffenden Kriegsblinden, zunächst in deren Abwesenheit, beriet.1720 Noch vor dem Abschluss der Grundausbildung begann die Berufsausbildung, die je nach zu erlernender Tätigkeit unterschiedlich lang dauern konnte. Wie bereits erwähnt, gab es zu Beginn des Krieges nur zwei Reservelazarette für Kriegsblinde, in Marburg an der Lahn und in Berlin.1721 Das Reservelazarett 132 in Berlin im Wehrkreis III war am 8. Dezember 1939 für Augenkranke und Kriegsblinde eingerichtet worden und verfügte anfangs über 25 Betten.1722 Die Einrichtung im ehemaligen Krankenhaus Bethanien nahm am 10. Jänner 1940 den ersten Kriegsblinden auf.1723 Schon bald waren allerdings die Kapazitäten erschöpft. Am 15. September 1940 wurde die Einrichtung daher auf 107 Betten aufgestockt.1724 In Marburg an der Lahn richtete die Wehrmacht fünf Tage vor dem Angriff auf Polen am 26. August 1939 drei Reservelazarette ein. Eines davon, das Lazarett III, bestand unter anderem aus 25 Betten der Universitätsaugenklinik.1725 Auch in Wien wurde zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt im 17. Gemeindebezirk in Wehrmacht“ waren und „entsprechend behandelt“ wurden. Vgl. Müller, Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg, S. 56–57. 1714 Vgl. Schmalfuß, Mit vereinten Kräften, S. 74. 1715 Vgl. Thiermann, Ins Leben zurück, S. 34–36, hier S. 34. 1716 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77– 80, hier S. 77. 1717 Vgl. Kapitel III.2.3. 1718 Vgl. Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 110–111. 1719 Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 5; Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–80, hier S. 77. 1720 Vgl. Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 85. 1721 Vgl. Kapitel III.2.3. 1722 Vgl. o. A., Reservelazarett Berlin. 1723 Vgl. Schmalfuß, Mit vereinten Kräften, S. 73–79, hier S. 74. 1724 Vgl. o. A., Reservelazarett Berlin. 1725 Vgl. Müller, Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg, S. 57. 235 Neuwaldegg1726 mit dem Reservelazarett IX a-c, Waldegghofgasse 5, ein Sammellazarett für Kriegsblinde errichtet.1727 Im Oktober 1943 gab es weitere solche Einrichtungen in Nürnberg, Breslau, Stuttgart, Chemnitz, Prag, Würzburg und in Forst (Lausitz), wohin das Berliner Sammellazarett für Kriegsblinde verlegt worden war.1728 Außerdem bestand im Oktober 1944 noch ein Reservelazarett für Kriegsblinde in Aussig.1729 Die Standorte veränderten sich bedingt durch den Rückzug der Wehrmacht und das Vorrücken der alliierten Verbände zu Ende des Krieges mehrfach.1730 Dementsprechend dürfte es auch noch an anderen Orten, als den hier genannten „Blindensammellazarette“, gegeben haben. Allerdings können diese, mangels schriftlicher Überlieferungen in dem für diese Arbeit eingesehenen Quellenbestand, nicht benannt werden.1731 Um die Umsetzung der Richtlinien zur Rehabilitation der erblindeten Soldaten zu gewährleisten, beraumte das OKW zwei Tagungen ein. Die erste fand im November 1942 in Berlin statt. Die Chefärzte der Reservelazarette, Wehrmachtsfürsorgeoffiziere, Vertreter der Waffen-SS,1732 Blindenlehrer, Beamte des RAM und Vertreter der Hauptfürsorgestellen und der NSKOV nahmen daran teil.1733 Aus der „Ostmark“ reisten der Wehrmachtsfürsorgeoffizier Arnold, der Direktor der „Blindenanstalt“1734 Wien, Anton Kaiser, und der „Gebietsfachleiter“ der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“, Ferdinand Ehmann, an. Die zweite Versammlung der Verantwortlichen für die Sammellazarette für Kriegsblinde berief die Heeressanitätsinspektion im Juni 1944 an einen nicht genannten Ort ein. Über diese Tagung konnte keine Niederschrift gefunden werden. Es ist nur ein Bericht in der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ bekannt.1735 Neben der Schulung über die Vorschriften dienten diese Treffen dem Erfahrungsaustausch. Dabei wurden durchaus heikle Probleme aus dem Lazarettalltag thematisiert wie 1944 beispielsweise die „sexuelle Frage“1736 der Kriegsblinden. Dieser Aspekt wird allerdings in dem Bericht über die Tagung in der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ nicht weiter ausgeführt, deshalb ist auch nicht klar, was damit gemeint war. 1726 Neuwaldegg war ein Ort vor Wien und wurde 1892 eingemeindet. 1727 Die Adresse ist den Fürsorgeakten der Kriegsblinden des HVA Wien entnommen worden. Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 114. 1728 Vgl. BAB, DGT, R 36/1803, Bildungswesen für Blinde, GZ II1.1.6.3, Oberpräsident Provinzialverband Merseburg an den DGT (Nr. 1156/43) vom 30.10.1943, Betreff: Schulung Kriegsblinder dieses Krieges durch ältere Jahrgänge der Blindenlehrer. 1729 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Josef D., Reichsstatthalter Sudetengau, Außendienststelle Aussig, Fragebogen zur Berufsfürsorge vom 17.10.1944. 1730 Vgl. [Malasek], Vom Waffenrock zum Blindenstock, S. 1–57, hier S. 24. 1731 Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel III.4.4. 1732 Erblindete Angehörige der Waffen-SS erhielten eine separate Rehabilitation. Vgl. Kapitel III.8. 1733 Laut Teilnehmerliste nahm an dieser Veranstaltung keine einzige Frau teil. Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Oberbürgermeister der Reichshauptstadt Berlin, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene (Hrsg.), Tagesordnung für die Tagung am 10. und 11. November 1942. Betrifft: Betreuung erblindeter Soldaten, Berlin 1942, S. 1–2. 1734 Obwohl zu diesem Zeitpunkt per Runderlass alle Blindenanstalten in „Blindenschulen“, gegebenenfalls mit dem Zusatz „mit Heim“, umbenannt worden waren, erscheint in dieser publizierten Tagungsniederschrift noch die Bezeichnung Blindenanstalt. Vgl. Kapitel II.4.1. 1735 Vgl. EKK, Einheitliche Ausrichtung der Kriegsblindenbetreuung, S. 49–50. 1736 EKK, Einheitliche Ausrichtung der Kriegsblindenbetreuung, S. 49–50, hier S. 49. 236 Einige Kriegsblinde konnten die Reservelazarette kurzfristig verlassen und einen Urlaub beantragen. Da sie noch der Wehrmacht angehörten, bedurfte dieser aber einer Bewilligung. Ein Oberstleutnant des Reservelazarettes Recklinghausen meldete beispielsweise an den zuständigen Wehrmachtsoffizier Wien am 27. April 1942, dass dem dort untergebrachten Kriegsblinden Unteroffizier Oskar C.1737 eine Woche Urlaub zu Pfingsten genehmigt worden war sowie für die Zeit vom 30. Juni bis zum 28. Juli 1942 ein „Erholungsurlaub“1738. Außerdem informierte der Oberstleutnant darüber, dass Oskar C. beabsichtige, im Mai zu heiraten. Daher konnte er seinen Lazarettaufenthalt bereits ab dem 15. Juni bis zum 30. Juni für einen „Hochzeitsurlaub“1739 unterbrechen. Erst Ende Juli 1942 sollte er in das Reservelazarett Gelsenkirchen verlegt werden, um eine Ausbildung zum Masseur zu absolvieren.1740 4.2 Der Ablauf der Rehabilitation in den Sammellazaretten für Kriegsblinde 4.2.1 Grundausbildung Zunächst mussten die erblindeten Soldaten in den Sammellazaretten all jene Fertigkeiten1741 erlernen, die sie für die Bewältigung des Alltags benötigten.1742 Durch ihre Erblindung waren sie gezwungen, viele Tätigkeiten des alltäglichen Lebens neu einzuüben: „They have to learn to feed, wash, shave and dress themselves.“1743 Auch mit dem Einsatz von Hilfsmitteln, wie zum Beispiel einem Stock zur besseren Orientierung, wurden sie vertraut gemacht.1744 Durch diese Schulung war es beispielsweise einigen blinden Soldaten schon ein paar Tage nach ihrer Ankunft möglich, sich ohne Hilfe selbständig in den Räumlichkeiten der Sammellazarette zu bewegen.1745 Zur Rehabilitation gehörte es nach den Vorgaben des OKW auch, den Betroffenen ihr „seelische Gleichgewicht“1746 wiederzugeben. Wie bereits erwähnt, litten erblindete Soldaten 1737 Oskar C. war am 29.7.1916 geboren worden und im Juni 1941 auf Grund einer Granatsplitterverletzung in Smolensk erblindet. Er fiel in die Zuständigkeit des Versorgungsamtes Wien III. 1738 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Oskar C., Oberstleutnant Recklinghausen an den Wehrmachtsfürsorgeoffizier Wien vom 27.4.1942, Betreff: C. 1739 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Oskar C., Oberstleutnant Recklinghausen an den Wehrmachtsfürsorgeoffizier Wien vom 27.4.1942, Betreff: C. 1740 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Oskar C., Oberstleutnant Recklinghausen an den Wehrmachtsfürsorgeoffizier Wien vom 27.4.1942, Betreff: C. 1741 Das Erlernen von alltäglichen Handgriffen wird in der modernen Rehabilitationsarbeit als Training von lebenspraktischen Fertigkeiten (LPF-Training) bezeichnet. 1742 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 3. 1743 Wittkower, Davenport, The war blinded, pp. 121–137, hier p. 123. 1744 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77– 80, hier S. 78. 1745 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 3; Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 216–217. 1746 Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–80, hier S. 78; Schmalfuß, Mit vereinten Kräften, S. 73–79, hier S. 77. 237 nach ihrer Verletzung häufig an Depressionen und Minderwertigkeitskomplexen.1747 Nach damaliger Ansicht wirkte sich das auch negativ auf ihre „Leistungsfähigkeit“1748 aus. Um dem entgegenzuwirken, legte das OKW unter anderem fest, dass Kriegsblinde der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ regelmäßig die erblindeten Soldaten besuchten,1749 um ihnen Mut zu machen und sie in den „Blindentechniken“ zu schulen.1750 Dadurch sollten die erst seit kurzer Zeit erblindeten Männer neue Lebensperspektiven erhalten. Lindmayr schrieb beispielsweise über diesen Kontakt mit Kriegsblinden aus dem Ersten Weltkrieg: „Die Erläuterungen der Kameraden, daß es bereits zahlreiche berufstätige kriegsblinde Kameraden gebe, und zum Teil Schulen für deren Ausbildung eingerichtet wurden und es Führhundeausbildungsstellen für Blinde gäbe, stärkten meinen ursprünglich total gesunkenen Lebenswillen.“1751 Ein weiterer Teil der Grundausbildung in den Lazaretten war das Erlernen der Blindenvoll- und -kurzschrift sowie das Verfassen von Texten an einer Schreibmaschine. Nach den Richtlinien des OKW sollte der Unterricht darin täglich zwei Stunden umfassen. Durchgeführt wurde diese Ausbildung unter anderem durch LehrerInnen aus den Blindenschulen.1752 Im Wiener Blindenlazarett arbeitete beispielsweise der Blindenlehrer Karl Trapny der „Städtischen Blindenschule mit Heim“ in Wien.1753 Trapny unterrichtete aber nicht nur die Blindenschrift, sondern wurde auch für die berufliche Ausbildung eingesetzt. Er dürfte auch bis zur Auflösung dieses Sammellazarettes für Kriegsblinde dort tätig gewesen sein. Das galt nicht für alle Lehrer, die in den Reservelazaretten beschäftigt waren. Im Zuge der Mobilmachung sollten die Blindenoberlehrer der Jahrgänge 1900 und jünger, die in den Reservelazaretten ihren Dienst leisteten, an die Front versetzt und durch ältere sowie selbst blinde PädagogInnen der Blindenschule für Zivilblinde ersetzt werden.1754 Sich die Blindenschrift anzueignen, bereitete vielen der Männer große Schwierigkeiten, weil das Ertasten der sechs Punkte hohe Konzentration und taktiles Gefühl erfordert.1755 Umgangssprachlich verwendeten erblindete Soldaten für die Punktschrift daher häufig abwertende Begriffe wie beispielsweise „olle Grabbelschrift“, deren Aneignung „das 1747 Vgl. Kapitel III.1.3. 1748 Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 80. 1749 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien für die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–80, hier S. 77. 1750 Vgl. Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 229. Weiterführende Literatur zu diesem Aspekt: Huber, Betreuungsdienst in der Schicksalsgemeinschaft, S. 99–100; Wenzel, Gemeinsame Arbeitstagung des Reichsarbeitsministeriums, S. 77. 1751 Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 217. 1752 Vgl. BAB, DGT, R 36/1803, Bildungswesen für Blinde, GZ II1.1.6.3, Oberpräsident Provinzialverband Merseburg an den DGT (Nr. 1156/43) vom 30.10.1943, Betreff: Schulung Kriegsblinder dieses Krieges durch ältere Jahrgänge der Blindenlehrer; Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 7; Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–80, hier S. 77. 1753 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 5; Vgl. Kapitel II.4.5.1. 1754 BAB, DGT, R 36/1803, Bildungswesen für Blinde, GZ II1.1.6.3, Oberpräsident Provinzialverband Merseburg an den DGT (Nr. 1156/43) vom 30.10.1943, Betreff: Schulung Kriegsblinder dieses Krieges durch ältere Jahrgänge der Blindenlehrer. 1755 Vgl. Abraham, Historische und gegenwärtige Aspekte, S. 67; Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 117; Brocke, Lohnt sich die Mühe, S. 76–77. 238 Widerwärtigste an der ganzen Ausbildung“ gewesen sei.1756 Nach Beginn des Unterrichts in der Blindenschrift wollten viele Kriegsblinde diese Ausbildung abbrechen, weil sie nicht glaubten, diese jemals erlernen zu können.1757 Der Sportunterricht war ein weiterer fixer Bestandteil des Stundenplans in den Sammellazaretten.1758 In Wien fand der Sportunterricht jeden Tag nach der ärztlichen Visite um 9 Uhr noch vor der Grundausbildung statt.1759 Gymnastik, Leichtathletik, Schwimmübungen, einfache Bewegungsspiele, Marschieren in Gruppen, Schlittschuh laufen und Klettern gehörten je nach den örtlichen Gegebenheiten zu den diversen Betätigungen.1760 Sport war Teil der so genannten „Arbeitstherapie“.1761 Dabei sollten die körperlichen Fähigkeiten der behinderten Soldaten gezielt verbessert werden, um eine schnellere In­te­gra­ tion in das Berufsleben zu ermöglichen. Zur Steigerung der Fingerfertigkeiten erblindeter Soldaten wurde 1944 der Bastelunterricht in allen Sammellazaretten eingeführt.1762 Die blinden Männer stellten dabei diverse Handarbeiten her, beispielsweise eigene Taststöcke.1763 4.2.2 Berufsausbildung Die Absolvierung der Grundausbildung war zwar eine wichtige Voraussetzung für die folgende berufliche Schulung,1764 trotzdem begann die Berufsausbildung nicht erst nach Ende der fünfmonatigen Basisschulung. Das OKW hatte in seinen Richtlinien 1942 festgelegt, dass diese auch schon früher beginnen konnte,1765 um die Aufenthaltsdauer der betroffenen Soldaten in den Sammellazaretten zu verkürzen. Das OKW berechnete die Dauer der Berufsausbildung auf insgesamt fünf Monate,1766 sie konnte aber durchaus länger dauern. Die Dauer der Ausbildung zum Stenotypisten inklusive der Grundschulung konnte bis zu 15 Monate betragen und beinhaltete die Vermittlung von Kenntnissen, die auf einer 1756 Vgl. Thiermann, Ins Leben zurück, S. 34–36, hier S. 34. 1757 Vgl. Brocke, Lohnt sich die Mühe, S. 76–77, hier S. 76; Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 214. 1758 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77– 80, hier S. 78. 1759 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 8. 1760 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77– 80, hier S. 78; Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 4. 1761 Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 78. In fast allen Lazaretten fand diese „Arbeitstherapie“ statt. In Reservelazaretten für anderweitig verletzte Soldaten hatte der Sportunterricht allerdings in erster Linie das Ziel, die kranken Soldaten möglichst bald wieder in der kämpfenden Truppe einsetzen zu können. Wenn es der Gesundheitszustand der verwundeten Soldaten zuließ, wurden sie auch für die Ausführung von Handarbeitstätigkeiten herangezogen. Die Aufträge dafür stammten hauptsächlich von Rüstungsbetrieben. Vgl. Neumann, Heeressanitätsinspektion, S. 187–191. 1762 Vgl. Dannheim, Kriegsblinde basteln, S. 66–68, hier S. 67; Dannheim, Blinde Basteln. [Dannheim war Chefarzt des Reservelazaretts VI Stuttgart-Solitude.] 1763 Vgl. Dannheim, Kriegsblinde basteln, S. 66–68, hier S. 68. 1764 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 3. 1765 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77– 80, hier S. 78. 1766 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77– 80, hier S. 77. 239 Handelsschule gelehrt wurden.1767 Die Schulung von Telefonisten konnte insgesamt bis zu neun Monate dauern.1768 Allein die Ausbildung zu Bürstenhandwerkern konnte in fünf Monaten absolviert werden, womit sie für das OKW die kostengünstigste Berufsausbildung für Kriegsblinde war.1769 Bevor ein erblindeter Soldat eine Berufsschulung erhielt, fand die erwähnte „Berufsberatung“ statt, wofür zunächst eine Kommission zur Vorbesprechung zusammentrat. Dieser gehörten der zuständige Wehrmachtsfürsorgeoffizier, der Chefarzt, ein Vertreter der öffentlichen Versorgungsstelle, in deren Zuständigkeit das Blindenlazarett fiel, und ein Mitglied der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ an.1770 Die LehrerInnen der erblindeten Soldaten gaben diesem Gremium lediglich einen Bericht ab.1771 Diese Kommission sollte die Entscheidung, welchen Beruf ein Kriegsblinder ergreifen sollte, nach folgenden Kriterien treffen: Schulbildung, bisherige Berufstätigkeit, Fähigkeiten, Kenntnisse und Erfahrungen, Familienverhältnisse und Gegebenheiten am Wohnort sowie die Arbeitsplatzsituation in seiner Heimat.1772 Persönliche Interessen der Kriegsblinden spielten dabei eine untergeordnete Rolle, auch wenn die Kommission noch eine abschließende Besprechung in Anwesenheit des Kriegsblinden abhielt. Dass die Betroffenen vor dieser Sitzung bereits einen festen Berufswunsch hatten, war dezidiert nicht erwünscht,1773 sie sollten den vom Gremium vorgegebenen Berufsweg einschlagen. Die zuständigen Versorgungsstellen wurden schon frühzeitig darüber informiert, welchen Beruf die erblindeten Soldaten erlernten, da es ein erklärtes Ziel der Wehrmacht war, dass Kriegsblinden sofort nach ihrer Entlassung aus dem Wehrdienst ein Arbeitsplatz in ihrer Heimat zugewiesen wurde.1774 Im Wiener Sammellazarett für Kriegsblinde erhielten bis 1943 nach Angaben des dort tätigen Stabsarztes Franz Schubert die erblindeten Soldaten folgende Berufsausbildungen: Bürstenmacher (33 Prozent), Stenotypist (19 Prozent), Telefonist (12 Prozent), Schreibmaschinenkraft (8 Prozent), Masseur (7 Prozent), Aktenhefter1775 (3 Prozent) sowie Verpacker 1767 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77– 80, hier S. 79; ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann S., VIa-B1/NW/43, HVA Wien vom 12.3.1943, Aktennotiz zur Berufsberatung von Johann S.; Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 6. Im Reservelazarett Stuttgart betrug die Dauer für die Ausbildung zum Stenotypisten 9 Monate. Vgl. Althauser, Abschlußprüfung kriegsblinder Stenotypisten, S. 56–57, hier S. 56. 1768 Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–80, hier S. 79; Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 6. 1769 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77– 80, hier S. 79. 1770 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77– 80, hier S. 78; Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 5. 1771 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 5; Schmalfuß, Mit vereinten Kräften, S. 73–79, hier S. 78. 1772 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77– 80, hier S. 78; Schmalfuß, Mit vereinten Kräften, S. 73–79, hier S. 78. 1773 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Oberbürgermeister der Reichshauptstadt Berlin, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene (Hrsg.), Tagesordnung für die Tagung am 10. und 11. November 1942, Betreff: Betreuung erblindeter Soldaten, Berlin 1942, S. 3. 1774 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77– 80, hier S. 78. 1775 Dies ist eine Auffälligkeit in der Berufsstatistik des Wiener Reservelazarettes, da drei Prozent der erblindeten Soldaten in Wien zu Aktenheftern ausgebildet wurden, obwohl das OKW in seinen Richtlinien 1942 festlegte, dass diese Ausbildung unzweckmäßig sei, weil diese Tätigkeit bald durch Schnellheftverfahren 240 und Sortierer (2 Prozent).1776 Demnach erlernten viele Kriegsblinde ein Blindenhandwerk, der Anteil anderer Berufsausbildungen war allerdings wesentlich höher als bei Zivilblinden.1777 Einige der „Blindensammellazarette“ waren auf bestimmte Ausbildungsbereiche spezialisiert. Soldaten, die vor ihrem Kriegseinsatz studiert hatten, sollten beispielsweise nach Marburg an der Lahn verlegt werden.1778 Die Matura konnten die Kriegsblinden nach Erfüllung der dafür notwendigen Eignungsvoraussetzungen noch in Berlin nachholen.1779 Das galt auch für die Kriegsblinden aus der „Ostmark“. Für Max S. aus Langau (Niederösterreich) wurde in der abschließenden Sitzung der „Berufsberatungskommission“ im Reservelazarett IV in Stuttgart-Solitude beispielsweise bestimmt, ihn zur Vorbereitung auf die Reifeprüfung 1942 nach Marburg an der Lahn zu verlegen.1780 Allerdings waren die Kapazitäten dort nicht ausreichend, wie aus einem weiteren Beispiel hervorgeht. Auch der durch eine Granate im Juli 1941 erblindete Friedrich W. sollte von Wien nach Marburg verlegt werden. Das Reservelazarett dort war aber überfüllt und der Antrag wurde nicht genehmigt.1781 Als Kompensation genehmigte das Versorgungsamt Wien Friedrich W. eine Ausbildung in Sprachen für den Beruf eines kaufmännischen Korrespondenten in Wien. Nach den Vorstellungen des OKW sollten Kriegsblinde eine akademische Laufbahn allerdings nur in Ausnahmefällen einschlagen. Dementsprechend viele Zugangsbeschränkungen wurden erlassen. So musste zum Beispiel die ausreichende Eignung der Kriegsblinden für ein Studium durch ein eigenes Gutachten nachgewiesen werden.1782 Franz Schubert berichtet, dass einer „nicht geringen Anzahl von Blinden“ ohne eine entsprechende Vorbildung der Besuch einer höheren Schule „ausgeredet“ wurde.1783 Ein Studium beginnen konnten die Kriegsblinden außerdem erst dann, wenn sie aus der Wehrmacht entlassen worden waren. Das Reservelazarett Wien IXa für Kriegsblinde in der Waldegghofgasse 5 war auf die musikalische Ausbildung spezialisiert, auch wenn nur wenige Betroffene dieses Angebot nutzen konnten: Das OKW genehmigte Kriegsblinden eine Ausbildung zum Berufsmusiker nur bei ihrer Meinung nach „überragender“1784 Begabung. Ansonsten diente der Musikunterricht in den Lazaretten für Blinde hauptsächlich der Unterhaltung. abgelöst werde. Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–80, hier S. 79. 1776 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 5. 1777 Vgl. Kapitel II.6.1, III.5.2, III.5.4. 1778 Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 7; Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–80, hier S. 79. 1779 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77– 80, hier S. 79. 1780 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge Max S., Württ. Landesfürsorgeverband, Abt. Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Berufsberatung im Reservelazarett IV Stuttgart-Solitude vom 3.6.1942. 1781 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale Fürsorge Friedrich Walter, Res. Laz. Waldegghofgasse 5, Blindenberufsberatung in Anwesenheit des Herr Generalmajor Giehrach am 29.1.1944. 1782 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale Fürsorge Friedrich Walter, Res. Laz. Waldegghofgasse 5, Blindenberufsberatung in Anwesenheit des Herrn Generalmajor Giehrach am 29.1.1944. 1783 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 6. 1784 Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–80, hier S. 79. 241 Die Berufsausbildung der erblindeten Soldaten in den Reservelazaretten wurde auch für Propagandazwecke verwendet. 1942 fand im Reservelazarett Stuttgart-Solitude zu diesem Zweck eine Ausstellung statt.1785 In dem Reservelazarett für Kriegsblinde in Wien wurde den erblindeten Soldaten die NS-Ideologie vermittelt. Es fand ein so genannter „Geschichts- und Weltanschauungsunterricht“1786 statt. 4.2.3 Das Ende der Berufsausbildung und die Entlassung aus der Wehrmacht Die erblindeten Soldaten wurden meist nach Abschluss ihrer Berufsausbildung aus der Wehrmacht entlassen. Nach Möglichkeit sollte das zuständige Versorgungsamt in der „Ostmark“ Kriegsblinden zu diesem Zeitpunkt bereits einen Arbeitsplatz beschafft haben. Bei der Auswahl ihrer ArbeitgeberInnen hatten die Kriegsblinden ebenfalls kaum Mitentscheidungsrechte. Der Kriegsblinde Felix W. aus Grieskirchen, Gau „Oberdonau“, absolvierte beispielsweise vom 7. September 1944 bis 21. Februar 1945 in Wien eine Ausbildung zum Telefonisten. Am 24. Jänner 1945 kam die „Berufsberatungskommission“ des Sammellazarettes zusammen, um darüber zu beraten, welche Dienststelle für Felix W. und für einen anderen Kriegsblinden mit gleicher Qualifikation, Johann D., in Frage käme. Sieben Unternehmen hatte das zuständige Versorgungsamt Linz ermitteln können, die bereit waren, einen blinden Telefonisten anzustellen. Bei welchem Arbeitgeber die Kriegsblinden dann tatsächlich unterkamen, sollte dezidiert „nicht nur nach den persönlichen Wünschen der Kriegsblinden“1787 entschieden werden. Für die Berufsausübung brauchten die Kriegsblinden verschiedene Hilfsmittel. Das OKW etwa legte fest, dass alle erblindeten Soldaten nach Absolvierung der Grundausbildung eine Kleinschreibmaschine zugewiesen bekamen, um Schriftverkehr erledigen zu können.1788 Stenotypisten erhielten eine Stenographiermaschine sowie eine dazugehörige Leseschiene, um den Punktschriftstreifen besser lesen zu können.1789 Dabei kam es immer wieder zu Wartezeiten, da die Hilfsmittel auf Grund der kriegswirtschaftlichen Umstände nicht immer verfügbar waren.1790 Um die Versorgung mit Hilfsmitteln zu gewährleisten, rief die NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ schon 1940 in ihrer Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ Betroffene des Ersten Weltkrieges dazu auf, gebrauchte Punktschriftmaschinen möglichst kostenlos den „neuen Kameraden“ zu überlassen.1791 1785 Vgl. o. A., Kriegsblinden-Ausstellung Stuttgart, S. 67. 1786 Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 8. 1787 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale Fürsorge Felix W., AZ VIa-Bl/NW/1945, HVA Wien, Berufsbetreuung Kriegsblinder, Beratung im Reservelazarett IXa in Wien vom 24.1.1945. 1788 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Tagesordnung und Niederschrift über die Tagung am 10. und 11.11.1942 in Berlin, Betreff: Erblindete Soldaten, S. 3. 1789 Vgl. Kapitel III.4.3. 1790 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Robert A., Oberbürgermeister der Reichshauptstadt Berlin an das HVA Wien vom 21.6.1944, Betreff: Kriegsblinder Robert A; ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge August A.; Schmalfuß, Mit vereinten Kräften, S. 73–79, hier S. 78. 1791 Vgl. o. A., Gebrauchte Punktschriftmaschinen gesucht, in: Der Kriegsblinde, Nr. 7, Jg. 24 (1940), S. 110. 242 Für die blinden Bürstenmacher war nach Beendigung der Ausbildung in den Lazaretten die „Deutsche Kriegsblinden-Arbeitsgemeinschaft“, eine Einrichtung der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“, zuständig.1792 Sie lieferte den kriegsblinden Handwerkern die für ihre Arbeiten notwendigen Werkzeuge. Die Kosten dafür stellte sie dann den zuständigen Versorgungsämtern in der „Ostmark“ in Rechnung.1793 Nach Erhalt der Werkzeuge vermittelte die Arbeitsgemeinschaft Kriegsblinden Arbeitsaufträge.1794 Sollten die kriegsblinden Handwerker nach ihrer Entlassung aus der Wehrmacht ihre Arbeit allerdings nicht ausführen, dann forderte das HVA Wien die zur Verfügung gestellten Arbeitsgeräte wieder zurück.1795 Da im Zweiten Weltkrieg ein Mangel an solchen Gerätschaften herrschte, sollten alle ausgelieferten Werkzeuge wirklich verwendet werden. 4.2.4 Sonderfälle Nicht alle Kriegsblinden arbeiteten in den Berufen, für die sie eigentlich umgeschult worden waren. Der Mangel an IndustriearbeiterInnen führte dazu, dass etwa ausgebildete Bürstenbinder einen Arbeitsplatz in einem Industriebetrieb zugewiesen bekamen.1796 Auch erhielten nicht alle erblindeten Soldaten vor ihrer Entlassung aus der Wehrmacht eine Berufsausbildung. Dies war vor allem dann der Fall, wenn bei Betroffenen die Umstände ihrer Verletzung nicht geklärt waren und die Erblindung in der Folge zunächst nicht als „Wehrdienstbeschädigung“ anerkannt worden war, etwa bei angenommener Selbstverstümmelung oder bei Unfällen, die nicht mit dem Kriegseinsatz in Verbindung standen.1797 Die Betroffenen hatten dann keinen Versorgungsanspruch als Kriegsopfer. Wurde eine irreversible Augenverletzung allerdings nachträglich doch als Kriegserblindung anerkannt, musste das zuständige Versorgungsamt für eine entsprechende Ausbildung sorgen, beispielsweise in einer Blindenschule.1798 Nicht wenige Kriegsblinde hatten gravierende zusätzliche Beeinträchtigungen, wie die bereits erwähnten blinden „Ohnhänder“.1799 In einigen Fällen dürfte das Ausmaß der Behinderung so gravierend gewesen sein, dass die körperlichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umschulung oder Berufsausbildung nicht gegeben waren. Aus den Akten im ÖStA ist ein Fall bekannt, bei dem der 1941 bei Riga durch eine Mine erblindete Soldat aus Nikolsburg (Niederösterreich) Anton Z., aus der Wehrmacht entlassen 1792 Vgl. Kapitel III.3.3. 1793 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Julius B., Deutsche Kriegsblinden-Arbeitsgemeinschaft an das HVA Wien vom 8.9.1943, Betreff. Kosten für Ausbildung Julius B. 1794 Vgl. Kapitel III.5.1, III.5.2. 1795 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Josef M., GZ VIa-Bl/NW/1944, HVA Wien an Josef M. vom 1.12.1944, Betreff: Entzug Arbeitsgeräte. 1796 Vgl. Kapitel III.5.1, III.5.3. 1797 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Erich B., Wehrmachtsfürsorgeoffizier Graz A an das Versorgungsamt Graz vom 17.10.1941, Betreff: WDB und erblindeter Versehrter Erich B. 1798 Vgl. Kapitel II.4.5.2. 1799 Vgl. Kapitel III.1.3. 243 wurde, weil er eine berufliche Rehabilitation abgelehnt hatte.1800 Nach seiner Rückkehr in den familiären landwirtschaftlichen Betrieb äußerte er dann aber doch den Wunsch, dort eine kleine Bürstenbinderwerkstätte zu errichten. Ein Problem stellte dann allerdings seine Ausbildung dar. Nach Ansicht von Ehmann, „Gebietsfachleiter“ der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“, sollte er im „Blindensammellazarett“ in Wien diese Ausbildung absolvieren. Der zuständige Wehrmachtsfürsorgeoffizier lehnte dies allerdings ab, da Anton Z. bereits aus der Wehrmacht entlassen worden war und dementsprechend als Zivilperson am „Soldatenlehrgang“1801 im Reservelazarett nicht teilnehmen könne. Die berufliche Rehabilitation von Zivilpersonen, die durch die Auswirkungen des Krieges erblindeten, selbst von ehemaligen Soldaten, war also in den Reservelazaretten nicht vorgesehen. Das Wehrkreiskommando XVII änderte nach Rücksprache mit dem Versorgungsamt Wien seine ablehnende Haltung und genehmigte Anton Z. schließlich aber doch die Teilnahme an dem Bürstenbinderlehrgang im Wiener „Blindensammellazarett“. Allerdings durfte er nicht in dem Reservelazarett übernachten und musste selbst eine Begleitperson mitbringen.1802 Ein anderer Kriegsblinder, der 1941 erblindete Wiener Anton H., hatte im Reservelazarett in Wien nur eine Grundausbildung erhalten. Nach seiner Entlassung aus der Wehrmacht absolvierte er allerdings in den Werkstätten des RBV „Ostmark“ in der Wiener Rotensterngasse eine Ausbildung zum Korbflechter.1803 Der ehemalige Sanitätsunteroffizier war nach seiner Erblindung zum Feldwebel befördert worden und erhielt wahrscheinlich auf Grund seiner militärischen Stellung keine Berufsausbildung. Offiziere und Berufsunteroffiziere mit einer aktiven Dienstzeit von mindestens viereinhalb Jahren erhielten nicht unbedingt eine Berufsumschulung und wurden nur dann aus dem aktiven Wehrdienst entlassen, wenn sie dies beantragten. Für sie galten besondere Bestimmungen, die aber in den Fürsorge- und Versorgungsrichtlinien des OKW für Kriegsblinde 1942 nicht näher beschrieben wurden. Ihr Aufenthalt in einem „Blindensammellazarett“ endete in der Regel mit dem Abschluss der blindentechnischen Grundausbildung.1804 Bekannt ist ebenfalls, dass erblindete Soldaten vereinzelt nach einem genehmigten Urlaub nicht in das zuständige Reservelazarett zurückkehrten. Da sie zu diesem Zeitpunkt noch im Dienst der Wehrmacht standen, war dies eigentlich ein Fall von Desertation.1805 Die Militärgerichtsbarkeit scheint aber nachsichtig mit den erblindeten Soldaten umgegangen zu sein. Darauf weist zumindest das Beispiel des Kriegsblinden Johann J. aus Krainburg in 1800 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale Fürsorge Anton Z., AZ 30 b 32, Wehrmachtsfürsorgeoffizier Znaim an das HVA Wien, vom 25.8.42, Betreff: Vorgebrachte Wünsche Anton Z. 1801 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale Fürsorge Anton Z., AZ 30 p. 10/42 (Laz. Betr.) an das HVA Wien vom 20.10.1942, Betreff. Kriegsblinder Z. Anton, geb. 7.10.04, Ausbildung im Bürstenmacherhandwerk. 1802 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale Fürsorge Anton Z, AZ VIa BL/NW/1942, VA Wien an die NSKOV Fachabteilung erblindeter Krieger vom 11.11.1942, Betreff: Kriegsblinden Anton Z. aus Gurdau, Umschulung zum Bürstenmacher. 1803 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Anton H., RBV Abteilung Ostmark an das HVA Wien vom 9.7.1943, Betreff: Bekanntgabe über Abschluß Ausbildung Anton H. 1804 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77– 80, hier S. 80. 1805 Weiterführende Literatur zu Deserteuren in der Wehrmacht: Wette, Deserteure der Wehrmacht. 244 der „Untersteiermark“ hin.1806 Der 1921 geborene Johann J. war nach einem genehmigten Urlaub nicht in das Reservelazarett für Kriegsblinde in Wien zurückgekehrt. Das Gericht der Division 438 in Klagenfurt traf am 11. Jänner 1945 aber den Beschluss, von einer Verfolgung abzusehen. In einer Sitzung zur „Berufsberatung“ für Johann J. vom 24. Jänner 1945, die ohne den Betroffenen stattfand, informierte der Chefarzt die „Berufsberatungskommission“ über diesen Beschluss. Zur Urteilsbegründung heißt es in dieser Notiz: „In der Begründung wird darauf verwiesen, daß J[…] Kriegsblinder ist, der für einen Dienst in der Wehrmacht nicht mehr in Frage kommt.“1807 Johann J. dürfte daraufhin aus der Wehrmacht entlassen worden sein. Der Akt gibt keinen Aufschluss darüber, inwieweit versorgungsrechtlich mit Johann J. weiter verfahren wurden. Ebenfalls einen Sonderfall stellten erblindete Angehörige der SS-Formationen dar. Darauf wird in Kapitel III.8 eingegangen.1808 4.3 Hilfsmittel und Führhunde Eine wichtige Voraussetzung für die berufliche Integration Kriegsblinder und anderer Kriegsopfer mit körperlichen Beeinträchtigungen war der Einsatz von Hilfsmitteln.1809 Um die beruflichen Möglichkeiten der Betroffenen zu verbessern, intensivierte das NS-Regime die Entwicklung von neuen Behelfen. Für einarmige Betroffene wurde beispielsweise 1943 eine Schreibmaschine erfunden, die mit einem Fußpedal bedient werden konnte. Mit der unversehrten Hand konnten die Buchstabentasten gedrückt werden. Die Umschalttaste für Klein- und Großbuchstaben oder Sonderzeichen wurde durch das Fußpedal betätigt. Dies erhöhte die Schreibgeschwindigkeit.1810 Noch 1944 richtete das OKW unter Leitung von Oberstabsarzt Dr. Ernst Rühe eine „Arbeitsgemeinschaft für Blindenbetreuung“1811 ein, die vorhandene Blindenhilfsmittel auf weitere technische Verbesserungsmöglichkeiten überprüfen und neue entwickeln sollte. Bei der Entwicklung und Herstellung von Hilfsmitteln ergaben sich allerdings einige Schwierigkeiten, die nicht nur durch den kriegswirtschaftlichen Mangel an Rohstoffen und Materialien gekennzeichnet waren. Die Herstellungskosten von Hilfsmitteln waren meist sehr hoch. Gleichzeitig war die zu produzierende Stückzahl relativ niedrig. Eine Se­ri­en­fa­ bri­ka­tion war daher nicht gewinnorientiert möglich und die Kosten für ein einzelnes Gerät konnten unerschwinglich werden.1812 1806 Die Untersteiermark (Spodnja Štajerska) war Teil der ab 1941 besetzten Verwaltungsbezirke und Regionen von Slowenien. Vgl. weiterführend dazu auch die im folgenden Sammelband angegebene Literatur: Jochem, Seiderer, Entrechtung. 1807 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann J, AZ VIa-Bl/NW/1945, HVA Wien, Berufsbetreuung Kriegsblinder, Beratung im Reservelazarett IXa in Wien vom 24.1.1945. 1808 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 114. 1809 Vgl. Kapitel III.4.2.3, III.4.3. 1810 Vgl. o. A., Eine Schreibmaschine für Kriegsversehrte, S. 58. 1811 O. A., Arbeitsgemeinschaft für Blindenbetreuung, S. 78. 1812 Vgl. Moser, Das elektrische Auge, S. 9–10; o. A., Rechenmaschine für Blinde, S. 23–26. 245 Nach dem RVG1813 und dem WFVG1814 zählten zu den Hilfsmitteln, auf die Kriegsblinde gegebenenfalls Anspruch hatten, auch Führhunde.1815 Die Hunde sollten den Kriegsblinden wieder eine selbständige Lebensführung ermöglichen und sie beispielsweise auf dem Weg zum Arbeitsplatz führen. In der Wehrmacht gab es eine eigene Blindenführhundeabteilung, die zum Heereshundedienst gehörte, der zur Nachrichtentruppe zählte.1816 In einem vierwöchigen Lehrgang erlernten die Kriegsblinden bei diesen Blindenführhundestaffeln den Umgang mit den ausgebildeten Tieren.1817 Nach einem Erlass des Chefs des Wehrmacht-Sanitätswesens vom 1. April 1944 konnten auch Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges Hunde aus diesen Staffeln der Wehrmacht erhalten.1818 Ab 1944 hatte die Wehrmacht zur Ausbildung der Tiere drei Standorte im „Deutschen Reich“. Am 10. Jänner 1944 wurde die Dienststelle „Dietrichstein“ in Wien/ Weilingau, Mühlenbergstraße 9, eröffnet.1819 Die beiden anderen Führhundestaffeln befanden sich in Biesenthal und Melchow/Mark, die beide zum Kreis Oberbarnim (D) zählten.1820 Nach den Richtlinien des OKW konnten erblindete Soldaten einen Hund allerdings erst nach Abschluss der Berufsausbildung erhalten.1821 Außerdem sollte feststehen, wo die Betreffenden nach ihrer Entlassung aus der Wehrmacht lebten und welchem Beruf sie nachgingen. Damit sollte vermieden werden, dass Kriegsblinde einen Hund wieder zurückgeben mussten, wenn sich herausstellte, dass die Lebens- und Wohnverhältnisse die Haltung eines solchen Tieres unmöglich machten.1822 Ein Grund, warum nicht alle Kriegsblinden einen Führhund bekamen, war finanzieller Natur, denn die Ausbildung der Tiere war sehr aufwändig. Damit sie blinde Menschen sicher führen konnten, mussten sie beispielsweise Hindernisse, die für die Tiere selbst nicht relevant waren, als solche erkennen. Das heißt, sie mussten ihren blinden BesitzerInnen Briefkästen oder ähnliche Hindernisse anzeigen, unter denen die Tiere normalerweise problemlos hindurch gehen konnten.1823 Darüber hinaus benötigten die Tiere Futter und eine tierärztliche Versorgung, was insbesondere während des Krieges zu Schwierigkeiten führte. Die BesitzerInnen von Hunden bekamen zwar Bezugsscheine für Tiernahrung zugeteilt, die auf Grund der kriegsbedingten Lebensmittelknappheit nur pflanzlich war.1824 1813 Vgl. Kapitel III.2.2. 