Barbara Hoffmann Zwischen Integration

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Barbara Hoffmann
Zwischen Integration, Kooperation und Vernichtung
Barbara Hoffmann
Zwischen Integration,
Kooperation und
Vernichtung
Blinde Menschen in der „Ostmark“
1938–1945
StudienVerlag
Innsbruck
Wien
Bozen
Gedruckt mit der Unterstützung des Austrian Science Fund (FWF): D 4303-G15
© 2012 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck
E-Mail: [email protected]
Internet: www.studienverlag.at
Buchgestaltung nach Entwürfen von Kurt Höretzeder
Satz: Studienverlag/Georg Toll, www.tollmedia.at
Umschlag: Studienverlag/Vanessa Sonnewend, www.madeinheaven.at
Umschlagabbildungen: Soldat: Ausschnitt aus dem Titelbild zur Kriegsblindenausstellung 1935 in Stuttgart aus:
O. A., Führer durch die Ausstellung. 3000 deutsche Kriegsblinde – ihr Schicksal und ihr Schaffen, o. O. [1935].
Hakenkreuz: Titelseite der Brailleschriftausgabe von Hitlers „Mein Kampf“, gedruckt in Marburg an der Lahn,
BBI Wien (Fotografie: Autorin).
Registererstellung durch die Autorin
Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte
bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-7065-4979-0
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in
einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung
elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
„Je älter ein Blinder wird, desto mehr sieht er.“1
1
Jüdisches Sprichwort. Vgl. o. A., „Je länger ein Blinder lebt, desto mehr sieht er.“
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
von Univ.-Doz. Dr. Wolfgang Weber
Vorwort
von ao. Univ.-Prof.in Dr.in Elisabeth Dietrich-Daum
Vorwort
13
15
von Barbara Hoffmann
17
Danksagung
19
I. Einleitung
21
25
27
31
1.
2.
3.
4.
Forschungsfragen und Aufbau der Arbeit
Quellenlage und Methode
Beschreibung des aktuellen Forschungsstandes
Definitionen von Blindheit und Sehbehinderung
im zeitgenössischen Diskurs
II. Zivilblinde
1. Ausmaß und Ursachen von Erblindungen unter der Zivilbevölkerung
1.1 Statistische Erfassung blinder Menschen
1.2 Wie wurden Erblindungen bei Zivilblinden verursacht?
1.2.1„Gonorrhöische Augenentzündung“
1.2.2Erbliche Augenerkrankungen und ihr Anteil an den Erblindungen
1.2.3„Vermeidbare Erblindungen“ und der Rückgang der absoluten Anzahl
von Zivilblinden
2. Der NS-Wohlfahrtsstaat: Öffentliche Fürsorge und
gesetzliche Bestimmungen für Zivilblinde
2.1 Grundsätze der öffentlichen Fürsorge und der Gesetzgebung
2.2 Gesetzliche Grundlagen
2.2.1Einführung des deutschen Fürsorgerechts in Österreich
2.2.2Bestimmungen der „Reichsgrundsätze“ (RGS) und der
„Fürsorgepflichtverordnung“ (Fürs.Pflicht.VO)
2.2.3„Invalidenbeschäftigungsgesetz“
2.3 Versicherungsfragen
2.4 Vergünstigungen für Zivilblinde
2.4.1Steuerliche Sonderrechte
2.4.2Sondervergünstigung bei Kinderbeihilfen
38
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62
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2.4.3Ermäßigungen im öffentlichen Verkehr
2.4.4Vergünstigungen bei Kulturveranstaltungen
und Literatur in Blindenschrift
2.5 Weitere rechtliche Bestimmungen und Schlussfolgerungen
3. Die „freie“ Blindenwohlfahrt in der NS-Zeit:
NSV, Fürsorge- und Selbsthilfevereine
3.1 Überblick
3.2 Die Gleichschaltung der Vereine
3.3 Die „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ (NSV)
3.3.1Die Rolle der NSV im „ostmärkischen“ Blindenwesen
3.4 Der „Reichsdeutsche Blindenverband“ (RBV)
3.4.1Aufgaben und Ziele
3.4.2Die Entwicklung des RBV in der „Ostmark“
3.4.3Die RBV-Gaubünde in den „Alpen- und Donaureichsgauen“
3.5 Der „Deutsche Blindenfürsorge-Verband“ (DBV)
3.5.1Aufgaben und Ziele
3.5.2Entwicklung des DBV
3.5.3Die Mitgliedsvereine des DBV in der „Ostmark“
3.6 „Verein blinder Akademiker“ (VdBA)