1814 Vgl. Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 270–271. 1815 Zum Begriff Führhunde vgl. Kapitel III.3.5.3. 1816 Vgl. Brüll, Blindenführhunde der Wehrmacht, S. 44–48, hier S. 47. Leutnant Brüll war Leiter der Blindenführhundabteilung einer Hundestaffel. 1817 Vgl. Brüll, Blindenführhunde der Wehrmacht, S. 44–48, hier S. 47. 1818 Vgl. o. A., Neue Beschaffungsmöglichkeiten von Führhunden, S. 43. 1819 Vgl. o. A., Neue Blindenführhund-Staffel, S. 44. 1820 Vgl. o. A., Neue Beschaffungsmöglichkeiten von Führhunden, S. 43. 1821 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Merkblatt. Ärztliche Fürsorge für erblindete Soldaten, S. 164–165, hier S. 165. 1822 Vgl. Liese, Das Führhund-Problem, S. 115–188. 1823 Vgl. Brüll, Blindenführhunde der Wehrmacht, S. 44–48, hier S. 44. 1824 Vgl. o. A., Futtermittelscheine für Hunde, S. 130–131. 246 4.4 Resümee In diesem Kapitel wurden lediglich die Grundzüge der schrittweisen Wiedereingliederung von erblindeten Soldaten in ein ziviles Leben aufgezeigt. Da die Reservelazarette zur beruflichen Rehabilitation im Zweiten Weltkrieg bisher kaum wissenschaftlich untersucht wurden, wäre eine weitergehende Forschung unter Einbindung von noch vorhandenen Quellen aus dem Bestand des „Freiburger Militärarchives“ zu diesem Thema notwendig.1825 Unter Umständen könnte eine Untersuchung dieses Freiburger Quellenbestandes folgende in dieser Studie offenen Fragen beantworten: Es konnte beispielsweise nicht ausführlich geklärt werden, welche Gründe dazu führten, dass erblindete Soldaten ohne Berufsausbildung aus dem Dienst der Wehrmacht entlassen wurden. Außerdem scheinen in den Reservelazaretten ausschließlich erblindete Soldaten ausgebildet worden zu sein. Der Ablauf der Berufsausbildung von durch den und im Krieg erblindeten Zivilpersonen konnte bisher nicht geklärt werden.1826 1825 Darüber hinaus wäre es möglich, diese Sammellazarette für Kriegsblinde und ihre Versorgung durch die Wehrmacht weitergehend zu untersuchen. Im Bundesarchiv Deutschland, Abteilung Militärarchiv in Freiburg im Breisgau gibt es unvollständige Bestände zu diesem Thema, die für diese Arbeit nicht eingesehen wurden, weil ein weiterer Archivbesuch den budgetären Rahmen dieses ausschließlich aus Eigenmitteln finanzierten Projektes überschritten hätte. Vgl. MA, Sanitätsdienststellen und Reservelazarette, RH 55/103, Anordnung über die Schließung von Lazaretten, Versorgung kriegsblinder Soldaten, Zahnbehandlung und Verfahren bei Todesfällen 1945; MA, Reservelazarette RH 55/104, Berufliche Ausbildung, Fürsorge und Versorgung kriegsblinder Soldaten 1944–1945; RH 55/105, Fürsorge für Kriegsblinde. – Betreuung durch weibliche Luftwaffen-Angehörige 1945; RH 55/122, Beförderung von Kriegsblinden 1944–1945. 1826 Vgl. Kapitel III.9. 247 5.Die berufliche Situation Kriegsblinder 5.1 Einführung Wie im vorhergehenden Kapitel über die Rehabilitation erblindeter Soldaten festgestellt, wurden die meisten zu Handwerkern ausgebildet.1827 Das Blindenhandwerk galt allerdings als unrentabel, da die hergestellten Produkte in industrieller Fertigung wesentlich kostengünstiger erzeugt werden konnten.1828 Dementsprechend versuchte das NS-Regime insbesondere für die Kriegsblinden neue Berufsmöglichkeiten zu schaffen. Dabei gingen die Bemühungen weit über diejenigen für die Zivilblinden hinaus. Nicht nur Stenotypist oder Telefonist galten für Kriegsblinde als Berufe der Zukunft, in diesen Berufszweigen wurde ihnen sogar eine Beamtenlaufbahn in Aussicht gestellt. Viele Kriegsblinde arbeiteten beispielsweise bei der „Deutschen Reichspost“. 1943 waren von den 97 dort beschäftigen blinden Menschen 79 im Ersten und 14 im Zweiten Weltkrieg erblindet. Nur vier Zivilblinde waren bei der „Deutschen Reichspost“ beschäftigt.1829 Auch die Wehrmacht sollte möglichst viele Kriegsblinde beschäftigen, etwa im Nachrichtenwesen oder bei entsprechenden sprachlichen Kenntnissen als Dolmetscher oder als Masseure1830 in den Reservelazaretten.1831 Der Kriegsblinde Oskar C. erhielt beispielsweise 1942 eine Ausbildung zum Heilmasseur in Wien und arbeitete dann in einem Fachlazarett für Rheumakranke in Baden.1832 Kriegsblinden sollte außerdem die Absolvierung eines neuen Studienganges der Rundfunkwissenschaften ermöglicht werden.1833 Die zuständigen Stellen im Kriegsblindenwesen glaubten auch, Kriegsblinde im Pressewesen als Schriftleiter oder Lektor einsetzen zu können, wenn sie durch ein Studium auf diese Tätigkeiten entsprechend vorbereitet würden.1834 Dass Kriegsblinde tatsächlich in diesem Berufsfeld tätig waren, kann allerdings nicht belegt werden. Nach der Einschätzung von Pielasch und Jaedicke zeigten die Kriegsblinden auf Grund ihrer besseren Arbeitsmöglichkeiten im Vergleich zu den Zivilblinden das „Bild einer fortgeschrittenen sozialen Integration“.1835 Die Einbindung von Kriegsblinden in das Berufsleben verlief allerdings nicht ohne Schwierigkeiten. Auf diese Probleme geht Kapitel III.5.4 ein. Eine besondere Herausforderung an das NS-Kriegsblindenwesen war es, Berufe zu finden, die auch von den zahlreichen Kriegsblinden mit mehrfachen Beeinträchtigungen ausgeübt werden konnten. 1827 Über die berufliche Integration ziviler Kriegsblinder kann auf Grund der Quellenlage keine Aussage gemacht werden, weshalb sich dieses Kapitel hauptsächlich auf die berufliche Integration der ehemaligen Soldaten bezieht. Vgl. Kapitel III.4.2.4, III.9. 1828 Vgl. Kapitel II.6.1, II.6.2. 1829 Vgl. Webers, Beschäftigung von Kriegsblinden, S. 90–92, hier S. 90–91. 1830 Vgl. Baer, Der kriegsblinde Masseur, S. 103–105. 1831 Vgl. Schwendy, Versorgung und Fürsorge, S. 105–108; Christmann, Der Blinde im Dienst, S. 102–103. 1832 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Oskar C. 1833 Vgl. Kapitel II.6.6. 1834 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Niederschrift über die Tagung am 10. und 11. 11. 1942, Betreff: erblindete Soldaten, S. 4. 1835 Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 163. 248 Anders als im Ersten Weltkrieg gab es für erblindete Soldaten des Zweiten Weltkrieges nicht mehr die Möglichkeit, eine landwirtschaftliche Ausbildung zu absolvieren. Im Ersten Weltkrieg war 1916 für Kriegsblinde zur Erlernung von landwirtschaftlichen Tätigkeiten eine eigene Schule in Niederösterreich gegründet worden. Dort lernten sie durch den Einsatz diverser Hilfsmittel, Arbeiten im Gemüse- und Obstanbau sowie in der Kleintierzucht auszuführen.1836 Auch in Deutschland wurde kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges in der Nähe von Potsdam eine entsprechende landwirtschaftliche Schule für Kriegsblinde eingerichtet.1837 Nachdem die erblindeten Soldaten des Ersten Weltkrieges ihre Ausbildung in diesen beiden Einrichtungen abgeschlossen hatten, wurde diese offenbar geschlossen, denn in der beruflichen Rehabilitation für die erblindeten Soldaten des Zweiten Weltkrieges war diese Ausbildung nicht vorgesehen.1838 Erst gegen Ende des Krieges, im Sommer 1944, regte die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ an, eine Ausbildungsmöglichkeit in der Landwirtschaft und im Gartenbau zu schaffen, aber diese Pläne wurden nicht mehr umgesetzt.1839 Einige erblindete Soldaten hatten in den Besprechungen zur „Berufsberatung“ in den Reservelazaretten den Wunsch geäußert, einer landwirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen. Meist handelte es sich dabei um Kriegsblinde, die vor ihrer Erblindung im ländlichen Raum gelebt hatten. Die „Berufsberatungskommissionen“ lehnten dieses Ansinnen allerdings ab, unter anderem weil die Betriebe infolge des Krieges nicht mit Futter- und Saatgut versorgt werden könnten.1840 Die Bemühungen, Kriegsblinde wieder in das Berufsleben zu integrieren, nutzte das NS-Regime für Propagandazwecke.1841 Kriegsblinde bekamen etwa Dank- und Anerkennungsurkunden der DAF.1842 In der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ und in „Die Blindenwelt“ wurde 1941 etwa verlautbart, dass der Betrieb von Othmar Huber in Graz von der DAF „beim Leistungskampf der deutschen Betriebe“1843 ausgezeichnet worden war. Dabei wurde allerdings nicht erwähnt, welcher Art dieser Betrieb war. Es dürfte sich um eine Werkstätte gehandelt haben. In den Fürsorgeakten der Kriegsblinden im ÖStA befindet sich kein Akt über Huber, aus dem eine entsprechende Information darüber entnommen werden könnte. 1836 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 96–103. 1837 Vgl. o. A., Verschiedenes, in: Zeitschrift für das österreichische Blindenwesen, Nr. 1, Jg. 7 (1920), S. 1256. 1838 Obwohl während des Zweiten Weltkrieges keine Kriegsblinden für landwirtschaftliche Berufe ausgebildet wurden, gab es mit Stichtag vom 31. Dezember 1968 unter den 661 Kriegsblinden, die dem österreichischen Kriegsblindenverband angehörten, 27 Landwirte. Die selbständig in der Landwirtschaft tätigen Kriegsblinden hatten fast alle Höfe geerbt und bewirtschafteten diese wahrscheinlich mit Hilfskräften. Vgl. o. A., Der Kriegsblinde im Erwerbs- und Wirtschaftsleben, S. 64–66, hier S. 64. 1839 Vgl. o. A., Einheitliche Ausrichtung der Kriegsblindenbetreuung, S. 49–50. 1840 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Fridolin L., VA Innsbruck an das HVA Wien vom 19.5. 1943, Betreff: Berufsberatung Kriegsblinder Fridolin L; Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Anton G. 1841 Vgl. Kapitel III.3.5.1, III.3.5.2. 1842 Ein an die NSDAP angeschlossener Verband, der 1933 an die Stelle von Gewerkschaften und ArbeitnehmerInnenverbänden trat. Vgl. Schmitz-Berning, Vokabular, S. 135–137. 1843 O. A., Aus dem Kameradenkreis. Kriegsblinde im Berufs- und Wirtschaftsleben, in: Der Kriegsblinde, Nr. 8/9, Jg. 25 (1941), S. 105; o. A., Zur Chronik des Blindenwesens. Graz, in: Die Blindenwelt, Nr. 10, Jg. 29 (1941), S. 268. 1943 wurde der leitende NSKOV-Funktionär der „Fachabteilung“ für Kriegsblinde in der Steiermark Huber zum Gauredner bestellt. Vgl. Kapitel III.3.5.2. 249 5.2 Kriegsblinde HandwerkerInnen1844 5.2.1 Umschulung von Trafikanten nach dem „Anschluss“ Viele Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges hatten vor ihrer Entlassung aus dem Militärdienst zwar eine Handwerksausbildung erhalten,1845 aber da weit mehr als die Hälfte der Betroffenen eine Tabaktrafik erhielten, waren sie durch die Einnahmen aus diesem Geschäft und ihre Renten nach dem IEG ausreichend versorgt und mussten nicht in einem Handwerksberuf arbeiten. Nach dem „Anschluss“ und den damit verbundenen Änderungen des Tabaktrafikmonopols und den Auswirkungen der kriegsbedingten Regulierung der Tabakwarenzuteilung wurden die Tabakverschleißgeschäfte, wie in Kapitel III.5.5 ausführlich geschildert wird, zunehmend unrentabel. Die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ führte daher auf Kosten der Versorgungsämter ab 1941 entsprechende Lehrgänge zur Ausbildung in Blindenhandwerksberufen insbesondere für Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges aus allen „Alpen- und Donaureichsgauen“ durch.1846 Die Ausbildung zu Bürstenmachern übernahm der Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges Albin Sackl. Der Bürstenmachermeister wurde für diese Tätigkeit von Graz nach Wien geholt.1847 Ort, Häufigkeit und Umfang dieser Kurse sind nicht bekannt. Allerdings geht aus den Akten im ÖStA hervor, dass die Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges nach Beendigung ihrer Ausbildung eine vollständige Werkzeuggarnitur zur Ausübung ihres Handwerkes erhielten. Zunächst allerdings nur leihweise. Das HVA „Ostmark“ übernahm erst die Kosten für die Gerätschaften, wenn die Kriegsblinden tatsächlich ihre Arbeit aufnahmen. Dies geht beispielsweise aus einem standardisierten Schreiben an den kriegsblinden Klagenfurter Trafikanten August Z. hervor. Mit 46 Jahren musste der im Ersten Weltkrieg vollständig erblindete Vater von vier Kindern noch einen neuen Beruf erlernen.1848 Es ist vorstellbar, dass diese Umstände zu Unmut unter den Betroffenen geführt haben könnten, der allerdings nicht dokumentiert ist. 5.2.2 Berufliche Situation der kriegsblinden HandwerkerInnen Zivilblinde, die als HandwerkerInnen arbeiteten, waren entweder in einer Werkstatt angestellt oder selbständig.1849 Der Großteil der kriegsblinden HandwerkerInnen war in Heimarbeit für die „Kriegsblindenarbeitsgemeinschaft“ der NSKOV tätig. Sie erhielten von dieser Stelle nicht nur Arbeitsaufträge, sondern auch ihren Arbeitslohn ausbezahlt. Die NSKOV vertrieb die handwerklichen Produkte der Kriegsblinden aus der „Ostmark“ über eine zentrale Verkaufsstelle in Wien. Abnehmer waren hauptsächlich die Wehrmacht, 1844 Da auch durch die Auswirkungen des Krieges erblindete Zivilpersonen, darunter waren auch Frauen, in diesem Berufszweig ausgebildet wurden, wird die Formulierung HandwerkerInnen gewählt. 1845 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 81–96. 1846 Vgl. o. A., Zur Chronik des Blindenwesens. Wien, in: Die Blindenwelt, Nr. 4, Jg. 29 (1941), S. 103. 1847 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 115; o. A., Reichsstatthalter u. Gauleiter Dr. Jury bei kriegsblinden Handwerkern, S. 71. 1848 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale Fürsorge Anton Z. 1849 Vgl. Kapitel II.6.2. 250 NS-Dienststellen oder Abteilungen der NSDAP.1850 Vereinzelt gab es zu HandwerkerInnen ausgebildete Kriegsblinde, die in ihrem erlernten Beruf eine Anstellung in einem Wirtschaftsbetrieb fanden. Der 1923 geborene Kriegsblinde Alois J. aus Maribor1851 im „Sudetengau“ war im Jänner 1944 erblindet und im „Blindensammellazarett“ in Wien zum Bürstenbinder ausgebildet worden. Nach seiner Entlassung konnte der ehemalige Rangierer der Reichsbahn wieder bei seinem alten Arbeitgeber im Bahnausbesserungswerk als Bürstenmacher und Polsternäher anfangen.1852 Große Schwierigkeiten bereitete im Zweiten Weltkrieg, wie bereits erwähnt,1853 die Versorgung der blinden HandwerkerInnen mit Rohstoffen. Schon vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war durch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen die Anzahl kriegsblinder Handwerker im „Deutschen Reich“ und damit der Bedarf an Rohstoffen stark gestiegen. 1938 bildete die NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ beispielsweise zusätzlich 80 Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges zu Handwerkern aus.1854 Im Gegensatz zu den Organisationen der Zivilblinden versuchte daher die NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ schon frühzeitig, die Versorgung mit Rohstoffen sicherzustellen. Um den Nachschub von Hölzern für die Herstellung von Bürsten gewährleisten zu können, kaufte die „Kriegsblinden-Arbeitsfürsorge“ der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ im April 1939 bei der „Berliner Stelle für Arisierung industrieller Werke“ das „Hölzerwerk Robert Wolff“ in Stolberg (D) „preiswert“.1855 Insgesamt war die Situation für die Kriegsblinden, die als HandwerkerInnen tätig waren, daher wesentlich günstiger, weil sie sowohl durch die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ sowie auch durch die Hilfsmittelstellen für Zivilblinde des RBV unterstützt wurden.1856 5.3 Die Beschäftigung Kriegsblinder in Industriebetrieben Wie bereits im Kapitel über die Zivilblinden erwähnt, wurde ab 1938, bedingt durch den ArbeiterInnenmangel im „Deutschen Reich“, verstärkt versucht, blinde Menschen in Industriebetrieben zu beschäftigten.1857 Zu HandwerkerInnen ausgebildete Kriegsblinde kamen daher auch als Hilfsschlosser oder für Kontrollarbeiten in Industriebetrieben unter.1858 Die direkte Ausbildung von Kriegsblinden für eine Tätigkeit in Fabriken wurde nach Beginn des Zweiten Weltkrieges zunächst aber nicht forciert, da es von verschiedenen Seiten eine ablehnende Haltung gegenüber diesen Tätigkeiten für Kriegsblinde gab. Der Stabsarzt des Reservelazarettes für erblindete Soldaten in Wien, Franz Schubert, lehnte beispielsweise eine Beschäftigung Kriegsblinder in der Industrie auf Grund des Lärmes in den Betrieben 1850 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 7. 1851 In den Akten als Marburg/Drau bezeichnet. 1852 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Alois J. 1853 Vgl. Kapitel II.6.2. 1854 Vgl. Jantzen, Ludwig, Bundestag 1939, S. 145–151, hier S. 147. 1855 Vgl. Jantzen, Ludwig, Bundestag 1939, S. 145–151, hier S. 147. 1856 Vgl. Kapitel II.6.1, II.6.4. 1857 Vgl. Kapitel II.6.1., II.6.3. 1858 Vgl. o. A., Vermischtes. Neue Arbeitsmöglichkeiten für Blinde, in: Der Kriegsblinde, Nr. 10/11, Jg. 25 (1941), S. 124. 251 und der monotonen Arbeit ab, die den Betroffenen „weniger Befriedigung“1859 bieten würde als in anderen Berufen. Außerdem gab es negative Erfahrungen mit der Beschäftigung von Kriegsblinden in industriellen Unternehmen.1860 Der bereits erwähnte Kriegsblinde Johann H. kündigte beispielsweise seine Anstellung im Heeresbekleidungsamt Salzburg 1943 wieder, weil die Maschinen dort so eng beieinander standen, dass er sich ständig den Kopf anstieß.1861 Auch die erblindeten Soldaten in den Reservelazaretten äußerten häufig die Bitte, nicht in einem Industriebetrieb angestellt zu werden.1862 Im Laufe des Krieges stieg aber der Druck des NS-Regimes auf die für die Ausbildung und Versorgung der Kriegsblinden zuständigen NS-Stellen, erblindete Soldaten nach ihrer Entlassung aus der Wehrmacht in kriegswichtigen Betrieben einzusetzen. In der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ erschienen dementsprechend Beiträge, in denen die Tätigkeit von Kriegsblinden in Industriebetrieben beschönigt wurde. Über die beiden Betriebe „Junkers Flugzeuge- und Motorenwerke AG“ in Dessau (D) und die „Ernst Heinkel Flugzeugwerke“ in Rostock (D) wurde beispielsweise 1941 berichtet, dass gute Erfahrungen mit blinden ArbeiterInnen an Bohrmaschinen, Drehbänken, Fräsmaschinen, Schreibmaschinen, in der Kontrolle, als Verpacker, im Materiallager sowie als Telefonisten gemacht worden seien.1863 Es wurde betont, dass die Arbeitsplätze alle sicher und entsprechend adaptiert worden seien. Die Firma Junkers hat nach diesen Angaben sogar extra einen Hundezwinger eingerichtet, in dem „Leithunde“1864 der Kriegsblinden während der Arbeitszeit untergebracht werden konnten.1865 Das OKW regte darüber hinaus in seinen Fürsorge- und Versorgungsbestimmungen aus dem Jahr 1942 an, die Betätigungsfelder in den Industrieunternehmen abwechslungsreicher zu gestalten. Kriegsblinde sollten nicht immer die gleichen Arbeiten ausführen, sondern unterschiedliche Tätigkeiten wie Zählen, Abwiegen, Sortieren und Verpacken.1866 Die tatsächlichen Arbeitsbedingungen dürften dem allerdings nicht entsprochen haben: Erfahrungen mit blinden ArbeiterInnen hatten gezeigt, dass sie bei der Ausführung von monotonen Arbeiten am laufenden Band, bei denen sie immer die gleichen Handgriffe machen mussten, die besten Leistungen erbrachten.1867 Eine für die Betroffenen attraktivere Gestaltung ihres Betätigungsfeldes entsprach demnach nicht dem NS-Produktivitätspostulat. Um die Anstellung Kriegsblinder und anderer Kriegsopfer weiter zu forcieren, richtete die Reichsgruppe Industrie im November 1942 unter dem Vorsitz des Vorstandsmitgliedes 1859 Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 7. 1860 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Niederschrift über die Tagung am 10. und 11.11.1942, Betreff: erblindete Soldaten, S. 4. 1861 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann H, H. an das HVA Wien vom 24.6.1943, Betreff: Arbeitseinstellung im Heeresbekleidungsamt. 1862 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Niederschrift über die Tagung am 10. und 11.11.1942, Betreff: erblindete Soldaten, S. 4. 1863 Vgl. o. A., Arbeits- und Berufskunde, S. 10. 1864 Zu diesem Begriff vgl. Kapitel III.3.5.3. 1865 Vgl. o. A., Arbeits- und Berufskunde, S. 10. 1866 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77– 80, hier S. 79. 1867 Vgl. Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 109. 252 der „Siemens & Halske A. G.“ und der „Siemens-Schuckert-Werke“, Wolf-Dietrich von Witzleben, einen Ausschuss für die „Wiedereingliederung von Kriegsversehrten“1868 in Industriebetrieben ein. Die beiden genannten Siemens-Unternehmen waren damals die größten industriellen Arbeitergeber für blinde Menschen.1869 Gemäß der Forderung des NS-Regimes, restlos jede Arbeitskraft zu „verwerten“, wurden auch Kriegsblinde mit weiteren körperlichen Beeinträchtigungen in Industriebetrieben eingesetzt. Durch bestimmte Adaptionen der Maschinen war es bereits seit dem Ersten Weltkrieg möglich, beispielsweise armlose Kriegsblinde an Bohrmaschinen arbeiten zu lassen, die mit Fußpedalen bedient werden konnten.1870 Zu diesen mehrfachbehinderten Kriegsblinden zählte auch der 1920 geborene St. Pöltener Karl H. Beim Verlegen von Minen hatte er sich Anfang 1943 schwer verletzt. Neben seiner Erblindung war seine rechte Hand so stark verwundet worden, dass ihm der Daumen und mehrere Endglieder der Finger entfernt werden mussten. Der Gebrauch seiner rechten Hand war dementsprechend nur sehr eingeschränkt möglich. Trotzdem kam die Kommission, die zur „Berufsberatung“ von Karl H. zusammentrat, 1943 zu dem Entschluss, er könne gewisse Arbeiten in einem Industriebetrieb wie zum Beispiel Sortieren ausführen.1871 Zudem gab es in St. Pölten mit der „Ersten Österr. Glanzstoffabrik A. G.“1872 ein Unternehmen, das nach dem „Invalidenbeschäftigungsgesetz“ nicht genügend ArbeiterInnen mit einer Behinderung, insbesondere Kriegsgeschädigte, angestellt hatte. Vier solcher Stellen waren 1943 nicht besetzt. Dementsprechend veranlasste das Versorgungsamt Wien III, dass Karl H. dort unterkam. Trotz seiner verletzten Hand sollte er das Aufreihen, Zählen und Glätten von Seidenfadenspulen bei einem Stundenlohn von 0,70 RM übernehmen.1873 5.4 Schwierigkeiten bei der Integration Kriegsblinder in die Berufswelt Ein Grund, warum es bei der Integration Kriegsblinder in andere Berufszweige als die hier ausführlicher geschilderten Bereiche Handwerk und Industrie, Schwierigkeiten gab, waren Vorbehalte gegenüber der Leistungsfähigkeit blinder Menschen. Dies betraf beispielsweise die Masseure. Auch wenn sie Anstellungen in den Lazaretten der Wehrmacht sowie in Kliniken fanden, als selbständige Masseure konnten sie nur eingeschränkt tätig werden. Dafür erhielten sie nach einer Verfügung des Reichsgesundheitsamtes 1943 nur 1868 Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 86. 1869 Vgl. Kapitel II.6.3. Die Firma „Siemens & Halske“ aus Berlin war darüber hinaus das einzige Unternehmen im Deutschen Reich, das Tastzeichen für die Adaptierung von Arbeitsplätzen für blinde TelefonistInnen herstellten konnte. Vgl. Kapitel II.6.5. 1870 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 108 (Abb. 22). 1871 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Karl H., HVA Wien an Leiter des VAIII Wien vom 9.3.1943, Betreff: Arbeitsfürsorge für den Kriegsblinden K. Hl. 1872 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Karl H., HVA Wien an Leiter des VAIII Wien vom 9.3.1943, Betreff: Arbeitsfürsorge für den Kriegsblinden K. Hl. 1873 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Karl H., HVA Wien an Leiter des VAIII Wien vom 9.3.1943, Betreff: Arbeitsfürsorge für den Kriegsblinden K. Hl. 253 dann eine Zulassung, wenn eine geeignete Person zur „Hilfsleistung zur Verfügung“1874 stand. Die größten Schwierigkeiten gab es bei der Vermittlung von blinden TelefonistInnen.1875 Wie bereits im Kapitel über die beruflichen Möglichkeiten der Zivilblinden (II.6) ausgeführt, fanden von den in der Zeit zwischen 1940 und 1945 ausgebildeten 33 Kriegs- und Zivilblinden nur 15 eine Anstellung.1876 Aus den Akten im ÖStA geht hervor, dass entsprechende Anfragen von Versorgungsämtern und Wehrmachtsfürsorgeoffizieren bei Betrieben immer wieder abschlägig beantwortet wurden.1877 So lehnte beispielsweise die „Reichsbahndirektion Wien“ die Anstellung von blinden TelefonistInnen ab, weil die technischen Voraussetzungen dafür nicht gegeben seien. Außerdem könne ihnen beispielsweise bei Unfällen oder anderen außergewöhnlichen Vorkommnissen nicht zugetraut werden, Hilfsmannschaften, ÄrztInnen und den technischen Notdienst zu benachrichtigen.1878 Bei der Anstellung von Kriegsblinden in Büroberufen kam es außerdem immer wieder vor, dass die aus der Wehrmacht entlassenen erblindeten Soldaten eine Stelle nicht sofort antreten konnten, weil die notwendigen Hilfsmittel wie Stenographiermaschinen oder Schreibmaschinen nicht rechtzeitig geliefert wurden oder das zuständige Versorgungsamt ihnen nicht rechtzeitig eine Unterkunft zuweisen konnte.1879 Grund für diese Verzögerungen waren zumeist kriegsbedingte Lieferschwierigkeiten sowie die herrschende Wohnungsnot. Der Kriegsblinde Tiroler Johann H. aus Gerlos war, nachdem er im Jänner 1942 durch ein Explosivgeschoss bei Moskau erblindet war, im Reservelazarett Wien zum Maschinenschreiber ausgebildet worden und bekam eine Anstellung bei den „Raspe Werken“ in Kramsach zugewiesen. Zunächst fehlten ihm für den Dienstantritt die notwendigen Hilfsmittel und die ihm zugedachte Wohnung musste erst noch renoviert werden. Bis zum 1. Juni 1943 sollte der Kriegsblinde sie aber beziehen können. Seine Möbel waren allerdings bereits am 1. Mai 1943 von seinem Heimatort Gerlos übersiedelt worden, mit der Begründung, dass im Laufe des Monats Mai für diese Zwecke kein Treibstoff mehr zur Verfügung stünde.1880 Das Beispiel von Johann H. zeigt, dass die NS-Stelle sich deshalb um eine rasche Integration Kriegsblinder in die Arbeitswelt bemühte, da sie ansonsten negative Reaktionen der Bevölkerung befürchtete. In einem Schreiben an den persönlichen Referenten des Reichsstatthalters in Salzburg bat das HVA Wien im Fall von Johann H. beispielsweise darum, alles Notwendige in die Wege zu leiten, damit der inzwischen aus der Wehrmacht entlassene Johann H. möglichst schnell seine Tätigkeit in Kramsach aufnehmen könne: 1874 O. A., Kriegsblinde als selbständige Massierer, S. 59; Knittel, Arbeits- und Berufskunde, S. 20–25, hier S. 24. 1875 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 6. Vgl. Kapitel II.6.1, II.6.5. 1876 Vgl. Kapitel II.6.5. 1877 Vgl. hierzu auch Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 7. 1878 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann G. Wehrmachtsfürsorgeoffizier, Lazarettbetreuung im Standort Groß-Wien an das HVA Wien vom 26. 8.1942, Betreff. Umschulung der versehrten Wehrdienstbeschädigten. 1879 Vgl. Kapitel III.4.2.3. 1880 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann H., GZ IV/2 Fürsorge, VA Innsbruck an das HVA Wien vom 13.5.1943, Betreff: Kriegsblinder Johann H., geb. 22.7.1920. 254 „Bei der Aufmerksamkeit, die in der Öffentlichkeit der Betreuung der Schwerversehrten entgegengebracht wird, könnte der Fall H[…] zu unliebsamen Erörterungen Anlaß geben.“1881 Die kriegsbedingten Umstände machten es allerdings unmöglich, die Kriegsblinden in dem Ausmaße zu versorgen, wie es durch die Propaganda versprochen wurde. Wie bereits im Kapitel über die Rehabilitation der erblindeten Soldaten (III.4) ausgeführt, gab es einige Betroffene, die eine akademische Laufbahn einzuschlagen wünschten, aber nur wenige wurden tatsächlich zum Studium zugelassen.1882 Dabei hatte das NS-Regime 1942 geplant, insbesondere Kriegsblinden neue Studienmöglichkeiten zu eröffnen, indem es beispielsweise das Studium der Rundfunkwissenschaften auch blinden Studierenden zugänglich machen wollte.1883 Die klassischen Studienfächer für blinde Menschen waren Theologie, Jurisprudenz, Philosophie und Philologie.1884 Hintergrund dieser Entwicklung, neue Studienangebote zu schaffen, war, dass es bei der Integration blinder AkademikerInnen aus den hier genannten Studiengängen Schwierigkeiten gab. Nur wenige blinde Menschen fanden beispielsweise eine Anstellung als LehrerInnen, weil ihnen die Tätigkeit nicht zugetraut wurde, insbesondere mit dem Hinweis darauf, dass sie SchülerInnen nicht ausreichend beaufsichtigen konnten. Der Leiter der „Blindenstudienanstalt“ in Marburg, Carl Strehl, bat daher das OKW auf einer Tagung 1942 in Berlin, dem Reichsarbeitsminister und dem „Reichsministerium für Erziehung“ wegen der Verwendung von Philologen im Schuldienst zu verhandeln. Außerdem regte er an, kriegsblinde LehrerInnen in den Schulungsstätten der Wehrmacht, der NSDAP und dort einzusetzen, wo die SchülerInnen älter seien und dementsprechend die „Disziplinierung“ einfacher sei.1885 Tatsächlich gab es in der „Ostmark“ nur vereinzelt Kriegsblinde mit einem abgeschlossenen Studium. Nach Angaben des Kriegsblindenverbandes aus dem Jahr 1969 hatten nur acht der im Zweiten Weltkrieg erblindeten Soldaten einen akademischen Grad.1886 Die meisten der Kriegsblinden AkademikerInnen hatten ihr Studium bereits vor ihrer Erblindung absolviert. Insgesamt gab es 1969 im Kriegsblindenverband 22 Doktoren und Ingenieure.1887 5.5 Trafikanten Charakteristisch für die Versorgung der Kriegsopfer des Ersten Weltkrieges in Österreich war deren Versorgung mit Tabaktrafiken. Mit einer Verordnung des Finanzministeriums 1881 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann H., GZ VI a-Bl/NW/1943, HVA Wien an den persönlichen Referenten des Reichsstatthalters in Salzburg, Betreff: Kriegsblinden Johann H., Gerlos 40, Kreis Schwaz Tirol. 1882 Vgl. Kapitel III.4.2.3. 1883 Vgl. Roedemeyer, Rundfunkwissenschaften und Blindenstudium, S. 57–60. Kapitel II.6.6. 1884 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 116–117. 1885 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Niederschrift über die Tagung am 10. und 11. 11.1942, Betreff: erblindete Soldaten, S. 4. 1886 Vgl. o. A., Der Kriegsblinde im Erwerbs- und Wirtschaftsleben, S. 64–66, hier S. 65. 1887 Vgl. o. A., Der Kriegsblinde im Erwerbs- und Wirtschaftsleben, S. 64–66, hier S. 65. 255 vom 10. Juni 1911 bekamen Kriegsopfer ein Vorzugsrecht bei der Vergabe von Trafiken.1888 Mit einer Vollzugsanweisung vom 18. Mai 1919 zur Besetzung und Kündigung von Tabakverschleißgeschäften legte das „Staatsamt für Finanzen“ fest, dass unter „erwerbsunfähigen“ Kriegsgeschädigten gleichen Grades Kriegsblinde Vorrang hatten.1889 Dieser Passus blieb auch in einer Verordnung des „Bundesministeriums für Finanzen“ vom 15. April 1927 aufrecht, der die Besetzung der Verkaufsstellen des Tabakmonopols neu regelte.1890 Über die Vergabe von Trafiken entschied ein Beirat, der bei jeder Finanzlandesbehörde eingerichtet wurde und in den gegebenenfalls auch mindestens ein Vertreter der Organisation für Kriegsblinde berufen wurde.1891 Durch diese Gesetzesgrundlage war es möglich, dass zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ weit mehr als die Hälfte aller Kriegsblinden Inhaber einer Tabaktrafik waren. Nicht alle arbeiteten allerdings auch selbst in ihren Geschäften. Einige Kriegsblinde konnten auf Grund ihres Alters, einer Krankheit, weiterer Beeinträchtigungen oder wegen einer zu großen Entfernung der Verkaufsstelle von ihrem Wohnort die Geschäfte nur von Hilfskräften führen lassen.1892 Die Verwaltung wie monatliche Abrechnung, Inventuren, Einkauf der Kurzwaren oder Steuerangelegenheiten übernahm dann das „Trafikreferat“ des Kriegsblindenverbandes.1893 Nach Angaben von Ferdinand Ehmann, dem damaligen provisorischen Leiter der Landesgruppe „Ostmark“ der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“, verfügten die kriegsblinden Tabaktrafikanten 1938 dadurch über ein zusätzliches monatliches Einkommen von 50 bis 400 Schilling zu ihren Renten.1894 Die NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ Kriegsblinde in der „Ostmark“ führte das „Trafikreferat“ nach dem „Anschluss“ weiter.1895 Kriegsblinden jüdischer Herkunft, die Inhaber einer Trafik waren, wurde die Lizenz zur Führung der Geschäfte gekündigt.1896 1939 hob das NS-Regime das staatliche Tabakmonopol auf und gründete in Berlin die „Austria Tabakwerke AG vormals österreichische Tabakregie“. Alleinaktionär war das „Deutsche Reich“. Die Aktiengesellschaft, die nun das Tabakmonopol und das Ver­schleißer­ we­sen verwaltete, hatte ihren Sitz in Wien.1897 Die NSKOV „Gau Wien“ befürchtete, dass durch diese Entwicklung den Kriegsopfern der „Ostmark“ ihre Existenzgrundlage und ihre Vorzugsrechte genommen würden, und machte am 15. Juni 1939 beim Reichswirtschaftsministerium eine entsprechende Eingabe. Von dort erhielten zwar die Vertreter der Kriegsopfer die Zusage, dass die Rechte der Kriegsopfer gewahrt blieben, gleichzeitig wurde 1888 Vgl. o. A., Die gesetzlichen Grundlagen der Trafikverleihung an Kriegsblinde, S. 60–63, hier S. 60. 1889 Vgl. [Ö] StGBl., Nr. 285/1919, Vollzugsanweisung betreffend die Besetzung und Kündigung der Tabakverschleißgeschäfte vom 18. Mai 1919, § 5,2. 1890 Vgl. [Ö] BGBl., Nr. 137/1927, Verordnung betreffend die Besetzung der Verkaufsstellen Tabakmonopols vom 15. April 1927. 1891 Vgl. [Ö] BGBl., Nr. 137/1927, § 5,4; Hoffmann, Kriegsblinde, S. 168–171. 1892 Vgl. Polsterer, Wie der Kriegsblinde seine Arbeitskraft in der Trafikverwaltung einsetzt, S. 253–254; Ehmann, wirtschaftliche Lage der Kriegsblinden, S. 135–137, hier S. 136. 1893 Vgl. Polsterer, Wie der Kriegsblinde seine Arbeitskraft in der Trafikverwaltung einsetzt, S. 253–254, hier S. 254. 1894 Vgl. Ehmann, Die wirtschaftliche Lage der Kriegsblinden, S. 135–137, hier S. 136. 1895 Vgl. Polsterer, Wie der Kriegsblinde seine Arbeitskraft in der Trafikverwaltung einsetzt, S. 253–254, hier S. 253. 1896 Vgl. Kapitel IV.3.3.2. 1897 Vgl. o. A., Die Bildung von Vereinsgruppen, in: Pawlowsky, Leisch-Prost, Klösch, Vereine im Nationalsozialismus, S. 174–221, hier S. 186. 256 das Vorzugsrecht bei der Vergabe von Tabakgeschäften an Kriegsgeschädigte gravierend eingeschränkt. Kriegsblinden gebührte beispielsweise nur mehr bei „gleichen fachlichen Voraussetzungen“1898 von mehreren Bewerbern ein Vorrang. Außerdem erweiterte sich der Kreis der bevorzugten BewerberInnen um Tabaktrafiken, da auch die „Opfer“ und deren Angehörige von NS-Organisationen mit entsprechenden Geschäftsstellen versorgt werden sollten.1899 Unter dem NS-Regime gab es in den Gremien, die über die Vergabe entschieden, sowie in der Interessenvertretung der Trafikanten aber weiterhin Vertreter der Interessen der Kriegsblinden.1900 Ab 1. April 1939 fungierte der SA-Hauptsturmführer Friedrich Schindler als kommissarischer Leiter des „Verbandes der Tabakverschleißer Österreichs“. Der Stillhaltekommissar legte allerdings fest, dass künftig die „Fachgruppe Tabak“ im Reichsfinanzministerium die Aufgaben dieses Verbandes übernehmen sollte.1901 In dieser Organisation fungierte der Landesobmann der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ Ferdinand Ehmann als Sachverständiger für den Einzelhandel. Im erweiterten Beirat fand sich der ebenfalls Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges Anton Allerberger aus Salzburg.1902 Dementsprechend war es weiterhin möglich, dass vereinzelt erblindete Soldaten des Zweiten Weltkrieges mindestens bis 1943 Tabaktrafiken verliehen bekamen. Für die Einrichtung der Geschäfte und die Übernahmekosten gab das HVA den Betreffenden rückzahlungspflichtige Darlehen, wenn sie die Kosten nicht aufbringen könnten. Aus den Akten im ÖSTA geht hervor, dass ein an das NS-Regime angepasstes Verhalten eine Voraussetzung für die Gewährung eines solchen Kredites war. Für den Kriegsblinden ehemaligen Landwirt Paul K. aus Villach, geboren am 7. Jänner 1895, bestätigte beispielsweise die dortige NSDAPKreisleitung, dass gegen die Unterstützung „in politischer und charakterlicher Hinsicht keine Bedenken“1903 bestehen würden. Am 1. April 1941 erhielt der erblindete Unteroffizier Franz H. ein entsprechendes Geschäft in der Porzellangasse 8 in Wien. Zur Übernahme bekam der Wiener ein rückzahlungspflichtiges Darlehen in der Höhe von 4.000 RM. Bereits im März 1942 konnte der damals 29-Jährige die monatliche Rate von 200 RM allerdings nicht mehr aufbringen, da die Trafik nicht mehr ausreichend Gewinn abwarf.1904 Seine monatlichen Raten wurden dementsprechend von 200 auf 100 RM gekürzt. 1898 ÖStA, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150, 2. Teil a Tabakregie, GZ. II S In 22667/39, Der Reichswirtschaftsminister an die NSKOV Reichsleitung Berlin vom 19.8.1939, Betreff: Stellung der Kriegsopfer innerhalb der österreichischen Verschleisserschaft. 1899 ÖStA, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150, 2. Teil a Tabakregie, NSKOV Gau Wien, Abteilung Gauobmann, Nr. LÜ/P, an den Gauleiter Bürckel vom 2.12.1939, Betreff: Tabaktrafiken für Witwen nach „Gehenkten“. 1900 Vgl. ÖStA, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150, 2. Teil a Tabakregie, GZ. II S In 22667/39, Der Reichswirtschaftsminister an die NSKOV Reichsleitung Berlin vom 19.8.1939, Betreff: Stellung der Kriegsopfer innerhalb der österreichischen Verschleisserschaft. 1901 Vgl. o. A., Die Bildung von Vereinsgruppen, in: Pawlowsky, Leisch-Prost, Klösch, Vereine im Nationalsozialismus, S. 174–221, hier S. 187–188. 1902 Vgl. ÖStA, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150, 2. Teil a Tabakregie, Zu Nr. II S In 23 653/39, Abschrift aus Deutsche Tabakzeitung Leipzig C 1 26, Nr. 17 vom 26.4.1939, Betreff: Die Umgliederung der Trafikantenverbände in der Ostmark. 