3.7 Spendensammlungen in der NS-Zeit
4. Blindenschulen
4.1 Rahmenbedingungen
4.2 Unterricht und Leitbilder
4.3 Die Blindenschule und ihr Beitrag zur NS-Eugenik und Rassenhygiene
4.4 Die BlindenlehrerInnenschaft
4.5 Blindenschulen in Österreich
4.5.1„Blindenerziehungsinstitut“ in Wien
4.5.2„Odilien-Blindenanstalt“ in Graz
4.5.3Blindenschule in Innsbruck
5. Der „Reichsbann B“ in der „Hitler-Jugend“
5.1 Gründung
5.2 Aufbau der „Hitler-Jugend“ in der „Ostmark“
5.3 Ziele
5.4 Widerspruch zur Propaganda: Jugendliche mit einer Behinderung und
„Erbkranke“ in der „Hitler-Jugend“
6. Berufliche Möglichkeiten
6.1 Überblick über die Erwerbsmöglichkeiten blinder Menschen
6.2 Blinde HandwerkerInnen
6.3 Beschäftigungsmöglichkeiten in der Industrie
6.4 Tätigkeiten in kriegswichtigen Unternehmen und der Wehrmacht
66
67
70
71
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121
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126
127
6.5 TelefonistInnen und StenotypistInnen
6.6 Blinde „GeistesarbeiterInnen“
6.7 Blinde MusikerInnen
6.8 Resümee
7. „Erholungsfürsorge“
8. Blindheit und Eugenik
8.1 Einleitung
8.2 Zwangssterilisationen
8.2.1Gesetzgebung
8.2.2Diagnose „erbliche Blindheit“
8.2.3Ausmaß der Zwangssterilisationen
8.2.4Durchführung
8.2.5Medizinisch-psychische Aspekte
8.2.6Die Auswirkungen der Propaganda
8.3 „Euthanasie“
8.4 Ehegesetzgebung
9. Die Auswirkungen des Krieges
10.Die Situation blinder Frauen unter dem NS-Regime
11.Zivilblinde als AkteurInnen des NS-Regimes
11.1Die wissenschaftliche Diskussion um blinde, gehörlose und
körperlich behinderte „TäterInnen“
128
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170
11.3Blinde Menschen im Widerstand
170
173
177
11.4Resümee: Die gesellschaftliche Stellung blinder Menschen
und ihre Haltung zum Nationalsozialismus
179
11.2Blinde AkteurInnen
III.Kriegsblinde
1. Ausmaß, Ursachen und medizinische Aspekte von Kriegsblindheit
1.1 Ausmaß
1.2 Wie wurden Kriegserblindungen verursacht?
1.2.1Militärische Aspekte
1.2.2Explosions- und Schussverletzungen
1.2.3Infektionskrankheiten
1.2.4Außergewöhnliche Ursachen für Kriegserblindungen
1.2.5Kriegserblindungen in der Zivilbevölkerung
1.3 Kriegsverletzungen und psychische Erkrankungen
zusätzlich zur Blindheit
1.4 Die Sanitätsversorgung der erblindeten Soldaten
1.5 Resümee
2. Gesetzliche Grundlagen und Versorgung der Kriegsblinden
183
183
183
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187
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190
192
192
194
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200
202
2.1 Überblick: Gesetzeslage und die Grundsätze
der nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung
2.2 „Reichsversorgungsgesetz“ (RVG)
2.3 „Wehrmachtsfürsorge- und Wehrmachtsversorgungsgesetz“ (WFVG)
und das „Einsatzfürsorge- und Einsatzversorgungsgesetz“ (EWFVG)
2.4 Besondere Verordnungen und Bestimmungen für erblindete Soldaten
2.5 Vergünstigungen für Kriegsblinde
2.5.1Steuergesetzgebung
2.5.2Ermäßigungen im öffentlichen Verkehr
und bei kulturellen Veranstaltungen
2.5.3Die Verteilung von Rundfunkgeräten
2.6 Weitere Versorgungsansprüche und Beispiele
3. Die Organisation der Kriegsblinden
3.1 Die Vereinigungen von Kriegsblinden bis 1938
3.2 Aufbau und Ziele der NSKOV e. V.
3.3 Entstehung und Entwicklung der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“
3.4 Die NSKOV„Fachabteilung erblindeter Krieger“ in der „Ostmark“
3.5 Die Propagandatätigkeit der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“
3.5.1Die Zeitschrift „Der Kriegsblinde“
3.5.2Die Rolle von Kriegsblinden in der NS-Propaganda
3.5.3Der Personenkult um Adolf Hitler
3.6 Resümee
4. Die Rehabilitation erblindeter Soldaten
4.1 Reservelazarette für Kriegsblinde
4.2 Der Ablauf der Rehabilitation in den Sammellazaretten für Kriegsblinde
4.2.1Grundausbildung
4.2.2Berufsausbildung
4.2.3Das Ende der Berufsausbildung und die Entlassung aus der Wehrmacht
4.2.4Sonderfälle
4.3 Hilfsmittel und Führhunde
4.4 Resümee
5. Die berufliche Situation Kriegsblinder
5.1 Einführung
5.2 Kriegsblinde HandwerkerInnen
5.2.1Umschulung von Trafikanten nach dem „Anschluss“
5.2.2Berufliche Situation der kriegsblinden HandwerkerInnen
5.3 Die Beschäftigung Kriegsblinder in Industriebetrieben
5.4 Schwierigkeiten bei der Integration Kriegsblinder in die Berufswelt
5.5 Trafikanten
5.6 Resümee
202
204
207
211
213
213
213
214
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220
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258
6. Ausrichtung der Freizeitgestaltung
7. Ehefrauen als Faktor der Versorgung
8. Kriegsblinde Angehörige der Waffen-SS
9. Kriegserblindungen von Zivilpersonen: Ein Forschungsdesiderat
10.Kriegsblinde Akteure des NS-Regimes
10.1Kriegsblinde als „illegale“ Mitglieder der NSDAP
und der ihr angeschlossenen Organisationen
10.2Kriegsblinde und die Verfolgungen von „Kameraden“ jüdischer Herkunft
10.3Resümee: Täter, Opfer und Akteure
IV.Blinde Menschen jüdischer Herkunft
260
262
266
272
276
276
279
281
2. Aspekte des Antisemitismus gegen blinde Jüdinnen und Juden vor 1938
3. Die Verfolgung blinder Menschen jüdischer Herkunft 1938–1942
285
285
285
286
288
291
296
3.1 Die antijüdische NS-Gesetzgebung und ihre Auswirkungen auf den Alltag
blinder Menschen jüdischer Herkunft
296
1. Einleitung und Problematisierung
1.1 Problematisierung von Begrifflichkeiten
1.2 Quellenlage und inhaltlicher Überblick
1.3 Probleme der Quantifizierung und namentlichen Erfassung
3.2 Die Vertreibung von blinden Menschen jüdischer Herkunft
aus Wiener Gemeindewohnungen
3.3 Die Verfolgung von Kriegsblinden jüdischer Herkunft
3.3.1Besonderheiten bei der Vertreibung von Kriegsblinden
aus Wiener Gemeindewohnungen
3.3.2Die Kündigung von Trafiklizenzen
3.3.3Die Behandlung Kriegsblinder durch das NS-Regime
3.3.4Sonderfall: Hans Hirsch (24.5.1898–2.8.1970)
3.4 Resümee
4. Die Vertreibung blinder Menschen jüdischer Herkunft
5. Die Zerstörung des jüdischen Blindenwesens und die Versorgung
blinder Menschen jüdischer Herkunft 1938–1942
5.1 Überblick
5.2 „Hilfsverein der jüdischen Blinden“
5.2.1Die Nachfolgeorganisation: „Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden“
5.3 Das „Israelitische Blindeninstitut“ auf der Hohen Warte
5.3.1Gründung und Entwicklung bis 1938
5.3.2Die Zerstörung durch das NS-Regime
5.4 Unterstützung blinder Menschen durch die IKG Wien
5.5 Weitere jüdische Vereine für blinde Menschen
5.6 Resümee
298
302
302
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320
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341
6. Die Vernichtung blinder Menschen jüdischer Herkunft
6.1 Versuch einer Quantifizierung
6.2 NS-„Euthanasie“ – Opfer jüdischer Herkunft
6.3 Deportationen in die Vernichtungslager aus Wien
6.4 Theresienstadt
6.4.1Quellenlage
6.4.2Theresienstadt: Ein als „Altersghetto“ getarntes
Konzentrationslager
6.4.3Blinde Menschen in Theresienstadt
6.4.4Blinde Menschen in den Zeichnungen von Häftlingen und Überlebenden
6.5 Resümee
7. Überlebende
342
342
343
345
349
349
349
351
357
359
361
V. Resümee
365
Verzeichnis der Abkürzungen
377
Quellen- und Literaturverzeichnis
379
379
380
380
Archivalien
Gesetzestexte
Gedruckte Quellen und Literatur
Abbildungsnachweis
413
Namensregister
415
Ortsregister
421
Anhang
Namentliche Erfassung blinder und sehbehinderter
Menschen jüdischer Herkunft in der „Ostmark“
425
Vorwort
von Univ.-Doz. Dr. Wolfgang Weber
Das Eruieren und Auswerten von bis dato in staatlichen National- und Landesarchiven zwar
seit langem zugänglichem, aber von der NS-Forschung nicht berücksichtigten Schriftgut
behördlicher Provenienz ist einer der zentralen Verdienste der vorliegenden Studie von
Barbara Hoffmann. Sie legt damit nicht nur eine bisher ausstehende Geschichte blinder
Menschen und ihrer privaten und staatlichen (Fürsorge-)Institutionen, sondern auch zen­
traler staatlicher Archivbestände in Deutschland ebenso wie in Österreich vor. Deren staatliches Schriftgut in National- und Landesarchiven in Berlin und in Wien ergänzt sie durch
Schriftgut aus privatrechtlichen Überlieferungen wie den „Central Archives of the History
of Jewish People“ in Jerusalem, dem „Archiv und Internationale Dokumentationsstelle für
das Blinden- und Sehbehinderten-Wesen“ in Marburg an der Lahn, dem „Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes“ sowie Überlieferungen im Besitz österreichischer
Blindenselbsthilfevereine und Blindenschulen.