1903 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Paul K., P 3330, NSDAP Kreisleitung Villach an das VA Klagenfurt vom 28.8.1940, Betreff: Darlehen an den Kriegsblinden Paul K. 1904 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Franz H., NSKOV Fachabteilung erblindeter Krieger an das HVA Wien, z. Hd. Oberregierungsrat Schöberle vom 31.3.1942, Betreff: Darlehen des kriegsblinden Jungkameraden Franz H. 257 Die Einnahmeeinbußen dürften auf die kriegsbedingte Steuerung des zivilen Tabakkonsums zurückzuführen sein.1905 Ab dem 11. September 1939 wurde die herkömmliche Steuer durch einen Kriegszuschlag erhöht. Dieser betrug zunächst 20, ab dem 3. November 1941 50 Prozent des Kleinhandelspreises.1906 1941 folgte eine Drosselung der Produktion infolge eines Mangels an Rohstoffen, Brennstoffen und Arbeitskräften. Anfang 1942 wurden zur Regulierung des Absatzes Raucherkarten für Männer über 18 Jahren und für Frauen zwischen 25 und 55 eingeführt.1907 „Schon Anfang 1942 sollen für die Versorgung der Zivilbevölkerung nur noch halb soviele [sic!] Rauchwaren verfügbar gewesen sein wie zu Beginn des Sommers 1941.“1908 Für die Trafikanten verschärfte sich ihre wirtschaftliche Lage dadurch weiter, dass ab 1. Mai 1942 die Kontingentierung an Rauchwaren für Dienststellen der Wehrmacht nicht mehr über die Tabakgeschäfte, sondern von den betreffenden Einheiten selbst vorgenommen werden sollte.1909 Dass die Tabaktrafiken zunehmend unrentabler wurden, machte sich auch in den „Berufsberatungen“ in den Reservelazaretten bemerkbar. Erblindete Soldaten, die eine Trafik führen wollten, sollten zunächst in einem anderen Beruf unterkommen, die Verleihung eines entsprechenden Geschäftes wurde ihnen aber für die Zeit nach Ende des Krieges in Aussicht gestellt.1910 In den letzten beiden Kriegsjahren finden sich daher in den Akten des ÖStA keine Aufzeichnungen mehr über eine Verleihung von Tabaktrafiken an Kriegsblinde. Im Zuge der Ausdehnung der Kriegshandlungen auf das Gebiet der „Ostmark“ wurden 150 Tabakverschleißgeschäfte vollständig zerstört und 996 Trafiken beschädigt.1911 Wie viele kriegsblinde Inhaber davon betroffen waren, ist nicht bekannt. Erst nach dem Krieg bekamen Kriegsblinde wieder Tabaktrafiken zugewiesen. Ihre Vorzugsrechte blieben bestehen, allerdings galten diese nun auch für die Opfer des NS-Regimes.1912 5.6 Resümee Die Ausführungen in diesem Kapitel und im Kapitel III.4 zeigen auf, wie stark utilitaristisch die Versorgung der Kriegsblinden unter dem NS-Regime ausgerichtet war: Nicht das in der Vergangenheit Geleistete, sondern der Nutzen jedes Einzelnen in der Gegenwart war 1905 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Karl M., Fachabteilung Bund erblindeter Krieger an das HVA Wien vom 12.2.1942, Betreff: Unterstützung für Kriegsblinden Karl M. 1906 Vgl. Merki, nationalsozialistische Tabakpolitik, S. 19–42, hier S. 33. 1907 Vgl. Merki, nationalsozialistische Tabakpolitik, S. 19–42, hier S. 34–35. 1908 BAB, 31.01/11882, Bericht Koelfen an Funk vom 9.12.1941, zitiert in: Merki, nationalsozialistische Tabakpolitik, S. 19–42, hier S. 37. 1909 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann A., GZ VIa-Bl/1942, Austria Tabakwerke AG, Hauptverwaltung an das HVA Ostmark vom 25.7.1942, Betreff: Johann A. Salzburg. 1910 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Stefan M., Aktennotiz von Hauptmann Arnold vom 10.3.1943, Betreff: Vorbesprechung zur Berufsberatung. 1911 Vgl. Die ATW-AG berichtet über ihre Tätigkeit vom April 1945 bis Dezember 1946, Wien 1947, S. 33, zitiert in: Reiter, Geschichte der Austria Tabakwerke, S. 70–71. 1912 Vgl. o. A., Die gesetzlichen Grundlagen der Trafikverleihung an Kriegsblinde, S. 60–63, hier S. 62. 258 ausschlaggebend für ihre gesellschaftliche Stellung im NS-Staat.1913 Durch die Integration Kriegsblinder in das Berufsleben sollten diese ihre „Vollwertigkeit beweisen“.1914 Dementsprechend konnten die Kriegsblinden nur eingeschränkt ihre eigenen beruflichen Zielvorstellungen umsetzen, vielmehr sollte sich ihre Berufswahl den kriegswirtschaftlichen Erfordernissen unterordnen. Wer in der Landwirtschaft tätig werden wollte, gegen Ende des Krieges den Erwerb eine Trafik anstrebte oder ein Studium absolvieren wollte, bekam dabei nur wenig oder gar keine Unterstützung von den NS-Stellen. Kriegsblinde Trafikanten des Ersten Weltkrieges mussten in der „Ostmark“ im fortgeschrittenen Alter sogar noch eine Handwerksausbildung absolvieren, um ihr Einkommen zu sichern. Außerdem waren die Betroffenen gezwungen, sich dem NS-Regime gegenüber loyal zu verhalten, um gegebenenfalls für ihre Existenzgründung Darlehen von den Versorgungsämtern zu erhalten. Der Heroisierung der Kriegsopfer durch die Propaganda und die Ehrenbekundungen, die sie beispielsweise durch die Verleihung von Kriegsauszeichnungen oder auf Paraden erhielten, folgte im Berufsleben für viele die Ernüchterung. Die Bemühungen des NS-Regimes, neue Studienmöglichkeiten und Büroberufe zu erschließen oder die Betroffenen in öffentlichen Einrichtungen unterzubringen, verschafften den Kriegsblinden zwar im Vergleich zu den Zivilblinden bessere berufliche Möglichkeiten. Hinter diesen Maßnahmen des NS-Regimes stand allerdings nicht der Wille, die Kriegsblinden möglichst gut zu versorgen, sondern primär die Sorge, arbeitslose, finanziell schlecht versorgte Kriegsblinde könnten in ihrem Umfeld eine Antikriegsstimmung verstärken. Ihre „Brauchbarmachung“ um jeden Preis, unabhängig von ihren körperlichen Beeinträchtigungen, und die Steigerung ihrer „Leistungsfähigkeit“ waren die Prämisse des NS-Kriegsblindenwesens. 1913 Vgl. Diehl, Thanks of the Fatherland, p. 45. 1914 Wacker, Wie gestalte ich meine Freizeit, S. 31–32, hier S. 32. 259 6.Ausrichtung der Freizeitgestaltung „Die vier Wochen im frohen Kameradenkreis in einem unserer Kriegsblindenheime sind für ihn [den Kriegsblinden] der Inbegriff einer schönen Ferienerholung – die muß aber auch elf arbeitsreiche Monate vorhalten und Kraftquelle für sein Familienleben sein.“1915 Wie die Zivilblinden1916 sollten die Kriegsblinden gemäß der NS-Ideologie einen Lebensstil führen, der darauf ausgerichtet war, im Erwerbsleben möglichst produktiv sein zu können. Dazu zählte ein jährlicher mehrwöchiger Erholungsaufenthalt.1917 Die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ verfügte zu diesem Zweck wie der RBV über eigene Erholungsheime. 1943 gab es für Kriegsblinde und ihre Familien solche Einrichtungen in Braunlage im Harz, Söcking am Starnberger See, Swinemünde und ein Haus bei Aichberg in Eibiswald.1918 In der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ wurden allerdings nicht, wie in den RBV-Zeitschriften, Statistiken über deren Auslastung veröffentlicht.1919 Daher ist über deren Belegung und Nutzung nicht sehr viel bekannt. Das Erholungsheim in der Südsteiermark bei Aichberg hatte der österreichische Kriegsblindenverband 1923 erworben und ab 1938 führte die NSKOV den Betrieb weiter.1920 In der Zeitschrift der Kriegsblinde erschienen Aufrufe, dass nicht nur Kriegsblinde aus der „Ostmark“, sondern auch aus dem „Altreich“ dorthin kommen sollten.1921 Das Angebot der Erholungsheime für Kriegsblinde war vor dem Zweiten Weltkrieg wesentlich umfangreicher als für Zivilblinde.1922 Kriegsblinde kamen dort mit ihren Familien unter. Um die Kinder der Kriegsblinden kümmerten sich eigene Kindergärtnerinnen.1923 Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges schränkte den Betrieb der „Erholungsfürsorge“ für Kriegsblinde allerdings ein. Bereits 1940 musste ein Erholungsheim in Bad Salzhausen der Wehrmacht zur Verfügung gestellt werden.1924 Am selben Ort nahm 1943 die Pension „Charlotte“ vom 1. Mai bis 30. September ausschließlich Kriegsblinde auf, allerdings nur solche ohne Kinder.1925 Die Auswirkungen des Krieges führten also wie bei den Zivilblinden dazu, dass weniger Raum für solche Erholungsaufenthalte für Kriegsblinde zur Verfügung stand, obwohl durch die ständig hinzukommenden erblindeten Soldaten der Bedarf eigentlich gestiegen sein dürfte. Die Einrichtung in Eibiswald wurde zu Ende des Krieges teilweise zerstört und nach 1945 vom damaligen Kriegsblindenverband nicht mehr aufgebaut.1926 1915 Bierwerth, Erholung, S. 59–61, hier S. 60. 1916 Vgl. Kapitel II.7. 1917 Vgl. Haule, Freizeitgestaltung, S. 85–85, hier S. 84, Bierwerth, Erholung, S. 59–61, hier S. 60. 1918 Vgl. o. A., Erholungsfürsorge 1943, S. 10–11, hier S. 10; Finck, Geschichte der Kurfürsorge, S. 91–132. 1919 Vgl. Kapitel II.7. 1920 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 181–183. 1921 Vgl. Finck, Geschichte der Kurfürsorge, S. 117. 1922 Vgl. Kapitel II.7. 1923 Vgl. Bierwerth, Erholung, S. 59–61, hier S. 60. 1924 Vgl. Bierwerth, Erholung, S. 59–61, hier S. 60. 1925 Vgl. Bierwerth, Erholung, S. 59–61, hier S. 60. 1926 Ab 1947 nutzte der wiedergegründete Kriegsblindenverband Schloss Waxenberg im oberösterreichischen Mühlviertel für Erholungsaufenthalte seiner Mitglieder. 1968 baute der Kriegsblindenverband ein eigenes Haus in Ossiach (Kärnten). Als die Organisation 1992 nur mehr 302 Mitglieder zählte, konnte dementsprechend die Auslastung dieses „Kriegsblinden-Erholungsheimes“ in Kärnten nicht mehr gewährleistet 260 Ihren Aufenthalt in einem der Erholungsheime konnten die Kriegsblinden auch als Kuraufenthalt nach dem RVG (§ 5) und dem WFVG (§ 76) beantragen.1927 Wenn dieser genehmigt wurde, bekamen sie die Kosten für den Aufenthalt refundiert.1928 Außerdem schuf das NS-Regime weitere finanzielle Anreize, damit Kriegsopfer Erholungsaufenthalte in Anspruch nahmen. Für Kriegsgeschädigte mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 50 Prozent ermäßigte sich die Kurtaxe um die Hälfte. Begleitpersonen mussten keine Kurtaxe bezahlen.1929 Die Betroffenen waren daher nicht auf die Benützung der Einrichtungen der NSKOV angewiesen. Das NS-Regime förderte außerdem eine entsprechende Freizeitgestaltung der Kriegsblinden. In der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ erschienen Beiträge, in denen sportliche Aktivitäten angepriesen wurden.1930 Die Benutzung von Doppelfahrrädern, das waren zwei Damenfahrräder, die seitliche miteinander fest verbunden waren, und Tandems, Schwimmen, Rudern, Kegeln sowie Gymnastik zählten zu den empfohlenen Sportarten.1931 Die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ empfahl darüber hinaus ihren Mitgliedern, an Veranstaltungen und Kursen der NS-Organisation „Kraft durch Freude“ teilzunehmen sowie Film- und Theatervorstellungen zu besuchen.1932 Die Kriegsblinden sollten dadurch Entspannung finden. Die bereits geschilderten Ermäßigungen für Kriegsblinde und andere schwer Kriegsgeschädigte bei kulturellen Veranstaltungen wurden mit dem Hintergedanken der Erhaltung der beruflichen „Leistungsfähigkeit“ gewährt.1933 Aus diesem Grund konnten Kriegsblinde nach der Entlassung aus der Wehrmacht auch nicht nur Darlehen für ihren Existenzaufbau, sondern auch zum Zwecke ihrer Freizeitgestaltung erhalten. Der 1941 durch einen Granatsplitter bei Smolensk erblindete Unteroffizier Oskar C. wurde in Wien zum Masseur ausgebildet. Im dortigen Reservelazarett lernte er Klavierspielen und erhielt 1943 ein eigenes Instrument, nachdem die zuständigen Behörden ihm den rückzahlungspflichtigen Betrag von 400 RM zu diesem Zweck genehmigt hatten.1934 Das Angebot zur Freizeitgestaltung für Kriegsblinde nutzte außerdem der NS-Propaganda. Die Präsentation des Erholungsangebotes für Kriegsblinde im Rahmen einer Ausstellung im Reservelazarett Stuttgart-Solitude 1942 sollte beispielsweise bei den ZuschauerInnen den Eindruck verstärken, „daß alles geschieht, um den neuen Kameraden zu helfen, das Los der Kriegserblindung leichter zu ertragen.“1935 werden. Ende 1992 wurde diese Einrichtung daher für andere Personen geöffnet und der Kärntner Kriegsopferverband übernahm die Verwaltung. Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 135–138; Finck, Geschichte der Kurfürsorge, S. 118. 1927 Vgl. o. A., Erholungsfürsorge 1943, 10–11, hier S. 10. 1928 Vgl. o. A., Erholungsfürsorge 1943, 10–11, hier S. 10. 1929 Vgl. o. A., Kurtaxermäßigung für Kriegsbeschädigte, S. 27. 1930 Vgl. Friedrich, Das Doppelfahrrad, S. 48–50, hier S. 48. 1931 Vgl. Haule, Freizeitgestaltung, S. 84–85, hier S. 84; Friedrich, Das Doppelfahrrad, S. 48–50, hier S. 48. 1932 Vgl. Wacker, Wie gestalte ich meine Freizeit, S. 31–32. 1933 Vgl. Kapitel III.2.5.2. 1934 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Oskar C., NSKOV Fachabteilung erblindeter Krieger an das HVA Wien vom 20.9.1943, Betreff: Rechnung für RM 400 für Klavier, das C. bekommen hat. 1935 O. A., Kriegsblinden-Ausstellung Stuttgart, S. 67; Vgl. Kapitel III.4.2.2. 261 7.Ehefrauen als Faktor der Versorgung „Dass sie mich gleichfalls liebte, wusste ich nun, und das gab mir ein Glückgefühl, wie ich es seit meiner Erblindung nicht mehr erlebt hatte. […] Ich durfte wieder hoffen, als Blinder auch glücklich werden zu können.“1936 Wie das Kapitel über die Freizeitgestaltung der Kriegsblinden gezeigt hat, war es charakteristisch für das NS-Regime, Maßnahmen zu setzen, die auch das Privatleben der Betroffenen tangierten. Gleichzeitig demonstrierte die NS-Führung damit der Öffentlichkeit, die „Kriegshelden“ umfassend zu versorgen. In diesem Zusammenhang wurden Eheschließungen von Kriegsblinden und anderen Kriegsgeschädigten vom NS-Regime gefördert. In den Medien erschienen sogar Aufrufe, Kriegsinvalide zu heiraten. Dabei wiesen die Verfasser die Zielgruppe – potentielle Ehefrauen – vor allem auf die finanziellen Vorteile einer solchen Verbindung mit einem Mann, der ein Anrecht auf eine lebenslange, gut dotierte Rente hat, hin.1937 Kriegsgeschädigte wurden als eine „attraktive Partie“1938 stilisiert. Diese Maßnahmen betrafen allerdings ausschließlich die ehemaligen Soldaten und diesen gleichgestellte Männer. Förderungen von Ehen mit durch die Auswirkungen des Krieges dauerhaft beeinträchtigten Zivilistinnen sind nicht bekannt. Dabei fanden insbesondere Frauen, die beispielsweise durch Luftangriffe oder aufgefundenes Sprengmaterial erblindet waren, nach ihrer Kriegsverletzung nur schwer einen Partner. Sie hatten dieselben Schwierigkeiten wie zivilblinde Frauen.1939 Dementsprechend gab es in den Kriegsblindenverbänden in Deutschland und Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg prozentual gesehen wesentlich mehr allein lebende Frauen als Männer.1940 Nach damaliger Auffassung galt eine Verehelichung von ehemaligen erblindeten Soldaten mit einer sehenden Frau deshalb als wünschenswert, weil ein erfülltes Privatleben das Selbstvertrauen und den Lebensmut der blinden Männer positiv beeinflussen würde und damit auch ihre „Leistungsfähigkeit“ steigere.1941 Darüber hinaus übernahmen Ehefrauen die Betreuung der blinden Männer im Alltag. Sie führten den Haushalt, erledigten Behördengänge oder führten ihren blinden Ehemann, wenn dieser außer Haus musste. Dies entsprach auch dem damaligen passiven Rollenbild der Frau.1942 Eheschließungen von Kriegsblinden waren daher ein Faktor in der Versorgung. Soldaten, die zum Zeitpunkt ihrer Verwundung noch nicht verheiratet waren, sollten möglichst bald eine Ehefrau finden, damit ihre tägliche Pflege abgesichert war. Um die Anzahl von Eheschließungen zu erhöhen, wurden diese finanziell gefördert. Erblindete Soldaten, die vor ihrer Entlassung aus 1936 Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 218. Bernhard Lindmayr beschrieb mit diesen Worte eine Begegnung mit seiner späteren Ehefrau Friedel. 1937 Vgl. Schule, Das Problem der Kriegsblindenehe, S. 74–76, hier S. 74. 1938 Jähnl, Kriegsblinden, S. 113. 1939 Vgl. Kapitel II.10. 1940 Vgl. Sieglinde Bartelsen, Probleme der kriegsblinden Frauen, in: Bund der Kriegsblinden Deutschlands (Hrsg.), Kriegsblindenjahrbuch 1981, o. O. 1981, S. 43–47, hier S. 44, zitiert in: Abraham, Historische und gegenwärtige Aspekte, S. 94. 1941 Vgl. Schule, Problem der Kriegsblindenehe, S. 74–76, hier S. 75. 1942 Vgl. Schilling, „Helden der Wehrmacht“, S. 550–572, hier S. 563. 262 der Wehrmacht heirateten, erhielten vom OKW und aus Mitteln der Kriegsblindenstiftung jeweils 300 RM.1943 Die zuständigen Wehrmachtsfürsorgeoffiziere gewährten zur Hochzeit außerdem einen Sonderurlaub.1944 Bei Kriegsgeschädigten, die sich nach ihrer Entlassung aus der Wehrmacht verehelichten, waren die Hauptfürsorgestellen dafür zuständig, die „Heiratsbeihilfen“1945 auszubezahlen. Einige der erblindeten Soldaten lernten ihre späteren Ehefrauen im Umfeld der Reservelazarette kennen. Das HVA Wien beispielsweise gab 1944 in einem Schreiben an die Hauptfürsorgestelle Königsberg in Preußen an, dass Kriegsblinde in „zahlreichen Fällen […] auf Eheschließung abzielende Verhältnisse mit Wienerinnen“1946 eingehen würden. Genauere Zahlen dazu wurden in diesem Schreiben allerdings nicht bekannt gegeben. Diese Tatsache führte in Wien allerdings zu Versorgungsschwierigkeiten, da Kriegsblinde nach ihrer Entlassung aus der Wehrmacht nicht wieder in ihre Heimat zurückkehren, sondern in Wien, dem Wohnsitz ihrer Partnerinnen, verbleiben wollten. In Wien stand aber nicht ausreichend Wohnraum zur Verfügung, was durch die Luftangriffe zusätzlich verschärft wurde.1947 Das HVA Wien hatte dementsprechend Schwierigkeiten, Kriegsblinden, die sich in Wien niederlassen wollten, eine geeignete Unterkunft zu verschaffen. 1944 genehmigte das HVA Wien daher nur mehr den Kriegsblinden eine Wohnung in Wien, die dort eine Anstellung gefunden hatten und aus beruflichen Gründen unbedingt auf eine Wohnstätte angewiesen waren. Dies geht aus dem bereits zitierten Schreiben des HVA Wien vom Jänner 1944 an die Hauptfürsorgestelle Königsberg in Preußen hervor.1948 Darin teilte das HVA Wien dieser Behörde mit, dass sie zwei Kriegsblinden aus Preußen, die sich im Reservelazarett Wien aufhielten, keine Wohnung in Wien vermitteln würde. Die beiden zu Bürstenbindern ausgebildeten erblindeten Soldaten wollten dort leben, weil dies der Wunsch ihrer zukünftigen Ehefrauen war, die aus Wien stammten. Die Hauptfürsorgestelle Königsberg hatte das Anliegen der beiden Kriegsblinden mit der Begründung unterstützt, dass ehemalige erblindete Soldaten nur schwer eine Ehefrau finden würden. Das HVA Wien ließ dieses Argument aber nicht gelten, mit der Begründung, diese „Erfahrungen“ hätten sich in Wien „nicht bestätigt“.1949 1943 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Tagesordnung und Niederschrift über die Tagung am 10. und 11. November 1942, Berlin, Betreff: Erblindete Soldaten, S. 6. 1944 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Oskar C. 1945 BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge- und Blindenbildung, Tagesordnung und Niederschrift über die Tagung am 10. und 11. November 1942, Berlin, Betreff: Erblindete Soldaten, S. 6. 1946 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Erich K., GZ VI a – Bl/NW/1944, HVA Wien an den Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen Hauptfürsorgestelle Königsberg vom 19.1.1944, Betreff: Die Kriegsblinden Erich K. und Erwin H. Zuzug, Ihr Schreiben vom 11.1.1944, Nr. IV a H 703. 1947 Um Wohnraum für ihre Klientel zu schaffen, vertrieben die NS-Machthaber 1938 beispielsweise MieterInnen von Gemeindewohnungen jüdischer Herkunft. Davon waren auch Kriegsblinde betroffen. Vgl. Kapitel IV.3.2, 3.3.1. 1948 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Erich K., GZ VI a – Bl/NW/1944, HVA Wien an den Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen Hauptfürsorgestelle Königsberg vom 19.1.1944, Betreff: Die Kriegsblinden Erich K. und Erwin H. Zuzug, Ihr Schreiben vom 11.1.1944, Nr. IV a H 703. 1949 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Erich K., GZ VI a – Bl/NW/1944, HVA Wien an den Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen 263 Tatsächlich scheint die Anzahl von verheirateten Kriegsblinden relativ hoch gewesen zu sein. Zivilblinde Männer, die keinen Rentenanspruch hatten, fanden im Vergleich dazu wesentlich seltener eine sehende Frau.1950 Diese Tatsache darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der erhöhte Pflegebedarf, vor allem der durch infolge einer Kriegsverletzung mehrfachbehinderten Männer, unter Umständen eine große Belastung für die Ehefrauen darstellte. Einige Ehen scheiterten aus den unterschiedlichsten Gründen. Nach Berichten von Kriegsblinden des Zweiten Weltkrieges, die Melanie Abraham für ihre 1999 fertiggestellte Arbeit zum Staatsexamen für das Lehramt an Sonderschulen interviewte, wurden die Pläne von sehenden Frauen, einen Kriegsblinden zu heiraten, darüber hinaus von deren Umfeld teilweise nicht unterstützt. In der Bevölkerung herrschte noch vielerorts die Meinung, blinde Männer könnten nicht arbeiten und mit ihnen sei dementsprechend „nichts anzufangen“.1951 Diese Auffassung stand in Zusammenhang mit den Auswirkungen der rassenhygienischen NS-Propaganda. Diese führte, wie bereits erwähnt,1952 dazu, dass viele Menschen der Meinung waren, sogar Kriegsverletzungen seien erblich. Das Zusammenleben mit den Kriegsblinden wurde auch durch die teilweise schweren Kriegstraumata oder Spätfolgen von Kopfverletzungen erschwert, die einige dieser Männer erlitten hatten.1953 In Kapitel III.1.3 wurde bereits das Extrembeispiel des Kriegsblinden Gustav Atteneder vorgestellt, der infolge seiner Kriegsverletzung unter einer geistigen Beeinträchtigung litt und 1957 aus unerfindlichen Gründen seine Ehefrau erschoss. Viele Frauen von Soldaten, die aus dem Krieg mit einer dauerhaften Beeinträchtigung heimkehrten, berichteten nach dem Zweiten Weltkrieg, dass ihre Männer sich völlig anders verhielten als vor ihrem Militärdienst und praktisch nicht mehr dieselben wären.1954 Das Scheitern von Ehen wurde auch in der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ diskutiert. In einem 1944 erschienenen Beitrag von Berthold Schule macht dieser allerdings einzig die Frauen, die aus finanziellen Erwägungen und Mitleid heraus geheiratet hätten, für Scheidungen verantwortlich.1955 Das HVA Wien vertrat etwa die Meinung, eine Ehe mit einem Kriegsblinden könne nur gelingen, wenn die Bräute diese Verbindung auf Grund „wahrer Liebe“ und „frei von Illusionen oder materiellen Gedankengängen“ eingingen.1956 Diese Ansicht entsprach dem damaligen ambivalenten Rollenbild der Frau, die nach zeitgenössischer Ansicht sowohl einen negativen wie stimulierenden Einfluss auf den Mann haben konnte.1957 Hauptfürsorgestelle Königsberg vom 19.1.1944, Betreff: Die Kriegsblinden Erich K. und Erwin H. Zuzug, Ihr Schreiben vom 11.1.1944, Nr. IV a H 703. 1950 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 164. 1951 Abraham, Historische und gegenwärtige Aspekte, S. 53–54 und S. 57. 1952 Vgl. Kapitel II.8.2.6. 1953 Vgl. Kapitel III.1.3. 1954 Vgl. Fritsch, 40 Jahre Ehe, S. 80. 1955 Vgl. Schule, Das Problem der Kriegsblindenehe, S. 74–76. 1956 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Erich K., GZ VI a – Bl/NW/1944, HVA Wien an den Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen Hauptfürsorgestelle Königsberg vom 19.1.1944, Betreff: Die Kriegsblinden Erich K. und Erwin H. Zuzug, Ihr Schreiben vom 11.1.1944, Nr. IV a H 703. 1957 Vgl. Schilling, „Helden der Wehrmacht“, S. 550–572, hier S. 565. 264 Auch Funktionäre der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“, die Kriegsblinde regelmäßig zu Hause besuchten und Berichte darüber ablieferten,1958 waren von diesem Frauenbild geprägt. Die Abteilung schrieb beispielsweise im Oktober 1941 dem HVA Wien, dass der Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges Karl M., ein Wiener Trafikant, während seiner Ehe ein „Martyrium“ erlebt habe und die Ehe daher durch „Verschulden der Frau“ im März 1940 geschieden worden sei.1959 Was der Frau dabei angelastet wurde, geht aus dem Akt nicht hervor. Ein anderes Beispiel betraf den in Krottendorf im Gau Kärnten lebenden Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges Paul U. Er wurde 1941 von dem Bezirksobmann der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ August Hillepold und einem nicht namentlich genannten Vertreter des Versorgungsamtes Klagenfurt aufgesucht. Aus dem Besuchsprotokoll vom 14. Februar 1941 geht hervor, dass Paul U. Alkoholiker war und in sehr ärmlichen Verhältnissen lebte. In dem Bericht wird ein Bild der Lebensumstände gezeichnet, nach denen der Kriegsblinde von seiner Frau, die ebenfalls trinken würde, stark vernachlässigt würde und sie „keinen Sinn für Ordnung und Reinlichkeit“1960 hätte. Außerdem gab der nicht genannte Protokollschreiber an: „Die Gattin dagegen soll sich, wie ich des Öfteren hörte, mit anderen Männern vergnügen.“1961 Aus Sicht des Verfassers kam diese Frau also ihrer von der NS-Ideologie vorgeschriebenen Rolle als Pflegerin des Mannes nicht nach.1962 Die Ehen der Kriegsopfer gestalteten sich also ambivalent. Auf der einen Seite boten sie den betroffenen Männern die Chance, ein erfülltes Leben mit einer eigenen Familie und Kindern zu leben. Andererseits scheiterten Beziehungen etwa auf Grund der traumatischen Kriegserlebnisse, die die ehemaligen Soldaten in ihrer Fähigkeit, menschliche Beziehungen zu führen, einschränkten; und an den Frauen, die mit dieser Situation nicht umgehen konnten. 1958 Vgl. Kapitel III.3.4. 1959 ÖStA, Adr, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Karl M., NSKOV Fachabteilung Erblindeter Krieger an das HVA Wien vom 8.10.1941, Betreff: Tochter des Kriegsblinden M. [Die NS-Kriegsblindenorganisation suchte für Karl M., der seiner inzwischen geschiedenen Ehefrau Alimente zahlen musste, bei dieser Behörde um zusätzliche finanzielle Unterstützung an. Damit sollten die Kosten gedeckt werden, die anfielen, weil die jüngste Tochter des Kriegsblinden auf Grund einer geistigen und körperlichen Behinderung in einem Heim untergebracht werden sollte.] 1960 Es entsprach dem Zeitgeist, dass Kriegsblinde zwar als „arbeitsfähig“ galten, aber ohne eine Frau angeblich nicht in der Lage waren, einen Haushalt selbst zu führen. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge Paul U., Aktenvermerk Nr. 15 vom 14.2.1941. 1961 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge Paul U., Aktenvermerk Nr. 15 vom 14.2.1941. 1962 Auch in der 1994 veröffentlichten Dissertation von Otto Jähnl setzt sich die Tendenz fort, dass Kriegsblinde als gute Ehemänner dargestellt werden. Nach Meinung von Jähnl sei ein Blinder generell „ein treuer Mann“. „Seitensprünge, daraus resultierende Eheprobleme, Eifersucht auf andere Frauen, sind faktisch keine Themen.“ Solche generellen Aussagen sind allerdings abzulehnen, da sie nicht beweisbar sind. Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 166. 265 8.Kriegsblinde Angehörige der Waffen-SS „Der im Krieg an der Front das Augenlicht verloren hat, war für mich ganz gleichberechtigt, ob er der Waffen-SS oder einer sonstigen Wehrmachtseinheit angehört hatte. Als KZ-Wächter verliert man ja nicht das Augenlicht, habe ich dem Professor erklärt.“1963 Mit dem Namen „Waffen-SS“ wurde ab Ende 1939 die bewaffneten Formationen der SS1964 bezeichnet.1965 Die Waffen-SS wurde nach dem Sieg der „Deutschen Wehrmacht“ in Polen aus der Zusammenführung der SS-Verfügungsdivision, der SS-Totenkopfdivision und aus SS-Totenkopfverbänden geschaffen.1966 Sie wurde durch Heinrich Himmler zu einer selbständigen militärischen Organisation ausgebaut und expandierte im Kriegsverlauf. Am 30. Juni 1944 belief sich der Ist-Stand auf fast 600.000 Mann.1967 Hinsichtlich ihrer Besoldung und Versorgung waren sie rechtlich den Angehörigen der Wehrmacht gleichgestellt.1968 Die Waffen-SS verstand sich aber als eigenständige „Elitetruppe“. Zu ihrem „Credo“ zählte es etwa, dass sie für ihre Mitglieder „sorgte“: „Dies verstärkte ihr Bild als geschlossener Orden mit seinen eigenen Regeln und Gesetzen.“1969 Für die Versorgung ihrer Kriegsopfer gab es in der Organisationsstruktur der Waffen-SS eigene Fürsorge- und Versorgungsämter,1970 die dem Chef des SS-Hauptamtes unterstellt waren.1971 Die Rehabilitation erblindeter Angehöriger der Waffen-SS erfolgte daher nicht gemeinsam mit den erblindeten Soldaten der Wehrmacht in den Reservelazaretten, sondern in einer eigenen Einrichtung. 1939 war zu diesem Zweck die „Klarsche Blindenanstalt“ in Prag requiriert worden.1972 Zeitweilig erhielten dort bis zu 200 erblindete Waffen-SS-Angehörige eine so genannte blindentechnische Grund- und unter Umständen Berufsausbildung.1973 Im Juli 1944 wurde die Kriegsblindenschule der Waffen-SS in Prag in „SS-Lazarett-Abteilung für Kriegsblinde, 1963 Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 212. Bernhard Lindmayr erklärt dies auf die Frage eines Arztes, ob es ihn stören würde, eine Ausbildung zum Masseur gemeinsam mit kriegsblinden Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS zu absolvieren. 1964 So genannte „Schutzstaffel“ der NSDAP vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 417–436. 1965 Vgl. Schmitz-Berning, Vokabular, S. 681–682. Zum Begriff der Waffen-SS vgl. Wegner, Die Waffen-SS 1933–1945, S. 127–129. 1966 Vgl. Wegner, Die Waffen-SS 1933–1945, S. 124–127. 1967 Vgl. Frank Dingel, Waffen-SS, in: Benz, Graml, Weiß, Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 791–793, hier S. 792. 1968 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 427a. 1969 Ailsby, Die Geschichte der Waffen-SS, S. 50. 1970 Vgl. [D] RBBl., Teil I, Durchführungsbestimmungen zum Fürsorge und Versorgungsgesetz für die ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht und ihre Hinterbliebenen – Wehrmachtsfürsorge- und -versorgungsgesetz – hinsichtlich der SS-Verfügungstruppe vom 10. November 1938, S. 1607–1608; Strehl, Rundfunkwissenschaften und Blindenstudium, S. 30–32, hier S. 30. 1971 Vgl. Wegner, Die Waffen-SS 1933–1945, S. 265 und 267. Zum Sanitätsdienst der Waffen-SS vgl. weiterführend: Fischer, Der deutsche Sanitätsdienst [Band 3], S. 2157–2237. 1972 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 114. 1973 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 84. 266 Prag“1974 umbenannt. Dieser Abteilung war eine „Versehrten-Kp für Kriegsblinde“1975 angeschlossen, zu der alle kriegsblinden Angehörigen der Waffen-SS versetzt wurden, bis sie wieder einer Arbeitsstelle nachgehen konnten. Alle Kriegsblinden der Waffen-SS mussten der Abteilung in Prag gemeldet werden.1976 Eine Berufsausbildung konnten die erblindeten Angehörigen der Waffen-SS allerdings unter Umständen auch an den Schulungsstätten für Kriegsblinde der Wehrmacht, beispielsweise in Berlin oder Marburg an der Lahn, absolvieren. Das in Prag ebenfalls eingerichtete Reservelazarett für erblindete Soldaten der Wehrmacht war aber von dem der Waffen-SS, das im Czerny-Palast untergebracht war, räumlich getrennt.1977 Die Waffen-SS entsandte darüber hinaus eigene Vertreter zu Schulungen, die sich mit der Versorgung von Kriegsblinden beschäftigten.1978 An einer Tagung der Hauptfürsorgestelle für Kriegsgeschädigte und deren Angehörige in Berlin im November 1942 nahmen beispielsweise vier Vertreter der Waffen-SS teil.1979 Dies zeigt den Sonderstatus, den erblindete Angehörige der WaffenSS unter den Kriegsblinden hatten. Der Kriegsblinde des Zweiten Weltkrieges Willi Finck, der 2005 ein Buch über die Versorgung von Kriegsblinden in der DDR veröffentlichte, beschreibt darin, dass es kaum Beziehungen zwischen den erblindeten Soldaten der Wehrmacht und denjenigen der Waffen-SS gegeben habe. In der Silex-Handelsschule in Berlin konnten zwar die Kriegsblinden der Wehrmacht und der Waffen-SS gemeinsam Kurse belegen, aber ihre Unterkünfte waren getrennt. Auch die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ pflegte keinen engen Kontakt zu den blinden Männern der Waffen-SS. Finck berichtet von gelegentlichen Besuchen Josef Friedels, Bundesführer der NSKOV „Fachabteilung für erblindete Krieger“ seit 1941, in der Ausbildungseinrichtung für erblindete Angehörige der Waffen-SS in Prag, um die Kriegsblinden dort über ihre Möglichkeiten zur beruflichen Ausbildung und Berufsausübung zu informieren.1980 Im Zuge der Recherchen für diese Arbeit konnte nur ein Beitrag in der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ aus dem Jahr 1943 von dem erblindeten Angehörigen der Waffen-SS H. Beier eruiert werden, der über den Einsatz von Kriegsblinden als Dolmetscher berichtete. Beier arbeitete selbst in dieser Funktion und hatte in Prag die blindentechnische Grundausbildung absolviert. Auf Grund seiner bereits vorhandenen Sprachkenntnisse in Norwegisch, der Muttersprache seiner Ehefrau, legte er nach Abschluss seiner Basisschulung in Prag bei der Reichsfachschaft für das Dolmetscherwesen in Berlin die Dolmetscherprüfung in dieser Sprache ab. Er wurde nach Oslo versetzt, um dort norwegische Post zu übersetzen. Er 1974 Fischer, Der deutsche Sanitätsdienst [Band 3], S. 2222. 1975 Fischer, Der deutsche Sanitätsdienst [Band 3], S. 2222. 1976 Vgl. Fischer, Der deutsche Sanitätsdienst [Band 3], S. 2222. 1977 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 139; Vgl. Kapitel III.4.1. 1978 Vgl. Strehl, Rundfunkwissenschaft und Blindenstudium, S. 30–32, hier S. 30. 1979 Namentlich wurden SS-Hauptsturmführer Blume, der zur SS-Reichsführung zählte, SS-Hauptsturmführer Koehne vom SS-Lazarett in Prag, SS-Oberscharführer Petrich, ein Angehöriger der Waffen-SS aus Prag, und SS-Obersturmbannführer Schmitt, ebenfalls zur Waffen-SS Prag zugehörig, genannt. Ihre Vornamen ließen sich nicht eruieren. Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Tagesordnung für die Tagung am 10. und 11. November 1942, Berlin, Betreff: Erblindete Soldaten, S. 1. 1980 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 139. 267 bekam dazu einen Freiwilligen der Waffen-SS zur Seite gestellt, der ihm die Briefe vorlas.1981 Die Unterstützung durch sehendes Hilfspersonal war charakteristisch für die Versorgung der Angehörigen der Waffen-SS, die dementsprechend umfassender war als für die Kriegsblinden der Wehrmacht. „Die sind ganz toll betreut gewesen“,1982 sagte beispielsweise Bernhard Lindmayr in einem Interview am 15. September 2006. In seinen Memoiren schreibt Lindmayr, dass auf Grund einer Verfügung von Hitler allen „SS-Blinden“ eine „so genannte Ordonanz“ als Hilfe und Betreuung, „meist sogar ein Unterscharführer“, zur Seite gestellt worden sei.1983 Diese unterstützten die Erblindeten auch wenn sie ein Studium begannen. Erst gegen Ende des Krieges, als sie Prag verlassen mussten, konnte dieser Dienst nicht mehr aufrechterhalten werden. Die BetreuerInnen wurden in der Folge als LehrerInnen, Krankenschwestern und Hilfspersonal weiterbeschäftigt und arbeiteten etwa in dem Notlazarett in Bad Ischl, in denen die Kriegsblinden der Waffen-SS aus Prag nach ihrer Flucht unterkamen.1984 Bernhard Lindmayrs Kenntnisse über die Versorgung von erblindeten Angehörigen der Waffen-SS sammelte der im April 1945 erblindete Steirer, als er nach Kriegsende in ein Notlazarett nach Bad Ischl verlegt wurde. Seinen Schilderungen nach teilte ihm dort der „berühmte Gehirnchirurg […] Prof. Dr. „Dönis“1985 aus Berlin mit, dass sich im Schloss Engleiten in Laufen bei Bad Ischl Kriegsblinde der Waffen-SS aus der Einrichtung in Prag befinden würden: „Die SS-Blinden hätten aufgrund des von den Besatzungsmächten über die SS generell verhängten negativen Urteiles für die nächste Zeit keine Aussicht auf Versorgung. Man sei deshalb daran gegangen, eine geeignete Berufsausbildung zu organisieren, die den Blinden zu einem Beruf verhelfe, mit dem sie sich selbst ernähren könnten.“1986 Lindmayr wurde von dem Arzt aus Berlin gefragt, ob er an dieser Ausbildung zum Heilmasseur teilnehmen wolle. Seiner Erinnerung nach waren in Schloss Engleiten rund 50 erblindete Angehörige der Waffen-SS untergebracht.1987 Lindmayr erlernte dort in der Folge die Blindenschrift und begann den theoretischen Teil der Ausbildung zum Heilmasseur. Auch wenn Lindmayr keine Vorbehalte gegen die Angehörigen der Waffen-SS hegte, reagierten diese doch zunächst ablehnend auf den erblindeten Wehrmachts-Soldaten. Sie erwarteten sich offenbar auch nach Kriegsende die Aufrechterhaltung ihres Sonderstatus und sahen Lindmayr daher nach seiner eigenen Einschätzung zunächst als „Eindringling“1988. Im Laufe der Zeit scheint sich das Verhältnis allerdings gebessert zu haben, denn Lindmayr beschreibt sein Auskommen mit ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS in der Folge als gut. Im 1981 Vgl. H. Beier, Kriegsblinder als Dolmetscher, in: Der Kriegsblinde, Nr. 7/8, Jg. 27 (1943), S. 55–56, hier S. 55. 1982 Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am 15.9.2006, Transkription S. 9. 1983 Vgl. Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 217. 1984 Vgl. Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 217. 1985 Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 211. Es dürfte sich hierbei um Prof. Dr. Wilhelm Tönnis gehandelt haben. Der 1898 in Dortmund-Kley Geborene machte sich insbesondere in der Kriegschirurgie als Ge­hirn­chi­ rurg einen Namen. Vgl. Behrendt, Kriegschirurgie von 1939–1945, S. 245–246. 1986 Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 211. 1987 Vgl. Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am 15.9.2006, Transkription S. 8. 1988 Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 212. 268 September 1945 begann die praktische Berufsausbildung im Haus Starnberg in Bad Ischl. Die Angehörigen der Waffen-SS konnten diese allerdings nicht beenden. Lindmayr schrieb darüber: „Die Kameraden der ehemaligen Waffen-SS waren alle zusammen mit jenen, die noch in Schloss Engleiten lebten und als Gefangene der Amerikaner dort festgehalten waren, in das ehemalige Konzentrationslager Ebensee abgeführt worden.