Ihre Darstellung zeichnet sich durch großes Detailwissen und eine sehr reflektierte Sprache
aus, die zeitgenössische und gegenwärtige Bewertungen problematisiert und hinterfragt und
bei Bedarf neue, nach Möglichkeit neutrale, Begrifflichkeiten vorschlägt und anwendet.
Sie verweist dort, wo es notwendig ist, auf aktuelle Diskurse der österreichischen Gesundheitspolitik und verortet diese im historischen Längsschnitt. Das ist nicht nur eine mutige,
sondern vor allem eine notwendige Vorgangsweise, um aufzuzeigen, wie lange gerade in der
österreichischen Politik für Menschen mit Handicaps Ideologeme wirkungsmächtig waren,
die sich auf den NS-Staat zurückführen lassen. Durch das Verweisen auf gegenwärtige Diskurse und Praktiken in der österreichischen Blindenpolitik gelingt es Barbara Hoffmann
zudem, die longue durée dieser spezifischen gesellschaftlichen Tätigkeit deutlich zu machen.
Es ist zu wünschen, dass diese Arbeit dazu beiträgt, die Disability Studies auch in Österreich
nicht nur in der Wissenschaft, sondern in der Gesellschaft zu verankern.
Hohenems, im September 2011
Univ.-Doz. Dr. Wolfgang Weber
Mag. et MA et MAS et akademischer Politischer Bildner
13
Vorwort
von ao. Univ.-Prof.in Dr.in Elisabeth Dietrich-Daum
Nach derzeitigem Forschungsstand lebten 1938 rund 4.000 Kriegs- und Zivilblinde in Österreich. Blinde waren im Zweiten Weltkrieg, wie die Autorin ausführt, nicht nur besonders
schwierigen Lebensbedingungen ausgesetzt, sondern wurden durch die Bestimmungen
verschiedener NS-Gesetze spezifisch behandelt: Sie waren in unterschiedlichem Maße privilegiert, wurden diskriminiert und persönlich verfolgt. Blinde Menschen jüdischer Herkunft,
rund 200 Personen, hatten ohne Zweifel am meisten unter dem Terror-Regime zu leiden.
Die soziale Segregation der Blinden in „Klassen“ während der NS-Zeit zeigt darüber hinaus,
dass die Grenzen nicht allein entlang zeitgenössischer Kriterien wie „Rasse“ oder „Arbeitsfähigkeit“ gezogen wurden, was letztendlich auch darüber entschied, ob eine Person unterstützt oder getötet wurde. Auch das Geschlecht der Betroffenen bestimmte über das Ausmaß
der gewährten Unterstützung.
Aufbauend auf die bereits veröffentlichte Studie der Autorin „Kriegsblinde in Österreich
1914–1934“ erfährt der Forschungsgegenstand mit der nun vorliegenden Arbeit eine erhebliche zeitliche Erweiterung sowie problemorientierte Vertiefung. Erwartungsgemäß stieß
die Rekonstruktion der Lebensverhältnisse und Überlebenschancen von blinden Menschen
während der NS-Zeit aus verschiedenen Gründen auf zum Teil erhebliche Forschungsprobleme. Als größte Schwierigkeit stellte sich die Quellenlage selbst dar. Aus diesen nachvollziehbaren Gründen müssen verschiedene Einzelergebnisse der Autorin als Erstbefund
bewertet werden und bedürfen weiterer Vertiefung.
Generell ist zu bemerken, dass die österreichische Geschichtswissenschaft zwar intensiv zu Fragen der „Eugenik“, „Euthanasie“ und Vernichtung gearbeitet, die Gruppe der blinden Menschen
bisher aber kaum Berücksichtigung gefunden hat. Ein Grund mag wohl in der Kleinheit der
betroffenen Gruppe liegen. Fraglich ist aber auch, ob nicht auch die langjährige Abstinenz bzw.
Weigerung der Blinden(nachfolge)organisationen selbst, sich der eigenen Geschichte zuzuwenden, hemmend auf eine systematische Erforschung der Geschichte der blinden bzw. sehbehinderten Menschen während der NS-Zeit gewirkt haben. Hinzu kommt, dass es gerade im Bereich
„Disability History“ in Österreich noch dringenden Forschungsbedarf gibt.
Die Stärken der Arbeit liegen in der sorgfältigen und umfassenden Erschließung der archivarischen, gedruckten und ungedruckten Quellen, der erstmaligen Beschreibung der normativen
Rahmenbedingungen für blinde Menschen im Kontext der NS-Gesundheitspolitik, der institutionellen Entwicklung des „Blindenwesens“ als solchem und in der Differenziertheit der
Darstellung verschiedener Teilaspekte. Die Verfasserin urteilt nicht vorschnell, vielmehr streicht
sie Forschungsdesiderate deutlich heraus und bietet einen Leitfaden für weitere Forschungen.
Innsbruck, im September 2011
ao. Univ.-Prof.in Dr.in Elisabeth Dietrich-Daum
Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie
Universität Innsbruck
15
Vorwort
von Barbara Hoffmann
„Die allgemein übliche Vorstellung von der Größe
des Blindheitsleides ist […] ungeheuer übertrieben.
Das Lebensglück des Einzelnen hängt von seiner
anlagemäßigen Glücksbegabung ab und wird daher
durch den Mangel der Sehkraft nicht berührt.“2
Einen Großteil der Umwelteindrücke nehmen sehende Menschen visuell war. Für viele ist es
daher unvorstellbar, wie blinde Menschen ohne dieses Sehvermögen ihren Alltag bewältigen.
Auch ich konnte mir das lange nicht vorstellen. Allerdings beschäftigte ich mich damit gar
nicht, da es in meinem Umfeld, abgesehen von Verwandten mit altersbedingten Sehbeeinträchtigungen, überhaupt keine Menschen mit einer Behinderung gab. Dies änderte sich
im Alter von 16 Jahren, als ich auf einer Skipiste in Hochgurgl (Tirol) von einem blinden
Skifahrer mit Begleitläufer überholt wurde. Wie war das möglich? Damals war ich schon eine
sehr gute Skifahrerin, aber dass es Menschen gab, die steile Abfahrten quasi im Blindflug
absolvierten, war mir bis dato unbekannt gewesen und weckte meine Neugierde. Im Rahmen meiner Tätigkeit als freie Journalistin ab 1997 bekam ich den Auftrag, einige Reportagen über blinde Menschen zu schreiben. Daraus entwickelten sich persönliche Kontakte.
Inzwischen begleite ich selbst seit rund neun Jahren blinde Menschen in der Freizeit und
speziell beim Skifahren. 2003 begann ich neben meinem Studium als Verantwortliche für
Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising beim Tiroler Blinden- und Sehbehinderten-Verband
(TBSV), einer Landesgruppe des Österreichischen Blinden- und Sehbehinderten-Verbandes
(ÖBSV), zu arbeiten.
Als angehende Historikerin ging ich parallel dazu der Frage nach, wie blinde Menschen
im 20. Jahrhundert lebten. Auf Grund meines persönlichen Kontaktes zu ausschließlich
Zivilblinden und der damit verbundenen Befürchtung, mir würde eine zu große Nähe zum
Untersuchungsobjekt vorgeworfen werden, widmete ich mich zunächst der Geschichte
der Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges. Im Zuge dieser wissenschaftlichen Recherchen
fiel mir auf, dass insbesondere die Rolle blinder Menschen unter der NS-Diktatur in der
„Ostmark“ bisher nicht aufgearbeitet ist.
In diesem Vorwort erfolgte eine ausführliche Darstellung meiner Beziehung zu blinden
Menschen, um allen Leserinnen und Lesern die Möglichkeit zu geben, selbst darüber zu
entscheiden, inwieweit diese Tatsache meine wissenschaftliche Arbeit positiv oder negativ
beeinflusst hat.
Aus meiner Sicht schreibe ich über blinde Menschen, nicht obwohl ich sie persönlich
kenne, sondern gerade weil ich sie kenne. Die Kenntnisse über ihre potentiellen Möglichkeiten, Fähigkeiten, Strategien zur Alltags- und Freizeitbewältigung, Hilfsmittel usw.
ermöglichen es mir, bestimmte zeitgenössische Aspekte z. B. in der Fürsorgegesetzgebung
besser zu verstehen.
2
Kraemer, Blindheitsleid und Glückgefühl, S. 310–341, hier S. 341. [Vgl. Kapitel II.8.2.6.]
17
Meine Arbeit soll darüber hinaus als Appell verstanden werden, Menschen mit einer
Behinderung differenzierter als bisher zu betrachten.3 Die Sichtweise von blinden Menschen als auf ständige Hilfe angewiesene, unser Mitleid bedürfende Personen verhinderte,
meiner Meinung nach, in vielen Fällen eine umfassende historische Auseinandersetzung
mit ihnen. Es gibt Tendenzen, Menschen mit einer Beeinträchtigung auch im 20. Jahrhundert nicht als selbständig denkende und handelnde Persönlichkeiten, sondern als passive
Objekte öffentlicher sowie privater Fürsorge wahrzunehmen. Außerdem wird häufig von
den „Behinderten“ im Generellen gesprochen, obwohl die Facetten von Beeinträchtigungen
mannigfaltig sind. Blinde, gehörlose, körperbehinderte, geistige oder mehrfachbehinderte
Menschen haben zum Teil völlig unterschiedliche Fähigkeiten und Anliegen in ihrem alltäglichen Leben. Berücksichtigt werden sollte außerdem, dass Behinderung als eine sozial
konstruierte Kategorie betrachtet werden kann.4 Eine diesen Umständen Rechnung tragende
Forschungsarbeit bedeutet, sie einmal mehr nicht weiter zu diskriminieren. Bei dieser Arbeit
galt es, nicht nur die Opferrolle blinder Menschen unter dem NS-Regime zu beleuchten,
sondern auch Fragen nach ihrer Beteiligung zu stellen.
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine überarbeitete und gekürzte Fassung
meiner 2010 fertig gestellten Dissertation. Ich danke dem FWF Wissenschaftsfonds für die
Unterstützung bei der Drucklegung.
Barbara Hoffmann
3
4
18
Weiterführende Literatur zu einer zeitgemäßen, historischen Auseinandersetzung mit Menschen mit einer Behinderung: Bösl, Klein, Waldschmidt, Disability History.
Vgl. hierzu die Theorien und Modelle aus dem Bereich Disability Studies z. B. Davis, Disability Studies
Reader; Bösl, Klein, Waldschmidt, Disability History.
Danksagung
Dass diese Arbeit beendet werden konnte, verdanke ich der Hilfe vieler Menschen. Viele
haben mehr getan, als ihre Pflicht gewesen wäre. Frei nach Ewald Balser lebt die Welt ja
bekanntlich von solchen Menschen. Ihnen allen gebührt mein aufrichtiger Dank:
Elisabeth Dietrich-Daum (Betreuerin); Wolfgang Weber (Zweitbegutachter); Martin
Kofler und allen MitarbeiterInnen des Studienverlags Innsbruck; Claudia Andrea Spring;
Klaus Guggenberger; Verena Krausneker; Herbert Exenberger; Wolfram Dornik; Thomas
Wendling und seinen KollegInnen vom AIDOS (Archiv und internationale Dokumentationsstelle für das Blinden- und Sehbehinderten-Wesen); Berthold Konrad, Roman Eccher,
Hana Keller und ihren KollegInnen vom Österreichischen Staatsarchiv; Beatrix Rupp und
ihren KollegInnen vom Bundes-Blindeninstitut Wien; Heinz Vogel und seinen Mit­ar­bei­
terIn­nen von der „Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs“; WolfErich Eckstein; Margit Oppl vom Sonderpädagogischen Zentrum für blinde und sehbehinderte Kinder Innsbruck; Eva Němcová vom Terezin Memorial Archives; Denise Rein und
ihren KollegInnen vom Central Archives for the history of the jewish people in Jerusalem;
den MitarbeiterInnen des Wiener Stadt- und Landesarchivs, des Dokumentationsarchivs
des österreichischen Widerstandes, Odilien-Instituts Graz und der Wissenschaftlichen
Bibliothek zum Blindenwesen – Deutsche Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig; denjenigen
Funktionären und MitarbeiterInnen des ÖBSV, die meine Recherchetätigkeiten vorbehaltlos
unterstützt haben; Bernhard Lindmayr (Kriegsblinder Zweiter Weltkrieg); Emma Leichter;
Prof. Dr. med. Reinhard Dannheim (Sohn von Helmut Dannheim 1907–1993); Reuben
Kaufmann (Neffe von Gisela Kaufmann); Dietmar Graff sowie meinen ArbeitskollegInnen;
Bettina Handle; Miriam Dornik; meinen FreundInnen; meinem Lebensgefährten, Christian
Ammann; meinen Eltern, Doris und Armin Hoffmann; Hiltrud und Franz Ebhard (†).