“1989 Auf Grund der Beteiligung von Einheiten der Waffen-SS am Holocaust und an zahlreichen Kriegsverbrechen wurde diese NS-Formation 1946 vom „Internationalen Militärgerichtshof“ in Nürnberg zur verbrecherischen Organisation erklärt. Trotzdem kam es nach Kriegsende zu einer Zusammenführung der Kriegsblinden aus Wehrmacht und Waffen-SS.1990 Kriegsblinde Angehörige der ehemaligen Waffen-SS übernahmen Funktionen in den Kriegsblindenorganisationen, die sich nach Kriegsende in Deutschland und Österreich neu formierten. Laut Willi Finck übernahmen sie Positionen in den Vorständen der Landesverbände des „Bund der Kriegsblinden Deutschlands“. Als Beispiel nannte er den Landesverband Niedersachsen, dessen Leitung zeitweise vier Angehörige der ehemaligen Waffen-SS angehörten. Namentlich genannt werden diese von Finck allerdings nicht. Er machte auch keine genauere zeitliche Angabe dazu.1991 Eine Zusammenarbeit zwischen den Kriegsblinden der ehemaligen Wehrmacht und der ehemaligen Waffen-SS scheint es auch in Österreich gegeben zu haben. Lindmayr berichtete in einem Zeitzeugeninterview 2006, er habe zwei erblindete ehemalige Angehörige der Waffen-SS persönlich gekannt, namentlich Walter Laske und Erich Göstl.1992 Weitere Kriegsblinde, die der Waffen-SS angehört hatten, ließen sich namentlich nicht eruieren. In der Festschrift des „Verband[es] der Kriegsblinden Österreich“, 1949 zum 30-jährigen Bestand der Vereinigung herausgegeben, scheinen Walter Laske und Erich Göstl als Delegierte der Landesgruppe „Wien, Niederösterreich und Burgenland“ auf.1993 Über Erich Göstl konnten keine weiteren Informationen eruiert werden. Der Name Walter Laske findet sich in einer Aufstellung der leitenden Mitglieder der Landes- und Bundesorganisation des Kriegsblindenverbandes von Otto Jähnl mit Stand vom Sommer 1993.1994 Laske übte die Funktion des Schriftführers im Vorstand der Bundesorganisation des Kriegsblindenverbandes aus und war Obmannstellvertreter der Landesgruppe „Wien, Niederösterreich und Burgenland“. Aus einem bei Jähnl wiedergegebenen kurzen Lebenslauf geht hervor, dass der 1924 geborene Laske als Gefreiter durch Granatsplitter am 22. November 1943 in Krasnovska in der Sowjetunion erblindete.1995 In Jähnls publizierter Dissertation findet sich auch ein Bericht Laskes über sein Studium.1996 Daraus geht hervor, dass er noch während seines Lazarettaufenthaltes in Prag an der dortigen Karls-Universität sein Jus-Studium begann.1997 Seine 1989 Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 225–226. 1990 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 139. 1991 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 139. 1992 Vgl. Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am 15.9.2006, Transkription S. 9. 1993 Vgl. Verband der Kriegsblinden Österreichs, Festschrift 1919–1949, S. 58–59. 1994 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 250. 1995 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 250. 1996 Vgl. Walter Laske, Mein Studium, in: Jähnl, Kriegsblinde, S. 229–232. 1997 Walter Laske, Mein Studium, in: Jähnl, Kriegsblinde, S. 229–232, hier S. 230. 269 Privilegien als erblindeter Angehöriger der Waffen-SS erwähnte Laske dabei allerdings nicht. Seine SS-Mitgliedschaft blieb in der Arbeit von Otto Jähnl unerwähnt. Im März 1946 nahm Laske sein Studium in Wien wieder auf und beendete es am 16. März 1950. In den in den Jahren 1959 und 1969 herausgegebenen Festschriften des Kriegsblindenverbandes ist Laske nicht als Funktionär des Kriegsblindenverbandes und seiner Landesorganisationen genannt.1998 In den Dokumenten im ÖStA befindet sich nur ein sehr unvollständiger Akt über Laske. Darin ist lediglich ein Antrag der Kriegsblindenvereinigung in der „Zentralorganisation der Kriegsopfer Österreichs“ vom 12. Juli 1945 auf Ausstellung eines Ausweises für Schwerkriegsgeschädigte enthalten.1999 Dies ist ein Hinweis darauf, dass die erblindeten Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS von der Organisation für Kriegsblinde nach 1945 gleichwertig mit denen der Wehrmacht behandelt wurden. Auch die Auszahlung von Renten wurde nach Ende des Krieges für die ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS günstig geregelt. Kriegsgeschädigte erhielten nach Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst Abschlagszahlungen als Renten, das heißt gekürzte Beträge, berechnet nach den bestehenden Ansprüchen der sich noch in Kraft befindlichen NS-Gesetzgebung.2000 Davon ausgeschlossen waren zunächst unter anderem dezidiert die Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS. Dies regelte das „Gesetz vom 12. Juni 1945 über vorläufige Maßnahmen zur Entschädigung der Kriegsopfer“.2001 Im Juli 1946 wurde diese Bestimmung dann abgeändert. Personen, die zum Dienst in der Waffen-SS auf Grund der Notdienstverordnung vom 15. Oktober 19382002 herangezogen wurden, waren wieder versorgungsberechtigt.2003 Mit dem Inkrafttreten des „Kriegsopferversorgungsgesetzes“ (KOVG)2004 am 1. Jänner 1950 erhielten die ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS einen generellen Versorgungsanspruch.2005 Die Kriegsblinden der ehemaligen Waffen-SS waren also wieder mit denen der Wehrmacht gleichgestellt. Einen Sonderstatus hatten sie nur in der Zeit von 1939 bis 1945. Auf Grund der von Mitgliedern der Waffen-SS begangenen grausamen Delikte im Zweiten Weltkrieg wurden die ehemaligen Angehörigen dieser NS-Formation nach Ende des Zweiten Weltkrieges aber nicht als Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten, sondern als Verbrecher wahrgenommen: „Während die Wehrmachtssoldaten (und meist auch die Generäle), trotz des ‚Versagens Einzelner‘, als menschliche Wesen, mit Schwächen und Stärken, dargestellt wurden, wurden die Mitglieder der SS meist als unmenschliche, entweder kaltblütig mordende oder sich im Blutrausch befindliche Bestien beschrieben und auch explizit als solche bezeichnet.“2006 1998 Vgl. Verband der Kriegsblinden Österreichs, 40 Jahre; Verband der Kriegsblinden Österreichs, 50 Jahre. 1999 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 5, Akten betreffend Soziale Fürsorge Walter L. 2000Vgl. Hornung, Hierarchisierung der Opfer, S. 59–72, hier S. 67–68. 2001 Vgl. [Ö] StGBl. Nr. 36/1945, Gesetz vom 12. Juni 1945 über vorläufige Maßnahmen zur Entschädigung der Kriegsopfer. 2002Vgl. [D] RGBl., Teil I, Dritte Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung (Notdienstversorgung) vom 15. Oktober 1938, S. 1441–1442. 2003 Vgl. Hornung, Hierarchisierung der Opfer, S. 59–72, hier S. 69. 2004Vgl. [Ö], BGBl., Nr. 197/1949, Bundesgesetz vom 14. Juli 1949 über die Versorgung der Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen (Kriegsopferversorgungsgesetz – KOVG). 2005Vgl. Hornung, Hierarchisierung der Opfer, S. 59–72, hier S. 71. 2006Pollak, Die Wehrmachtslegende in Österreich, S. 44. 270 Vor diesem Hintergrund dürfte der wiedergegründete Kriegsblindenverband in Österreich darauf verzichtet haben, auf eine eventuelle Mitgliedschaft von Funktionären in der ehemaligen Waffen-SS explizit hinzuweisen. Die Kriegsblinden der Wehrmacht und WaffenSS waren wieder eine homogene Gruppe geworden. Das persönliche Bewusstsein, einer Elite anzugehören, verloren einige der erblindeten ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS allerdings nie. Finck berichtete, dass sich in Deutschland auch Kriegsblinde der ehemaligen Waffen-SS der „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit“ (HIAG) von ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS anschlossen. Ihre traditionelle Verbundenheit zeigten sie außerdem dadurch, dass sie in den Nachkriegsjahren zweimal in der Kureinrichtung in Bad Berleburg zusammenkamen.2007 Eine Beteiligung von Kriegsblinden aus Österreich an diesen Treffen und in der HIAG konnte bis dato weder bestätigt noch widerlegt werden. 2007Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 140. 271 9.Kriegserblindungen von Zivilpersonen: Ein Forschungsdesiderat Es ist anhand der eingesehenen Literatur und des verwendeten Quellenmaterials nicht möglich zu eruieren, wie viele Männer, Frauen und Kinder aus der Bevölkerung, die nicht als Soldaten oder Angehörige einer der NS-Waffenverbände gekämpft hatten, im Krieg erblindet sind. Wie erwähnt, gab es bereits während des Krieges Probleme, Zivilpersonen, die durch die Auswirkungen des Krieges erblindeten, entsprechend zu erfassen. 2008 Die Versorgung von Zivilpersonen, die durch die Auswirkungen des Krieges dauerhafte körperliche Schädigungen erlitten, regelte die „Personenschädenverordnung“2009 vom 1. September 1939. Danach hatten die Betroffenen Anspruch auf die „Beschädigtenfürsorge und -versorgung“2010 des WFVG im gleichen Umfang wie Soldaten mit einer Wehrdienstbeschädigung. Diese Durchführungsbestimmungen umfassten, wie bereits in Kapitel III.2.4 erwähnt, verschiedene Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation sowie die Auszahlung von Renten für Personen, die als „arbeitsverwendungsunfähig“ galten. Diese Regelungen waren aber zum Teil auf Zivilpersonen nicht anwendbar, wie zum Beispiel die Auszahlung von Dienstgradzulagen. Am 10. November 1940 wurde dieses Gesetz daher in einer neuen Fassung erlassen und an die Versorgung von Zivilpersonen angepasst.2011 Trotzdem hatte die Versorgung der ZivilistInnen, die durch die Auswirkungen des Krieges erblindeten, nicht dasselbe Ausmaß wie jene für die erblindeten Soldaten. Die berufliche Rehabilitation der zivilen Kriegsblinden erfolgte nicht gemeinsam mit den Betroffenen aus der Wehrmacht in den Reservelazaretten, da diese als „Soldatenlehrgänge“2012 konzipiert waren. Die berufliche Ausbildung von zivilen Kriegsblinden dürfte daher durch eigene Kurse, die die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ mit initiierte und die gemeinsam mit Zivilblinden beispielsweise in den Einrichtungen des RBV2013 oder in den Blindenschulen stattfanden, organisiert worden sein.2014 Die Versorgung der zivilen Kriegsblinden kann auch deshalb in dieser Arbeit nicht umfassend dargestellt werden, weil sich in dem entsprechenden Bestand im ÖStA zu den Kriegsblinden der „Ostmark“ nur ein Akt einer Zivilperson, es handelte sich dabei um Maria T., befindet. Maria T. erblindete allerdings nicht im Zweiten Weltkrieg, sondern im oder in der Folge des Ersten Weltkrieges, die näheren Umstände ließen sich aus den unvoll2008Vgl. Kapitel III.1.2.5; Rohrbach, Augenverletzungen und die Luftschutzbrille, S. 896–901, hier S. 896. 2009GBlÖ, Nr. 1201/1939. 2010 GBlÖ, Nr. 1201/1939. 2011 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Neue Fassung der Verordnung über die Entschädigung von Personenschäden (Personenschädenverordnung) und der Ersten Durchführungsversorgung zur Personenschädenverordnung vom 10. November 1940, S. 1482–1486. 2012 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale Fürsorge Anton Z., AZ 30 p. 10/42 (Laz. Betr.) an das HVA Wien vom 20.10.1942, Betreff. Kriegsblinder Z. Anton, geb. 7.10.04, Ausbildung im Bürstenmacherhandwerk. 2013 Vgl. dazu das Beispiel des 1941 erblindeten Wieners Anton H., der im Reservelazarett Wien nur eine Grundausbildung erhalten hatte, daraufhin aber nach seiner Entlassung aus der Wehrmacht in den Werkstätten des RBV „Ostmark“ in der Wiener Rotensterngasse zum Korbflechter ausgebildet wurde. Siehe Kapitel III.4.2.4. 2014 Vgl. Kapitel III.4.2.4. 272 ständig überlieferten Dokumenten nicht eruieren. 2015 Die aus Miklautzhof stammende Kärntnerin wurde nach den Bestimmungen des „Kriegspersonenschädengesetzes“ (KPSG) in der Fassung von 22. Dezember 1927 versorgt.2016 Dieses Gesetz regelte den Renten- und Fürsorgeanspruch von Zivilpersonen, die durch die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges eine dauerhafte körperliche Schädigung erlitten hatten. Für Anspruchsberechtigte galten die Bestimmungen des RVG.2017 Mit der „Verordnung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen im Lande Österreich“ 2018 vom 28. Februar 1939 war dieses Gesetz auch in der „Ostmark“ erlassen worden. Damit hatten Zivilpersonen, die vor dem 14. März 1938 in der „Ostmark“ einen „durch den Krieg verursachten Personenschaden“ 2019 erlitten hatten, Anspruch auf eine Versorgung nach dem RVG. Maria T. war demnach eine der wenigen zivilen Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges in Österreich.2020 Die am 8. Jänner 1918 geborene Maria T. könnte als Kleinkind erblindet sein. Unter Umständen erfolgte diese Verletzung erst nach dem Ende des Krieges durch das Auffinden von Sprengmaterial. Wie bei anderen Kriegsblinden vertrat die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ ihre Anliegen vor den Versorgungsbehörden.2021 Maria T. war ausgebildete Blindenlehrerin, fand allerdings nach Angaben der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ 1941 keine Anstellung in diesem Beruf, angeblich weil „in Blindenanstalten erblindete Lehrkräfte wegen Mangel an der Beaufsichtigungsmöglichkeit der zu erziehenden Zöglinge nicht angestellt werden.“ 2022 Dementsprechend lebte sie bei ihren Eltern, einer Hausfrau und einem pensionierten Bahnbeamten. Im Zuge der intensiven Maßnahmen des NS-Regimes zur Integration Kriegsblinder in die Arbeitswelt erhielt Maria T. 1940 die Bewilligung für die Anschaffung einer Schreib- und Stenografiermaschine, die sie mit Unterstützung des Gaufürsorgeverbandes (300 RM) und des Versorgungsamtes Klagenfurt (180 RM) anschaffen sollte. Im September 1941 hatte sie diese allerdings, vermutlich auf Grund kriegsbedingter Lieferschwierigkeiten, noch nicht erhalten.2023 Nicht bewilligt bekam Maria T. dagegen ein Darlehen über 150 bis 170 RM für die Anschaffung eines Wintermantels. Die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ unterstützte dieses Ansinnen offenbar nicht. Eine mündliche Auskunft des Leiters der „Landesgruppe Kärnten“ der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“, August Hillepold, hatte dazu geführte, dass das Versorgungsamt Klagenfurt am 15. September 1941 das Darlehen für Maria T. nicht 2015 Vgl. ÖStA, AdR, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Maria T. 2016 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Gesetz über den Ersatz der durch den Krieg verursachten Personenschäden vom 15. Juli 1922, S. 620–623. 2017 Zum RVG vgl. Kapitel III.2.2. 2018 D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Versorgung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen im Lande Österreich vom 28. Februar 1939, S. 422–424. 2019 D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Versorgung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen im Lande Österreich vom 28. Februar 1939, S. 422–424. 2020 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 49–51. 2021 Vgl. Kapitel III.3.2. 2022 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Maria T., AZ F/S, NSKOV Fachabteilung Bund erblindeter Krieger, Landesverband Ostmark an das HVA z. Hd. Oberregierungsrat Dr. Schöberl vom 24.7.1941, Betreff: Ansuchen der Maria T., wohnhaft in Miklautzhof, Kärnten. 2023 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Maria T., Aktenvermerk, GZ IV/1-42193, VA Klagenfurt vom 16.9.1941. 273 gewährte.2024 Das HVA „Ostmark“ in Wien entsprach dieser Stellungnahme und bestätigte am 22. September 1941, dass sich die arbeitslose Maria T. in keiner Notsituation befände und daher keinen Anspruch auf zusätzliche Unterstützung zu ihren Bezügen nach dem RVG hätte.2025 Im Juni 1941 betrugen diese 220,55 RM monatlich.2026 Aus dem entsprechenden Akt geht weiter hervor, dass Maria T. 1941 nicht das gleiche Anrecht auf Vergünstigungen bei Fahrten mit der Reichsbahn hatte wie andere Schwerkriegsgeschädigte. Das Versorgungsamt Klagenfurt schrieb Maria T. am 28. November 1941, dass nach dem Erlass des RAM vom 14. April 1939 IIb 1930/1939 Personen, die nach dem KPSG versorgt wurden, auf diese Vergünstigungen keinen Anspruch hätten. Für sie galten daher die gleichen Bestimmungen wie für Zivilblinde, die nur dann Ermäßigungen bei Bahnreisen erhielten, wenn es sich um eine beruflich notwendige Fahrt handelte.2027 Dies änderte sich allerdings am 1. April 1944 mit dem Inkrafttreten der „Verordnung über Vergünstigungen für Kriegsbeschädigte im öffentlichen Personenverkehr“ 2028, in der bestimmt wurde, dass auch Zivilpersonen, die nach dem KPSG oder der „Personenschädenverordnung“ versorgt wurden, Anspruch auf die bereits geschilderten Vergünstigungen von Kriegsgeschädigten im öffentlichen Verkehr hatten.2029 Auch wenn es sich bei Maria T., die als Kriegsblinde nach dem KPSG versorgt wurde, um einen Sonderfall handelte, so kann doch festgestellt werden, dass die NS-Kriegsopferversorgung nicht auf die hohe Anzahl von Zivilpersonen, die im Laufe des Krieges erblindeten, vorbereitet war. Unter dem NS-Regime dürften die zivilen Kriegsblinden nie denselben gesellschaftlichen Status erreicht haben wie die erblindeten Soldaten. Dies hing mit dem bereits beschriebenen hohen Stellenwert des „Frontkämpfermythos“ zusammen, mit dem die ehemaligen Soldaten umgeben wurden.2030 Auch nach Kriegsende genossen durch oder im Krieg erblindeten Zivilpersonen nicht dieselbe Unterstützung. Erblindete ehemalige Soldaten und durch den Krieg erblindete Zivilpersonen wurden nach Kriegsende zwar im wiedergegründeten Kriegsblindenverband als Mitglieder aufgenommen, trotzdem scheinen die als ZivilistInnen Erblindeten darin eher eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben, was auch an ihrer geringen Anzahl gelegen haben dürfte. Nach Aussagen von Bernhard Lindmayr gab es in der Organisation der Kriegsblinden nach dem Zweiten Weltkrieg dementsprechend etwa nur 2024 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Maria T., GZ IV/1-42193, Leiter des VA Klagenfurt an das HVA Ostmark vom 18.9.1941, Betreff: T. Maria Unterstützung. 2025 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Maria T., Entwurf, GZ VIa – Be/K – Tri/1941, HVA Ostmark an die NSKOV Fachabteilung erblindeter Krieger Ostmark vom 22.9.1941, Betreff: Maria T. Ansuchen um Unterstützung zum Ankauf eines Wintermantels. 2026 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Maria T., GZ IV/2, VA Klagenfurt an das HVA Ostmark vom 13.1.1941, Betreff: T. Maria, Unterstützung. 2027 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Maria T., GZ IV/1 – 42193, VA Klagenfurt an Maria T. vom 28.11.1941, Betreff: Benutzung Bahn; Kapitel II.2.4.3. 2028 [D] RGBl., Teil I, Vergünstigungen für Kriegsbeschädigte im öffentlichen Personenverkehr vom 23. Dezember 1943, S. 5; Vgl. Kapitel III.2.5.2. 2029 Vgl. Kapitel III.2.5.2. 2030 Vgl. Kapitel III.3.5.2. 274 vereinzelt Frauen.2031 1959 war Maria Finger die einzige Frau, die im Kriegsblindenverband eine Funktion ausübte, als Beisitzerin im Verbandsvorstand. Das Gleiche gilt für die Organe der Landesgruppen, in denen Frauen ebenfalls nur selten eine Funktion als Beisitzer oder Mitglied der Kontrolle ausübten.2032 Auf Grund dieser geringen Präsenz in den Vereinsgremien und der geringen Anzahl von im Krieg erblindeten Zivilpersonen, die sich dieser Organisation anschlossen, vertrat der Kriegsblindenverband hauptsächlich die Interessen derjenigen, die im Zuge ihres Wehrdienstes ihr Sehvermögen verloren hatten. Wegen dieser fehlenden Lobbyarbeit wurden die zivilen Kriegsblinden in den Jahrzehnten nach Kriegsende von der Öffentlichkeit entsprechend wenig wahrgenommen, was in der Folge offenbar ebenfalls die historische Auseinandersetzung mit diesem Thema beeinflusste. In der bereits zitierten Arbeit von Jähnl wird beispielsweise nicht auf diese Gruppe von Kriegsblinden und ihre Rolle im Kriegsblindenverband eingegangen.2033 Die lückenhafte Quellenlage lässt es nicht zu, die Lebensumstände der zivilen Kriegsblinden zwischen 1938 und 1945 detaillierter darzustellen. Die Lebensbedingungen von kriegsblinden Zivilpersonen während des Zweiten Weltkrieges müssen daher weiterhin als Forschungsdesiderat gelten. 2031 Vgl. Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am 15.9.2006, Transkription, S. 17. 2032 o. A., Organe des Verbandes, in: Verband der Kriegsblinden (Hrsg.), 40 Jahre, S. 100–101. Eine ähnliche Tendenz gab es nach Angaben von Willi Finck auch in der BRD. In den ersten zwei Jahrzehnten nach Kriegsende wären Frauen im Bund der Kriegsblinden Deutschlands zwar akzeptiert gewesen, hätten aber im Verbandsleben kaum eine Rolle gespielt. Erst in den 1980er Jahren sei es zu einer stärkeren Akzeptanz der Frauen in der Organisation der Kriegsblinden gekommen. Vgl. Finck, Geschichte der Kurfürsorge, S. 73. 2033 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden. 275 10.Kriegsblinde Akteure des NS-Regimes 10.1Kriegsblinde als „illegale“ Mitglieder der NSDAP und der ihr angeschlossenen Organisationen Wie eine nicht bekannte Anzahl von Zivilblinden2034 beteiligten sich auch Kriegsblinde, insbesondere im Rahmen ihrer Funktionen in der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ an der Umsetzung der NS-Ideologie. Das NS-Regime räumte den blinden NSKOVFunktionären ein gesetzliches Vertretungsrecht ein und übte auf diese Weise soziale Kontrolle über die Kriegsopfer aus. Kriegsblinde wurden vom NS-Regime außerdem gezielt zur Verbreitung ihrer Anliegen eingesetzt.2035 Die kriegsblinden Akteure des NS-Regimes hatten also weitergehende Einflussmöglichkeiten als die Zivilblinden und verbreiteten die NS-Ideologie nicht nur unter anderen Kriegsblinden, sondern weiteten ihre Tätigkeiten über diesen Adressatenkreis aus, wie die Beispiele Othmar Huber und Ferdinand Ehmann zeigten, die von der NSDAP zu „Gaurednern“ bestimmt worden waren.2036 Für Kriegsblinde hatte diese aktive Beteiligung an NS-Organisationen nach Ende des Zweiten Weltkrieges Konsequenzen, denn eine Mitgliedschaft in der NSDAP und der ihr angeschlossenen Verbände hatte unter Umständen negative Auswirkungen auf die versorgungsrechtlichen Ansprüche.2037 Wie bereits erwähnt, regelte das „Gesetz vom 12. Juni 1945 über vorläufige Maßnahmen zur Entschädigung der Kriegsopfer“2038, dass die gewährten Abschlagszahlungen von Renten nicht an Personen, die zwischen dem 1. Juli 1933 und dem 13. März 1938 der NSDAP oder einer ihrer Wehrverbände (SS, SA, NSKK, NSFK) angehört hatten, erfolgen sollten.2039 Zuständig für die Prüfung der illegalen Mitgliedschaft waren nach Kriegsende die jeweiligen Landesinvalidenämter. Dafür griffen diese Behörden auf gegebenenfalls vorhandene Unterlagen der neugegründeten „Kriegsblindenvereinigung“ in der „Zentralorganisation der Kriegsopfer“ zurück.2040 Diese Organisation übernahm wahrscheinlich die Akten der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“, die nach Kriegsende noch vorhanden waren. Diese nach Ende des Zweiten Weltkrieges wiedergegründete Organisation von Kriegsblinden musste sich daher damit auseinandersetzen, wie mit Kriegsblinden, bei denen vermutet wurde, sie seien illegale Mitglieder der NSDAP oder der Partei angeschlossenen Gruppierungen gewesen, umzugehen war. Darüber ist allerdings wenig bekannt, da sowohl die Akten der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ als auch die der „Kriegsblindenvereinigung“ und des daraus später hervorgegangen „Verbandes der Kriegsblinden“ nicht auffindbar waren. In den Fürsorgeakten des Kriegsblinden Simon S. 2034 Vgl. Kapitel II.11.2. 2035 Vgl. Kapitel III.3.2, III.3.5.2. 2036 Vgl. Kapitel III.3.5.2. 2037 Zu den Lebensbedingungen Kriegsblinder nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Hamburg (D) vgl. Krukowska, Kriegsversehrte, insb. S. 61–63, S. 122–126 und 135–137. 2038 Mit diesem Gesetz erscheint erstmals das Wort „Kriegsopfer“ in einem österreichischen Gesetzestext. Zur Verwendung des Begriffes Kriegsopfer vgl. Botz, Opfer/Täter Diskurs, S. 7–8. 2039 Vgl. [Ö] StGbl. Nr. 36/1945, § 3 b. 2040Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge Simon S., AZ IV – 8.995/15/1946, Aktenvermerk, Bundesministerium für Soziale Verwaltung vom 11.3.1946, Betreff: Scharf S., Prüfung der Zugehörigkeit zur NSDAP. 276 im ÖStA befindet sich aber ein Schreiben der „Kriegsblindenvereinigung“ vom 8. November 1945 an Sektionsrat Theodor Schöberle, in dem Obmann Hans Hirsch und Schriftführer Slawic nachfragten, ob Kriegsblinde, die vom „Deutschen Reich“ eine Ausstattung zur Ausübung des Bürstenmacherhandwerks erhalten hatten, diese Gerätschaften nun nach Ende des Krieges auf Grund einer angenommenen illegalen Mitgliedschaft in der NSDAP oder der ihr angeschlossenen Organisationen vor 1938 wieder zurückzugeben hätten. In diesem Schreiben sind namentlich elf Kriegsblinde genannt, die „als illegale Mitglieder der NSDAP“2041 aufschienen und eine solche handwerkliche Ausstattung erhalten hatten. Sofern eine Zuordnung der Männer möglich war, zeigt diese Aufstellung, aus welchen unterschiedlichen Gruppen sich diese 1945 als illegale Mitglieder der NSDAP und anderer NSOrganisationen verdächtigten Personen zusammensetzten. Auf Grund ihres Geburtsdatums kann davon ausgegangen werden, dass acht der dort aufgelisteten Kriegsblinden im Zweiten Weltkrieg erblindeten, das bedeutet, sie waren bereits vor ihrer Erblindung Mitglieder von NS-Organisationen. Diese Angabe war allerdings nur in einem Fall überprüfbar, da nur zu einer dieser Personen im ÖStA Akten auffindbar waren. Johann Z., 1945 wohnhaft in Orth an der Donau, geboren am 27. September 1919, erblindete im Juli 1942 an der Ostfront. Der ehemalige Autoschlosser aus Häringsee (Niederösterreich) absolvierte nach seiner Erblindung von Mai bis August 1943 eine Bürstenbinderausbildung in Wien.2042 Laut Angaben der Kriegsblindenvereinigung war Johann Z. bereits ab 1935 NSDAP-Mitglied und trat 1938 der SA bei. Bei insgesamt fünf dieser acht Kriegsblinden des Zweiten Weltkrieges wurde ein Beitritt zur NSDAP vor 1938 angenommen. Einer von ihnen galt als Angehöriger der SS ab 1937 und zwei weitere sollen bereits vor dem „Anschluss“ SA-Mitglieder gewesen sein. Einer davon, Stefan S. aus Forchtenau (Niederösterreich), trat nach diesen Angaben 1933 der SA bei. Bei ihm steht allerdings auch der Vermerk: „soll nicht stimmen“2043. Dies weist daraufhin, dass eine Mitgliedschaft zu diesem Zeitpunkt noch nicht als erwiesen galt.2044 Jedenfalls waren diese Männer zu einem Zeitpunkt der NSDAP, SA und SS beigetreten, als sie noch keine Behinderung hatten. Dies unterschied sie von den meisten Zivilblinden, die als blinde Männer und Frauen sich für ein Regime begeisterten, das gleichzeitig Menschen mit einer Behinderung diskriminierte, durch eine Zwangssterilisation lebenslangen körperlichen und seelischen Schaden zufügte oder im Zuge der NS-„Euthanasie“ tötete.2045 2041 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge Simon S, Abschrift, Eingelangt unter Zahl III-120.601-11/1945, Kriegsblindenvereinigung in der Zentralorganisation der Kriegsopfer Österreichs an Sektionsrat Dr. Theodor Schöberle vom 8.11.1945, Betreff: Kriegsblinde illegale Mitglieder der NSDAP. 2042Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann Z. 2043ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge Simon S, Abschrift, Eingelangt unter Zahl III-120.601-11/1945, Kriegsblindenvereinigung in der Zentralorganisation der Kriegsopfer Österreichs an Sektionsrat Dr. Theodor Schöberle vom 8.11.1945, Betreff: Kriegsblinde illegale Mitglieder der NSDAP. 2044Über die Registrierungslisten nach dem NS-Gesetz 1947, die in allen Landesarchiven Österreichs überliefert sind, ist es heutzutage möglich, eine NS-Mitgliedschaft zu eruieren. An dieser Stelle wurde aber darauf verzichtet, zu überprüfen, ob es sich bei den betreffenden Personen tatsächlich um Mitglieder der NSDAP oder SA gehandelt hat. In dieser Arbeit konnte aufgezeigt werden, dass es eine solche Beteiligung gab. Auf Grund der unvollständigen Liste mit bekannten Namen von Kriegsblinden erscheint es als nicht sinnvoll, diese Recherche für Einzelfälle zu tätigen. 2045Vgl. Kapitel II.8. 277 Die restlichen drei in dieser Liste aufscheinenden Kriegsblinden sind vermutlich im Ersten Weltkrieg erblindet und dementsprechend als blinde Männer der NSDAP beigetreten. Bei einem von ihnen, Anton F., wohnhaft in Stubenberg (Steiermark), geboren am 5. Juni 1901, angenommenes Mitglied der NSDAP seit 1937, konnte nicht eindeutig eruiert werden, ob seine Kriegsverletzung aus dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg stammte.2046 Die beiden weiteren genannten Kriegsblinden, Karl Ludwig K. aus Wien und Simon S. aus Kärnten, waren nach dem „Anschluss“ im Zuge der Umschulungsmaßnahmen von Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges zu Bürstenbindern ausgebildet worden.2047 Karl Ludwig K. war nach Angaben in dieser Liste seit 1930 Mitglied der NSDAP. Simon S., dessen Fürsorgeakt im ÖStA archiviert ist,2048 schloss sich angeblich 1938 der NSDAP an, offenbar noch vor dem Ende der so genannten „Verbotszeit“. Im März 1946 traf das „Bundesministerium für Soziale Verwaltung“ eine Entscheidung, ob diese Kriegsblinden ihre erhaltenen Werkzeuge zurückzugeben hatten. In den Akten im ÖStA zu dem am 26. Oktober 1899 geborenen ehemaligen Knecht aus Kärnten befindet sich ein entsprechendes Schreiben vom 11. März 1946. Daraus geht hervor, dass Simon S. die Werkzeuge für die Ausübung des Bürstenbinderhandwerks nicht zurückgeben muss, weil es dafür „keine gesetzliche Handhabe“2049 gebe. Das Schreiben war ein vorgefertigtes Formular, in dem nachträglich nur der Name des betreffenden Kriegsblinden handschriftlich eingefügt worden war. Daher dürften andere Kriegsblinde die gleiche Mitteilung erhalten haben. Albin Sackl ist ein weiterer Kriegsblinder des Ersten Weltkrieges, von dem bekannt ist, dass er bereits vor dem „Anschluss“ Mitglied der NSDAP war. Sackl hatte nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine Werkstatt in Graz eröffnet und beschäftigte dort u. a. zivilblinde HandwerkerInnen. In einem im Mai 1938 in der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ erschienenen Artikel betonte er, bereits während der „Systemzeit“2050 Mitglied der NSDAP gewesen zu sein. Die NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ zog ihn 1938 dazu heran, Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges zu Bürstenbindern auszubilden.2051 Kriegsblinde, die sich bereits vor dem „Anschluss“ zu einer NSDAP-Anhängerschaft bekannten, dürften nach 1938 bevorzugt von der NSKOV für eine Funktion in der „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ eingesetzt worden sein. Weitere Angaben über Kriegsblinde, bei denen nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine illegale Mitgliedschaft in der NSDAP angenommen wurde, waren nicht auffindbar. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ zu einem maßgeblichen Faktor in der Versorgung und Rehabilitation der neu hinzukommenden Kriegsblinden. Umfassende Versorgungsmaßnahmen, zugestandene 2046Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge Simon S, Abschrift, Eingelangt unter Zahl III-120.601-11/1945, Kriegsblindenvereinigung in der Zentralorganisation der Kriegsopfer Österreichs an Sektionsrat Dr. Theodor Schöberle vom 8.11.1945, Betreff: Kriegsblinde illegale Mitglieder der NSDAP. 2047 Vgl. Kapitel III.5.2.1. 2048Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge Simon S. 2049ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge Simon S., AZ IV – 8.995/15/1946, Aktenvermerk, Bundesministerium für Soziale Verwaltung vom 11.3.1946, Betreff: Scharf S., Prüfung der Zugehörigkeit zur NSDAP. 2050 Albin Sackl, Treuebekenntnis aus Graz, S. 137–138, hier S. 138. Zum Begriff Systemzeit: vgl. Dreßen, Systemzeit, S. 756; Schmitz-Berning, Vokabular, S. 597–599. 2051 Vgl. Kapitel III.5.2.1. 278 Privilegien, wie eine bevorzugte Behandlung ihrer Anliegen vor öffentlichen Stellen, 2052 die Freizeitaktivitäten der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“2053 und die über das Vertretungsrecht ausgeübte soziale Kontrolle durch die NSKOV bedingten ein an das NSRegime angepasstes Verhalten der Kriegsblinden. Ein Beispiel für die von den NS-Machthabern gewährten Privilegien schilderte Walter Malasek, der zu Silvester 1944 erblindet war. 1945, nach seiner Rückkehr nach Wien, durfte der den von der Gestapo als angeblichen Spion verhafteten Lebensgefährten seiner Mutter besuchen. Seinen Angaben nach war diese Bewilligung eine Ausnahme gewesen, die ihm der zuständige NS-Justizbeamte nur gewährt hatte, weil er ein Kriegsblinder war.2054 Auf der anderen Seite war ein regimetreues Verhalten sowie eine Mitgliedschaft in der NSDAP und in anderen NS-Organisationen auch eine Bedingung für bestimmte Versorgungsleistungen, beispielsweise den Erhalt von Darlehen.2055 Aber nicht nur der ausgeübte Druck auf die Kriegsblinden war enorm, auch die NSKOVFunktionäre waren gezwungen, sich bedingungslos der NS-Führung unterzuordnen, ansonsten wurden sie aus ihren Positionen entfernt und durch regimetreue Anhänger ausgetauscht. Der Bundesobmann der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ Peter Plein verlor beispielsweise 1936 seine Funktion und sein Nachfolger August Martens musste 1941 zurücktreten, weil sie sich nicht entsprechend den Vorstellungen der NSKOV-Führung über die Gestaltung der Organisation der Kriegsblinden verhalten hatten.2056 10.2Kriegsblinde und die Verfolgungen von „Kameraden“ jüdischer Herkunft Der größte Teil der Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges, die sich 1938 der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ anschlossen, waren bereits Mitglieder des 1919 gegründeten Kriegsblindenverbandes gewesen. Die Gründung dieser Organisation ging auf eine Initiative des jüdischen Rechtsanwaltes David Schapira2057 zurück, der im November 1918 erstmals andere Kriegsblinde zu einer Versammlung in Wien aufgerufen hatte.2058 Zum ersten Obmann dieses Kriegsblindenverbandes wurde der 21-jährige Hans Hirsch gewählt.2059 Hirsch, der im Ersten Weltkrieg nicht nur sein Augenlicht, sondern auch beide Hände verloren hatte, behielt diese Funktion bis 1936.2060 Nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ galt er ab 1938 als Jude. Die jüdischen Kriegsblinden waren vollständig in die Organisation der Kriegsblinden von 1919 bis 1934 integriert. Auf Grundlage des eingesehenen Quellenmaterials dürften rund 20 Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges jüdischer Herkunft gewesen sein.2061 Obwohl Kriegsblinde jüdischer Herkunft bis zum „Anschluss“ in der Organisation der Kriegsblinden sogar maßgebliche 2052 Vgl. Kapitel III.2.5; III.2.5.2. 2053 Vgl. Kapitel III.3.2. 2054 Vgl. [Malasek], Vom Waffenrock zum Blindenstock, S. 22 und S. 45. 2055 Vgl. Kapitel III.5.5. 2056 Vgl. Kapitel III.3.3. 2057 Schapira war der erste Präsident der IKG in Wien nach dem Zweiten Weltkrieg, vgl. Kapitel IV.7. 2058 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 158. 2059 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 69; Kapitel IV.3.3.4. 2060Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 158–165; Kapitel III.3.1. 2061 Vgl. Kapitel IV.1.3; II.11.2, IV.5.2. 279 Funktionen ausgeübt hatten, sind keine Widerstände bekannt, als nach dem „Anschluss“ die ehemaligen Kameraden auf Grund des „Arierparagraphen“ von der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ ausgeschlossen und verfolgt wurden.2062 Hans Hirsch war der einzige Kriegsblinde jüdischer Herkunft, der mit Wissen der NS-Behörden die Zeit von 1938 bis 1945 in Wien überlebte.2063 Den Kontakt zu Kriegsblinden hielt er auch in dieser Zeit aufrecht.2064 In Kapitel IV.3.3.4 wird auf seine Person und diese Umstände näher eingegangen werden. Auf Grund dieser bestehenden Kontakte unter den Kriegsblinden kann davon ausgegangen werden, dass die Funktionäre der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ von den Repressalien und der Verfolgung Kriegsblinder jüdischer Herkunft 2065 Kenntnis hatten. Da allerdings keine persönlichen Dokumente von Kriegsblinden aus dieser Zeit, sondern nur offizielle Quellen überlieft sind, kann die persönliche Haltung von Kriegsblinden zu den Verfolgungen Kriegsblinder jüdischer Herkunft nicht dargestellt werden. Auffällig ist, dass es auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht zu einer Aufarbeitung dieser Verbrechen an Kriegsblinden jüdischer Herkunft seitens des neugegründeten Kriegsblindenverbandes kam. In der Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Kriegsblindenverbandes 1969 wurden zwar die Verdienste der „Kameraden Kommerzialrat Hans Hirsch“2066 und David Schapira2067 hervorgehoben, aber nicht erwähnt, dass diese jüdischer Herkunft waren und deshalb unter dem NS-Regime verfolgt wurden.2068 Der vom NS-Regime getöteten Kriegsblinden jüdischer Herkunft wurde ebenfalls nicht gedacht. Dasselbe gilt für andere Festschriften des Kriegsblindenverbandes.2069 Diese Tatsache ist zwar bemerkenswert, da Hans Hirsch bis 1963 als Obmann des Kriegsblindenverbandes fungierte. Trotzdem hatte er offenbar kein Interesse daran, auf die Verfolgung Kriegsblinder jüdischer Herkunft unter dem NS-Regime aufmerksam zu machen. Das entsprach durchaus dem damaligen Zeitgeist.2070 So schrieb Hirsch 1959 zwar, dass er 1938 seine Tätigkeit im Verband nicht fortsetzen konnte, nannte aber nicht den Grund für sein Ausscheiden: die Einführung des „Arierparagraphen“.2071 In einem Zeitzeugeninterview mit Bernhard Lindmayr im September 2006 bestätigte dieser, dass die Verfolgung Kriegsblinder jüdischer Herkunft durch das NS-Regime nach Kriegsende in der Organisation keine Rolle spielte: „Es war eigentlich kein Thema.“2072 Lindmayr gab außerdem an, nicht gewusst zu haben, dass auch David Schapira in Theresienstadt gewesen war, obwohl er diesen kannte und wusste, dass er Jude war.2073 2062 Vgl. Kapitel IV.3.3, IV.6.4. 2063 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H., GZ VI A – Bl/W/1944, HVA Wien an die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien, Hauptabteilung H, Dienststelle des Sonderbeauftragten für die Wiedergewinnung zweckentfremdeter Wohnungen vom 3.4.1944, Betreff: Hans Israel Hirsch. 2064Vgl. Hirsch, Verband der Kriegsblinden Österreichs, S. 31–36, hier S. 33. 2065 Vgl. Kapitel IV.3.3. 2066Verbandsvorstand, Zum Geleit, in: Verband der Kriegsblinden Österreichs, 50 Jahre, S. 4–6, hier S. 5. 2067 O. A., Fünfzig Jahre Schicksalsgemeinschaft der österreichischen Kriegsblinden, S. 7–20, hier S. 7. 2068Vgl. O. A., Fünfzig Jahre Schicksalsgemeinschaft der österreichischen Kriegsblinden, S. 7–20. 2069 Verband der Kriegsblinden Österreichs, 40 Jahre Verband der Kriegsblinden; Verband der Kriegsblinden Österreichs, 50 Jahre Verband der Kriegsblinden Österreichs; Verband der Kriegsblinden Österreichs, 60 Jahre Verband der Kriegsblinden Österreichs. 2070 Vgl. Kapitel IV.7. 2071 Vgl. Hirsch, Verband der Kriegsblinden, S. 31–36, hier S. 33. 2072 Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am 15.9.2006, Transkription S. 14. 