Barbara Hoffmann
19
I. Einleitung
„Körperlich erblindet, aber seelisch sehend, vermögt ihr noch Großes zum Besten Eures Volkes zu
schaffen!“5
Die Europäische Blindenunion geht in einer im Juni 2004 publizierten Broschüre davon
aus, dass in den Mitgliedsländern eine unter 30 Personen blind oder sehbehindert ist.6 Laut
dem Behindertenbericht 2008 der Bundesregierung haben in Österreich 318.000 Menschen
eine dauerhafte Sehbeeinträchtigung, die nicht durch optische Brillen, Kontaktlinsen oder
andere Sehbehelfe verbessert werden kann. Das entspricht 3,9 Prozent der Bevölkerung.7
Unter den verschiedenen Gruppen von Menschen mit einer Beeinträchtigung stellen sie
damit die drittgrößte Gruppe dar. Elf Prozent der Bevölkerung haben eine Beeinträchtigung
der Beweglichkeit und sieben Prozent eine Hörbeeinträchtigung.8 Von den Personen mit
einer dauerhaften Sehbehinderung sind allerdings nur wenige blind. Das „Österreichische
Statistische Zentralamt“ erhob zuletzt 1995 im Rahmen einer Mikrozensuserhebung, dass
von insgesamt 407.400 sehbeeinträchtigten Personen 4.600 auf beiden Augen blind waren.9
7.800 galten als praktisch blind, das bedeutet, die Betreffenden verfügten zwar noch über
einen Sehrest, dieser war allerdings so gering, dass sie sich nicht ohne Hilfe in einer unbekannten Umgebung zurechtfinden konnten.10
Diese Angaben können allerdings nicht mit den Zahlen aus dem hier zu behandelnden Untersuchungsraum verglichen werden. Anfang 1938 lebten laut einer Schätzung des
Reichsdeutschen Blindenverbandes (RBV) in Österreich rund 4.000 blinde Menschen.11
Während diese Angaben also lediglich auf einer Annahme beruhen, basieren die Zahlen von
1995 aus einer Stichprobenerhebung, die etwa ein Prozent der österreichischen Wohnungen
erfasste. Allerdings ist auch das Ergebnis dieser Erhebung kritisch zu hinterfragen, unter
anderem deshalb, weil die Teilnahme daran freiwillig war und die Auskünfte demnach
dem subjektiven Empfinden der Befragten entsprachen.12 Problematisch ist die Erfassung
der Anzahl blinder Menschen darüber hinaus deswegen, weil den unterschiedlichen Erhebungen zumeist verschiedene Definitionen von „Blindheit“ zugrunde liegen. Kapitel II.1.1
geht auf diesen Aspekt, der eine spezifische Schwierigkeit in der wissenschaftlichen Aus­
ein­an­der­set­zung mit blinden Menschen darstellt, weiter ein.
Dementsprechend kann nicht belegt werden, ob es nach dem Zweiten Weltkrieg
zu einem Rückgang oder einer Zunahme der absoluten Anzahl blinder Menschen auf
Grund des medizinisches Fortschritts, beispielsweise durch verbesserte Operations- und
5
6
7
8
9
10
11
12
O. A., Bericht über die Arbeitstagung der Leiter und Lehrer deutscher Blindenschulen vom 12. bis 13.
August 1940 in Halle, S. 3, S. 68. [Angebliches Zitat von Hermann Göring und Motto der Arbeitstagung.]
Vgl. European Blind Union, Integration – eine Vision.
Vgl. Bundesministerium, Behindertenbericht 2008, S. 10.
Vgl. Bundesministerium, Behindertenbericht 2008, S. 10.
Vgl. Österreichisches Statistisches Zentralamt, Personen mit körperlichen Beeinträchtigungen, S. 33.
Vgl. Österreichisches Statistisches Zentralamt, Personen mit körperlichen Beeinträchtigungen, S. 67–68.
Vgl. BAB, Reichsverkehrsministerium, R 5/3048, Auszug 194. Sitzung der ständigen Tarifkommission der
Deutschen Eisenbahnverwaltung in München vom 6., 7., 8.12.1938, S. 141.
Vgl. Österreichisches Statistisches Zentralamt, Personen mit körperlichen Beeinträchtigungen, S. 285.
21
Behandlungsmöglichkeiten und/oder dem Ausbau präventiver Gesundheitspraktiken,
kam.13
Auf internationaler Ebene gilt die Auffassung, die Zahl von Erblindungen könnte reduziert
werden, allerdings als gesichert. 1999 initiierten die Weltgesundheitsorganisation (WHO),
die „International Agency for the Prevention of Blindness“ (IAPB) und einige Nichtregierungsorganisationen (NGO’s) die internationale Initiative „Vision 2020 – The right to sight“14
mit dem Ziel, durch entsprechende Präventionsmaßnahmen und kuratives Engagement,
insbesondere in Entwicklungsländern, die Häufigkeit von Erblindungsursachen bis in das
Jahr 2020 zu verringern.15 Nicht zu den Schwerpunkten dieser Initiative gehört allerdings
die Verhinderung von Kriegserblindungen.16 Weltweit erblindete aber eine nicht bekannte
Anzahl von Soldaten und Zivilpersonen durch die Auswirkungen von Kampfhandlungen,
unter anderem infolge explodierender Landminen.17 International eine verstärkte mediale
Aufmerksamkeit erhielt das Thema Kriegserblindungen 1986,18 als auf Betreiben von Schweden und der Schweiz auf einer internationalen Konferenz des Roten Kreuzes in Genf auf den
Einsatz moderner Laserwaffen hingewiesen wurde, die zu Erblindung führen können.19 Die
UnterstützerInnen dieser internationalen Kampagne befürchteten, durch den Einsatz dieser Waffen würde es zu einem starken Anstieg der Zahl von Kriegserblindungen kommen.
Ein Protokoll20 zum Verbot dieser Waffen kam unter der Schirmherrschaft der Vereinten
Nationen allerdings erst am 13. Oktober 1995 zustande. Bisher ratifizierten 94 der 129 UNOMitgliedsstaaten dieses Papier. Zuletzt unterzeichneten am 21. Jänner 2009 die USA.21
Auch von den NS-Machthabern gab es intensive Bemühungen, die Ursachen für als
vermeidbar angesehene Erblindungen zu minimieren.22 Allerdings führten der Zweite
Weltkrieg und seine unmittelbaren Begleitumstände zu einem Ansteigen der Zahl von
Erblindungen.23
Dies ist ein Hinweis darauf, dass im Zuge der Auseinandersetzung mit der Sozial- und
Gesundheitspolitik des NS-Regimes Tendenzen aufgezeigt werden können, die sich, wie
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
22
Vgl. weiterführend Kapitel II.1.1.