2073 Vgl. Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am 15.9.2006, Transkription S. 14. 280 Damit unterschied sich die Organisation der Kriegsblinden nach 1945 von den Zusammenschlüssen der Zivilblinden, bei denen, wenn auch in äußerst bescheidenem Maße,2074 zumindest der blinden Opfer jüdischer Herkunft gedachte wurde. Dass der Kriegsblindenverband nach dem Ende des Krieges nicht auf die Verfolgungen von Kriegsblinden jüdischer Herkunft zwischen 1938 und 1945 in der „Ostmark“ hinwies, dürfte damit in Zusammenhang stehen, dass diese Organisation nach Kriegsende an der Legendenbildung einer „sauberen“ Wehrmacht mitarbeitete.2075 Die Beteiligung von Kriegsblinden beispielsweise als Funktionäre der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ an der Machterhaltung des NS-Regimes war dabei kontraproduktiv. Außerdem hatten die erblindeten ehemaligen Soldaten der Wehrmacht nach Kriegsende große Imageprobleme: Sie wurden als Soldaten des „Hitlerkrieges“ bezeichnet.2076 Hinzu kam, dass eine „illegale“ Mitgliedschaft in der NSDAP und der ihr angeschlossenen Wehrverbände eine Auszahlung von Abschlagszahlungen auf gewährte Renten verhinderte. Um wieder in die Gesellschaft integriert zu werden, verschwiegen Angehörige der Wehrmacht ihre Beteiligung am NSRegime genauso wie an Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Unter anderem im Zuge der so genannten „Kreisky-Peter-Wiesenthal-Affäre“2077 1975 sowie der Waldheimdebatte 1986 kam es dann zu einer breiteren öffentlichen Auseinandersetzung mit der österreichische Beteiligung an NS-Verbrechen.2078 Die 1996 konzipierte Wanderausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1945“2079, die auch in Österreich zu sehen war, führte dann zu einem „Bruch“, der „die Wahrnehmung der Wehrmacht in der Öffentlichkeit und den Umgang mit dem Wehrmachtsthema grundlegend veränderte.“2080 10.3Resümee: Täter, Opfer und Akteure In diesem Kapitel und an anderen Stellen dieser Arbeit wurden die verschiedenen Facetten der aktiven Beteiligung Kriegsblinder am NS-Regime aufgezeigt. Die persönlichen Beweggründe und Einstellungen der Kriegsblinden konnten dabei nicht berücksichtigt werde, da keine Dokumente existieren, die darüber Auskunft geben. Nur mit einem Kriegsblinden wurde ein Zeitzeugeninterview geführt. Malmanesh stellte zu dieser Fragestellung in seiner 2002 publizierten Dissertation die Vermutung an, dass gerade „Soldatenstolz, der Frontkämpfer-Mythos, die Beschwörung des heldischen Soldaten“2081 den Kriegsblinden halfen, in ihrem Schicksal, als Menschen mit 2074 Vgl. ÖBSV, Protokoll der konstituierenden Versammlung des Österreichischen Blindenverbandes vom 9.3.1946, S. 2; Exenberger, Jüdische Blinde in Wien. 2075 Vgl. auch die dort angegebene Literatur Pollak, Wehrmachtslegende. 2076 Vgl. [Ada Hirsch], Der Mensch ist gut!?, zitiert in: Jähnl, Kriegsblinden, S. 168–171. 2077 U. a. Böhler, Kreisky-Peter-Wiesenthal Affäre, S. 502–531. 2078 Zum Umgang mit der NS-Herrschaft nach 1945 in Österreich vgl. u. a. Albrich, Holocaust und Schuldabwehr, S. 39–105; Garscha, Entnazifizierung und gerichtliche Ahndung von NS-Verbrechen, S. 852–883; Mattl, Stuhlpfarrer, Abwehr und Inszenierung, S. 902–934; Kannonier-Finster, Ziegler, Österreichisches Gedächtnis. Vgl. außerdem die in Kapitel IV.7 dazu angegebene Literatur. 2079 Hamburger Institut für Sozialforschung, Vernichtungskrieg. 2080Vgl. Pollak, Wehrmachtslegende, S. 173; Mattl, Stuhlpfarrer, Abwehr und Inszenierung, S. 902–934, hier S. 906–907. 2081 Malmanesh, Blinde, S. 211. 281 einer Behinderung weiterleben zu müssen, einen Sinn zu sehen. Persönliche Motive wie die Hoffnung auf einen sozialen Aufstieg, gesellschaftliche Integration und Anerkennung dürften daher bei der Beteiligung von Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges am NS-Regime relevant gewesen sein. Ihre aktive Rolle in der NS-Zeit bekommt allerdings vor dem Hintergrund der Verfolgungen von Kriegsblinden jüdischer Herkunft eine andere Dimension. In der Zeit der Ersten Republik profitierten die Kriegsblinden von dem Einsatz von Hans Hirsch, der sich für Verbesserungen in der Versorgung der Kriegsblinden bei Behörden und in der Öffentlichkeit einsetzte. Die Integration von jüdischen Kriegsblinden in die Vereinigung der Kriegsblinden bis 1938 endete nach dem „Anschluss“. Die Funktionäre der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ unterstützten demnach ein Regime, das ihre ehemaligen „Kameraden“ massiv verfolgte und gegebenenfalls ermordete. Es ist gut möglich, wenn auch nicht nachweisbar, dass es unter den Kriegsblinden schon vor dem „Anschluss“ antisemitische Strömungen gab. Die nachgewiesene Beteiligung von Kriegsblinden des Ersten Weltkriegs an NS-Organisationen in der Zeit des autoritären „Ständestaates“ ist ein Hinweis darauf.2082 In der Zeit des Zweiten Weltkrieges hatten die NSKOV-Funktionäre weitgehende Befugnisse und Möglichkeiten, Kriegsblinde zu beeinflussen: Sie konnten die versorgungsrechtlichen Anliegen der Kriegsblinden vor den zuständigen Behörden vertreten und waren an deren Rehabilitation in den Reservelazaretten beteiligt. Damit unterstützten die kriegsblinden NSKOV-Repräsentanten ein Regime, das die persönlichen Interessen der ehemaligen erblindeten Soldaten ignorierte und die gesamte Rehabilitation nach dem wirtschaftlichen Nutzen für die „Volksgemeinschaft“ ausrichtete. Kriegsblinde durften nicht selbst über ihren Wohnort, ihre Arbeitsstelle und damit über ihre Lebensgestaltung bestimmen.2083 Die NSKOV-Funktionäre der „Fachabteilung erblindeter Krieger“ trugen damit zum Verlust des Selbstbestimmungsrechtes der Kriegsblinden unter dem NS-Regime bei. Die totale Ausrichtung der gesamten Kriegsopferversorgung auf den volkwirtschaftlichen Nutzten hatte in einigen Fällen allerdings noch wesentlich schwerwiegendere Folgen, insbesondere bei den Kriegsblinden, die so schwer behindert waren, dass sie beispielsweise infolge einer Kopfverletzung keinem Beruf mehr nachgehen konnten. Es gibt Hinweise darauf, dass eine nicht bekannte Anzahl von schwerverwundeten Angehörigen der Wehrmacht im Zuge der NS-„Euthanasie“ getötet wurde. Insbesondere Soldaten mit psychischen Beeinträchtigungen waren davon betroffen. Der Chef des Heeressanitätswesens Siegfried Handloser ordnete per Befehl vom 9. Februar 1943 an, „Kriegshysteriker, die durch Behandlung nicht symptomfrei gemacht werden können, sind in den Lazarettabteilungen an Heil- und Pflegeanstalten unterzubringen.“2084 Die Anzahl der davon betroffenen Kriegsgeschädigten kann allerdings nicht bestimmt werden. Hans-Walter Schmuhl weist in einem 2002 publizierten Aufsatz darauf hin, dass es vor allem „in den späten Phasen der ‚Euthanasie‘“2085 zu einer Ausweitung des Kreises der Opfer kam. Rüdiger Liedtke berichtete dagegen 1981, dass es bereits zu einem früheren Zeitpunkt, zwischen September 1939 und Sommer 1941, zur Tötung von 1.500 bis 4.000 schwerverwundeten oder „hirnverletzten“ Soldaten der Wehr2082 Vgl. Kapitel III.10.1. 2083 Vgl. Kapitel III.4. 2084BA, Militärarchiv, Freiburg, H 20, 464, zitiert in: Aly, Medizin gegen Unbrauchbare, S. 9–74, hier S. 67. 2085 Schmuhl, Patientenmorde, S. 295–328, hier S. 315. Vgl. Kapitel II.8.3. 282 macht gekommen war. Allerdings fehlt bei Liedtke ein entsprechender Quellennachweis dazu, was seine Aussage fragwürdig erscheinen lässt.2086 Festzustehen scheint aber, dass auch Kriegsgeschädigte zu Opfern der NS-„Euthanasie“ wurden, was zeigt, wie fragil der angeblich hohe gesellschaftliche Status war, den das NSRegime den Kriegsopfern durch seine Propaganda verlieh. Die Lebensbedingungen Kriegsblinder hingen demnach nicht nur von ihren Verdiensten im Krieg ab, sondern auch davon, welchen „Nutzen“ sie nach den Wert- und Normvorstellung der NS-Machthaber für die Volksgemeinschaft hatten. Gleichzeitig waren die Möglichkeiten, Widerstand gegen die Kriegsopferpolitik des NS-Regimes zu leisten, eingeschränkt, da Versorgungsleistungen an ein regimetreues Verhalten gebunden waren und Funktionäre, die sich nicht an die von den NS-Machthabern vorgegebenen Richtlinien hielten, ihrer Ämter enthoben wurden. Auf Grund ihrer aktiven Beteiligung am NS-Regime tragen aber einige Kriegsblinde, insbesondere die Funktionäre der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ eine Mitverantwortung an der NS-Diktatur und könnten nach moralisch-ethischen Gesichtspunkten als Täter bezeichnet werden. Über im Krieg erblindete Zivilpersonen, darunter befanden sich auch Frauen, die sich gegebenenfalls als FunktionsträgerInnen der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ oder in anderen Positionen aktiv beteiligten, ist nichts bekannt, es handelt sich dabei um ein Forschungsdesiderat. Alle Kriegsblinde zählen gleichzeitig aber ebenfalls zur Gruppe der Kriegsopfer, was ein Grund dafür gewesen sein dürfte, warum ihre Beteiligung am NS-Regime nicht aufgearbeitet wurde. Dass Opfer gleichzeitig auch Täter sein können, scheint bis dato als Widerspruch gesehen worden zu sein. Ausgehend von dieser Logik gab es auch doppelte Opfer: des Krieges und des NS-Regimes. Dazu zählten diejenigen Kriegsopfer, die nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ als Juden und Jüdinnen galten, und diejenigen, deren körperliche und geistige Beeinträchtigungen infolge ihrer Kriegsverletzung so weitreichend waren, dass sie für das NS-Regime „arbeitsunfähig“ und damit „unbrauchbar“ waren und getötet wurden. 2086Vgl. Liedtke, NS-Mordaktionen an deutschen Soldaten, S. 10–12, hier S. 11. 283 IV. Blinde Menschen jüdischer Herkunft 1.Einleitung und Problematisierung 1.1 Problematisierung von Begrifflichkeiten Zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ lebten in Österreich nach Angaben von Jonny Moser 206.000 Menschen, die im Sinne der antijüdischen NS-Gesetzgebung als Jüdinnen und Juden galten.2087 1933 legte das NS-Regime fest, Personen mit einem jüdischen Elternoder Großelternteil seien Jüdinnen oder Juden, ab 1935 definierten dies die „Nürnberger Rassengesetze“.2088 Das NS-Regime schuf damit eine Festlegung, die zwischen Jüdinnen und Juden sowie „Mischlingen“ unterschied.2089 Für die NS-Machthaber zählte nicht, ob sich die Betreffenden selbst aus religiösen, kulturellen, politischen, persönlichen oder anderen Gründen zu dieser Gruppe zugehörig fühlten. Durch das NS-Regime wurden daher Menschen als Jüdinnen oder Juden verfolgt, die eigentlich nicht zu dieser Religionsgemeinschaft gehörten oder sich zu ihr bekannten. Der Begriff „jüdisch“ drückte in erster Linie aus, dass die Betreffenden gemäß der NS-Rassendoktrin „nichtarisch“ waren.2090 Die Bezeichnung „Jude“ oder „Jüdin“ war dementsprechend in der NS-Ideologie ein „verächtlich gemeinter Namenszusatz für Menschen jüdischer Herkunft oder solche, die ihnen gleichgesetzt wurden.“2091 Um diese antisemitische Diffamierung in dieser Arbeit nicht auf sprachlicher Ebene fortzusetzen, wird eine Personen nur dann als Jüdin oder Jude bezeichnet, wenn eruierbar war, dass sie sich tatsächlich zum jüdischen Glauben bekannte. Dieser Feststellung entsprechend recherchierte Jonny Moser zu der eingangs erwähnten Zahl von 206.000 Menschen jüdischer Herkunft in Österreich auch noch diejenige von Personen mit tatsächlicher „israelitischer Konfession“, im NS-Jargon „Glaubensjuden“ genannt.2092 Demnach lebten mit Stand vom 13. März 1938 181.882 Jüdinnen und Juden in Österreich. Der größte Teil von ihnen, rund 92 Prozent, wohnten in Wien. Die anderen 14.633 Personen verteilten sich auf die Bundesländer.2093 Rund 25.000 ÖsterreicherInnen, die eigentlich nicht der jüdischen Religion angehörten, aber jüdische Vorfahren hatten, wurden demnach durch das NS-Regime als Jüdinnen und Juden verfolgt.2094 Problematisch und in wissenschaftlichen Kreisen umstritten ist die Terminologie, ob die Vertreibung und Ermordung der europäischen Menschen jüdischer Herkunft mit dem 2087 Vgl. Moser, Demographie, S. 17. 2088Zur Problematik der Verwendung der Bezeichnung Jüdinnen und Juden unter dem NS-Regime vgl. Freund, Safrian, Vertreibung und Ermordung, S.41–43. 2089 Vgl. Freund, Safrian, Vertreibung und Ermordung, S. 43. 2090Vgl. Tepperberg, Oberst Otto Grossmann, S. 319–333, hier S. 320. 2091 Schmitz-Berning, Vokabular, S. 328. 2092 Vgl. Moser, Demographie, S. 16. 2093 Vgl. Moser, Demographie, S. 16–17. 2094 Vgl. Freund, Safrian, Verfolgung der österreichischen Juden, S. 767–794, hier S. 767. 285 Begriff „Shoa“ oder „Holocaust“ zu bezeichnen ist.2095 „Shoa“ ist der offizielle Begriff des Staates Israel für die Verfolgung und Ermordung der europäischen Menschen jüdischer Herkunft. Damit repräsentiert dieser Terminus die Sichtweise der Opfer und sollte nach Ansicht vieler WissenschaftlerInnen nicht in den Ländern der TäterInnen verwendet werden.2096 In anderen Sprachen begann sich ausgehend von der englischen Übersetzung der Bibel der „Begriff Holocaust durchzusetzen“2097. In der deutschen Übersetzung Luthers wird dieser Begriff mit „Brandopfer“2098 wiedergegeben. Gemeint waren damit Gott dargebrachte Opfer, dementsprechend ist dieses Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung ebenfalls unangemessen für den NS-Massenmord.2099 Trotz der begrifflichen Schwächen dieses Terminus setzte er sich in den vergangenen Jahren im deutschsprachigen Raum durch und wird in dieser Arbeit verwendet, da der Autorin die Verwendung der Bezeichnung „Shoa“ ebenfalls als nicht angemessen erscheint.2100 1.2 Quellenlage und inhaltlicher Überblick Für die folgende Darstellung konnten in erster Linie Quellen der „Israelitischen Kultusgemeinde Wien“ (IKW), des WStLA, des ÖStA aus dem Bestand des Stillhaltekommissars Wien, der in Wien ansässigen „Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs“ und des DÖW herangezogen werden.2101 Ein weiteres wichtiges Dokument zur Aufarbeitung stammt aus dem Bestand des Instituts für jüdische Geschichte in Österreich in St. Pölten und ist der im Dezember 1975 verfasste Lebenslauf des jüdischen Kriegsblinden des Ersten Weltkriegs David Schapira aus Wien, der den Holocaust überlebte und nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1948 zum Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde gewählt wurde.2102 Dem Ursprungsort der verwendeten Dokumente entsprechend wird im Folgenden hauptsächlich die Verfolgung blinder Menschen mit jüdischer Herkunft in Wien dargestellt. Damit konnte allerdings der größte Teil blinder Menschen, die nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ als Jüdinnen und Juden galten, erfasst werden, denn die meisten von ihnen 2095 Literaturangaben zur Geschichte des Holocaust finden sich u. a. in Kapitel IV.1, IV.6.1; vgl. Jäckl, Vorwort, S. XVI–XIX. 2096Vgl. Jäckl, Vorwort, S. XVI–XIX, hier S. XVII–XIX. 2097 Jäckl, Vorwort, S. XVI–XIX, hier XVIII. 2098 Jäckl, Vorwort, S. XVI–XIX, S. XVIII. 2099Vgl. Jäckl, Vorwort, S. XVI–XIX, S. XVIII; Freund, Safrian, Vertreibung und Ermordung, S. 41. Das Gleiche gilt für den Begriff „shoa“ vgl. Bendel, Die Shoa. 2100 Darüber hinaus verwendet etwa die offizielle Gedenkstätte für die Verfolgung und Ermordung europäischer Menschen jüdischer Herkunft „Yad Vashem“ in Jerusalem für ihre deutschen Publikationen den Begriff „Holocaust“. Vgl. Gutterman, Shalev, Zeugnisse des Holocaust. 2101 Die Akten der IKG Wien aus der Zeit von 1938 bis 1945 sind sowohl in Wien als auch im „Central Archives for the history of the jewish people“ in Jerusalem auf Mikrofiche archiviert. Für diese Studie wurde in Jerusalem recherchiert, da das Archiv der IKG Wien zum Zeitpunkt der Quellenrecherche für die Bearbeitung dieser Fragestellung nicht zugänglich war, sondern nur für Recherchen im Zusammenhang mit Restitutionsansuchen geöffnet war. 2102 Vgl. Schapira, Mein bewegter Lebenslauf. Der erste Teil dieser Autobiographie bis zu seiner Erblindung im Ersten Weltkrieg ist in einem von Albert Lichtlbau herausgegebenen Buch veröffentlicht. Vgl. David Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 227–237; Kapitel IV.7. 286 lebten in Wien. Dort existierte 1938 nicht nur die größte jüdische Gemeinde des „Deutschen Reiches“, sondern Wien war auch Wohnort der meisten blinden österreichischen Jüdinnen und Juden.2103 Viele blinde Jüdinnen und Juden, die nicht schon in Wien aufgewachsen waren, kamen bis 1938 dorthin, um an dem bereits 1872 von Ludwig August Frankl gegründeten „Israelitischen Blindeninstitut Hohe Warte“ eine Ausbildung zu absolvieren.2104 Auf Grund besserer beruflicher Möglichkeiten als in kleineren Städten verblieben insbesondere nach Ende des Ersten Weltkrieges viele der blinden SchülerInnen aus den Bundesländern Österreichs nach Beendigung ihrer Ausbildung in der Großstadt. Die NS-Machthaber zerstörten dann schrittweise das international renommierte „Israelitische Blindeninstitut“.2105 Berichte über diese Einrichtung in den ersten Monaten nach Beginn der NS-Herrschaft in Österreich, von März bis Dezember 1938, existieren durch den Schriftsteller Michael Stone.2106 In seinem 1995 erschienenen autobiographischen Roman „Das Blindeninstitut – Bruchstücke einer Jugend“2107 erzählt er von dieser Einrichtung, in der er zwischen 1933 und 1938 zeitweise lebte. Dieses Buch wird häufig in Verbindung mit der Geschichte des „Israelitischen Blindeninstituts“ erwähnt, als historische Quelle ist das Werk allerdings unbrauchbar, denn im Nachwort wies der Autor explizit darauf hin, dass er sich die künstlerische Freiheit genommen hat, manche Szenen und Personen zu erfinden.2108 1938 begann für blinde Jüdinnen und Juden eine Zeit der Verfolgung in zweifacher Hinsicht. Sie waren sowohl auf Grund ihrer vom NS-Regime bestimmten jüdischen Herkunft als auch auf Grund ihrer Blindheit Repressalien ausgesetzt.2109 Die antijüdische NS-Politik in der „Ostmark“ teilte sich in zwei Phasen. Die erste Phase zwischen 1938 und 1940 war vor allem gekennzeichnet von Beraubung und Vertreibung2110 der jüdischen Bevölkerung.2111 Ab 1941 begann die zweite Phase der Verfolgung und damit die Deportationen in die Vernichtungs- und Konzentrationslager Osteuropas. Der Abtransport der meisten blinden Menschen jüdischer Herkunft erfolgte 1942, zunächst vor allem nach Theresienstadt. Am 15. April 1945 lebten nur mehr 5.512 Menschen jüdischer Herkunft in der „Ostmark“.2112 Die meisten von ihnen hatten überlebt, da sie nach den Bestimmungen der „Nürnberger Rassengesetze“ in „privilegierter Mischehe“ (3.388), in „nichtprivilegierter Mischehe“ (1.053) lebten oder so genannte „Geltungsjuden“2113 (1.053) waren.2114 2103 Vgl. Gehrmann, Blinden und Taubstummen, S.1–104, hier S. 52. 2104 Vgl. Kapitel IV.5.3.1. 2105 Vgl. Kapitel IV.5.3.2. 2106 Der 1922 in Berlin geborene Autor flüchtete 1933 mit seiner Familie nach Wien. Zwischen März und Dezember 1938 fand er eine Zufluchtsstätte im Israelitischen Blindeninstitut und kam 1938 mit einem Transport jüdischer Kinder nach England. 2107 Stone, Blindeninstitut. 2108 Vgl. Stone, Blindeninstitut, S. 169. 2109 Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Behinderte in Österreich; Kapitel IV.2.; IV. 4. 2110 In diesem Zusammenhang ist die Bezeichnung Emigration oder Auswanderung nicht korrekt, weil es den flüchtenden Jüdinnen und Juden nicht möglich war, auch ihre Besitztümer mitzunehmen. Vgl. Freund, Safrian, Vertreibung und Ermordung, S. 12. 2111 Vgl. Florian Freund, Hans Safrian, Verfolgung der österreichischen Juden, S. 767–794, hier S. 767. 2112 Vgl. Moser, Demographie, S. 56. 2113 Vgl. Schmitz-Berning, Vokabular, S. 258–259. 2114 Vgl. Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 310; Schmitz-Berning, Vokabular, S. 409–410. 287 Erst ab Dezember 1938 waren die „jüdischen Partner“ bzw. Partnerinnen einer „deutschjüdischen Mischehe“ von weiteren Verfolgungen „ausgenommen“ und „mehr oder minder geduldet“.2115 Dies galt etwa für den einzigen jüdischen Kriegsblinden, der bis 1945 in Wien überleben konnte: Hans Hirsch. Es galt zwar als „Volljude“, seine Ehefrau Ada war allerdings „rein arischer Abstammung“.2116 Im „Sinne der nationalsozialistischen Rassedoktrin“ galten Frauen, selbst wenn sie bei ihrer Eheschließung zum Judentum konvertiert waren, als „Nichtjuden“.2117 Kapitel IV.7 geht auf die wenigen blinden Menschen jüdischer Herkunft ein, die den Holocaust überleben konnten. Durch die Schilderungen der Lebensbedingungen Zivilblinder und Kriegsblinder in der Zeit von 1938 bis 1945 in den vorangegangenen Kapiteln konnte bereits herausgearbeitet werden, dass sich das seit dem Ersten Weltkrieg existierende Zweiklassensystem von blinden Menschen2118 nach dem „Anschluss“ fortsetzte und sogar noch weiter verschärfte. Die antijüdische NS-Politik hatte zur Folge, dass die Zivil- und Kriegsblinden jüdischer Herkunft zu einer dritten Klasse von blinden Menschen wurden. Allerdings beeinflusste der unterschiedliche Status von Kriegs- und Zivilblinden in der NS-Gesellschaft die Verfolgungsmaßnahmen gegen blinde Menschen jüdischer Herkunft: Im Folgenden kann dargelegt werden, dass es bei Kriegsblinden zu einer von der üblichen Praxis abweichenden Vorgehensweise der NS-Machthaber kam.2119 Diese Tatsachen änderten allerdings nichts daran, dass auch Kriegsblinde jüdischer Herkunft ab 1942 deportiert und ermordet wurden. In letzter Konsequenz unterschied sich ihr Schicksal daher nicht von dem der zivilblinden Menschen jüdischer Herkunft. Kriegs- und Zivilblinde jüdischer Herkunft kamen zudem in großer Anzahl in das gleiche „Altersghetto“: Theresienstadt. Daher erfolgt in Abschnitt IV über die blinden Menschen jüdischer Herkunft keine generelle Trennung von Kriegsund Zivilblinden, wie das bisher in dieser Arbeit geschehen ist. An den entsprechenden Stellen wird aber auf die abweichende Praxis im Umgang mit Kriegsgeschädigten des Ersten Weltkrieges seitens der NS-Machthaber hingewiesen, insbesondere in den diversen Unterkapiteln von Kapitel IV.3.3. 1.3 Probleme der Quantifizierung und namentlichen Erfassung Wie hoch die Anzahl blinder Menschen jüdischer Herkunft in der „Ostmark“ 1938 war, ist nicht bekannt. 1910 wurden, wie bereits erwähnt, 223 blinde Jüdinnen und Juden in Wien sowie fünf in den „Karstländern“ gezählt.2120 Aus dem Protokoll der Sitzung des „Kuratoriums der Jüd. Blindenanstalt, Taubstummen- u. Krüppelhilfe Hohe Warte“2121, das am 8. September 2115 Vgl. Ursula Büttner, The Persecution of Christian-Jewish Families in the Third Reich, in: Year Book 1989, XXXIV, Leo Baeck Institute, S. 267–289, hier S. 283 ff, zitiert in: Moser, Demographie, S. 53. 2116 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H., GZ VI A – Bl/W/1944, HVA Wien an die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien, Hauptabteilung H, Dienststelle des Sonderbeauftragten für die Wiedergewinnung zweckentfremdeter Wohnungen vom 3.4.1944, Betreff: Hans Israel Hirsch. 2117 Vgl. Moser, Demographie, S. 19. 2118 Vgl. Hoffmann, Entstehung eines „Zwei-Klassen-Systems“, S. 75–84. 2119 Vgl. Kapitel IV.3.3. 2120 Vgl. Gehrmann, Blinden und Taubstummen, S.1–104, hier S. 52. 2121 Kapitel IV.5.3.2. 288 1940 zusammenkam, um die endgültige Auflösung dieser Einrichtung zu beschließen, gaben die Vertreter der „Selbsthilfegruppe jüdischer Blinder“ Jakob Wald und Leo Demm an, dass diese Organisation die Interessen „von mehr als 150 Personen, die durch ihre Blindheit im besondere Masse [sic!] hilfsbedürftig sind“2122 vertrete. Die Vorgängerorganisation dieser Selbsthilfevereinigung, der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“, zählte am 30. Juni 1938 insgesamt 187 Mitglieder.2123 Auf Grund der Tatsache, dass die antijüdische NS-Politik zu einer völligen Verarmung blinder Menschen führte, dürften blinde Menschen jüdischer Herkunft in der „Ostmark“ von diesen Sozialorganisationen nahezu vollständig erfasst worden sein. Hinzu kam, dass nur wenige blinde Menschen auf Grund ihrer eingeschränkten körperlichen Möglichkeiten Chancen zur Flucht ins Ausland hatten. Dementsprechend kann davon ausgegangen werden, dass 1938 rund 200 blinde Menschen jüdischer Herkunft in der „Ostmark“ lebten. Auf Grund des eingesehenen Quellenmaterials und diverser Listen, auf denen blinde und sehbehinderte Menschen erfasst wurden, konnte eine Liste von 260 Menschen, die nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ als Jüdinnen und Juden galten und der Quellenangaben entsprechend vermutlich eine Sehbehinderung hatten, erstellt werden. Eine Abgrenzung zwischen blinden und sehbehinderten Personen war auf Grund des vorliegenden Quellenmaterials nicht möglich. Diese Liste kann allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. In vielen Fällen konnten beispielsweise keine Geburtsdaten oder weitere biographische Daten ermittelt werden. Sie ist im Anhang abgedruckt. Diese Liste umfasst zwölf Namen von Kriegsblinden jüdischer Herkunft, deren Anzahl dürfte allerdings etwas höher gewesen sein. In einem Schreiben aus dem Jahr 1938 ist die Rede von zwölf Kriegsblinden jüdischer Herkunft, die Besitzer einer Trafik waren und die zwangsenteignet wurden.2124 Es kann angenommen werden, dass es darüber hinaus noch einige wenige Kriegsblinde jüdischer Herkunft gab, die allerdings nicht Besitzer eines solchen Tabakwarengeschäftes waren. Im Ersten Weltkrieg dienten rund 300.000 jüdische Soldaten in der Armee Österreich-Ungarns.2125 Dies entsprach rund drei Prozent der neun Millionen Soldaten.2126 Die namentliche Erfassung der Kriegsblinden könnte über Dokumente aus dem Bestand der IKG Wien aus dieser Zeit weiter vervollständigt werden. Im „Central Archives for the history of the jewish people“ (CAHJP) befinden sich die Mikrofilmaufnahmen der Personalbögen von Mitgliedern des Kriegsopferverbandes.2127 2122 WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 2308/22, Protokoll über die Sitzung des Kuratoriums der Jüd. Blindenanstalt, Taubstummen- u. Krüppelhilfe Hohe Warte vom 8.9.1940. 2123 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Obmann Leo Demm, Bericht über die Tätigkeit und sozialen Einrichtungen vom 30.6.1938; Kapitel IV.5.2. 2124 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/1, Mitglied der S. d. P. Ortsgruppe Troppau an Herrn Doktor vom 3.5.1938, Betreff: Gesuch und Verzeichnis von 12. Kriegsblinden und 2 Hilfslosen nichtarischen Trafikanten; Kapitel IV.3.3.2. 2125 Vgl. Schmidl, Davidstern und Doppeladler, S. 15–29, hier S. 25. 2126 Vgl. Schmidl, Davidstern und Doppeladler, S. 15–29, hier S. 25. Weiterführend vgl. Tepperberg, Oberst Otto Grossmann 1873–1942, S. 319–333 [Dieser Aufsatz enthält auch einen kurzen Überblick über den Forschungsstand]; Militärgeschichtliches Forschungsamt, Deutsche Jüdische Soldaten; Weisl, Juden in der österreichischen und österreichisch-ungarischen Armee, S. 1–22; Schmidl, Juden in der k. (u.) k. Armee [Begleitpublikation zur Ausstellung „200 Jahre jüdische Soldaten in Österreich“ des Österreichischen Jüdischen Museums in Eisenstadt]. 2127 Vgl. CAHJP, A/W 2874/1-5, HBM 3368-3371, Personalbögen der dem Verband angehörigen Mitglieder (bei späterer Einteilung in einen Abwanderungstransport Angabe der Transportnummer und des Abgangsdatum), Nr. 1-1500. 289 Rund 1.500 Personalbögen sind überliefert, allerdings sind die Mikroficheaufnahmen so unleserlich und zudem die Rückseiten der Erfassungsbögen nicht mit abfotografiert, so dass nur eine Einsicht der Originaldokumente eine vollständige Auswertung ermöglichen würde. Das Gleiche gilt für die archivierte Korrespondenz des „Verbandes der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen“, auch hier sind einige Schriftstücke unleserlich und müssten im Original angesehen werden.2128 Dies war allerdings für diese Arbeit im Archiv in Jerusalem nicht möglich. 2128 Vgl. CAHJP, A/W 2878, 1-2, HMB 3375, Korrespondenz Verband der jüdischen Kriegsblinden, Invaliden, Witwen und Waisen in Wien. 290 2.Aspekte des Antisemitismus gegen blinde Jüdinnen und Juden vor 1938 Seit der Antike wird das Judentum mit Krankheiten, die als „typisch jüdisch“ galten, in Verbindung gebracht. 2129 Der medizinische Antisemitismus2130 des 19. und 20. Jahrhunderts unterschied sich allerdings von den vorhergehenden Varianten insbesondere durch den Anspruch, wissenschaftlich legitimiert zu sein. 2131 Als Ursachen für eine angeblich spezifische jüdische Nosologie2132 galten die historischen Lebensverhältnisse des Judentums, die geprägt waren von Ausgrenzung und dem Leben in der Stadt, sowie die angenommenen häufigen Eheschließungen unter Verwandten. Ebenfalls als pathogen galten die bei orthodoxen Jüdinnen und Juden üblichen Heiraten in sehr jungen Jahren. 2133 Als Argumentation dienten den Antisemiten im 20. Jahrhundert die Ergebnisse von Volkszählungen. Im Zuge der „Reichsgebrechlichenzählung“ 1925/26 in Deutschland wurde beispielsweise festgestellt, dass der Anteil von Erblindungen unter Jüdinnen und Juden höher sei als unter dem Rest der Bevölkerung.2134 Unter 10.000 Personen waren nach dieser Erhebung 6,3 blinde Jüdinnen und Juden. Der Anteil von KatholikInnen lag mit 4,8, der von ProtestantInnen mit 5,5 darunter.2135 Nur wenige Autoren stellten solche Ergebnisse daher in Frage. Der Statistiker W. Feilchenfeld erklärte aber 1931 den scheinbar höheren Anteil von blinden Jüdinnen und Juden damit, dass sie „bekanntermaßen ganz besonders auf körperliches Befinden“2136 achten würden und dementsprechend bei der Zählung sorgfältigere Angaben gemacht hätten. Blinde Jüdinnen und Juden seien daher durch die Erhebung 1925/26 fast vollständig erfasst worden, während dieses auf die übrige Bevölkerung nicht zutreffe.2137 Kritisiert wurde an zeitgenössischen Bevölkerungsstatistiken darüber hinaus ihre „tendenziöse Indienstnahme“2138, die fehlerhafte Durchführung der Befragungen sowie Mängel bei der Erfassung nach Konfessionen.2139 2129 Vgl. Hödl, Pathologisierung, S. 37; Hödl, Medizinischer Antisemitismus, S. 161–185, hier S. 164. 2130 Weiterführende Literatur vgl. auch die im folgenden Aufsatz angegebene Literatur: Hödl, Medizinischer Antisemitismus, S. 161–185, hier insb. S. 161–164; Lipphardt, Biologie der Juden. 2131 Vgl. Hödl, Medizinischer Antisemitismus, S. 161–185, hier S. 165; Lichtblau, Macht und Tradition, S. 212– 229, hier S. 216. 2132 Lehre von der Erscheinungsform/Klassifikation einer Krankheit. 2133 Vgl. Hödl, Pathologisierung, S. 239–240. 2134 Vgl. Engelmann, Die Blinden im Deutschen Reich nach den Ergebnissen der Volkszählung von 1900. Medizinische Mitteilungen an das Kaiserliche Gesundheitsamt, Nr. 9 (1905), S. 156–183, hier S. 172 und Feilchenfeld, Die Blinden, in: Die Gebrechlichen im Deutschen Reich. Statistik des Deutschen Reiches, Band 419 (1931), S. 14, beide zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 77. Auch eine Erhebung aus Preußen 1905 kam nach Angaben von Fritz Lenz zu dem Ergebnis, dass unter der jüdischen Bevölkerung auf 10.000 Personen 71 blinde Menschen kamen, während im Landesdurchschnitt nur 56 von 10.000 BürgerInnen blind waren. Vgl. Lenz, Die krankhaften Erbanlagen, S. 169–407, hier S. 199. 2135 Vgl. [W.] Feilchenfeld, Die Blinden, in: Die Gebrechlichen im Deutschen Reich. Statistik des Deutschen Reiches, Band 419 (1931), S. 14, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 77. 2136 [W.] Feilchenfeld, Die Blinden, in: Die Gebrechlichen im Deutschen Reich. Statistik des Deutschen Reiches, Band 419 (1931), S. 14, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 78. 2137 Vgl. [W.] Feilchenfeld, Die Blinden, in: Die Gebrechlichen im Deutschen Reich. Statistik des Deutschen Reiches, Band 419 (1931), S. 14, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 78. 2138 Lipphardt, Demographisches Wissen, S.45–66, hier S. 51. 2139 Vgl. Lipphardt, Demographisches Wissen, S. 45–66, hier S. 51–58. 291 Trotzdem kam es zu keiner grundsätzlichen Ablehnung der Statistik und die Ergebnisse wurden insbesondere im Zuge der antijüdischen NS-Propaganda rezitiert.2140 Zu den speziellen Augenerkrankungen, die angeblich signifikant häufiger unter Jüdinnen und Juden auftraten, zählten Anfang des 20. Jahrhunderts die Myopie (Kurzsichtigkeit), das Glaukom (Grüner Star) und das Tay-Sachs-Syndrom, die infantile Form einer familiären so genannten „amaurotischen Idiotie“.2141 In diesem Zusammenhang die bekannteste dieser Erkrankungen ist das Tay-Sachs-Syndrom.2142 Drei bis sechs Monate nach der Geburt zeigen sich dabei die ersten Anzeichen einer Erkrankung. Neben einer Erblindung treten bei den Kleinkindern schwerwiegende psychische und körperliche Beeinträchtigungen auf. Das Tay-Sachs-Syndrom führt meist im zweiten bis dritten Lebensjahr zum Tod. Nach Meinung von WissenschaftlerInnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert trat das Syndrom fast „ausschließlich“2143 bzw. „ganz überwiegend“2144 in jüdischen Familien auf. Diese Meinung blieb nachweislich bis in die 1980er Jahre in wissenschaftlichen Kreisen verbreitet.2145 Über die Myopie war dagegen Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt, dass sie zwar bei Jüdinnen und Juden besonders häufig vorkommen soll, allerdings in der gesamten Bevölkerung auftrat.2146 Nach damaligem Wissensstand galten nicht alle Formen der Myopie als „erblich“.2147 Das Gleiche traf auf das Glaukom zu.2148 Diese Erkrankung konnte selbst bei einer entsprechenden fachärztlichen Behandlung zu einer vollständigen Erblindung oder schweren Sehbehinderung führen.2149 Das NS-Regime verwendete die pseudowissenschaftliche Beweisführung über das Vorkommen von „typisch jüdischen Augenerkrankungen“ in zweierlei Hinsicht: Zum einen begründeten die NS-Machthaber damit ihre Forderung nach Erweiterungen oder Verschärfungen der eugenischen Gesetzgebung. Richter nannte hierbei unter anderem das Beispiel des Sozialhygienikers Wilhelm Pfannenstiel, der anhand der amaurotischen Idiotie „eine Brücke von der Forderung nach Sterilisation zu der nach der Euthanasie“ schlug, „die er in diesem Fall befürwortete“. Zum anderen dienten die „vermeintlich ‚jüdischen‘ Augenerkrankungen“ auch „der vorurteilshaften negativen Charakterisierung“ von Jüdinnen und 2140 Vgl. Lipphardt, Demographisches Wissen, S. 45–66, hier S. 65. 2141 Engelmann, Die Blinden im Deutschen Reich nach den Ergebnissen der Volkszählung von 1900, in: Medizinalstatistische Mitteilungen an das Kaiserliche Gesundheitsamt, Nr. 9 (1905), S. 156–183, hier S. 172, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 77; Clausen, Refraktion des Auges, S. 223–244, hier S. 240; Wegener, Erbliche Optikuserkrankungen, S. 213–222, hier S. 212. 2142 Vgl. Hödl, Pathologisierung, S. 238; Richter, Blindheit und Eugenik, S. 77; Rohrmann, Mythen und Realitäten, S. 96. Zur medizinischen Definition vgl. Hollwich, Augenheilkunde, S. 255. 2143 Hugo Hoppe, Sterblichkeit und Krankheit bei Juden und Nichtjuden, in: O&W, Nr. 3 (1903), S. 631–638, hier S. 634, zitiert in: Hödl, Pathologisierung, S. 238; Lenz, krankhaften Erbanlagen, S. 169–407, hier S. 362. 2144 Wegener, Erbliche Optikuserkrankungen, S. 213–222, hier S. 212. 2145 Vgl. Rohrmann, Mythen und Realitäten, S. 96; Goodmann, Genetic disorders, S. 121–122; Hödl, Pathologisierung, S. 238. 2146 Da eine „erbliche hochgradige Kurzsichtigkeit“ nach Meinung von beispielsweise Wilhelm Clausen, Direktor der Universitäts-Augenklinik Halle a. S., 1938 eine „vorzeitige Invalidität“ zur Folge haben konnte, galt diese Erkrankung unter Umständen als eine „schwere körperliche Missbildung“ im Sinne des GzVeN. Vgl. Clausen, Refraktion des Auges, 223–244, hier S. 240. 2147 Vgl. Clausen, Refraktion des Auges, 223–244, hier S. 240. 2148 Vgl. Verschuer, Blindheit, S. 10; Kapitel II.1.2.2. 2149 Das Glaukom gehörte dementsprechend der NS-Ideologie gemäß zu den Augenerkrankungen, die die „Berufsfähigkeit“ beeinträchtigen konnten. Vgl. Löhlein, Glaukom als Erbleiden, S. 35–64, hier S. 60. 292 Juden.2150 Auch Theodor Fritsch, dessen „Handbuch der Judenfrage“2151 aus dem Jahr 1907 bis Kriegsende 1945 49 Mal aufgelegt wurde, stützte mit der Erwähnung der unter Jüdinnen und Juden angeblich besonders häufig vorkommenden Augenkrankheiten seine abwertende, diffamierende Darstellung des Judentums.2152 Blinde Menschen jüdischer Herkunft traf der medizinische Antisemitismus persönlich, da sie als lebender Beweis dafür galten, Teil einer „degenerierten Rasse“ zu sein. Die intensive Rezitation dieser Argumentation Anfang des 20. Jahrhunderts dürfte den Umgang mit blinden Jüdinnen und Juden bereits negativ beeinflusst haben. Auch im österreichischen Blindenwesen kam es vor diesem Hintergrund zu einer gewissen Absonderung blinder Jüdinnen und Juden. Wie bereits geschildert, entstanden im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts viele unterschiedliche Vereine, die die Interessen der Zivilblinden vertraten.2153 Auch für zivilblinde Jüdinnen und Juden gab es seit 1911 eine eigene Organisation, den „Hilfsverein der jüdischen Blinden“.2154 Am 12. März 1938 zählte dieser Verein 136 Mitglieder.2155 Dass es auch antisemitische Ressentiments unter blinden Menschen gab, zeigt das Beispiel der 1926 gegründeten „Interessengemeinschaft für blinde Musiker und Klavierstimmer“. Diese Selbsthilfeorganisation führte mit Genehmigung der Behörden bereits im Mai 1937 den „Arierparagraphen“ in ihren Statuten ein.2156 In § 4 der Satzungen hieß es: „Ordentliches Mitglied kann jeder männliche und weibliche Blinde arischer Abstammung werden.“2157 Dies ist bemerkenswert, weil die „Interessengemeinschaft für blinde Musiker und Klavierstimmer“ bis 1937 dem „Verband der Blindenvereine Österreich“ angehörte, dem sich, wie oben bereits erwähnt, auch der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ angeschlossen hatte. Der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ legte am 30. Juni 1937 bei der Wiener Magistratsabteilung 2 Einspruch gegen diese Statuten ein, mit der Begründung, die „Interessengemeinschaft für blinde Musiker und Klavierstimmer“ sei eine „berufsständische Gruppe“ und ein Ausschluss von jüdischen Mitgliedern stelle einen „Verstoss [sic!] gegen die Bundesverfassung“ dar.2158 Auch der „Verband der Blindenvereine Österreich“ wandte sich am 5. Juli 1937 mit einem sechs Seiten umfassenden Einspruch an die Magistratsabteilung. Darin wurde argumentiert, die Einführung des „Arierparagraphen“ sei nicht rechtmäßig erfolgt, da von den 60 Mitgliedern der „Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer“ nur 24 bei der Generalversammlung anwesend waren und wiederum nur zehn für 2150 Vgl. Wilhelm Pfannenstiel, Blindheit und Eugenik vom Standpunkt der Volkshygiene. Beiträge zum Blindenbildungswesen 4 (1933), S. 106–115, hier S. 109, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 79. 2151 Fritsch, Handbuch der Judenfrage. 2152 Vgl. Fritsch, Handbuch der Judenfrage, S. 31. 2153 Vgl. Kapitel II.3.1 und II.3.2. 2154 Vgl. Kapitel II.11.2 und IV.5.2. 2155 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden, Bericht über die Aufbringung der Mittel zur Befürsorgung von Leo Demm am 4.4.1938. 2156 Vgl. Kapitel II.11.2. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer, Bescheid M. Abt. 2/4019/37 vom 15.7.1937, Betreff: Umbildung wird nicht untersagt. 2157 WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer, Satzungen der Interessengemeinschaft blinder Musiker und Klavierstimmer vom Mai 1937. 2158 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden, Für die Vereinsleitung Leo Demm an Mag. Abt. 2, Wien, vom 30.6.1937, Betreff: Interessengemeinschaft blinder Musiker, Klavierstimmer und Musiklehrer. 293 die vorliegende Fassung der Statuten gestimmt hätten.2159 Außerdem sah der „Verband der Blindenvereine Österreichs“ die Interessen blinder Menschen dadurch geschädigt, dass „eine bestimmte Gruppe von Blinden von der Berufsfürsorge“2160 ausgeschlossen werden würde.2161 Keine Bedenken gegen die Statuten äußerte allerdings die Bundes-Polizeidirektion Wien am 3. Juli 1937.2162 Das Obermagistrat erteilte dieser Argumentation folgend die Zustimmung zur Änderung der Statuten am 15. Juli 1937.2163 Als mögliche Hintergründe für die Entscheidung der „Interessengemeinschaft für blinde Musiker und Klavierstimmer“, einen „Arierparagraphen“ einzuführen, nennt der „Verband der Blindenvereine“ Österreichs in dem bereits zitierten Schreiben vom Juli 1937 wirtschaftliche Interessen: „Von Seite der Interessengemeinschaft wird wohl erklärt, daß diese Bestimmung aus rein wirtschaftlichen Gründen in das Statut aufgenommen sei und daß damit keinerlei politische Tendenzen verfolgt werden.“2164 Da zu diesem Zeitpunkt im benachbarten Deutschland bereits die „Nürnberger Rassengesetze“ in Kraft waren, hatte die Entscheidung, „nichtarische“ Mitglieder auszuschließen, allerdings sehr wohl eine politische Dimension. Wie bereits erwähnt, handelte es sich bei der „Interessengemeinschaft blinder Musiker und Klavierstimmer“ vermutlich um ein Auffangbecken für zu diesem Zeitpunkt blinde illegale Mitglieder der NSDAP.2165 Diese Ausgrenzung von blinden Menschen jüdischer Herkunft war allerdings kein Spezifikum des Blindenwesens. Bereits im 19. Jahrhundert bemühten sich Antisemiten, „Organisationen dazu zu bringen, Juden nicht aufzunehmen.“2166 Neben antisemitischen Parteien und Vereinen, die Jüdinnen und Juden auf Grund ihrer Statuten eine Mitgliedschaft „prinzipiell untersagten“, „verwiesen beginnend mit dem Jahr 1877 die national gesinnten Korporationen der Studenten in 2159 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer, Verband der Blindenvereine Österreichs an den Wiener Magistrat, Abt. 2 vom 5.7.1937, Betreff: Interessengemeinschaft blinder Musiker und Klavierstimmer. 2160 WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer, Verband der Blindenvereine Österreichs an den Wiener Magistrat, Abt. 2 vom 5.7.1937, Betreff: Interessengemeinschaft blinder Musiker und Klavierstimmer. 2161 Eine weitere Eingabe erfolgte durch den „Bund der österreichischen Gewerbetreibenden“ am 30. Juni 1937. Dieser stimmte erst nach einer Änderung der Statuten zu, die allerdings nicht im Zusammenhang mit der Einführung des „Arierparagraphen“ stand. Dieser Umstand blieb in dieser Stellungnahme unerwähnt. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer, GZ 1801-Org/1937 Dr. H/R, Bund der österreichischen Gewerbetreibenden an Mag. Abt. 2, vom 30.6.1937, Betreff: Verein Interessengemeinschaft blinder Musiker und Klavierstimmer, Umbildung. 2162 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer, V. B. 3765/37, Bundes-Polizeidirektion in Wien an Mag. Abt., vom 3.7.1937, Betreff: Verein Interessengemeinschaft blinder Musiker und Klavierstimmer, Umbildung. 2163 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer, Bescheid M. Abt. 2/4019/37 vom 15.7.1937, Betreff: Umbildung wird nicht untersagt. 2164 WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer, Verband der Blindenvereine Österreichs an den Wiener Magistrat, Abt. 2 vom 5.7.1937, Betreff: Interessengemeinschaft blinder Musiker und Klavierstimmer. 2165 Vgl. Kapitel II.11.2. 2166 Lichtblau, Macht und Tradition, S. 212–229, hier S. 216. 294 Österreich und Deutschland Juden aus ihren Reihen.“2167 Nach dem Ersten Weltkrieg kam es, bedingt durch die „ökonomische und politische Krise“ zu einer „erneuten Radikalisierung des Antisemitismus“, woraufhin in den 1920er Jahren scheinbar unpolitische Vereine jüdische Mitglieder ausschlossen.2168 In diesem Zusammenhang können etwa der „Österreichische Touristenclub“ (1920) sowie Sektionen des „Österreichischen Alpenvereins“ (ab 1921) genannt werden.2169 Auch wenn das Beispiel dieser „Interessengemeinschaft blinder Musiker und Klavierstimmer“ ein Beleg dafür ist, dass antisemitische Strömungen unter blinden Menschen genauso wie in der restlichen Bevölkerung bereits vor 1938 verbreitetet waren, so kann aus dieser Quelle nicht eruiert werden, wie weitreichend diese waren. Bekannt ist, dass es durch den Zusammenschluss im „Verband der Blindenvereine Österreichs“ zumindest auf Vereinsebene eine Zusammenarbeit zwischen blinden Menschen unabhängig von der Konfession gab. Allerdings spielten dabei in erster Linie wirtschaftliche Gründe eine Rolle. Dementsprechend ist diese Vereinigung kein Beleg für ein Zusammengehörigkeitsgefühl von jüdischen und nichtjüdischen blinden Menschen. Auch ist nicht bekannt, inwieweit ein zwischenmenschlicher Kontakt beispielsweise im Privatleben unterhalten wurde. 1938 endete dann offiziell jegliche Zusammenarbeit. Als Funktionäre des RBV, Mitglieder der NSDAP und SA beteiligten sich blinde Menschen an der Verfolgung blinder Menschen jüdischer Herkunft.2170 Im Gegensatz zum Vereinswesen der Zivilblinden gab es im Kriegsblindenwesen keine Trennung zwischen Betroffenen unterschiedlicher Konfessionen, wahrscheinlich auch auf Grund ihrer geringen Anzahl. Wie erwähnt, gab es voraussichtlich höchstens 20 Kriegsblinde jüdischer Herkunft. Über antisemitische Tendenzen unter Kriegsblinden vor 1938 ist nichts bekannt, aber auf Grund der Tatsache, dass einige bereits vor dem „Anschluss“ nachweislich Mitglieder der NSDAP und anderer NS-Organisationen waren, wird es auch unter ihnen AntisemitInnen gegeben haben.2171 Diese Verbreitung des Antisemitismus unter blinden Menschen ist eine mögliche Erklärung dafür, warum die 1938 beginnende Verfolgung blinder Menschen jüdischer Herkunft nicht zu Protesten von Zivil- oder Kriegsblinden führte. 2167 Norbert Kampe, Studenten und „Judenfrage“ im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus, Göttingen 1987 und Robert Hein, Studentischer Antisemitismus in Österreich, [= Beiträge zur österreichischen Studentengeschichte, 10], Wien 1984, beide zitiert in: Lichtblau, Macht und Tradition, S. 212–229, hier S. 216. 2168 Vgl. Lichtblau, Macht und Tradition, S. 212–229, hier S. 216. 2169 Vgl. Andrea Wachter, Antisemitismus im österreichischen Vereinswesen für Leibesübungen 1918–1938 am Beispiel der Geschichte ausgewählter Vereine, Diss. [Manuskript] Wien 1983, S. 72–130, zitiert in: Lichtblau, Macht und Tradition, S. 212–229, hier S. 216. 2170 Vgl. Kapitel II.11.2. 2171 Vgl. Kapitel III.10.1. 295 3.Die Verfolgung blinder Menschen jüdischer Herkunft 1938–1942 3.1 Die antijüdische NS-Gesetzgebung und ihre Auswirkungen auf den Alltag blinder Menschen jüdischer Herkunft Die antijüdische Politik der NS-Machthaber erfasste alle Lebensbereiche von Menschen jüdischer Herkunft und hatte damit eine soziale, wirtschaftliche und persönliche Dimension. Blinde Menschen traf die Verfolgung des NS-Regimes besonders. Ihre Behinderung schränkte ihre Erwerbsmöglichkeiten ein und bei vielen Verrichtungen des alltäglichen Lebens waren sie auf Hilfsmittel sowie auf die Unterstützung von Sehenden angewiesen. Der „Anschluss“ und die damit beginnenden Repressalien gegen Menschen jüdischer Herkunft wirkten sich daher auf ihre Existenzmöglichkeiten verheerend aus: Im Zuge der „Zwangsarisierungen“ verloren diejenigen, die einer Beschäftigung nachgingen, ihren Arbeitsplatz. Auf Grund des „Arierparagraphen“ konnten Zivilblinde nicht dem RBV beitreten und Kriegsblinde jüdischer Herkunft nicht in der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ Mitglied werden. Damit waren sie von den Leistungen dieser Institutionen, wie beispielsweise Verkaufsstellen von Hilfsmitteln, Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung oder Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten sowie Freizeitangebote, ausgeschlossen. Alle Blindenbüchereien im „Deutschen Reich“ nahmen in ihre Richtlinien auf, ihre Werke nur mehr an „ArierInnen“ zu verleihen.2172 Zugelassen waren nach dem „Anschluss“ nur mehr zwei Selbsthilfeorganisation, die blinde Menschen jüdischer Herkunft unterstützten: Der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ und der „Hilfsverband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen“.2173 Einen eigenständigen Kriegsblindenverband für Betroffene jüdischer Herkunft gab es nicht, die Anzahl der Kriegsblinden, die nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ als Juden galten, war dafür zu gering.2174 Einige der antijüdischen Bestimmungen und Erlässe des NS-Regime betrafen blinde Menschen direkt. 2175 Reichsfinanzminister Johann Ludwig Graf Schwerin von Korsigk startete nach Angaben von Götz Aly beispielsweise bereits ab 1935 einen „Ideenwettbewerb“ unter seinen Beamten, der die „steuerliche Ausplünderung“ von Menschen jüdischer Herkunft bezweckte. 2176 Diesbezüglich fand im April 1938 eine Besprechung statt, in der diskutiert wurde, ob die Blindenhunde von Kriegsblinden jüdischer Herkunft weiterhin von der gemeindlichen Hundesteuer befreit bleiben sollten. 2177 Ob diese Bestimmung auch durchgesetzt wurde, ist nicht bekannt. Hart traf blinde Menschen 2172 Vgl. Nationalsozialistisches Schrifttum der Süddeutschen Blindenbücherei der Blindenanstalt Nürnberg, o. O., o. J. [AIDOS]. 2173 Vgl. Kapitel IV.5.1. 2174 Vgl. Kapitel IV.1.3. 2175 Vgl. weiterführend die in Kapitel IV.1 angegebene Literatur. 2176 Vgl. Aly, Hitlers Volkstaat, S. 22–23. 2177 Vgl. Auszug aus dem Entwurf des Reichsfinanzministeriums-Schreiben betreff Judenfrage vom 25.4.1938, Referat Zülow und Kühne [BAB R 2/Nr. 56014, Bl. 97ff], zitiert in: Friedenberger, Gössel, Schönknecht, Reichsfinanzverwaltung im Nationalsozialismus, S. 53–54. 296 jüdischer Herkunft allerdings das Verbot ab Mai 1942, Haustiere, darunter fielen auch Führhunde, zu halten. 2178 Blinde Menschen jüdischer Herkunft waren zudem von der Möglichkeit ausgeschlossen, um eine Befreiung von den Rundfunkgebühren anzusuchen.2179 Ab September 1939 mussten dann alle Menschen jüdischer Herkunft im „Deutschen Reich“ ihre Radiogeräte abgeben.2180 Für blinde Menschen, die keine Zeitungen lesen konnten und denen der Zugang zu Blindenschriftbüchern durch ihren Ausschluss aus dem Blindenwesen verwehrt war, war dies ein weiterer entscheidender Einschnitt in ihrem alltäglichen Leben. Ab September 1941 wurden jüdische BürgerInnen im „Deutschen Reich“ gezwungen, den Judenstern zu tragen. Diese Zwangskennzeichnung bedeutete eine weitere, schwerwiegende Diskriminierung in der Öffentlichkeit.2181 David Schapira, ein Kriegsblinder aus Wien, der mit seiner Frau 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde und überlebte, schrieb seine Erinnerungen 1975 in einem unveröffentlichten Manuskript nieder. „Parkanlagen, Kaffeehäuser und Kinos durften von den Sternträgern nicht betreten werden. Selbst befreundete Arier wagten nicht, ihre jüdischen Bekannten zu grüßen, geschweige denn anzusprechen oder sonstigen persönlichen Kontakt zu pflegen.“2182 Gleichzeitig gab es im Reichsverkehrsministerium Pläne, blinden Menschen das Tragen der gelben Armbinde mit den drei Punkten, welche zur Kennzeichnung von Menschen mit einer Behinderung im Straßenverkehr diente,2183 zu verbieten. Im Juli 1942 wurde dann allerdings festgelegt, das Tragen dieser Armbinden blinden Menschen jüdischer Herkunft weiterhin zu erlauben. Dies geschah allerdings nicht ihretwegen, sondern diente „den Bedürfnissen des Verkehrs […]“2184. Alle VerkehrsteilnehmerInnen sollten zu ihrer eigenen Sicherheit weiterhin alle Menschen mit einer Behinderung, die ihre Wahrnehmung oder Beweglichkeit einschränkte, erkennen können, um sich darauf einzustellen.2185 1942 mussten sie, sofern sie diese besaßen, Schreibmaschinen und Telefonapparate abliefern.2186 Am schwersten trafen blinde und andere Menschen mit Beeinträchtigungen die Auswirkungen der antijüdischen Gesetzgebung auf den Arbeitsmarkt. Bereits vor dem „Anschluss“ hatten viele Betroffene Schwierigkeiten, eine Arbeitsstelle zu finden. Wichtige Arbeitgeber für blinde Menschen waren daher auch jüdische Vereine und Einrichtungen. Eine nicht bekannte Anzahl arbeitete etwa in der jüdischen Blindenbibliothek, dem „Israelitischen Blindeninstitut“ oder dem „Hilfsverein der jüdischen Blinden“. Diese Einrichtungen 2178 Vgl. Friedländer, Jahre der Vernichtung, S. 396; Jaedicke, Die Blinden in Theresienstadt, S. 39–43, hier S. 40; Scheer, Jüdische Blinde im „Dritten Reich, S. 14–15, hier S. 15 [Redaktion: Blinden- und Sehschwachen-Verband der DDR]. 2179 Vgl. Kapitel II.2.4.4. 2180 Vgl. Jaedicke, Die Blinden in Theresienstadt, S. 39–43, hier S. 40. 2181 Zu den Bestimmungen vgl. weiterführend: O. A., Wichtig für Alle, in: Jüdisches Nachrichtenblatt, Nr. 26, (27.8.1943), S. 1 [DÖW 10020/01]. 2182 Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 28–29. 2183 Vgl. Kapitel II.2.6. 2184 Erlass des Reichsverkehrsministerium vom 13.7.1942, Betreff: Tragen von Armbinden, zitiert in: Walk, Sonderrecht für die Juden, S. 381. Vgl. Reichs-Verkehrs-Blatt Ausgabe B Kraftfahrtwesen (RVKB1B) (1942), Nr. 101, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 83. 2185 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 83. 2186 Vgl. Jaedicke, Die Blinden in Theresienstadt, S. 39–43, hier S. 40. 297 wurden beginnend im Jahr 1938 schrittweise aufgelöst.2187 In der Folge verarmten viele Menschen jüdischer Herkunft mit einer Beeinträchtigung völlig, auch weil sie zudem ihr Anrecht, Arbeitslosengeld zu beziehen, verloren hatten.2188 Die IKG bemühte sich, für die blinden Menschen wieder Arbeitsplätze zu finden. Dieses Ansinnen wurde allerdings durch das NS-Regime stark erschwert und es konnte daher nur in Ausnahmefällen gelingen.2189 Schwerwiegende Folgen hatten für blinde Menschen jüdischer Herkunft die Vertreibungen aus ihren Wohnungen, da sie dadurch die ihnen vertraute Umgebung, in der sie sich gut orientieren konnten, verlassen mussten. Auf die Kündigungen von blinden MieterInnen in Wiener Gemeindewohnungen 1938 geht das folgende Kapitel ein. 1939 wurde mit dem Gesetz über die „Mietverhältnisse mit Juden“2190 der gesetzliche MieterInnenschutz teilweise aufgehoben und die Zusammenlegung von Familien jüdischer Herkunft erzwungen. Die Verordnung zur Einführung dieser Vorschriften in der „Ostmark“ wurde am 10. Mai 1939 bekannt gemacht.2191 Dies hatte zur Folge, dass viele Gemeinden BürgerInnen jüdischer Herkunft aus ihren Wohnungen vertrieben und diese gezwungen waren, in engere und überfüllte Ausweichquartiere zu ziehen, die häufig wesentlich teurer waren als ihre vorherigen Unterkünfte.2192 3.2 Die Vertreibung von blinden Menschen jüdischer Herkunft aus Wiener Gemeindewohnungen Zur Zeit des „Anschlusses“ setzten sich die zuständigen NS-Behörden mit der Wohnungsnot in Wien auseinander, die sich auf Grund der geringen Wohnbautätigkeit in der Zeit des autoritären „Ständestaates“ verschärft hatte. Der Zuzug von ParteimitarbeiterInnen, Militär- und Verwaltungspersonal aus dem „Deutschen Reich“ und die Rückkehr so genannter „alter Kämpfer“, das heißt ehemalige illegale Mitglieder der NSDAP, die in der „Verbotszeit“ zwischen 1933 und 1938 Österreich verlassen hatten, führte zu einem erhöhten Bedarf an Wohnraum.2193 Um Wohnungen für ihre Klientel zu beschaffen, vertrieben die NSMachthaber MieterInnen jüdischer Herkunft aus Gemeindewohnungen. In der Registratur der Magistratsabteilung 52 fanden Herbert Exenberger, Johann Koß und Brigitte UngarKlein, die diese Zwangsräumungen 1996 untersuchten, 2.064 solcher Kündigungsakten von MieterInnen jüdischer Herkunft.2194 Nach ihren Angaben waren auch zehn blinde Männer, davon vier Kriegsblinde, fünf blinde Frauen und eine Hinterbliebene eines Kriegsblinden betroffen.2195 2187 Vgl. Kapitel IV.5. 2188 Vgl. CAHJP, A/W 272, HBM 2502, Nr. 236, Selbsthilfegruppe der jüdischen Krüppel in Wien an die Amtsdirektion vom 8.6.1940, Betreff: Memorandum vom 15.3.1940. 2189 Vgl. Kapitel IV.5.4. 2190 [D] RGBl. Teil I, Gesetz über die Mietverhältnisse mit Juden vom 30. April 1939, S. 864–865. 2191 Vgl. GBlÖ, Nr. 607/1939, Verordnung zur Einführung des Gesetzes über die Mietverhältnisse mit Juden in der Ostmark vom 10. Mai 1939. 2192 Vgl. Tepperberg, Oberst Otto Grossmann, S. 319–333, hier S. 325–326. 2193 Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 28. 2194 Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 12. 2195 Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 72. Die Originaldokumente zu den Kündigungen dieser blinden MieterInnen jüdischer Herkunft der zuständigen Wiener Mag. Abt. 298 In Briefen an verschiedene NS-Stellen bemühten sich die verzweifelten Gekündigten darum, den Verlust ihrer Wohnungen zu verhindern.2196 Aus den Akten geht hervor, dass ihnen nach Erhalt der Kündigung, die gegen Ende Juni 1938 bei den MieterInnen eingetroffen sein dürfte, rund vier Wochen Zeit blieb, ihre Wohnung zu räumen. Der blinde Bürstenbinder Ernst Back und seine ebenfalls blinde Ehefrau Margaretha verloren beispielsweise nicht nur ihre Unterkunft, der 35-Jährige auch seinen Arbeitsplatz. Wie einige andere blinde HandwerkerInnen, die in Heimarbeit tätig waren,2197 nutzte Ernst Back die Räumlichkeiten seiner Wohnung in der Stromstraße 81–87 im 20. Wiener Gemeindebezirk für die Ausübung seines Handwerkes. Das Bezirksgericht Leopoldstadt verfügte auf Antrag der Magistratsabteilung 21 am 5. Juli 1938 die Aufkündigung der Wohnung für den 31. Juli 1938.2198 Die Einspruchsfrist war acht Tage. Am 8. Juli 1938 verfasste Margaretha Back einen solchen Einspruch an das zuständige Wohnungsamt: „SCHWER TRAF MICH ALS ARIERIN UND MEINEN JÜDISCHEN MANN DER SCHICKSALSSCHLAG, ALS WIR IN UNSERER KINDHEIT ERBLINDETEN: NOCH HÄRTER UND VERNICHTENDER EREILTE UNS DIE KUNDE VON DER KÜNDIGUNG UNSERER WOHNUNG. […] SOWOHL ICH ALS AUCH MEIN MANN BEZIEHEN VON DER FÜRSORGE DER GEMEINDE WIEN EINEN ERHALTUNGSBEITRAG, DER UNS ERMÖGLICHTE DEN ZINS PÜNGTLICH [sic!] ZU ERLEGEN [sic!] […] WIR KÖNNEN ES NICHT FASSEN; DASZ ES DES FÜHRERS WILLE SEI, DIE ÄRMSTEN DER ARMEN AUF DIE STRASZE ZU SETZEN UND DEM GRÖSZTEN ELEND PREISZUGEBEN […].“2199 Auf dem Schreiben befindet sich der handschriftliche Vermerk eines nicht genannten Beamten oder einer nicht genannten Beamtin: „Gattin angebl. arisch 2 Kinder Mischlinge!“2200 Wie bei vielen anderen Zivilblinden jüdischer Herkunft intervenierte in diesem Fall der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ unter der Leitung von Leo Demm. In dem Schreiben an den „Reichskommissar für die Wiedervereinigung“ Gauleiter Bürckel, das dort am 9. Juli 1938 eingegangen war, wurde darauf verwiesen, dass es sich bei Familie Back um „sehr arme Leute“2201 mit zwei schulpflichtigen Kindern handle. Am 18. August 1938 sollte dieser Fall 21 konnten nicht vollständig eingesehen werden. Nach intensiven Recherchen von Herbert Exenberger und Dr. Ursula Schwarz konnten im DÖW die Unterlagen von lediglich sechs blinden MieterInnen (fünf Zivilblinde, ein Kriegsblinder) von Wiener Gemeindewohnungen aufgefunden werden. Auch eine entsprechende Anfrage beim WStLA blieb ohne Ergebnis. Vgl. E-Mail von Andrew Simon, WStLA MA 8, <[email protected]>, an: Barbara Hoffmann <[email protected]>, Betreff: AW: Anfrage an das Wr. Stadt- und Landesarchiv, gesendet am 19.2.2008. 2196 Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 71–75. 2197 Vgl. Kapitel II.6.2. 2198 Vgl. DÖW, Wiener Ma. Abt. 21, XX N 26/38, Beschluss des Bezirksgerichtes Leopoldstadt vom 5.7.1938. 2199 DÖW, Wiener Ma. Abt. 21, XX N 26/38, Margaretha Back an das Wohnungsamt vom 8.7.1938, Betreff: Bitte um Hilfe. [Das Schreiben war nur in Großbuchstaben verfasst, da es mit Hilfe der Stacheltypenschrift erstellt wurde. Blinde Menschen verwendeten diese Schrift, um Dokumente in Schwarzschrift zu erstellen. Die Buchstaben werden dabei mittels eines Griffels in Papier gestanzt.] 2200DÖW, Wiener Ma. Abt. 21, XX N 26/38, Margaretha Back an das Wohnungsamt vom 8.7.1938, Betreff: Bitte um Hilfe. 2201 DÖW, Wiener Ma. Abt. 21, XX N 26/38, Hilfsverein der jüdischen Blinden an Reichskommissar und Gauleiter Bürckel, eingegangen am 9.7.1938, Betreff: Nachtrag zu Ansuchen vom 6. ds. Monats. 299 vor dem Bezirksgericht Leopoldstadt entschieden werden.2202 Zu dieser Verhandlung kam es aber nicht, denn bereits am 8. August hatte das blinde Ehepaar mit seinen Kindern die Wohnung verlassen.2203 Das blinde Ehepaar kam im „Israelitischen Blindeninstitut“ in Wien unter und wanderte schließlich mit unbekanntem Ziel aus.2204 Weitere Informationen zum Schicksal der Familie ließen sich nicht eruieren. Die gekündigten blinden Menschen hatten große Schwierigkeiten, wieder eine Unterkunft zu finden. Der blinde Musiklehrer Abraham Friedmann, der in einem Haus in der Heiligenstädter Straße 11–25 lebte, schrieb beispielsweise am 6. Juli 1938 an das Bezirksgericht Döbling: „Die Aufkündigung trifft mich umso schwerer, da ich blind bin und ausserstande [sic!], irgendwie eine Wohnung zu finden. Insbesondere fällt das Wohnungsfinden jetzt schwer, da man einen Juden als Hauptmieter nicht nimmt und mich als Blinden nimmt aber schwerlich jemand in Untermiete.“2205 Das zuständige Bezirksgericht bestätigte am 28. Juli allerdings die angebliche Rechtmäßigkeit der Kündigung.2206 Friedmann räumte daraufhin seine 23 m 2 große Wiener Gemeindewohnung. Am 1. August konnte sie neu vermietet werden.2207 In der gleichen Straße, in der Friedmann wohnte, lebte noch ein weiterer blinder Mann, der Bürstenbinder Felix Mahler. Er erhob am 6. Juli 1938 vor dem Bezirksgericht Döbling Einspruch gegen seine Kündigung und wusste ebenfalls nicht, wo er unterkommen sollte: „Da es mir unmöglich ist, eine neue Wohnung zu verschaffen, würde ich durch die Kündigung als Blinder obdachlos werden.“ 2208 Auch Mahlers Einspruch blieb erfolglos, er musste am 8. August 1938 seine Wohnung räumen.2209 Über das weitere Schicksal dieser blinden Männer ist wenig bekannt. Abraham Friedmann kam wie das Ehepaar Back im „Israelitischen Blindeninstitut“ unter, das ab Ende 1938 von der IKG auch als Unterkunft für Menschen mit einer Behinderung genutzt wurde. Aus den vom DÖW erstellten Deportationslisten lässt sich nicht eruieren, ob Friedmann von dort oder einer anderen Adresse 2202 Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, XX N 26/38, GZ 100 755/38, Bezirksgericht Leopoldstadt, Abt. 10 vom 13.7.1938. 2203 Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, XX N 26/38, Aktenblatt Städtisches Wohn-, Stiftungs-, Fondshaus XX. Stromstraße 81/87 vom 9.8.1938, Betreff: Freiwerdende Wohnung. 2204Nach Recherchen im Zuge des Forschungsprojektes an der Universität Wien „Gehörlose Menschen während des Nationalsozialismus in Österreich“ (Dauer Mai 2008 bis April 2009) konnte unter der Leitung von Dr. Verena Krausneker ermittelt werden, dass Ernst und Margaretha Back abgewandert sind. Krausneker, Schalber, Gehörlose Österreicherinnen und Österreicher im Nationalsozialismus [DVD]. 2205 DÖW, Wiener M. Abt. 21, I XIXM17/38, Abschrift, Abraham Friedmann an das Bezirksgericht Döbling vom 6.7.1938, Betreff: Rekurs gegen Aufkündigung. 2206Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, I XIXM17/38, GZ 2 C 476/38 4, Bezirksgericht Döbling vom 28.7.1938, Beschluss Rechtssache Stadt Wien vertreten durch die Mag. Abt. 21 gegen Abraham Friedmann. 2207 Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, I XIXM17/38, Aktenblatt Städtische Wohnhausanlage XIX. Heiligenstädterstraße 11/15, Stiege 7, Stock Part. Tür 1 vom 6.7.1938, Betreff: Freiwerdende Wohnung. 2208 DÖW, Wiener M. Abt. 21, I XIXM17/38, GZ 2 C 475/38, Einwendung gegen die Aufkündigung, aufgenommen vom Bezirksgericht Döbling am 6.7.1938, Betreff: Rechtssache, Kündigender: Stadt Wien M. A. 21, Kündigungsgegner Felix Mahler. 2209 DÖW, Wiener M. Abt. 21, I XIXM17/38, Aktenblatt Städtische Wohnausanlage XIX. Heiligenstädterstraße 11/15, Stiege 12, Stock 3, Tür 18 vom 6.7.1938, Betreff: Freiwerdende Kündigung. 300 in ein Vernichtungslager transportiert worden ist.2210 Zu Felix Mahler konnten gar keine weiteren Angaben recherchiert werden.2211 Eruierbar war dagegen das weitere Schicksal der ebenfalls in einer Wiener Gemeindewohnung lebenden blinden Mieterin Sarah Seidenfrau. Die blinde Witwe lebte gemeinsam mit einem Kind in der Grasbergergasse 2–6 im 3. Bezirk. Am 1. Juli 1938 gab sie vor dem Bezirksgericht Landstraße zu Protokoll, es sei ihr wegen ihres „Gebrechens“ nicht möglich, sich „in einer anderen Wohnung zurecht zu finden“ und sie bräuchte „ständig jemanden“, der ihr „Hilfe“ leisten würde.2212 Am 6. Juli 1938 wendete sie sich schriftlich an das Wohnungsamt, mit der Bitte, ihr eine andere Unterkunft zu vermitteln. Sie schlug vor, dass sie die Wohnung ihres Nachmieters, der ihrer Kenntnis nach ihre Wohnung erhalten sollte, ein gewisser Otto Frey, übernehmen könnte.2213 Das war aber nicht im Sinne des NS-Regimes: Sie kam unter nicht bekannten Umständen im 20. Wiener Gemeindebezirk, Brigittenauer Lände 48/7 unter und wurde am 11. Juni 1942 nach Sobibor deportiert. Ein Todesdatum ist nicht bekannt.2214 Von fünf der insgesamt 19 in Wiener Gemeindebauten lebenden und gekündigten blinden Menschen, die nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ als Jüdinnen und Juden galten, ist bekannt, dass sie in Vernichtungslagern getötet wurden.2215 Wie rigoros die NS-Behörden gegen die MieterInnen jüdischer Herkunft vorgingen, zeigt das Beispiel des ehemaligen Obmannes der „Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten“ Jakob Wald.2216 Jakob Wald lebte 1938 mit seiner blinden Frau Kamilla und der damals achtjährigen Tochter im 15. Bezirk, Neusserplatz 1/2. Wald war zwar jüdischer Herkunft, hatte sich aber taufen lassen. Die ganze Familie war katholisch. Kamilla Wald wies auf diesen Umstand in ihrem Einspruch gegen die Kündigung vom 2. Juli 1938 hin. Sie betonte, dass ihr Mann kein „konfessioneller Jude“2217 sei. Nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ galt er aber als Jude, weshalb das Wiener Stadtmagistrat auf die Räumung der Wohnung zum 31. Juli 1938 bestand. Familie Wald war es inzwischen gelungen, eine Ersatzwohnung zu bekommen, 2210 Auf den Deportationslisten des DÖW von denjenigen Personen, von denen als letzte Wohnadresse die Adresse des Israelitischen Blindeninstituts, Hohe Warte Nr. 32, bekannt war, erscheint Friedmann nicht. Ansonsten gibt es im Zuge des DÖW-Projektes zur Erfassung der österreichischen Holocaustopfer zwei Personen unter dem gleichen Namen. Da bei einer dieser beiden Personen das Geburtsdatum fehlt, konnte keine Zuordnung gemacht werden. Vgl. DÖW, Datenbanken, Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer, Liste mit Deportationen von der Adresse Hohe Warte 32 [Ausdruck vom 21.11.2007]. 2211 Es konnte nicht in allen Fällen das weitere Schicksal der Betroffenen eruiert werden, weil die Geburtstage und Geburtsorte häufig nicht bekannt waren. Dementsprechend war ein Abgleich mit der Datenbank der Holocaustopfer im DÖW in vielen Fällen nicht möglich. Weitere Recherchen über beispielsweise Restitutionsverfahren oder Ähnliches wurden allerdings nicht angestellt, da dies den Rahmen dieser Arbeit überschritten hätte. 2212 Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, III V/45/38, GZ 9 C 578/38/2, Einwendung gegen die Aufkündigung, aufgenommen am 1.7.1938, Betreff: Rechtssache Kündigender: Gemeinde Wien, Kündigungsgegner: Sarah Seidenfrau. 2213 Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, III V/45/38, Sarah Seidenfrau an das Wohnungsamt Wien I, Bartensteingasse 7, vom 6.7.1938, Betreff: Bitte. 2214 Vgl. DÖW, Datenbank, Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer; [Online Ressource: DÖW, Opferdatenbanken, Shoa-Opfer, <http://de.doew.braintrust.at/db_shoah_33210.html>, Download am 19.4.2009]; Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 301. 2215 Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 75. 2216 Vgl. Kapitel II.11.2. 2217 DÖW, Wiener M. Abt. 21, XV L/2/38, Kamilla Wald an die Hausverwaltung der Stadt Wien vom 2.7.1938, Betreff: Rücknahme der Kündigung. 301 diese konnte allerdings erst ab 1. November 1938 bezogen werden. Die städtische Wohnhäuserverwaltung wendete sich daher am 19. Juli 1938 an das Büro des Vizebürgermeisters, um zu erreichen, dass das blinde Ehepaar die Wohnung nicht bereits Ende Juli verlassen musste und bis zum Einzug in die neue Wohnung am Neusserplatz dort wohnen bleiben konnte. Die Magistratsabteilung verwies dabei „auf die besonders berücksichtigungswürdigen Umstände“2218, weil sich das blinde Ehepaar in fremder Umgebung nicht zurechtfinden würde. Dem Antrag wurde nicht stattgegeben. Bereits am 23. Juli 1938, das heißt acht Tage bevor die Frist zum Verlassen der Wohnung am 31. Juli auslief, bewilligte das zuständige Bezirksgericht in Fünfhausen die zwangsweise Räumung der betreffenden Wohnung.2219 Familie Wald verließ am 16. August 1938 ihre Gemeindewohnung.2220 Es gelang ihnen, unter nicht bekannten Umständen unterzutauchen und sie überlebten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzte Jakob Wald seine Funktionärstätigkeit im österreichischen Blindenvereinswesen fort.2221 3.3 Die Verfolgung von Kriegsblinden jüdischer Herkunft 3.3.1 Besonderheiten bei der Vertreibung von Kriegsblinden aus Wiener Gemeindewohnungen Eine andere Vorgehensweise zeigten die NS-Behörden bei den Vertreibungen von Kriegsblinden jüdischer Herkunft aus ihren Gemeindewohnungen.2222 Wie bereits erwähnt, waren von den Kündigungen der NS-Stadtverwaltung vier Kriegsblinde betroffen. Für diese Studie konnten allerdings nur die Dokumente im DÖW zu einem dieser Betroffenen eingesehen werden, die anderen Unterlagen waren ebenfalls im WStLA nicht mehr auffindbar.2223 Diese Akten dokumentieren die Vertreibung von Julius Grünwald, der mit seiner Frau und zwei erwachsenen Kindern 1938 in der Enenkelstraße 35 im 16. Wiener Gemeindebezirk lebte. Im Gegensatz zu den bereits geschilderten Fällen von Zivilblinden jüdischer Herkunft wurde Grünwald mehrfach gestattet, seinen Räumungstermin aufzuschieben. Außerdem bekam er bis Dezember 1938 zwei Ersatzwohnungen zugewiesen.2224 Grünwald lehnte es allerdings ab, dort einzuziehen. Dies hing mit dem baulichen Zustand dieser Unterkünfte zusammen. Es zählte zur damals gängigen Praxis der NS-Behörden, von den Kündigungen betroffenen ehemaligen Teilnehmern des Ersten Weltkrieges jüdischer Herkunft minderwertige Unterkünfte in einem alten, baufälligen Haus oder in einer Baracke anzubieten.2225 2218 DÖW, Wiener M. Abt. 21, XV L/2/38, M. Abt. 21 an das Büro des Vizebürgermeisters vom 19.7.1938, Betreff: Jakob Wald Kündigung. 2219 DÖW, Wiener M. Abt. 21, XV L/2/38, GZ 4 C 676/38, Bezirksgericht Fünfhausen, Bewilligung der zwangsweisen Räumung vom 23.8.1938. 2220 Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, XV L/2/38, Dienstzettel an Betriebsbuchhaltung – Wohnhäuser vom 18.11.1938, Betreff: Auszug der Mietpartei Jakob Wald. 2221 Vgl. Bachleitner, Vogel, Jakob Wald, S. 32–33. 2222 Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 64–71. 2223 Vgl. Kapitel IV.3.2. 2224 Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, XV/A/5/38, Dienstzettel an die M. Abt. 21/I Verwaltung vom 23.12.1938, Betreff: Julius Grünwald, Delogierung der Partei. 2225 Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 67. 302 Eine der Ersatzwohnungen, die Grünwald in der Albrechtskreitgasse 35 angeboten worden war, lag beispielsweise in einem alten Gebäude, das in Kürze abgerissen werden sollte. Beim Betreten hätte nach Angaben des „Hilfsverbandes der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen“ zudem für den blinden Mann „Lebensgefahr“2226 bestanden, da sich das Haus bzw. der Zugang in einer tiefen Grube befunden hätte. Als Grünwald den zuständigen Referenten der NS-Stadtverwaltung darauf hinwies, verweigerte ihm dieser die Zuweisung einer anderen Wohnung. Der Kriegsblinde befürchtete daher eine Zwangsdelogierung. Der Hilfsverband der jüdischen Kriegsopfer forderte das zuständige Magistrat auf, „die Sache so zu regeln, wie man es [bei] einem Kriegsblinden tun soll.“2227 Auf Grund der von der NS-Propaganda versprochenen privilegierten Behandlung von nichtjüdischen Kriegsblinden unter dem NS-Regime war auch unter den Teilnehmern des Ersten Weltkrieges jüdischer Herkunft der fatale Irrglaube verbreitet, das NS-Regime würde die Kündigungen eventuell rückgängig machen.2228 Am 23. Dezember 1938 endete für Grünwald die Verlängerung der Räumungsfrist. Die zuständige Magistratsabteilung beschloss die Räumung der Wohnung.2229 Am 10. Jänner 1939 wurde die Wohnung an Josef Mazulanik neu vermietet. Mazulanik war SA-Mitglied seit 1934. Dieser hatte sich bereits am 23. November 1938 an Gauleiter Bürckel gewandt und sich darüber beschwert, dass einem „Juden“2230 mehrfach Aufschub bei der Räumung der ihm vom Wohnungsamt Wien zugesagten Wohnung gewährt wurde.2231 Dass Julius Grünwald kein Einzelfall war, sondern auch andere Kriegsblinde eine längere Räumungsfrist bekamen, zeigen die Recherchen von Herbert Exenberger zu Samuel Unger. Der 1875 Geborene war 1916 an der italienischen Front in den Karnischen Alpen erblindet. 1930 war er in eine Wohnung der kommunalen Wohnhausanlage im 10. Wiener Gemeindebezirk, Laxenburgerstraße 49–57, Stiege 7, Tür 4 gezogen. Auch Unger sollte wie andere blinde MieterInnen bis 1. August 1938 seine Wohnung in dem Gemeindebau verlassen. Unger bekam eine Aufschiebung bis 15. August 1938. Danach brachte ihn die NS-Stadtverwaltung in einer „Sammelwohnung“ mit anderen Menschen jüdischer Herkunft im 2. Bezirk, Große Sperlgasse 6 unter. Die hier beschriebenen Ausnahmeregelungen bei den Kündigungsverfahren für ehemalige Soldaten des Ersten Weltkrieges jüdischer Herkunft beruhten auf keiner Richtlinie. Der Erlass einer solchen war zwar laut den Recherchen von Exenberger, Koß und Ungar-Klein von der Magistratsabteilung 21/1 angedacht, wurde aber nie erlassen.2232 Die Zuweisung von desolaten Ersatzwohnungen und die Gewährung längerer Kündigungsfristen waren dementsprechend die einzigen Zugeständnisse an die Teilnehmer des Ersten Weltkrieges 2226 DÖW, M. Abt. 21, XVI A/5/38, Hilfsverband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen in Wien an die Magistratsabteilung 21 vom 25.8.1938, Betreff: Kriegsbeschädigter Julius Grünwald. 2227 DÖW, M. Abt. 21, XVI A/5/38, Hilfsverband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen in Wien an die Magistratsabteilung 21 vom 25.8.1938, Betreff: Kriegsbeschädigter Julius Grünwald. 2228 Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 64. 2229 Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, XV/A/5/38, Dienstzettel an die M. Abt. 21/I Verwaltung vom 23.12.1938, Betreff: Julius Grünwald, Delogierung der Partei. 2230 DÖW, Wiener M. Abt. 21, XV/A/5/38, Josef Mazulanik an Reichskommissar Gauleiter Bürckel vom 23.11.1938, Betreff: Wohnung im Gemeindebau. 2231 Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, XV/A/5/38, Josef Mazulanik an Reichskommissar Gauleiter Bürckel vom 23.11.1938, Betreff: Wohnung im Gemeindebau. 2232 Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 67. 303 und erfolgten willkürlich. Samuel Unger wurde, wie andere Kriegsblinde,2233 am 20. August 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er am 8. April 1944 starb.2234 3.3.2 Die Kündigung von Trafiklizenzen „Ich der vielfach ausgezeichnete Frontsoldat muss als Bettler durch die Gassen schleichen.“2235 Die im vorangegangenen Kapitel bereits vorgestellten Kriegsblinden Grünwald und Unger verloren nach dem „Anschluss“ nicht nur ihre Gemeindewohnung, sondern auch ihre wirtschaftliche Existenz: Sie waren zwei von insgesamt zwölf Kriegsblinden, die nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ als Juden galten und nach dem Ersten Weltkrieg, wie viele andere Kriegsblinde,2236 eine Trafik erhalten hatten.2237 Mit dem Erlass V 1046-192 II vom 9. November 1938 verfügte der Reichsminister für Finanzen die Kündigung aller „jüdischen Vertragspartner“ der staatlichen Tabakmonopolverwaltung „ohne Ausnahme“.2238 Als Kündigungsgrund wurde die „Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse“2239 angegeben. Insgesamt wurden 1938 circa 90 Trafiken, die von BürgerInnen jüdischer Herkunft geführt wurden, gekündigt.2240 Ob unter ihnen auch Zivilblinde waren, ist nicht bekannt. Obwohl der Reichsminister für Finanzen die entsprechende Kundmachung erst am 9. November 1938 erlassen hatte, war den Betroffenen bereits unmittelbar nach dem „Anschluss“ mitgeteilt worden, dass sie ihre Trafiken verlieren würden. Dies geht aus den Schreiben hervor, die Trafikanten jüdischer Herkunft an diverse NS-Stellen richteten, um den Verlust ihrer Geschäfte zu verhindern.2241 2233 Vgl. Kapitel IV.6.3.; Vgl. Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 298; Exenberger, Jüdische Blinden in Wien. 2234 Vgl. Exenberger, 1916 erblindet am Cellon; DÖW, Opferdatenbanken, Shoa-Opfer, <http://de.doew. braintrust.at/db_shoah_41380.html>, Download am 19.04.2009. 