Vgl. Pichler, Prävention von Blindheit, S. 14–15.
Vgl. Pichler, Prävention von Blindheit, S. 14–15.
Vgl. Pichler, Prävention von Blindheit, S. 15.
30 Prozent aller Opfer von Explosionen durch Landminen oder anderer Kriegshinterlassenschaften sind
Kinder. Vgl. UNICEF, Landmines an explosive remants of war continue to threaten children vom 3.4.2009.
Vgl. Doswald-Beck, Blinding Laser Weapons, S. 2.
Schätzungen gehen davon aus, dass der Anteil von Augenverletzungen mit 13 Prozent aller Verwundungen 2006 im Irak so hoch war wie in keiner anderen Kampfhandlung zuvor. Absolute Zahlen werden nicht
bekannt gegeben. Vgl. Zoroya, Blinded by war.
Dabei handelt es sich um das Protokoll IV zu der 1983 in Kraft getretenen Konvention über das Verbot
oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventioneller Waffen. Vgl. International Comitee of
the Red Cross, International Humanitarian Law.
Die USA unterzeichneten das Protokoll erst am 21. Jänner 2009. Laserwaffen galten in den USA lange Zeit
als Waffengattung der Zukunft. Vgl. International Comitee of the Red Cross (Ed.), Protocol on Blinding
Laser Weapons; Morton, The Legal Status, pp. 697–705, hier p. 701; Hoffmann, Kriegsblinde, S. 223–224.
Vgl. Kapitel II.1.2.3.
Vgl. Kapitel III.1. Nicht einschätzbar ist, wie viele Menschen auf Grund ungenügender medizinischer Versorgung dem Ausbleiben entsprechender fachmedizinischer Untersuchungen erblindeten. Eine DiabetesErkrankung kann beispielsweise zu einer Erblindung führen, insbesondere dann, wenn sie nicht entsprechend behandelt wird. Ebenfalls nicht festgestellt werden kann, inwieweit es infolge der Schwächung der
allgemeinen körperlichen Widerstandsfähigkeit zu Erblindungen in der Zivilbevölkerung kam.
Christoph Sachße und Florian Tennstedt bereits 1992 bemerkten, „bereinigt um die rassistischen Prämissen“24 in der Nachkriegssozialpolitik und Nachkriegsgesundheitspolitik bis
zum heutigen Tag fortsetzen. Ein weiteres Beispiel sind die bis heute aufrechten Maßnahmen zur Verhinderung der Geburt von Menschen mit einer Behinderung. Die moderne
pränatale Gendiagnostik und entsprechende Untersuchungsmethoden ermöglichen es in
vielen Fällen, schon vor der Geburt bei einem Säugling eine Beeinträchtigung zu diagnostizieren. Da eine Behinderung als eine schwerwiegende Belastung für die Betroffenen, ihre
Angehörigen und die Gesellschaft gilt, ermöglichten die Gesetzgebung in Deutschland
und Österreich eine straffreie Abtreibung aus eugenischer Indikation bis zur Geburt. In
Österreich erlaubt der Paragraph 97 des Strafgesetzbuches Schwangerschaftsabbrüche über
die geltende Fristenlösung hinaus, wenn das Kind „geistig oder körperlich schwer geschädigt
sein werde.“25 In der Praxis bedeutet dies, dass bereits lebensfähige Föten, dies ist etwa ab
dem sechsten Schwangerschaftsmonat der Fall, straffrei abgetrieben werden dürfen, wenn
eine Beeinträchtigung diagnostiziert wurde. Damit ist die aktuelle Gesetzgebung sogar
noch weitreichender als die Bestimmungen des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN), das nach einer Novelle vom Juni 193526 die Abtreibung nach eugenischer
Indikation bei schwangeren Frauen, die zwangssterilisiert werden sollten, zwar legalisierte,
aber dies ausdrücklich dann nicht erlaubte, wenn die Frucht schon als lebensfähig galt. In
der Praxis erfolgte die Umsetzung dann allerdings nicht gesetzeskonform.27
Nach eigener Definition ist heutzutage das Bundessozialamt mit seinen neun Landesstellen die „zentrale Anlaufstelle für Menschen mit einer Behinderung“28 in Österreich:
„Der Schwerpunkt des Amtes liegt im Bereich der beruflichen Integration von Menschen mit
Behinderung.“29 Dies bedeutet, dass hauptsächlich Angebote aus dem Bereich der beruflichen
Rehabilitation mit Mitteln des Bundessozialamts gefördert werden. Für Einrichtungen, die
blinde und sehbehinderte Menschen unterstützten, stellt diese Einschränkung ein finanzielles Problem dar, denn auf Grund der ständigen steigenden Zahl von altersbedingten
Augenerkrankungen ist ein nicht unerheblicher Teil der KlientInnen auf Grund ihres Alters
bereits aus dem Berufsleben ausgeschieden. Beratungs- und Rehabilitationsangebote für
ältere Menschen mit einer Sehbehinderung oder Erblindung müssen dementsprechend
anderweitig finanziert werden. Dafür gibt es allerdings sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene nur geringe finanzielle Unterstützung. Dieses Beispiel zeigt, dass auch in heutiger
Zeit der volkswirtschaftliche Nutzen ausschlaggebend dafür sein kann, ob ein Angebot für
Menschen mit einer Beeinträchtigung mit öffentlichen Geldern finanziert wird oder nicht.
Eine utilitaristische Prägung ist demnach nicht nur in der NS-Wohlfahrtspolitik erkennbar,
sondern unter anderen Rahmenbedingungen auch in der heutigen Sozialpolitik.
Ein weiteres Indiz dafür, dass sich Kosten-Nutzen-Rechnungen in der Sozialpolitik des
ausgehenden 20. Jahrhunderts und beginnenden 21. Jahrhunderts etabliert haben, ist der
neue Begriff für Sozialvereine, die ausgehend aus dem angloamerikanischen Raum nicht
24
25
26
27
28
29
Vgl. Sachße, Tennstedt, Der Wohlfahrtsstaat, S. 7.
Vgl. Klenk, Herzstich für Behinderte.
[D] RGBl., Teil I, Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 26. Juni
1935, S. 773.
Vgl. Kapitel II.8.2.1.
Vgl. Bundessozialamt – BSB (Hrsg.), Organisation und Aufgaben des Bundessozialamtes.
Vgl. Bundessozialamt – BSB (Hrsg.), Organisation und Aufgaben des Bundessozialamtes.
23
mehr als Non Profit, sondern Social Profit Organisationen (SPO) bezeichnet werden.30 Diese
Bezeichnung soll verstärkt darauf hinweisen, welchen volkswirtschaftlichen Gewinn SPO’s
erwirtschaften, beispielsweise durch die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Investition
von Fördergeldern in Hilfsmittel, deren Herstellung und Verkauf wiederum einen eigenen
Wirtschaftszweig aufrechterhält.