2235 CAHJP, A/W 2878,2, HMB 3374, o. Nr., Korrespondenz Verband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen in Wien (1939)-7.3.1941, David Diener, Kriegsblinder, an das Reichsministerium für Wirtschaft und Arbeit vom 14.12.1939, Betreff: Bitte eines Kriegsblinden. 2236 Vgl. Kapitel III.5.1, III.5.5. 2237 Vgl. ÖStA, AdR, Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich RK 104 b (2150/2), zitiert in: Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 74. Diese Quelle war im Bestand des ÖStA nicht auffindbar. Dieselbe Information gibt aber folgende Quelle: ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/1, Mitglied der S. d. P. Ortsgruppe Troppau an Herrn Doktor vom 3.5.1938, Betreff: Gesuch und Verzeichnis von 12 Kriegsblinden und 2 Hilfslosen nichtarischen Trafikanten. 2238 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/2, Reichsfinanzministerium Abwicklungsstelle Österreich, Zl. 22678-22/1938, Rundschreiben an alle Oberfinanzpräsidenten vom 10.11.1938, Betreff: Ausscheiden der Juden aus dem staatlichen Tabakverschleißmonopol in Oesterreich. 2239 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/2, Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten, Abteilung I, Zl. 104.367-I/39, An Reichsminister des Inneren vom 18.2.1939, Betreff: Ausscheiden der Juden aus dem staatlichen Tabakverschleißmonopol. 2240 Vgl. Pawlowsky, Leisch-Prost, Klösch, Vereine im Nationalsozialismus, S. 186. 2241 In der Studie von Exenberger, Koß und Ungar-Klein ist noch ein Schreiben von Hans Hirsch an den nationalsozialistischen Justizminister zitiert, der angeblich auch im ÖStA archiviert ist. In dem entsprechenden Akt konnte das Schreiben allerdings nicht gefunden werden. Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, 304 Hans Kauders, ein „nichtarischer, schwerbeschädigter Frontkämpfer“2242 des Ersten Weltkrieges, wandte sich beispielsweise bereits am 29. April 1938 an Gauleiter Bürckel. Aus dem Schreiben geht hervor, dass dem „Hauptmann des Ruhestandes“ und weiteren 40 bis 50 „nichtarischen“ Kriegsopfern von „berufener Stelle“ bereits mitgeteilt worden war, dass ihnen die Trafiklizenzen entzogen werden sollten.2243 Kauders empfand dies als Katastrophe: „Die mir im Februar 1917 verliehene Trafik-Lizenz, […] soll mir nunmehr mit Rücksicht auf die nationalsozialistische Neuordnung Deutschoesterreichs entzogen werden, was für mich der vollständige Ruin ist, da ich als 58 jähriger, einbeiniger KriegsKrüppel keine Möglichkeit habe, mein tägliches Brot auf andere Weise zu verdienen oder auszuwandern.“2244 Unter den gekündigten kriegsblinden Trafikbesitzern befand sich auch der Rechtsanwalt David Schapira, ein Kriegsblinder des Ersten Weltkrieges. In seiner unveröffentlichten Autobiographie beschrieb er, wie sich sein Leben und seine wirtschaftliche Existenz innerhalb weniger Monate nach dem „Anschluss“ 1938 dramatisch veränderten: „Meine Söhne mußten mit Ende des Schuljahres das staatliche Realgymnasium verlassen. Meine wirtschaftliche Existenz wurde schwer erschüttert. So durfte ich meine Trafik überhaupt nicht betreten, der angestellten Verkäuferin keinerlei die Geschäftsführung betreffende Weisungen geben und den bis dahin monatlich erstellten Gewinn nicht beheben. […] Gleich meinen Kollegen jüdischer Abstammung wurde ich aus der Liste der Rechtsanwaltskammer gestrichen und durfte arische Klienten nicht mehr vertreten.“2245 Ein weiterer Kriegsblinder, der gegen die Kündigung seiner Trafik intervenierte, war David Diener. Er war allerdings ein Sonderfall, denn er bezog im Gegensatz zu den anderen Betroffenen 1938 keine Kriegsopferrente. Dies hing damit zusammen, dass Diener nicht während des Ersten Weltkriegs, sondern erst Jahre später, zu einem nicht bekannten Zeitpunkt, an den Folgen seiner von einer „Gasgranate“2246 verursachten Verletzung erblindet war. Die weiteren Umstände seiner Erblindung sind allerdings nicht bekannt.2247 In der Zeit des Kündigungsgrund Nichtarier, S. 73–74; ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/1, Hans Kauders an Gauleiter und Reichskommissar Bürckel vom 29.4.1938, Betreff: Entzug seiner Trafik. 2242 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/1, Hans Kauders an Gauleiter und Reichskommissar Bürckel vom 29.4.1938, Betreff: Entzug seiner Trafik. 2243 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/1, Hans Kauders an Gauleiter und Reichskommissar Bürckel vom 29.4.1938, Betreff: Entzug seiner Trafik. 2244ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/1, Hans Kauders an Gauleiter und Reichskommissar Bürckel vom 29.4.1938, Betreff: Entzug seiner Trafik. 2245 Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 27. 2246CAHJP, A/W 2878, HMB 3374, o. Nr., Verband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen in Wien, Korrespondenz 1939 – 07.03.1941, David Diener, Kriegsblinder, an das Reichsministerium für Wirtschaft und Arbeit vom 14.12.1939, Betreff: Bitte eines Kriegsblinden. 2247 Infolge des Einsatzes von chemischen Kampfstoffen im Ersten Weltkrieg kam es nur in Ausnahmefällen zu Erblindungen. Bekannt ist aber, dass es durch den Einsatz von Stoffen wie beispielsweise Phosgen oder Gelbkreuz durchaus zu Veränderungen der Netzhaut und/oder Beeinträchtigungen des Sehnervs bei Soldaten, welche durch diese Kampfmittel verwundet wurden, kommen konnte. Es ist möglich, dass Diener 305 autoritären „Ständestaates“ war dem Wiener aber auf Grund dieser Umstände eine Invalidenrente verwehrt worden. Um seine Versorgung trotzdem sicherzustellen, bekam er in dieser Zeit eine Tabaktrafik verliehen. Diener hoffte nun 1938 zunächst nicht nur, diese Kündigung seiner Trafik rückgängig machen zu können, sondern darüber hinaus vom NSRegime wieder eine Rente zugesprochen zu bekommen. Dies kommt in einem Schreiben, das Diener am 14. Dezember 1939 an das „Reichsministerium für Wirtschaft und Arbeit“ richtete, zum Ausdruck: „Als der Umbruch kam und die neuen Invalidenorganisationen eingerichtet wurden, gaben alle in Betracht kommenden Herren damals ihrer Meinung Ausdruck, daß Gross-Deutschland diesen von der Systemregierung in Anspruch genommenen Revers sicherlich ablehnen werde, weil die Kriegsbeschädigten – besonders so schwer betroffene Kriegsbeschädigte – in Gross-Deutschland anders gewürdigt werden, als von der verflossenen Systemregierung.“2248 Dies war allerdings ein Irrtum: Das NS-Regime gewährte ihm nicht nur keine Rente, sondern entzog David Diener seine einzige Existenzgrundlage, das Tabakgeschäft. Dementsprechend war der Kriegsblinde 1939 völlig ohne Einkommen. In bescheidenem Rahmen erhielt Diener, wie andere Kriegsblinde jüdischer Herkunft, zwischen 1940 bis 1942 finanzielle Unterstützung durch die „Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden“2249 und die Fürsorgezentrale der IKG Wien.2250 Am 20. August 1942 wurde Diener nach Theresienstadt deportiert, wo er am 17. Juni 1943 starb.2251 Bei den Abwicklungen der Kündigungen von Tabaktrafiken von schwer kriegsgeschädigten Menschen jüdischer Herkunft gab es allerdings wiederum eine von der Norm abweichende Behandlung dieser Gruppe. Dies entsprach einer Weisung des Reichsfinanzministeriums. Einem Aktenvermerk in den Dokumenten des Reichskommissariats für die „Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ vom Mai 1938 ist zu entnehmen, dass Folgendes bestimmt wurde: „Bei der Entziehung von Lizenzen gegenüber schwer kriegsbeschädigten Juden sind Härten zu vermeiden.“ 2252 Ursprünglich scheint sogar geplant gewesen zu sein, festzulegen, dass bei diesen „Zwangsarisierungen“ zunächst keine Gewalt angewendet werden sollte. Auf dem Aktenvermerk befand sich der Hinweis: „Bis auf weiteres ist von Erziehungsmassnahmen [sic!] abzusehen.“ 2253 Dieser Satz wurde nachdementsprechend zu den wenigen Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges gehörte, bei denen es bei der Abheilung zu Komplikationen kam und die daraufhin erblindeten. Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 40–43. 2248 CAHJP, A/W 2878, HMB 3374, o. Nr., Verband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen in Wien, Korrespondenz 1939–07.03.1941, David Diener, Kriegsblinder, an das Reichsministerium für Wirtschaft und Arbeit vom 14.12.1939, Betreff: Bitte eines Kriegsblinden. 2249 Vgl. Kapitel IV.5.2.1. 2250 Vgl. CAHJP, A/W 1907, HMB 3069, Nr. 0862 und 0956, Kriegsopferverband, Selbsthilfegruppen der jüdischen Krüppel, betreffend Gewährung von Unterstützungsbeiträgen an Mitglieder dieser Verbände durch die Fürsorgezentrale 1940–1942. 2251 Vgl. DÖW, Opferdatenbanken, Shoa-Opfer, <http://de.doew.braintrust.at/db_shoah_22102.html>, Download am 27.4.2009. 2252 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/1, Aktenvermerk Gauleiter Bürckel ab 4.5.1938, Betreff: schwer kriegsbeschädigte jüdische Trafikanten. 2253 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/1, Aktenvermerk Gauleiter Bürckel ab 4.5.1938, Betreff: schwer kriegsbeschädigte jüdische Trafikanten. 306 träglich allerdings von Hand durchgestrichen und das Dokument durch einen anderen Vermerk ergänzt. Demnach sollten den jüdischen Kriegsgeschädigten lediglich „längere Übergangsfristen“ 2254 gewährt werden. In einem Rundschreiben an alle Oberfinanzpräsidenten und Zweigstellen des Reichsfinanzministeriums „Abwicklungsstelle Oesterreich“ vom 10. November 1938 wurde bestimmt, dass im Zuge der Kündigungsmaßnahmen „schwerkriegsbeschädigten Juden“ mitzuteilen sei, sie sollten sich an die zuständige „Kriegsopferversorgung u.s.w.“ wenden.2255 3.3.3 Die Behandlung Kriegsblinder durch das NS-Regime „Ihnen kann doch nichts geschehen, einem Kriegsblinden wird selbst Hitler nichts zuleide tun.“2256 In der NS-Zeit existierte, wie bereits geschildert, 2257 unter den Kriegsblinden und anderen Schwerkriegsgeschädigten des Ersten Weltkrieges jüdischer Herkunft die Auffassung, das NS-Regime würde sie als ehemalige „Frontkämpfer“ von Repressalien verschonen und weiterhin versorgen. Der „Verband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen“ intervenierte daher für seine Klientel gemeinsam mit dem „Reichsbund deutscher Frontkämpfer“ nicht nur bei diversen Stellen in Berlin, sondern sogar bei Hitler selbst. 2258 Zu den Kriegsblinden, die glaubten, trotz der mannigfaltigen Repressalien gegen Menschen jüdischer Herkunft unter dem NS-Regime eine Existenzberechtigung zu haben, zählte der bereits erwähnte Kriegsblinde Rechtsanwalt David Schapira. 1938 war Schapira wie andere Rechtsanwälte jüdischer Herkunft aus der Liste der Reichsanwaltskammer gestrichen worden.2259 Der Wiener gehörte allerdings zu den wenigen jüdischen Rechtsanwälten, die zu „Konsulenten“ ernannt wurden, dass heißt, sie durften keine „arischen“ KlientInnen, aber andere Menschen, die als Jüdinnen und Juden galten, vertreten. „Als schwerkriegsbeschädigter, mehrfach dekorierter altösterreichischer Frontoffizier wurde auch ich dieses ‚Privilegs‘ teilhaftig.“2260 Insgesamt gab es nach Schätzungen von Friedrich Kübel nur 50 solcher Anwälte in der „Ostmark“.2261 Schapira vertrat in der Folge vor allem andere Kriegsgeschädigte des Ersten Weltkrieges jüdischer Herkunft. 2254 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/1, Aktenvermerk Gauleiter Bürckel ab 4.5.1938, Betreff: schwer kriegsbeschädigte jüdische Trafikanten. 2255 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/2, Reichsfinanzministerium Abwicklungsstelle Österreich, Zl. 22678-22/1938, Rundschreiben an alle Oberfinanzpräsidenten vom 10.11.1938, Betreff: Ausscheiden der Juden aus dem staatlichen Tabakverschleissmonopol in Oesterreich. 2256 Marcus, Ein Schicksal dieser Zeit, S. 40. [Exilpresse digital, <http://deposit.ddb.de/online/exil/exil.htm>.] 2257 Vgl. Kapitel IV.3.3. 2258 Vgl. CAHJP, A/W 178,2, Brief des Verbandes der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen in Wien, gezeichnet Benzion Lasar, an Josef Löwenherz vom 14.19.1939, zitiert in: Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 78. 2259 Vgl. Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 27; weiterführend: Friedrich Kübel, Geschichte der jüdischen Advokaten und Rechtsgelehrten in Österreich, in: Gold, Geschichte der Juden in Österreich, S. 117–125. 2260 Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 27. 2261 Vgl. Kübel, Geschichte der jüdischen Advokaten und Rechtsgelehrten, S. 117–125, hier S. 123. 307 „Es war recht schwierig und zuweilen auch nicht ungefährlich, im Dschungel judenfeindlicher Gesetze und Verordnungen und noch mehr willkürlicher Aktionen staatlicher und nationalsozialistischer Funktionäre als Konsulent jüdische Klienten zu vertreten.“2262 Schapira erhielt das Mandat für seine Tätigkeit vom „Hilfsverband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen“. Trotz der von ihm angedeuteten Schwierigkeiten schreibt Schapira an anderer Stelle in seinen Erinnerungen: „Als Vertreter dieses Verbandes intervenierte ich bei den auf Grund des deutschen Kriegsopferversorgungsgesetzes in Österreich eingerichteten Versorgungsämtern. Diese waren im Allgemeinen korrekt, insbesondere hinsichtlich der Zuerkennung der im Versorgungsgesetz festgelegten Renten und sonstigen Leistungen.2263 Diese Einschätzung Schapiras widerspricht allerdings anderen Dokumenten aus der NSZeit. Herbert Rosenkranz berichtete beispielsweise in seinem 1978 publizierten Buch über die Verfolgung von Menschen jüdischer Herkunft in Österreich von dem Schwerkriegsgeschädigten Richard Marcus, dem „mit vielen anderen jüdischen Kriegsopfern“2264 ab 1. Jänner 1939 keine Rente mehr ausgezahlt wurde. Marcus war allerdings versorgungsrechtlich ein Sonderfall, wie der bereits erwähnte David Diener. Der Soldat des Ersten Weltkrieges hatte erst nach Ende des Krieges auf Grund eines Lungenschusses eine posttraumatische Epilepsie erlitten und nach Angaben von Rosenkranz war daher seine Kriegsopferrente bereits am 1. Oktober 1937 in einen Krankenbezug umgewandelt worden.2265 An anderer Stelle findet sich der Hinweis, dass zwar nicht allen Kriegsopfern jüdischer Herkunft weitere Rentenauszahlungen verwehrt worden sind, es allerdings zu Kürzungen der Bezüge gekommen sei.2266 Zudem wurde Druck auf die Bezieher von Kriegsopferrenten jüdischer Herkunft ausgeübt. 1939 mussten alle Kriegsgeschädigten ein Formblatt ausfüllen, das unter anderem die diskriminierende Frage enthielt: „Sind Sie arischer Abstammung und haben Sie Nachweis darüber?“2267 Spätestens ab 1940 waren die Kriegsblinden jedenfalls wie andere blinde Menschen so verarmt, dass sie sporadisch Unterstützungszahlungen von der IKG Wien erhielten. So erschienen etwa die Kriegsblinden Naftali Kaminker, David Diener und Leo Goldapper auf einer Liste der Fürsorgezentrale der IKG Wien, auf der blinde Menschen verzeichnet waren, die zwischen dem 19. und 28. August 1940 Unterstützungen in der Höhe von vier bis maximal zwölf RM erhalten hatten.2268 David Schapira ging in seiner Autobiographie auf diese Pauperisierung von Kriegsopfern des Ersten Weltkrieges nicht ein. Ausführlich behandelt er dagegen eine weitere 2262 Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 27. 2263 Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 29. 2264Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 200. 2265 Vgl. Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 200. 2266 Vgl. Tepperberg, Oberst Otto Grossmann, S. 319–333, hier S. 325. 2267 Tepperberg, Oberst Otto Grossmann, S. 319–333, hier S. 325. 2268 Vgl. CAHJP, A/W 1907, HMB 3069, Nr. 0862 und 0956, Kriegsopferverband, Selbsthilfegruppen der jüdischen Krüppel, betreffend Gewährung von Unterstützungsbeiträgen an Mitglieder dieser Verbände durch die Fürsorgezentrale 1940–1942. 308 Schikane des NS-Regimes, die Schapira kurioserweise als eine „befremdliche Ausnahme“2269 der ansonsten seiner Meinung nach rechtskonformen Vorgangsweise der NS-Behörden bewertete: Den jüdischen Kriegsteilnehmern des Ersten Weltkrieges wurde das Tragen von Kriegsauszeichnungen verboten.2270 Schapira selbst wehrte sich gegen diese Bestimmung, aber er erhielt am 28. August 1939 vom Wiener Versorgungsamt II die endgültige Mitteilung, dass ihm das Tragen des Verwundetenabzeichens wegen „Abstammungsgründen“2271 nicht mehr erlaubt sei.2272 Die Betroffenen empfanden diese Bestimmung deshalb als tragisch, weil sie wie Schapira hofften, durch das Tragen dieser Abzeichen „einen gewissen Schutz vor Schikanen“2273 zu genießen. Obwohl Schapira, wie hier geschildert, die Diskriminierungen und Verfolgungsmaßnahmen gegen Kriegsblinde und andere Kriegsopfer jüdischer Herkunft kannte, erwartete er nach eigenen Angaben weiterhin, dass das NS-Regime ihn vor dem Abtransport aus Wien verschonen würde. „Ich selbst hoffte durch meine Tätigkeit als jüdischer Konsulent und als Rechtsvertreter des jüdischen Kriegsopferverbandes, sowie auf Grund meiner Kriegserblindung von der Deportation nach Polen verschont zu bleiben.“2274 David Schapira wurde wie viele andere Kriegsblinde und Schwerkriegsgeschädigte jüdischer Herkunft 2275 1942 gemeinsam mit seiner Frau nach Theresienstadt deportiert.2276 Die Illusion, das NS-Regime würde Kriegsopfer des Ersten Weltkrieges jüdischer Herkunft versorgen und nicht deportieren, war aber nicht nur in der „Ostmark“, sondern auch im „Altreich“ weit verbreitet. Dies zeigt ein Bericht über den deutschen Kriegsblinden Fritz Simon, der 1947 in der Zeitschrift „Der Auf bau“ erschien.2277 Der in Frankfurt zum Dr. jur. promovierte Simon wollte nach der Machtübertragung 1933 in die Schweiz fliehen, wurde dort aber nicht aufgenommen. In Genf und Zürich teilten ihm verschiedene Stellen mit, er solle in Deutschland bleiben, da er dort durch seine Kriegsopferrente versorgt sei. Auch in der Schweiz herrschte die Meinung vor, das NSRegime würde einem Kriegsblinden „nichts zuleide tun“ 2278. Simon musste daher nach Deutschland zurückkehren. Dort erhielt er von den NS-Behörden die Ausnahmegenehmigung, sein „arisches“ Dienstmädchen unter 45 Jahren zu behalten, bekam also im Vergleich zu anderen BürgerInnen jüdischer Herkunft eine bevorzugte Behandlung. 1942 wurde er gemeinsam mit seiner im sechsten Monat schwangeren Frau nach Theresienstadt deportiert. Das Kind kam dort zur Welt. Der Familie glückte es, trotz der 2269 Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 30. 2270 Vgl. Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 30. 2271 Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 30. 2272 Vgl. Exenberger, Jüdische Blinde in Wien. 2273 Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 30. 2274 Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 30. 2275 Vgl. Kapitel IV.6.3. 2276 Ihre beiden Kinder hatten sie zuvor am 7. August 1939 nach England in Sicherheit gebracht. Vgl. Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 28. Das Ehepaar überlebte und kehrte nach dem Krieg nach Wien zurück. Vgl. Kapitel IV.7. 2277 Vgl. Marcus, Ein Schicksal dieser Zeit, S. 40. 2278 Marcus, Ein Schicksal dieser Zeit, S. 40. 309 denkbar unwürdigen Verhältnisse dort zu überleben, und sie emigrierte mit Hilfe der „Guild of Jewish Blind“ 1947 in die USA. 2279 Wie Fritz Simon erhielten die meisten Kriegsblinden keine Chance zu fliehen. Die USA lehnten beispielsweise die Ersuchen um Einwanderung von Schwerkriegsgeschädigten jüdischer Herkunft einheitlich ab.2280 Hintergrund dieser Entscheidung war allerdings nicht nur die Auffassung, dass das NS-Regime ehemalige „Frontkämpfer“ des Ersten Weltkrieges weiterhin versorgen würde, sondern die Befürchtung der potentiellen Einreiseländer, Menschen mit einer Beeinträchtigung könnten nicht selbst für sich sorgen. Max Waldmann, ein deutscher ehemaliger Unteroffizier der Reserve, der nach einer im Ersten Weltkrieg erlittenen Kopfverletzung linksseitig erblindet und gehörlos war, wurde im Herbst 1939 die Einreise in die Vereinigten Staaten mit folgender Begründung des zuständigen Konsul in Stuttgart verweigert: „Weil Maximilian Waldmann für Deutschland gekämpft hat, soll Deutschland auch für ihn sorgen.“2281 Die NS-Machthaber gewährten Kriegsblinden jüdischer Herkunft zwar, wie hier bereits aufgezeigt wurde, tatsächlich eine nachsichtigere Behandlung. Auf Grund ihrer jüdischen Herkunft zählten aber auch sie zu den unter der NS-Diktatur verfolgten Menschen. Grund für die in manchen Bereichen erfolgte Sonderbehandlung von Kriegsopfern jüdischer Herkunft war offenbar ein gewisser öffentlicher Druck von verschiedenen Seiten. Raul Hilberg schrieb dazu 1961: „The war veterans had an argument which was so powerful that it did not have to be made at all: they had fought for Germany. Every German understood that argument.“2282 Wie in Kapitel IV.6 noch aufgezeigt werden wird, gab es 1941 und 1942, als die großen Deportationen aus Wien begannen, tatsächlich einige bekannte Fürsprecher, die vergeblich versuchten, Kriegsblinde und andere ehemalige Teilnehmer des Ersten Weltkrieges jüdischer Herkunft von den Transportlisten streichen zu lassen. Letztendlich führte die Sorge des NS-Regimes über die öffentliche Meinung dazu, dass bei der Besprechung über die „Endlösung der Judenfrage“ am 20. Jänner 1942 am Wannsee festgelegt wurde, dass die „schwerkriegsbeschädigten Juden und Juden mit Kriegsauszeichnung“ im „Altersghetto“ Theresienstadt unterkommen sollten.2283 In der Begründung dazu hieß es: „Mit dieser zweckmäßigen Lösung werden mit einem Schlag die vielen Interventionen ausgeschaltet.“2284 Die Bezeichnung „Ghetto“ verschleierte allerdings nur die tatsächliche Funktion Theresienstadts als „Sammel- und Dezimierungslager“,2285 das auch als Durchgangslager für weitere Deportationen in Vernichtungslager diente.2286 2279 Vgl. Marcus, Ein Schicksal dieser Zeit, S. 40; Institut Theresienstädter Initiative, Theresienstädter Gedenkbuch. S. 264. 2280 Vgl. Schmidt, Zürndorfer-Waldmann, S. 177–189, hier S. 183. 2281 Schmidt, Zürndorfer-Waldmann, S. 177–189, hier S. 183. 2282 Hilberg, Destruction, p. 278. 2283 Vgl. Das Wannsee-Protokoll vom 20.1.1942, <http://www.ns-archiv.de/verfolgung/wannsee/wannsee-konferenz.php>, Download am 25.4.2009. 2284 Das Wannsee-Protokoll vom 20.1.1942, <http://www.ns-archiv.de/verfolgung/wannsee/wannsee-konferenz.php>, Download am 25.4.2009. 2285 Tepperberg, Oberst Otto Grossmann, S. 319–333, hier S. 329. 2286 Vgl. Kapitel IV.6.4. 310 3.3.4 Sonderfall: Hans Hirsch (24.5.1898–2.8.1970) „Dann nannten ihn [Hans Hirsch] die Nazis Israel Und stahlen ihm nebstbei den Tabakladen; […] Wenn er noch lebt, so sei er Gott befohlen, In Wien noch, oder schon in Polen.“2287 In der Zeit der Verfolgung blinder Menschen jüdischer Herkunft gab es unter den Kriegsblinden einen Ausnahmefall: Hans Hirsch konnte als einziger im Ersten Weltkrieg erblindeter Mann jüdischer Herkunft zwischen 1938 und 1945 in Wien überleben. Hirsch war der wichtigste Proponent des 1919 gegründeten Kriegsblindenverbandes.2288 Hirschs Tätigkeit als Obmann dieser Organisation – er hatte im Ersten Weltkrieg nicht nur sein Augenlicht, sondern auch beide Hände verloren – endete bereits in der Zeit des autoritären „Ständestaates“.2289 Nach dem „Anschluss“ durfte Hirsch auf Grund seiner jüdischen Herkunft nicht der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ beitreten. Über die Zeit in den 1930er Jahren bis 1945 schrieb Hirsch in der 1959 erschienen Jubiläumsschrift des Kriegsblindenverbandes: „Ich war gezwungen, meine Tätigkeit im Verband aufzugeben, und im weiteren Verlauf mußte ich sogar als Mitglied aus der Organisation ausscheiden. Es zählte jedoch zu meinen schönsten Erinnerungen, daß auch in diesen Zeiten Kameraden den Weg zu mir fanden und ich ihnen mit meinem Rat dienen konnte. So blieb die Verbindung auch während des zweiten Krieges bestehen.“2290 Weitere Aussagen von ihm über seine Zeit als Kriegsblinder in Wien zwischen 1938 bis 1945 sind nicht überliefert. Seine Frau, Ada Hirsch, dürfte allerdings die Verfasserin eines undatierten Berichtes über das Leben als Frau an der Seite eines Kriegsblinden sein, der in der Publikation von Otto Jähnl wiedergegeben ist.2291 Warum die Autorin an dieser Stelle nicht explizit genannt ist, konnte nicht eruiert werden. Der Inhalt des Beitrages ließ aber Rückschlüsse zu, die darauf hinweisen, dass dieser Beitrag von Ada Hirsch stammt. In diesem Bericht steht über die Zeit nach dem „Anschluss“: „Freilich waren unter den ‚Alten‘ [Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges] auch solche, die bei der Wahl ihrer Eltern nicht vorsichtig genug gewesen waren, die nun keine ‚Kameraden‘ mehr waren, die sich plötzlich ohne Vaterland fanden, denen trotz Blutopfer und Blindheit über Nacht alles Heldentum, die Wehrwürdigkeit [sic!] abgesprochen wurde. Bei denen Teile der Rente ‚Kann‘bestimmungen [sic!] wurden, deren Geschäfte enteignet und deren Menschenrechte mit Füßen getreten wurden.“2292 2287 Ernst Waldinger, Geschichte eines Kriegsblinden, in: Ders., Die kühlen Bauernstuben, S. 64. [Verfasst am 24. August 1942.] 2288 Vgl. Kapitel III.10.2. 2289 Vgl. Menzel, Ein Rückblick, S. 69–70; Kapitel III.3.1. 2290 Hirsch, Verband der Kriegsblinden Österreichs, S. 31–36, hier S. 33. 2291 Vgl. [Ada Hirsch], Der Mensch ist gut!?, in: Jähnl, Kriegsblinden, S. 168–171. 2292 [Ada Hirsch], Der Mensch ist gut!?, in: Jähnl, Kriegsblinden, S. 168–171, hier S. 169 [Dass sie diesen Beitrag verfasst hat, kann als gesichert angenommen werden.] 311 Im August 1942 verfasste der ebenfalls im Ersten Weltkrieg schwer verwundete spätere Lyriker und Essayist Ernst Waldinger, der 1938 auf Grund seiner jüdischen Herkunft aus Wien nach New York geflohen war, ein Gedicht über Hans Hirsch. Darin dokumentiert er die Repressalien des NS-Regimes gegen diesen Kriegsblinden. Demnach bekam Hirsch wie alle Menschen jüdischer Herkunft den Beinnamen Israel, verlor seine Tabakfabrik und musste mit der ständigen Gefahr leben, in die Vernichtungslager deportiert zu werden.2293 Weitere Auskünfte über das Leben von Hans Hirsch in Wien zwischen 1938 und 1945 geben nur wenige Dokumente des HVA „Ostmark“ im ÖStA. Unterlagen von anderen Kriegsblinden jüdischer Herkunft finden sich in diesem Bestand nicht. Bereits der Versorgungsakt von Hirsch zeigt seine Stigmatisierung unter dem NS-Regime: Auf dem Titelblatt befand sich ein gemalter Judenstern. Laut einem Schreiben des HVA Wien vom 3. April 1944 galt Hirsch als „Volljude“ und zählte zu den „schwerstbetroffenen Kriegsbeschädigten des 1. Weltkrieges“ und „da er in einer Mischehe lebt[e]“, war er „der einzige jüdische Kriegsblinde im Gebiete des Reichsgaues Wien“.2294 Er erhielt eine Rente nach dem RVG.2295 Wie andere Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges hatte er die Bezüge eines „Erwerbsunfähigen mit der höchsten Stufe der Pflegezulage.“2296 Er bekam zudem die Frontzulage, die am 1. April 1943 von 429 auf 434 RM erhöht wurde.2297 Trotz seiner weitreichenden körperlichen Behinderungen meldete er sich 1942, laut Angaben seiner Frau Ada Hirsch, angeblich „freiwillig“ zum „Arbeitseinsatz als Angestellter der Firma Erwin Horacek, ostmärkische Blindenwerkstätte für Fussmattenerzeugung in Wien II. Leopoldgasse 6–8“.2298 Er fungierte dort als „Geschäftsführer der Judenabteilung“.2299 Da es Maschinen gab, die mit Fußpedalen bedient werden konnten, fanden auch Kriegsblinde „Ohnhänder“2300 eine Betätigung in Handwerks- und Industriebetrieben.2301 Bis März 1944 konnte das Ehepaar Hirsch gemeinsam mit ihren zu diesem Zeitpunkt zehn und acht Jahre alten Kindern in ihrer Wohnung im 1. Wiener Gemeindebezirk, Kleeblattgasse 4, die sie seit ihrer Eheschließung 1926 bewohnten, verbleiben. Erst am 20. März 1944 erhielt das Ehepaar von der Gemeindeverwaltung des NS-Reichsstatthalters in Wien die Aufforderung, binnen acht Tagen ihre Wohnung zu räumen. Sie sollten zwangsweise mit einem ebenfalls in einer „Mischehe“ lebenden Ehepaar zusammenziehen.2302 2293 Vgl. Waldinger, Geschichte eines Kriegsblinden, S. 64. 2294 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H., GZ VI A – Bl/W/1944, HVA Wien an die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien, Hauptabteilung H, Dienststelle des Sonderbeauftragten für die Wiedergewinnung zweckentfremdeter Wohnungen vom 3.4.1944, Betreff: Hans Israel H. 2295 Vgl. Kapitel III.2.2. 2296 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H. 2297 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H., Versorgungsamt II Wien, Grdl. Nr. H – 416.901 an das HVA Wien, eingegangen am 29.3.1943, Betreff: Kriegsblinder H. Hans Israel. 2298 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H., Ada Hirsch an den Sonderbeauftragen für die Wiedergewinnung zweckentfremdeter Wohnungen im Reichsgau Wien vom 26.3.1944. 2299 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H., Akteneinband. Bestätigt wird dies auch durch die Aussagen von Bernhard Lindmayr. Vgl. Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am 15.9.2006, Transkription S. 14. 2300Vgl. Kapitel III.1.3. 2301 Vgl. Kapitel III.4.3. 2302 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H., Reichstatthalter in Wien, Gemeindeverwaltung an Herrn H. Hans, gez. Leiter der 312 Abb. 13: Porträt von Hans Hirsch (Datum unbekannt). Dagegen legte Ada Hirsch Einspruch ein.2303 Auch ein in den Akten nicht genannter Beamter des HVA Wien wandte sich am 3. April 1944 an die Gemeindeverwaltung des „Reichsgaues Wien“, um darauf hinzuweisen, dass auf Grund der „besonderen Verhältnisse“ – gemeint war damit die schwere Kriegsverletzung Hirschs sowie die Tatsache, dass Hirsch der einzige kriegsblinde „Volljude“ zu diesem Zeitpunkt in Wien war – „von der Maßnahme der Zusammensiedlung abzusehen“ sei.2304 Offenbar zunächst mit dem Erfolg, dass Hirsch in seiner Wohnung bleiben konnte. In seinem Akt findet sich allerdings der Vermerk, dass die Wohnung am 10. September 1944 „total ausgebombt“ wurde und Hirsch mit seiner Familie in einer anderen Wohnung bei „Prof. Rothbogen“ untergekommen sei.2305 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzte Hans Hirsch seine Funktionärstätigkeit im Kriegsopferfürsorgewesen fort.2306 Zwischen 1945 und 1946 fungierte er als erster provisorischer Präsident der wieder gegründeten Kriegsopferorganisation.2307 Bereits im Mai 1945 war es Hirsch gelungen, den Kriegsblindenverband in seinen alten Statuten von 1933 zu „restituieren und die Arbeit für die vielen Neuzugänge aufzunehmen“.2308 Hauptabteilung H. Rentemeister vom 20.3.1944. 2303 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H., Ada Hirsch an den Sonderbeauftragen für die Wiedergewinnung zweckentfremdeter Wohnungen im Reichsgau Wien vom 26.3.1944. 2304 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H., GZ VI A – Bl/W/1944, HVA Wien an die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien, Hauptabteilung H, Dienststelle des Sonderbeauftragten für die Wiedergewinnung zweckentfremdeter Wohnungen vom 3.4.1944, Betreff: Hans Israel Hirsch. 2305 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H., Schreiben an Herrn Hofrat vom 26.3.1944, Betreff: Abschrift des Schreibens vom Sonderbeauftragten für zweckentfremdete Wohnung, gez. Ada Hirsch. 2306 Vgl. IV.7. 2307 Vgl. Hornung, Hierarchisierung der Opfer, S. 59–72, hier S. 64. 2308 Jähnl, Kriegsblinden, S. 117; Vgl. Ernst, 50 Jahre Kriegsopferversorgung, S. 225–320, S. 230. 313 3.4 Resümee In diesem Kapitel konnte aufgezeigt werden, wie rigoros das NS-Regime blinde Menschen jüdischer Herkunft verfolgte. Wie blinde Menschen den Verlust ihrer vertrauten Umgebung, ihrer wirtschaftlichen Existenz und den NS-Terror persönlich erlebten, konnte dabei nur ansatzweise dargestellt werden, da entsprechende persönliche Berichte von Betroffenen nicht überliefert sind. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es zudem kaum mehr blinde Menschen jüdischer Herkunft, die darüber berichten hätten können, da nur sehr wenige den Holocaust überlebten.2309 Die hier geschilderten Repressalien, so weitreichend sie auch waren, dokumentieren aber nur die ersten Jahre der Verfolgung durch das NS-Regime und damit erst den Beginn des NS-Terrors gegen Menschen jüdischer Herkunft in der Ostmark, der im Massenmord gipfelte. Diesem Schicksal konnten insbesondere blinde Menschen jüdischer Herkunft kaum entgehen, da sie nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten zur Flucht hatten, was im folgenden Kapitel erläutert wird. 2309 Vgl. Kapitel IV.7. 314 4.Die Vertreibung blinder Menschen jüdischer Herkunft Der Druck des täglichen „pseudolegalen Terrors“2310 gegen Menschen jüdischer Herkunft durch das NS-Regime führte nach dem „Anschluss“ dazu, dass auch blinde Menschen jüdischer Herkunft ihre vertraute Umgebung verlassen wollten und eine Flucht ins Ausland anstrebten. Ab August 1938 regelte die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien“ unter der Leitung von Adolf Eichmann die Vertreibung von Menschen jüdischer Herkunft aus der „Ostmark“, die meist mit einer totalen Beraubung der Betroffenen einherging.2311 Zwischen 1938 und 1945 wurden nach Berechnungen von Jonny Moser insgesamt 130.742 Menschen jüdischer Herkunft vertrieben.2312 Dem Ansinnen vieler BürgerInnen jüdischer Herkunft, die „Ostmark“ auf eine der NS-Gesetzgebung entsprechende Art und Weise zu verlassen, stellte das NS-Regime aber eine wachsende Anzahl bürokratischer Hürden entgegen.2313 Für blinde Menschen war es besonders schwer, sich ins Ausland abzusetzen. Ihre Behinderung war ein Ablehnungsgrund für Einwanderungsbehörden, entsprechende Visa auszustellen. Die Stellen befürchteten wahrscheinlich, Menschen mit einer Behinderung könnten keinem Beruf nachgehen und seien daher nicht in der Lage, in einem für sie fremden Land für ihren Lebensunterhalt selbst aufzukommen. Von diesem Schicksal betroffen war beispielsweise die 1907 in Graz geborene Gisela Kaufmann. Nach den Erinnerungen ihres Neffen Reuben Kaufmann, die er der Autorin in einer E-Mail 2008 übermittelte, war die Germanistikstudentin auf Grund eines Gehirntumors erblindet.2314 Ihre Geschwister waren bereits in den 1920er Jahren nach Kanada ausgewandert. Nach dem „Anschluss“ wollte ihr Vater Nathan Kaufmann mit seiner blinden Tochter Gisela nachkommen. Auf Grund ihrer Erblindung erhielt Gisela Kaufmann allerdings kein Visum für Kanada und ihr Vater reiste daher 1939 alleine nach Kanada.2315 Gisela Kaufmann war zur damaligen Zeit eine Ausnahmeerscheinung, da sie als blinde Frau studiert hatte. Es gab nur wenige Zivilblinde, die überhaupt die Möglichkeit hatten, eine akademische Ausbildung zu absolvieren, die meisten davon waren Männer.2316 Gisela Kaufmann promovierte am 6. Juli 1938 in Graz zur Doktorin. Ihre Dissertation hatte sie über die Gedichte von Eduard Mörike verfasst.2317 Demnach konnte sie ihr Studium rund drei Monate bevor im November 1938 jüdische Studierende und Lehrende von den Universitäten ausgeschlossen wurden abschließen. Nach der Beendigung ihres Studiums in Graz kam sie am 1. Oktober 1938 im „Israelitischen Blindeninstitut“ auf der Hohen Warte unter.2318 Dort lernte sie ihren späteren, ebenfalls blinden Ehemann Oskar Zeckendorf kennen, der 20 Jahre älter war als sie. Die beiden heirateten am 7. Mai 1941. Gisela starb am 3. Oktober 2310 Freund, Safrian, Vertreibung und Ermordung, S. 12. 2311 Vgl. Freund, Safrian, Die Verfolgung der österreichischen Juden, S. 767–794, hier S. 769. 2312 Vgl. Moser, Demographie, S. 56. 2313 Vgl. Freund, Safrian, Die Verfolgung der österreichischen Juden, S. 767–794, hier S. 770. 2314 Vgl. E-Mail von Reuben Kaufmann, <[email protected]> an: Barbara Hoffmann <info@ kriegsblinde.at>, Betreff: Re: Regarding your aunt, gesendet am 2.3.2008. 2315 Vgl. E-Mail von Reuben Kaufmann, <[email protected]> an: Barbara Hoffmann <info@ kriegsblinde.at>, Betreff: Re: Regarding your aunt, gesendet am 2.3.2008. 2316 Vgl. Kapitel II.6.6, II.10. 2317 Vgl. Kaufmann, Gedichte Mörikes. [In der Arbeit befindet sich kein Hinweis auf ihre Erblindung.] 2318 Vgl. Kapitel IV.5.3. 315 1941 in Wien an einem Gehirntumor.2319 Ihr Mann verließ daraufhin die Einrichtung auf der Hohen Warte. Am 24. September 1942 wurde er nach Theresienstadt deportiert, wo er am 28. April 1943 verstarb.2320 Abb. 14: Porträt von Gisela Kaufmann. Nur einigen wenigen blinden Menschen gelang, auf Grund der Schwierigkeiten, Visa zu erlangen, die legale Flucht. Eine Möglichkeit bot sich durch die „British Blind Jewish Society“ in London. Noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatten sich VertreterInnen der „Selbsthilfevereinigung der jüdischen Blinden Deutschlands e. V.“ und des „Israelitischen Blindeninstituts“ in Wien mit der Bitte an diesen Verein gewandt, blinden Menschen jüdischer Herkunft die Einreise nach England zu ermöglichen. Sieglind Ellger-Rüttgardt berichtete darüber in ihrem 1996 herausgegebenen Sammelwerk über die „Jüdische Heilpädagogik in Deutschland“.2321 Ihre Informationen stammen aus einem Interview mit dem Zeitzeugen Manfred Vason, der für die „British Blind Jewish Society“ als Übersetzer gearbeitet hat und selbst aus Deutschland nach England geflüchtet war. Seiner Erinnerung nach 2319 Sie wurde am 10. Oktober 1941 am Wiener Zentralfriedhof, Neuer jüdischer Friedhof (Tor IV) Gruppe 22, Reihe 9, Grab 25 beerdigt. [Weitere Informationen zu Gisela Kaufmann und Oskar Zeckendorf können in den Matriken und dem Friedhofsbuch der IKG Wien recherchiert werden.] 2320 Die biographischen Daten konnte Reuben Kaufmann auch in Zusammenarbeit mit Herbert Exenberger vom DÖW 2006 eruieren. Vgl. E-Mail von Reuben Kaufmann, <[email protected]> an: Herbert Exenberger <[email protected]>, Betreff: Regarding my aunt, gesendet am 4.8.2006. 2321 Ellger-Rüttgardt, Jüdische Blinde, S. 172–205. 316 erhielten 150 blinde Menschen aus Deutschland und Österreich eine Einreisebewilligung. Die Tätigkeit der „British Blind Jewish Society“ wurde durch James Rothschild und einige seiner Verwandten unterstützt. Dieser Beitrag durch diese einflussreiche Familie erwies sich als hilfreich, da beispielsweise Visa von den zuständigen Behörden schneller bearbeitet wurden.2322 Keine Einreisebewilligung bekamen seinen Angaben nach Menschen, die ein „Glaukom“2323 (Grüner Star) hatten. Da es sich dabei um keine ansteckende Augenerkrankung handelt, kann aus heutiger Sicht diese Bestimmung nicht nachvollzogen werden. Weitere Informationen dazu konnten nicht recherchiert werden. In erster Linie konnte über die „British Blind Jewish Society“ Kindern und Jugendlichen die Flucht ermöglicht werden. Laut Vason kamen einen Tag bevor NS-Deutschland Polen angegriffen hatte aus dem „Israelitischen Blindeninstitut“ in Wien drei Kinder nach England.2324 Mit dem Ausbruch des Krieges endete dann diese Möglichkeit zur Flucht. Nur mehr vereinzelt konnten blinde Menschen nach England fliehen. Manfred Vason erinnert sich, dass im Mai 1940 nur noch ein paar blinde Flüchtlinge aus Holland ankamen.2325 Zwischen 1919 und 1939 war es die Hauptaufgabe der „British Blind Jewish Society“, eine monatliche Unterstützung an bedürftige blinde Menschen in England auszuzahlen. Auf die Unterbringung von blinden Vertriebenen aus anderen europäischen Ländern war diese Organisation daher nicht ausgerichtet und nach Angabe von Vason damit überfordert.2326 Schwierigkeiten gab es insbesondere bei der Integration der blinden Kinder und Jugendlichen aus dem „Deutschen Reich“ in den britischen Schulen. Über die drei namentlich nicht genannten blinden Kinder aus Wien, die in einer Blindenschule in einem abgelegenen Dorf außerhalb Londons untergebracht wurden, berichtete Vason beispielsweise: „Die Kinder konnten kein Wort Englisch. Zwei waren vollkommen blind, und eines war beinahe blind. […] Die Kinder hatten einen furchtbaren Start in England. Entsetzlich. Wir konnten praktisch nichts tun, um ihnen zu helfen, sich zu akklimatisieren. Einer der Jungen entwickelte psychische Probleme, er wurde sehr aggressiv. Wir mußten ihn aus der Schule herausnehmen und privat unterbringen. Das waren alles keine sehr günstigen Bedingungen, wir hatten sehr große Probleme.“2327 Über das „Israelitische Blindeninstitut“ in Wien kam auch Ester G. nach London. Sie stammte ursprünglich aus Polen. Das blinde Mädchen wurde in England in einer anderen Blindenschule untergebracht als die genannten drei Kinder aus Wien. Von dieser Institution erhielt sie allerdings einen Verweis, da sie sich aus Angst vor Wasser geweigert hatte, am Schwimmunterricht teilzunehmen. Ester G. erhielt daraufhin einen Ausbildungsplatz zur Strickerin in einer anderen, nicht genannten Einrichtung. Auch dort schloss sie ihre Lehre aber nicht ab, sondern suchte sich selbständig eine Anstellung und arbeitete später im öffentlichen Dienst als Stenotypistin.2328 2322 Vgl. Wolffhardt, Israelitische Blindeninstitut Hohe Warte, S. 101. 2323 Ellger-Rüttgardt, Jüdische Blinde, S. 172–205, hier S. 196. 2324 Vgl. Ellger-Rüttgardt, Jüdische Blinde, S. 172–205, hier S. 197. 2325 Vgl. Ellger-Rüttgardt, Jüdische Blinde, S. 172–205, hier S. 197. 2326 Vgl. Ellger-Rüttgardt, Jüdische Blinde, S. 172–205, hier S. 196. 2327 Ellger-Rüttgardt, Jüdische Blinde, S. 172–205, hier S. 198. 2328 Vgl. Ellger-Rüttgard, Jüdische Blinde, S. 172–205, hier S. 198. 317 Vason berichtete außerdem von einem blinden Orgelspieler aus Wien, Jakob W.: Er fand mit Hilfe der „British Blind Jewish Society“ in zwei Synagogen in London eine Beschäftigung. Da er dort allerdings nur zu den Gottesdiensten am Freitag und Sonntag spielen durfte, arbeitete er zusätzlich in einer Fabrik, wo er Klaviere stimmte. „Er war nicht sehr glücklich dabei, aber es gab ihm ein Einkommen.“2329 Dass die Integration blinder Menschen in England sich sehr schwierig gestaltete, wird auch durch einen Bericht von Hans Cohen auf dem Seminar im November 1989 zum Thema blinde Menschen im Nationalsozialismus in Berlin bestätigt.2330 Cohen war 1935 vollständig erblindet und erlitt eine Schädigung des Hörorgans, nachdem er bei einer Schlägerei 1934 zwischen einem anderen Jungen jüdischer Herkunft und einem Angehörigen der „Hitler-Jugend“ in seinem Gymnasium als scheinbar Unbeteiligter so schwer verletzt worden war, dass es bei ihm zu einer Netzhautablösung kam. Im NS-Deutschland konnten seine Eltern kein Krankenhaus finden, das einen Jungen jüdischer Herkunft entsprechend behandelte. Seine Mutter brachte ihn daraufhin nach Holland, aber auch ein Facharzt dort konnte sein Sehvermögen nicht wiederherstellen. Im Mai 1938 gelang es seinen Eltern, ihn im „Worcester College for the Blind“2331 in England unterzubringen. Seine Mutter begleitete zunächst den 15-Jährigen dorthin, fuhr dann aber wieder zurück nach Deutschland. Cohen blieb allein in einem für ihn fremden Land zurück. Es fiel ihm schwer, sich in den Schulalltag zu integrieren. Probleme hatte Cohen vor allem mit seinen Mitschülern, die sich nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges noch verschärften: „Ich war ein Außenseiter in England als Deutscher. Ich war ein Außenseiter unter Blinden als Schwerhöriger. Das ist ja schon ziemlich viel. Und dann kommt noch hinzu, daß ich in England blieb, als der Krieg ausbrach, also als deutsches Kind ein feindlicher Ausländer war. Die Engländer haben das einfach nicht begriffen, daß ich genauso ein Opfer der deutschen Regierung war wie jeder englische Soldat oder jeder Kämpfer gegen den Faschismus; dazu waren sie zu jung.“2332 Die Mutter von Cohen kam später nach London nach. Der Vater starb im März 1944 in Theresienstadt.2333 Einer der wenigen blinden Erwachsenen jüdischer Herkunft, denen die Flucht aus der „Ostmark“ gelang, war Robert Vogel. In seinem autobiographischen Buch „Zwischen hell und dunkel“2334 berichtete der Wiener unter anderem von seiner Flucht im November 1938 nach Holland. Im Alter von 19 Jahren war der spätere Präsident der „Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs“ (1952–1980) auf Grund eines Sehnervenschwundes 1927/28 praktisch erblindet. Er konnte daher nicht mehr in seinem erlernten Beruf als Schuhverkäufer arbeiten und eröffnete ein Geschäft für Blindenwaren. 1935 heiratete er seine ebenfalls blinde Frau Anni. Nach dem „Anschluss“ verlor der gläubige Jude seine Konzession 2329 Ellger-Rüttgard, Jüdische Blinde, S. 172–205, hier S. 198. 2330 Vgl. o. A., Gespräche mit Zeitzeugen, in: Blinde unterm Hakenkreuz, S. 59–87, hier insbesondere S. 59–68. 2331 Diese renommierte Einrichtung war 1866 zunächst als Schule für blinde Jungen in Hertfordshire eingerichtet worden. Erst ab 1944 konnten auch blinde Mädchen das „Worcester Collage“ besuchen. Vgl. o. A., A history of four Schools, <http://www.rnibncw.ac.uk/collegehistory.php>, Download am 25.04.2009. 2332 O. A., Gespräche mit Zeitzeugen, Blinde unterm Hakenkreuz, S. 59–87, hier S. 63. 2333 Vgl. o. A., Gespräche mit Zeitzeugen, Blinde unterm Hakenkreuz, S. 59–87, hier S. 65. 2334 Vogel, Zwischen hell und dunkel. 318 und seine Wohnung. Er zog mit seiner Frau, die als „Arierin“ galt, vorübergehend in das „Israelitische Blindeninstitut“. Von dort aus flüchtete er gemeinsam mit Freunden nach Holland. Seine Frau folgte ihm mit dem im Juni 1938 geborenen Sohn Heinz. Nach der Okkupation Hollands kam Robert Vogel 1942 in das Konzentrationslager Amersfort. In seinem 1982 herausgegebenen Buch berichtete Vogel, dass es ihm gelang, mit anderen KZInsassen unter nicht näher genannten Umständen zu fliehen.2335 Im Juli 1943 wurde in Den Haag sein zweites Kind Sonja geboren. 1947 kehrte er nach Österreich zurück und arbeitete gemeinsam mit Jakob Wald an der Wiedergründung der „Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs“.2336 Die Fluchtanstrengungen blinder Menschen jüdischer Herkunft wurden auch von der Fürsorgeabteilung der IKG Wien und von dem „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ sowie dessen Nachfolgeorganisation unterstützt. Sie boten beispielsweise spezielle Fremdsprachenkurse an. Im „Jüdischen Nachrichtenblatt“ erschien im Mai 1940 ein Bericht über diesen Unterricht für blinde Menschen jeden Alters.2337 Die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung führte zu einer weiteren Verschärfung der sozialen Probleme in der jüdischen Gemeinde, da vor allem jüngere Menschen fliehen konnten. Dies hatte eine Überalterung zur Folge. Von den am 30. Juni 1941 von der IKG registrierten so genannten „Glaubensjuden“2338, die noch in Wien lebten, waren 77,4 Prozent über 45 Jahre alt.2339 Da Augenerkrankungen auch eine Alterserscheinung sind, dürften sich darunter viele Menschen befunden haben, die zum Zeitpunkt ihrer Erblindung bereits ein fortgeschrittenes Alter erreicht hatten.2340 Außerdem stieg die Zahl der alleinstehenden blinden Menschen jüdischer Herkunft stark an, weil ihre Angehörigen sie in Wien zurücklassen mussten, da sie keine Visa erhielten.2341 Die Organisationen, die sich von 1938 bis 1942 um die Versorgung blinder Menschen bemühten, die als Jüdinnen und Juden galten, waren daher mit einer ständig wachsenden Anzahl von alleinstehenden und alten Personen mit einer Sehbehinderung konfrontiert. Auf die Einrichtungen, die blinde Menschen in dieser Zeit versorgten, geht das folgende Kapitel ein. 2335 Vgl. Vogel, Zwischen hell und dunkel, S. 57. 2336 Robert Vogel verstarb am 29. November 2001. Vgl. weiterführend DÖW 20100/12728, KZ-Verband Akte Robert Vogel, Verband der wegen ihrer Abstammung Verfolgten, Eidesstattliche Erklärung vom 2.10.1947; DÖW 9144,23, Bilder von Widerstandskämpfern der NS-Zeit. Vgl. Kapitel IV.7. 2337 O. A., Blinde erhalten Fremdsprachenunterricht, S. 2–3, hier S. 2 [DÖW 10020/01]. 2338 O. A., Die jüdische Gemeinde in Wien, Ihre Schichtung und Bewegung im ersten Halbjahr 1941, S. 1. 2339 Vgl. o. A., Die jüdische Gemeinde in Wien. Ihre Schichtung und Bewegung im ersten Halbjahr 1941, S. 1. 2340Nach Schätzungen von Pielasch und Jaedicke waren 45 Prozent der blinden Menschen zur NS-Zeit zum Zeitpunkt ihrer Erblindung über 50 Jahre alt. Vgl. Kapitel II.1.1. 2341 Vgl. Kapitel IV.5.2. 319 5.Die Zerstörung des jüdischen Blindenwesens und die Versorgung blinder Menschen jüdischer Herkunft 1938–1942 5.1 Überblick Wie bereits im Kapitel II.3.1 über die Zivilblinden ausgeführt, war für die Ausrichtung des Vereinslebens nach nationalsozialistischen Interessen der Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände zuständig. Die Behandlung jüdischer Organisationen erfolgte allerdings von der gegenüber den anderen Einrichtungen abweichend: „Ihr Weiterbestand war grundsätzlich nicht geplant.“2342 Ihre Liquidation fand in verschiedenen Phasen statt.2343 Unmittelbar nach dem „Anschluss“ wurde zunächst das Vermögen all derjenigen Vereine liquidiert, die nach Auffassung des NS-Regimes nicht für die „Judenfrage“ von zentraler Bedeutung waren und „in deren Fall eine Bereicherung durchaus lukrativ erschien.“2344 Rund 260 Vereine wurden in die IKG, dabei handelte es sich vorwiegend um Fürsorge- und Wohltätigkeitsvereine sowie in die freigestellten zionistischen Verbände oder andere Organisationen bzw. Einrichtung wie zum Beispiel das „Israelitische Blindeninstitut“, eingewiesen.2345 Dabei „wurde in den meisten Fällen nur das bewegliche Vermögen oder Inventar eingewiesen, Liegenschaften aber zu Gunsten der Aufbaufondsvermögensverwaltungs Ges.m.b. H. eingezogen“2346. In der zweiten Phase, 1939 und 1940, erhielt die IKG im Zuge der Auflösung der noch bestehenden jüdischen Vereine und Stiftungen vom Stillhaltekommissar Einrichtungen zugewiesen, um dort alte und obdachlose Menschen unterzubringen.2347 Ab 2. Mai 1938 war die IKG Wien die zentrale Leitstelle, der alle jüdischen Organisationen, die weiterhin bestehen durften, untergeordnet waren.2348 Zum Leiter der IKG wurde der bisherige Amtsdirektor Josef Löwenherz bestimmt.2349 Die Geschäftsführung hatte allerdings nach den Weisungen der Gestapo zu erfolgen.2350 Bereits am 18. März 1938 waren die Amtsgebäude der IKG in Wien von der Gestapo besetzt worden.2351 Mit den jüdischen Vereinen, die für blinde Menschen tätig waren, wurde folgendermaßen umgegangen: Die „Jüdische Blindenbibliothek“, der Verein „Providentia – Mädchenblindenheim und Fürsorge blinder Frauen“, der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ 2342Pawlowsky, Leisch-Prost, Klösch, Vereine im Nationalsozialismus, S. 211. 2343 Zur Liquidation des jüdischen Vereinswesens wird an diese Stelle auf die umfangreiche Arbeit von Shosana Duizend-Jensen und die dort angegebene Literatur verwiesen. Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden. 2344Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 64 2345 Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 102. 2346Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 102. Die Aufbaufonds-Gesellschaft war zunächst der „finanzwirtschaftliche Arm“ des Stillhaltekommissars und wurde nach Auflösung dieser Behörde „gleichsam“ zu deren Nachfolgeorganisation. Vgl. Pawlowsky, Leisch-Prost, Klösch, Vereine im Nationalsozialismus, S. 27–28. 2347 Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 64. 2348Vgl. Moskauer Archiv, RGVA 500/1/685. Zl. II 112 41, Zentralorganisation der jüdischen Organisationen in Österreich, zitiert in: Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 83. 2349 Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 83. 2350 Vgl. Moskauer Archiv RGVA 500/1/685, Organisationsentwurf für die Erfassung der in der Ostmark wohnenden Juden, zitiert in: Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 83. 2351 Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 57. 320 wurden aus dem Vereinsregister gelöscht und das restliche Vermögen, das nach Abzug einer „Aufbauumlage“ und Verwaltungsgebühr des Stillhaltekommissars verblieb, dem „Israelitischen Blindeninstitut“ in Wien überwiesen.2352 Diese Einrichtung konnte zunächst bestehen bleiben, allerdings unter der Auflage, den Namen 1939 in „Jüdische Blindenanstalt, Taubstummen und Krüppelhilfe Hohe Warte“2353 zu ändern. Auf Beschluss des Stillhaltekommissars Anton Brunner vom Juni 1938 wurden dem „Israelitischen Blindeninstitut“ darüber hinaus Vereine für Menschen mit einer Behinderung untergeordnet.2354 Dazu gehörte u. a. die „Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden“, die als Nachfolgeorganisation des „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ fungierte.2355 Das ehemalige „Israelitische Blindeninstitut“ wurde bis 1942 von der IKG als „Altersheim mit Blindenabteilung“ weiterhin genutzt. Vollständig aufgelöst wurde dagegen 1939 das „Simon Heller-Heim für alleinstehende jüdische Blinde“. Die NS-Machthaber zogen das Vermögen dieser Organisation zur Gänze ein.2356 Das „Israelitische Blindeninstitut“, die IKG Wien, der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ und dessen Nachfolgeorganisation, die „Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden“, waren zwischen 1938 und 1942 dementsprechend maßgeblich für die Versorgung blinder Menschen jüdischer Herkunft in Wien.2357 Auch Kriegsblinde, die nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ als Juden galten, wurden von ihnen unterstützt, für sie setzte sich darüber hinaus der „Hilfsverband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen“ ein.2358 Diese Organisation zählte 1938 2.500 Mitglieder2359 und versuchte gemeinsam mit dem „Reichsbund deutscher Frontkämpfer“ bei den NS-Behörden in Berlin und sogar bei Hitler selbst für ihre Klientel zu intervenieren.2360 Der Stillhaltekommissar gestattete diesem „Hilfsverband“ für Kriegsopfer jüdischer Herkunft, seine Tätigkeit noch im Jahr 1941 fortzusetzen. Am 1. Dezember 1942 erfolgte dann die endgültige Auflösung dieser Organisation.2361 5.2 „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ Der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ war 1911 als „Blinden Hilfsverein Humanitas“ gegründet worden und erhielt erst durch eine Statutenänderung im Jahr 1919 seinen späteren 2352 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L14 und Kt. 570, Mappe P 21, zitiert in: DuizendJensen, Jüdische Gemeinden, S. 105. 2353 ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 558, Mappe B 9, Bescheid I/6-21537/39 vom 5.10.1939. 2354 Vgl. Kapitel IV.5.3.2. 2355 Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 78; Kapitel IV.5.2, IV.5.2.1. 2356 Vgl. Kapitel IV.5.5.3. 2357 Vgl. CAHJP, A/W, 1829, HMB 3734, Nr. 0111, Jüdische Blindenanstalt, Taubstummen- und Krüppelhilfe Hohe Warte in Wien an Amtsvorstand Emil Engel vom 15.1.1940, Betreff: Blindenfürsorge. 2358 Vgl. Kapitel IV.3.3. 2359 Vgl. CAHJP, A/W, 178,2, Brief des Hilfsverbandes der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen in Wien, gezeichnet Benzion Lazar, an Josef Löwenherz vom 14.10.1939, zitiert in: Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 78. 2360 Vgl. CAHJP, A/W, 178,2, Brief des Hilfsverbandes der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen in Wien, gezeichnet Benzion Lazar, an Emil Engel vom 11.8.1939, zitiert in: Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 79. 2361 Vgl. CAHJP, A/W, 275, Brief des Ältestenrat der Juden in Wien, gezeichnet unbekannt, an das Jüdische Nachrichtenblatt, Berlin vom 30.4.1943, zitiert in: Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 79. 321 Namen.2362 Der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ war von 1923 bis 1938 Mitglied des „Verbandes der Blindenvereine Österreichs“. Als Obmann trat 1938 der blinde Leo Demm auf.2363 Nach den Statuten aus dem Jahr 1929 konnte dem Verein „jeder israelitische Blinde“2364 beitreten, der das 18. Lebensjahr vollendet hatte.2365 Zweck des Vereines war die wirtschaftliche Förderung seiner ordentlichen Mitglieder.2366 Bedürftige blinde Menschen erhielten eine monatliche finanzielle Unterstützung und Darlehen.2367 Darüber hinaus stellte die Organisation ihre Mitglieder und deren Verwandte an, um ihnen eine Erwerbsmöglichkeit zu geben, oder zahlte ihnen Provisionen für ihre Tätigkeit im Verein aus.2368 Mit Stichtag 12. März 1938 gehörten dem „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ 136 blinde Jüdinnen und Juden als ordentliche Mitglieder an.2369 Aus den Unterlagen, welche diese Organisation für den Stillhaltekommissar Anfang April 1938 zusammengestellt hatte, geht allerdings hervor, dass sich diese Zahl nach dem „Anschluss“ rasch erhöhte: Bis zum 4. April 1938 stieg sie um rund ein Viertel: „[…] durch die erfolgte Arisierung der anderen Blindenvereine ist ein vorläufiger Zuwachs von 37 Mitglieder zu verzeichnen.“2370 Mit weiteren 30 bis 40 Zugängen rechnete Demm zu diesem Zeitpunkt.2371 Am 30. Juni 1938 zählte diese Organisation daher bereits 187 Mitglieder, von denen nach Einschätzung von Leo Demm mindestens 80 Prozent „total verarmt“2372 gewesen sind. Per 31. März 1938 erhielt die Hälfte aller zu diesem Zeitpunkt eingetragenen Mitglieder des Vereines, 68 blinde Menschen jüdischer Herkunft, eine monatliche Zahlung in der Höhe zwischen fünf und 28,50 Schilling aus dem Vereinsvermögen.2373 35 Männer und 33 Frauen zählten damals zum Kreis der Begünstigten. Aus den Vermerken zu den einzelnen 2362 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 3257/20, Hilfsverein der jüdischen Blinden. 2363 Als Obmannstellvertreter fungierte der sehende Wilhelm Kreitler. Oskar Österreicher war Schriftführer und Karl Bock 2. Schriftführer. Als Kassier trat 1938 Ignaz Glaser auf. Die Funktion des zweiten Kassiers wurde nach dem Ableben von Siegfried Abeles am 20. August 1937 von Adolf Goldstein übernommen. Kreitler, Bock und Goldstein waren Sehende, alle anderen blind. Damit unterschied sich diese Organisation von anderen Selbsthilfeorganisationen dieser Zeit, in der sehende Personen nur Funktionen übernehmen durften, in denen das Sehvermögen unverzichtbar war, beispielsweise als Kassier. Insgesamt waren fünf Sehende im Vereinsvorstand vertreten. Vgl. ÖStA, AdR, Polizeidirektion Wien, Vereinsbüro 15, Zl. 2768, Bundespolizeidirektion Wien an das österr. Ministerium für Finanzen vom 23.3.1938, Betreff: Blindenvereine, Wertlotterie; ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden vom 4.4.1938, Anhang zum Fragebogen vom 6.4.1938, Betreff: Die Ausschussmitglieder. 2364WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 3257/20, Statuten des Hilfsvereines der jüdischen Blinden [1929]. 2365 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 3257/20, Statuten des Hilfsvereines der jüdischen Blinden [1929]. 2366 Vgl. CAHJP, A/W 289, HMB 2518, o. Nr., Verzeichnis der jüdischen Vereine, Hilfsverein der jüdischen Blinden, Karteikarte ohne Datum. 2367 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Obmann Leo Demm, Bericht über die Tätigkeit und sozialen Einrichtungen vom 30.6.1938. 2368 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Obmann Leo Demm, Bericht über die Tätigkeit und sozialen Einrichtungen vom 30.6.1938. 2369 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden vom 4.4.1938, Anhang zum Fragebogen vom 6.4.1938. 2370 ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden vom 4.4.1938, Anhang zum Fragebogen vom 6.4.1938. 2371 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden vom 4.4.1938, Anhang zum Fragebogen vom 6.4.1938. 2372 ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Obmann Leo Demm, Bericht über die Tätigkeit und sozialen Einrichtungen vom 30.6.1938. 2373 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden vom 4.4.1938, Anhang zum Fragebogen vom 6.4.1938, Betreff: Monatliche Unterstützungen folgender Mitglieder. 322 unterstützten Personen geht hervor, dass rund 20 von ihnen neben ihrer Erblindung weitere Beeinträchtigungen wie Epilepsie, Lähmungen, Asthma, eine geistige Beeinträchtigung oder Erkrankung hatten.2374 Viele der Unterstützten waren zudem Eltern von Kindern im schulpflichtigen Alter und ohne Einkommen. Durch die antijüdische NS-Politik erhöhte sich der Kreis der notleidenden blinden Menschen.2375 Auf Grund ihrer bereits beschriebenen geringen Chancen zur Flucht2376 stieg die Zahl von alleinstehenden blinden Menschen jüdischer Herkunft in den Jahren der Vertreibung stark an. Noch im Juni 1938 plante der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ daher die Gründung eines Internats für alleinstehende blinde Menschen.2377 Dieser Plan konnte aber nicht mehr umgesetzt werden, denn zu diesem Zeitpunkt fehlten bereits die finanziellen Ressourcen, um die bisherige Tätigkeit überhaupt fortzusetzen, da der Verein ab April 1938 nicht mehr frei über sein Vermögen verfügen konnte. Gelder, die dringend benötigt wurden, um beispielsweise Beiträge an die Arbeiterkrankenkasse, Zinsen und Unterstützungen an seine bedürftigen Mitglieder zu zahlen, wurden vom Stillhaltekommissar beschlagnahmt.2378 Es bestand zwar generell die Möglichkeit, Ansuchen um Freimachung zu stellen,2379 da der Fortbestand des „Hilfsvereines der jüdischen Blinden“ seitens der NS-Machthaber nicht geplant war, sah der Stillhaltekommissar offenbar auch keine Veranlassung, die für eine weitere Vereinstätigkeit notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Am 5. September 1938 beschloss der Stillhaltekommissar schließlich die Löschung des „Hilfsvereines der jüdischen Blinden“.2380 Das restliche Vereinsvermögen sollte nach Abzug einer „Aufbauumlage“ in der Höhe von 20 Prozent und einer Verwaltungsgebühr in der Höhe von fünf Prozent auf das Konto des „Israelitischen Blindeninstituts“ überwiesen werden.2381 Erst am 4. Jänner 1939 ging der Betrag in der Höhe von 7.049,55 RM allerdings tatsächlich auf das 2374 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden vom 4.4.1938, Anhang zum Fragebogen vom 6.4.1938, Betreff: Monatliche Unterstützungen folgender Mitglieder. 2375 Vgl. Kapitel IV.3.1. 2376 Vgl. Kapitel IV.4. 2377 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Obmann Leo Demm, Bericht über die Tätigkeit und sozialen Einrichtungen vom 30.6.1938. 2378 Dem „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ standen beispielsweise von einem Sammeltag aus dem Jahr 1937 noch 1.200 RM zu. Diese Summe war allerdings vom Stillhaltekommissar beschlagnahmt worden, nur auf Ansuchen um Freimachung konnte die Organisation diese Gelder erhalten. Der Verein stellt daher am 26. Mai einen entsprechenden Antrag auf die Auszahlung von 600 RM, um Krankenkassenbeiträge und Zinsen zahlen zu können. 400 RM davon sollten an „notleidende Blinde“ verteilt werden. Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden an den Stillhaltekommissar für Organisationen und Verbände vom 26.5.1938, Betreff: Komm.Schramm/ZimmeR 59, Sachen: Delasbe. 2379 Der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ wendete sich am 14. Juni 1938 an die IKG Wien, weil der Antrag vom 28. Mai vom Stillhaltekommissar immer noch nicht bearbeitet worden war. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden an den Amtsvorsteher der Israelitischen Kultusgemeinde vom 14.6.1938, Betreff: Schreiben vom 12.6.1938 bezüglich Gestapo-Arbeiter-Krankenkasse. 2380 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 3257/20, AZ IV AC 31 L 14, Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände an die Polizeidirektion Wien vom 9.9.1938, Betreff: Gesetz vom 17. Mai 1938 über die Überleitung und Eingliederung von Vereinen, Organisationen und Verbänden (GBl. Nr. 136/1938); ÖStA, AdR, Stiko, Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Reichsamtsleiter Albert Hoffmann, Bekanntmachung vom 10.9.1938. 2381 Vgl. ÖStA, AdR, ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Schlussbericht vom 5.9.1938. 323 Konto des „Israelitischen Blindeninstituts“ ein.2382 Es verstrichen nach der Löschung des Vereines also mehrere Monate. Nach der Auflösung des „Hilfsvereines der jüdischen Blinden“ erhielten die Betroffenen, die bisher von dieser Organisation unterstützt worden waren, weiterhin Hilfsleistungen über die „Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden“. 5.2.1 Die Nachfolgeorganisation: „Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden“ Im Zuge der Umwandlung des „Israelitischen Blindeninstitutes“ in die „Jüdische Blindenanstalt, Taubstummen- und Krüppelhilfe Hohe Warte“ wurde die „Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden“ 1939 ein Teil dieser Einrichtung.2383 Die „Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden“ galt als „identisch“2384 mit dem gelöschten „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ und bezog die Räumlichkeiten der ehemaligen „Jüdischen Blindenbibliothek“ in der Unteren Augartenstraße 35 (2. Wiener Gemeindebezirk). Die Schlüssel für diese Räumlichkeiten hatte das „Israelitische Blindeninstitut“ im Dezember 1938 erhalten.2385 Hauptaufgabe der „Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden“ war es, vor allem diejenigen blinden Menschen jüdischer Herkunft zu betreuen, die außerhalb der Einrichtung auf der Hohen Warte lebten.2386 1939 konnte das „Israelitische Blindeninstitut“ die „Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden“ noch mit 15.308,30 RM unterstützen.2387 Mit der Umbildung in die „Jüdische Blindenanstalt, Taubstummen- und Krüppelhilfe Hohe Warte“ in Wien entzog der Stillhaltekommissar dieser Organisation bis Ende 1939 aber das gesamte Vermögen. Von 1940 bis 1942 übernahm die Fürsorgezentrale der IKG Wien daher die Auszahlung von Unterstützungsbeiträgen an Mitglieder dieser Selbsthilfegruppe.2388 2382 Vgl. ÖStA, AdR, ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Jüdische Blindenanstalt, Taubstummen- und Krüppelhilfe Hohe Warte in Wien an den Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände vom 15.2.1939, Betreff: IV. Bb./IV A. G. – 31 – L 14 vom 11.2.1939; CAHJP, A/W 1829, HMB 3734, Nr. 0111, Jüdische Blindenanstalt, Taubstummen- und Krüppelhilfe Hohe Warte in Wien an Amtsvorstand Emil Engel vom 15.1.1940, Betreff: Blindenfürsorge. 2383 Vgl. Kapitel IV.5.3.2. 2384 ÖStA, AdR, ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Jüdische Blindenanstalt, Taubstummen- und Krüppelhilfe Hohe Warte in Wien an den Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände vom 4.4.1940, Betreff: Beantwortung des Schreibens vom 30.3.1940 AZ IV AC 31 L14/Dr. F./LF. 2385 Vgl. Kapitel IV.5.5.1. Das Gebäude in der Unteren Augartenstraße 35 wurde dann im März 1939 der IKG zugewiesen, um dort eine Notunterkunft für jüdische Säuglinge und Kleinkinder einzurichten. Das Gebäude hatte dem jüdischen Theresien-Kreuzer-Verein gehört, der die Räumlichkeiten an andere Vereine, wie der „Jüdischen Blindenbibliothek“, vermietet hatte. Die Liegenschaft wurde in weiterer Folge vom Stillhaltekommissar entzogen und am 21. Jänner 1941 an die Stadt Wien verkauft. Die dort untergebrachten Kinder verblieben allerdings bis zu ihrer Deportation dort. Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 73. 2386 Der Verein organisierte beispielsweise auch die Fremdsprachenkurse für blinde Menschen jüdischer Herkunft. Vgl. Kapitel IV.4. 2387 Vgl. CAHJP, A/W 1829, HMB 3734, Nr. 0111, Jüdische Blindenanstalt, Taubstummen- und Krüppelhilfe Hohe Warte in Wien an Amtsvorstand Emil Engel vom 15.1.1940, Betreff: Blindenfürsorge. 2388 Vgl. CAHJP, A/W 1907, HMB 3069, Kriegsopferverband, Selbsthilfegruppen der jüdischen Krüppel, betreffend Gewährung von Unterstützungsbeiträgen an Mitglieder dieser Verbände durch die Fürsorgezentrale 1940–1942. 324 Bekannt ist, dass die „Selbsthilfegruppe jüdischer Blinder“ trotzdem bis 1941 weiterhin für blinde Menschen jüdischer Herkunft tätig war. Sie intervenierte bei den diversesten NS-Stellen für die Anliegen der Betroffenen.2389 Im Archiv der IKG Wien befindet sich beispielsweise ein von Leo Demm unterzeichnetes Schreiben vom 25. Februar 1941 an die IKG.2390 Zu diesem Zeitpunkt waren in Wien wieder Deportationen ins „Generalgouvernement“ aufgenommen worden, auf die im folgenden Kapitel IV.6. noch näher eingegangen wird. Nach Aussagen von Leo Demm befanden sich im Februar 1941 in einem Sammellager für zur Deportation bestimmte Personen in der Castellezgasse zwei blinde Menschen, drei waren bereits deportiert worden.2391 In einem Appell, der an Löwenherz gerichtet worden sein dürfte,2392 bat Demm diesen um Hilfe, um weitere Vertreibungen von blinden Menschen zu verhindern: „Um die Aermsten der Armen, die Blinden vor dem Furchtbarsten zu bewahren, richtigen wir an Sie, hochverehrter Herr Doktor, die ergebens [sic!] und inständigste Bitte: Helfen Sie uns!“2393 Eine vergebliche Bemühung: Es kam zu weiteren Deportationen. Auch der am 4. April 1877 geborene Leo Demm2394 und seine Frau Therese2395 wurden am 20. August 1942 zunächst nach Theresienstadt gebracht. Am 26. September 1942 kam das Ehepaar nach Treblinka, wo beide umkamen. 2389 Vgl. Kapitel IV.3.2. 2390 Vgl. CAHJP, A/W 273, HMB 2502, Nr. 617, Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden an Herrn Doktor vom 25.2.1941, Betreff: Umsiedlung der Juden. 2391 Auf der Liste des DÖW von Menschen, die von der Adresse Hohe Warte 32 in Wien aus deportiert worden waren, erscheinen zwei Personen, Grete Dab und Robert Drab, die bereits am 15. Februar 1941 nach Opole gebracht wurden. Es ließ sich allerdings nicht eruieren, ob es sich dabei um zwei blinde Menschen gehandelt hat. Vgl. DÖW, Datenbanken DÖW, Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer, ca. 230 Personen deportiert aus der Hohen Warte. 2392 In dem Originaldokument ist der Empfänger nicht namentlich verzeichnet, aber es wird angenommen, dass es sich um Josef Löwenherz gehandelt hat. Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 78; Exenberger, Jüdische Blinde in Wien. 2393 CAHJP, A/W 273, HMB 2502, Nr. 617, Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden an Herrn Doktor vom 25.2.1941, Betreff: Umsiedlung der Juden. 2394 Der offizielle Vorname von Demm war offenbar Leib. In der Opferdatenbank des DÖW erscheint ein Leib Demm, dessen Geburtsdatum mit Leo Demm übereinstimmt. Auch die bei Leib Demm angegebene Wohnadresse war gleichlautend mit der Adresse von der Ehefrau Demms, Therese. Vgl. DÖW, Datenbanken, Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer, Liste mit Deportationen von der Adresse Hohe Warte 32 [Ausdruck vom 21.11.2007]; [Online Ressource: DÖW, Opferdatenbanken, ShoaOpfer, <http://de.doew.braintrust.at/db_shoah_21548.html >, Download am 22.5.2009]; [Von Dr. Verena Krausnecker freundlicherweise zur Verfügung gestellte Rechercheergebnisse im Zuge des Forschungsprojektes an der Universität Wien „Gehörlose Menschen während des Nationalsozialismus in Österreich“ bestätigen diese Angabe.] 2395 Vgl. DÖW, Datenbank, Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer; [Online Ressource: DÖW, Opferdatenbanken, Shoa-Opfer, <http://de.doew.braintrust.at/db_shoah_21549.html>, Download am 22.5.2009]. 325 5.3 Das „Israelitische Blindeninstitut“ auf der Hohen Warte 5.3.1 Gründung und Entwicklung bis 1938 1872 wurde das „Israelitische Blindeninstitut“ auf der Hohen Warte 32 im 19. Wiener Gemeindebezirk eröffnet. Ludwig August Frankl,2396 Generalssekretär, Dichter und Archivar der IKG Wien2397, hatte es mit finanzieller Hilfe des Bankiers und Präsidenten der IKG Wien Jonas Freiherr von Königswarter gegründet.2398 Abb. 15: Außen­ ansicht vom „Israelitischen Blindeninstitut“ (1938). Die Anstalt war nach den Plänen des Architekten Wilhelm Stiasny auf einem 6.060 m2 großen Grundstück, wovon 767 m2 verbaut waren, errichtet worden.2399 Als erster Direktor fungierte ab 1873 Simon Heller.2400 Während seiner fast fünfzigjährigen Lehrtätigkeit erarbeitete sich der Blindenpädagoge etwa durch diverse Publikationen2401 einen internationalen Ruf. Er galt als Reformer: „Hellers Bild vom mündigen, sich selbstbestimmenden Blinden 2396 Im Garten des Israelitischen Blindeninstituts erinnerte bis 1940 eine Bronzebüste an seinen Gründer. Wann diese errichtet worden war, ist nicht bekannt. Im Mai 1940 erteilte der Stillhaltekommissar allerdings die Genehmigung, diese Büste abzutragen, offiziell für die kriegsbedingte „Metallsammlung“. Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 558, Mappe B 9, Dr. F./LF, Aktenvermerk Liquidationsstelle vom 16.5.1940, Betreff: Israelitisches Blindeninstitut Hohe Warte. 2397 Zur Person Ludwig August Frankl vgl. Wolffhardt, Israelitische Blindeninstitut Hohe Warte, S. 7–9. 2398 Vgl. WStLA, AdR, M. Abt. 119, A 32, Zl. 2308/22, Jüdische Blindenanstalt, Taubstummen- und Krüppelhilfe Hohe Warte Wien (= Israelitisches Blindeninstitut); Adunka, Mimi Grossberg und Siegfried Altmann, S. 67–78, hier S. 67. Zur Gründung und Geschichte des Israelitischen Blindeninstitut Hohe Warte vgl. auch die in folgendem Werk angegebene Literatur und Quellen: Wolffhardt, Israelitische Blindeninstitut Hohe Warte. 2399 Vgl. Kaldori, Jüdisches Wien, S. 163. 2400Geboren am 25. Oktober 1843, gestorben am 4. Mai 1922 in Wien. 2401 Vgl. Wolffhardt, Israelitische Blindeninstitut Hohe Warte, S. 108–110. 326 widersprach dem gängigen Fürsorgemodell.“2402 Als Hauptaufgabe des Instituts sah Heller die Integration von SchulabgängerInnen in den Arbeitsmarkt und das Vermitteln der dafür notwendigen Qualifikationen.2403 1922 löste Siegfried Altmann2404 Heller als Direktor ab. Er behielt diese Funktion bis zur seiner Flucht in die USA 1939 und setzte den re­form­ori­ en­tier­ten Kurs Hellers bis 1938 fort.2405 Nach Angaben von Altmann war das Institut in Wien 1935/36 die einzige jüdische Blindenerziehungs- und Ausbildungsanstalt der Welt.2406 Trotz Finanzierungsschwierigkeiten nach dem Ersten Weltkrieg und in der Zeit der Wirtschaftskrise gelang es, etwa durch die Hilfe einiger SpenderInnen aus dem Ausland, diese Einrichtung bis 1938 aufrechtzuerhalten. Das ebenfalls seit 1852 in Wien angesiedelte „Allgemeine österreichische israelitische Taubstummen-Institut“ musste dagegen auf Grund von finanziellen Problemen bereits 1926 geschlossen werden.2407 1938 war das Angebot des „Israelitischen Blindeninstituts“, dem auch ein Internat angeschlossen war, sehr umfangreich. Die SchülerInnen im Alter von zwei bis 24 Jahren konnten nicht nur in den klassischen Blindenhandwerksberufen ausgebildet werden, sondern erlernten ebenso damals als modern geltende Tätigkeiten wie beispielsweise Strickarbeiten nach zeitgenössischen Methoden, Tennis-Rakett-Einflechten und die Arbeit als Körper- und HeilmasseurIn. Klavierstimmen oder eine Schulung zum/zur Übersetzer/in bzw. Dolmetscher/in2408 zählten zu den weiteren angebotenen Berufsausbildungen.2409 Ein besonderer Schwerpunkt lag auf der musikalischen Ausbildung. Diese konnte mit einer Staatsprüfung für das Musiklehramt abgeschlossen werden und galt als anerkannt. Ehemalige AbsolventInnen fanden auch im Ausland Anstellungen als OrganistInnen.2410 Bei entsprechender Begabung konnten die blinden SchülerInnen ein Mittelschulstudium absolvieren und wurden darin unterstützt, einen akademischen Bildungsweg einzuschlagen.2411 Die umfassenden Tätigkeiten des Institutes konnten aus dem Briefkopf entnommen werden: „Blindenerziehungsanstalt, Schul- und Berufsausbildung, Sehschwachenabteilung, Blindenbuchdruckerei, Bürsten- und Korbmacherei, Sessel- und Feinflechterei, Frauen- und Handarbeiten, Klavierstimmen und Reparieren.“2412 2402 Wolffhardt, Israelitische Blindeninstitut Hohe Warte, S. 21. 2403 Vgl. Wolffhardt, Israelitische Blindeninstitut Hohe Warte, S. 49–54. 2404Geboren am 12. Juli 1887, gestorben am 14. September 1963. 2405 Vgl. o. A., Das Fürsorgewerk der jüdischen Vereine und Institutionen in Wien, S. 18–24, hier S. 20 [DÖW 25523]. 2406Vgl. Altmann, Das Isr. Blinden-Institut Hohe Warte, S. 29–31, hier S. 31. 2407 Vgl. Schott, Taubstummen-Institut in Wien. 2408Aus einem Bericht von dem Begutachter des Stillhaltekommissars, Alfred Mörl, vom 8. August 1938 geht hervor, dass die unterrichteten Sprachen Französisch, Englisch und Hebräisch waren. Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 558, Mappe B 9, Bericht von Alfred Mörl vom 8.8.1938, Betreff: Hohe Warte 32, Besuch vom 20.7.1938. 2409Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Behinderte in Österreich; ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 558, Mappe B 9, Bericht vom Israelitischen Blindeninstitut Hohe Warte [1938]. 2410 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 558, Mappe B 9, Bericht vom Israelitischen Blindeninstitut Hohe Warte [1938]. 2411 Vgl. o. A., Das Fürsorgewerk der jüdischen Vereine und Institutionen in Wien, S. 18–24, hier S. 24. 2412 Briefkop