Die Aufarbeitung der Lebensbedingungen und Überlebenschancen einer Gruppe von
Menschen mit einer Behinderung unter dem NS-Regime, wie dies in dieser Studie anhand
blinder Menschen erfolgt, ist vor diesem Hintergrund also von besonderer Aktualität.
Als ein Charakteristikum des NS-Regimes muss allerdings angenommen werden, dass
sich blinde Menschen auf die drei verschiedenen Gruppen – Zivilblinde, Kriegsblinde und
blinde Menschen jüdischer Herkunft – aufteilten. Diese Feststellung basiert auf der Tatsache, dass es bereits seit dem Ersten Weltkrieg ein Zweiklassensystem von Zivil- und
Kriegsblinden gab.31 Auf Grund der antijüdischen Politik des NS-Regimes wurden zivilund kriegsblinde Menschen jüdischer Herkunft verfolgt. Dies ist ein Hinweis darauf, dass
die Lebensbedingungen blinder Menschen, abhängig von ihrer Herkunft und der Ursache
für ihre Erblindung, unter dem NS-Regime sehr unterschiedlich gewesen sein dürften. Bis
dato erfolgte daher eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen stets unabhängig
voneinander. Die in dieser Studie erfolgte parallele Darstellung aller drei Gruppen von
blinden Menschen ermöglicht es aber, neue Erkenntnisse über die nationalsozialistische
Gesellschafts- und Sozialpolitik zu gewinnen und bisher nicht bekannte Zusammenhänge
aufzuzeigen.
30
31
24
Vgl. Gaudiani, Let’s put the word ‘nonprofit’ out of business.
Vgl. Hoffmann, Entstehung eines „Zwei-Klassen-Systems“, S. 75–84; Hoffmann, Kriegsblinde.
1.Forschungsfragen und Aufbau der Arbeit
Ziel dieser Studie ist es, die Lebensumstände blinder Menschen in der „Ostmark“ unter dem
NS-Regime in verschiedenen Teilaspekten zu schildern. Ökonomische, soziale, rechtliche,
medizin- und geschlechterspezifische Gesichtspunkte werden mitberücksichtigt. Ursachen
von Erblindungen sind dementsprechend ebenso Untersuchungsgegenstand wie die NSGesetzgebung. Es soll, soweit der zugängliche Quellencorpus dies zuließ, ein möglichst
detailliertes Bild der Lebensbedingungen blinder Menschen rekonstruiert werden. Dezidiert
Teil der wissenschaftlichen Aufgabenstellung ist es dabei, offene Fragestellungen, die sich
zum Teil aus der lückenhaften Quellenlage32 ergaben, sowie mögliche weiterführende herauszuarbeiten.33 Um den Lesefluss nicht zu beeinträchtigen, befinden sich diese Hinweise
häufig im umfangreichen Fußnotenapparat.
Die Untersuchung erfolgte zeitlich begrenzt und beginnt mit den Anfängen der NSHerrschaft in der „Ostmark“ 1938 und endet mit der endgültigen Kapitulation des NS-Regimes im Mai 1945. Auf Entwicklungen außerhalb dieses Zeitraums wird dann eingegangen,
wenn dies zur Interpretation und Einordnung notwendig ist, erfolgt aber, mit Ausnahme
der Darstellung der spezifischen Aspekte von antisemitischen Ressentiments gegen blinde
Jüdinnen und Juden vor 1938 in Kapitel IV.2, nicht im Rahmen eigenständiger Kapitel,
sondern an den entsprechenden Stellen in den einzelnen Abschnitten.
1. Wichtiges Ziel dieser Studie ist es, die Hauptentwicklungsstränge der Behandlung
blinder Menschen unter der NS-Diktatur herauszuarbeiten und aufzuzeigen, welche Rückschlüsse dies auf das NS-Regime und seine Ideologie zulässt. Durch die parallele Darstellung
der Lebensbedingungen zivil-, kriegsblinder und blinder Menschen jüdischer Herkunft
sollen Charakteristika der NS-Sozialpolitik aufgezeigt werden.
2. In einem folgenden Schritt sollen die Faktoren, von denen die Lebensbedingungen
blinder Menschen unter dem NS-Regime abhingen, aufgezeigt werden und der Frage nachgegangen werden, ob die Annahme einer Dreiklassengesellschaft blinder Menschen unter
der NS-Diktatur haltbar ist.
3. Von erkenntnisleitendem Interesse ist es herauszuarbeiten, inwieweit blinde Menschen
zu Opfern des NS-Terrors wurden und ob auf Grund der von blinden Menschen bekleideten Funktionen im NS-Blindenwesen auch von einer aktiven Rolle blinder Menschen
ausgegangen werden muss.
4. Ein weiteres Ziel dieser Studie ist es, Probleme, die sich bei der Aufarbeitung ergaben, herauszuarbeiten und aufzuzeigen, inwieweit die Notwendigkeit weiterführender Forschungsarbeiten zu diesem Thema besteht.
5. Damit zusammenhängend soll geklärt werden, inwieweit die Erkenntnisse dieser
Studie für eine Bearbeitung des Themas Menschen mit Beeinträchtigungen unter dem NSRegime relevant sind.
Der Aufbau der Arbeit orientiert sich an den drei Gruppen blinder Menschen, den
Zivilblinden, Kriegsblinden und blinden Menschen jüdischer Herkunft. Unterteilt ist diese
Studie in fünf Abschnitte. In Abschnitt I. erfolgen die Einleitung, die Beschreibung der
Fragestellungen, der Methodik, der Quellenlage und des Forschungsstandes sowie eine
32
33
Vgl. u. a. Kapitel I.2, II.3.1, II.4.2, II.9; III.1.2.5, III.4.4, III.9; IV.1.3, IV.3.2, IV.6.1, IV.7.
Vgl. Kapitel I.3.
25
Problematisierung der Definition von Blindheit. Kapitel II setzt sich mit der zahlenmäßig
größten Gruppe blinder Menschen, den Zivilblinden, auseinander. In Abschnitt III werden
die Lebensbedingungen Kriegsblinder, beginnend mit einer ausführlichen Beschreibung
der Ursachen von Kriegserblindung, geschildert. Die Verfolgung und Vernichtung von
kriegs- und zivilblinden Menschen jüdischer Herkunft wird in Abschnitt IV behandelt.
Zur Einführung in diesen Themenkomplex erfolgt eine Einleitung, in der Begrifflichkeiten
problematisiert, Informationen über den Quellenstand gegeben sowie die Schwierigkeiten
der Quantifizierung und namentlichen Erfassung ausgeführt werden.
Eine Studie über die NS-Zeit in deutscher Sprache zu verfassen, birgt eine „Reihe von
Herausforderungen“34, da dabei die Muttersprache der NS-TäterInnen verwendet wird. Um
nicht den Duktus der TäterInnen zu übernehmen, wurde bei der Verschriftlichung der
Arbeit die verwendeten Begrifflichkeit kritisch hinterfragt.35 Entsprechende Hinweise zu
den verwendeten Formulierungen finden sich in den Fußnoten sowie in eigenen Kapiteln
an den entsprechenden Stellen. Zeitgenössische Begriffe, insbesondere abfällige Wertungen
von Menschen mit einer Beeinträchtigung, werden in Anführungsstriche gesetzt. Dies dient
dazu, sich von dem Wortschatz der NS-Machthaber, der immer auch „zum Ausdruck der
Ideologie“36 diente, sichtbar zu distanzieren. Alle wortwörtlichen Zitate, die aus direkten
Textstellen übernommen wurden, werden in Anführungsstriche und kursiv gesetzt.
Aus datenschutzrechtlichen Gründen wurde in dieser Arbeit darauf verzichtet, Namen
von blinden Menschen vollständig anzugeben, wenn es sich um Privatpersonen, das heißt
nicht um FunktionsträgerInnen und damit RepräsentantInnen der NS-Diktatur gehandelt
hat und ihre Daten aus behördlichen Dokumenten entnommen wurden. Im Abschnitt IV
wird von dieser Praxis abgegangen und die Namen blinder Menschen, die als Jüdinnen und
Juden galten, stets ausgeschrieben. Dies diente dem Ziel, dieser Gruppe von Verfolgten ihre
Namen und damit ihre Identität wiederzugeben, und entspricht einem wichtigen Anliegen
der Aufarbeitung des Holocaust in Israel.37
34
35
36
37
26
Vgl. Spring, Zwangssterilisationen in Wien 1940–1945, S. 17. [Publikation: Spring, Zwischen Krieg und
Euthanasie.]
Vgl. u. a. Kapitel IV.1.1.
Vgl. Vorbemerkungen zu: Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus [ohne Seitenangabe].
Vgl. Gutterman, Shalev, Zeugnisse des Holocaust.
2.Quellenlage und Methode
Die Studie basiert auf einem umfangreichen Quellenkorpus, der in Österreich, Deutschland und Israel eingesehen wurde. Der Wert dieser Arbeit liegt darin, dass neue Bestände
erschlossen und bereits bekanntes Archivmaterial unter neuen Gesichtspunkten interpretiert werden konnte. Gleichzeitig werden vorhandene Bestandslücken aufgezeigt. Viele
Dokumente gingen unter nicht näher bekannten Umständen verloren, etwa die Vereinsakten
der NS-Blindenorganisationen, wie dem RBV, dem DBV und der NSKOV „Fachabteilung
erblindeter Krieger“. Darüber hinaus gab es innerhalb der heute noch tätigen Organisationen
im Blindenwesen fallweise Vorbehalte gegenüber einer Forschungsarbeit über die Situation
blinder Menschen unter dem NS-Regime. Diese ablehnende Haltung könnte die Bereitschaft,
eventuell noch erhaltene Dokumente zur Verfügung zu stellen, unter Umständen gehemmt
haben.38 So gaben die heute noch tätigen Blindenschulen, namentlich das „Bundesblindenerziehungsinstitut“ (BBI) Wien, das „Odilien-Institut“ in Graz und das „Sonderpädagogische
Zentrum für blinde und sehbehinderte Kinder“ in Innsbruck, beispielsweise an, die Akten
von SchülerInnen aus dieser Zeit seien nicht mehr erhalten. In Wien sind laut Auskunft des
Direktorats diese erst 2006 zerstört worden, ohne eine vorherige wissenschaftliche Aufarbeitung zu ermöglichen.39 Wenn auch keine Schülerakten, so konnten in den Bibliotheken
des BBI und des Odilien-Instituts allerdings einige gedruckte Quellen eingesehen werden.
In Graz befindet sich darüber hinaus als einzige Archivalie ein Klassenbuch der „Allgemeingewerblichen Fachlichen Fortbildungsschule für Blinde in Graz“ aus dem Schuljahr 1941/42.
Der umfangreichste Bestand von gedruckten Quellen über blinde Menschen, zum Teil
von blinden AutorInnen selbst erstellt, befindet sich im „Archiv und Internationale Dokumentationsstelle für das Blinden- und Sehbehinderten-Wesen“ (AIDOS) in Marburg an der
Lahn, einer Einrichtung der dort ansässigen „Blindenstudienanstalt“.40
Im „Archiv der Republik“ (AdR) im Österreichischen Staatsarchiv (ÖSTA) wird ein für
die Fragestellungen zu den Lebensbedingungen der Kriegsblinden des Ersten und Zweiten Weltkrieges umfangreicher Bestand verwahrt, der zum Teil bereits im Rahmen der
von der Autorin publizierten Studie „Kriegsblinde in Österreich 1914–1934“41 bearbeitet
wurde. Es handelt sich dabei um die Akten des Hauptversorgungsamtes „Ostmark“ zu 252
Kriegsblinden des Ersten und Zweiten Weltkrieges.42 Problematisch für die Auswertung
war allerdings, dass in diesem Bestand nur ein Bruchteil der Kriegsblinden, 1945 lebten
noch rund 200 Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges und rund 1.000 Männer, Frauen und
Kinder erblindeten infolge des Zweiten Weltkrieges,43 erfasst sind. Außerdem waren die
vorhandenen Unterlagen zum Teil unvollständig.
Aufschluss über für blinde Menschen relevante Vereine und Organisationen gab eine
Einsicht von Akten aus dem Bestand des Stillhaltekommissars für Vereine, Organisationen
und Verbände, der für die Neuregelung des Vereinswesens im Sinne der Interessen der
NS-Machthaber zuständig war. Ergänzt wurden diese Informationen durch den erhaltenen
38
39
40
41
42
43
Vgl. Malmanesh, Blinde, S. 7 [publizierte Dissertation].
Vgl. Kapitel II.4.3.
Vgl. Malmanesh, Blinde, S. 135.
Hoffmann, Kriegsblinde.
Eine ausführliche Beschreibung dieser Akten erfolgt in Kapitel III.1.1.
Vgl. Kapitel III.1.1.
27
Bestand der Polizeidirektion Wien im ÖStA.44 Der Stillhaltekommissar war dem Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem „Deutschen Reich“ unterstellt.
In den Dokumenten dieses Bestandes („Bürckel-Materie“) ließen sich relevante Informationen über die Einführung der Bestimmungen im Sozialbereich und Vereinswesen, das
NS-Fürsorge- und Wohlfahrtswesen, das NS-Gesundheitswesen, die Einführung des GzVeN
sowie über die Verfolgung blinder Menschen jüdischer Herkunft in der „Ostmark“ eruieren.
In dem Register zur „Bürckel-Materie“ fand sich außerdem ein Hinweis auf eine Mappe
mit dem Betreff „Blindenwesen“45, allerdings war darin lediglich ein Fehlblatt enthalten.46
Die Archivalien zur „Volksgesundheit“ im Bestand des „Ministeriums für soziale
Verwaltung“ aus den Jahren 1938 bis 1940 im AdR, der 60 Akten umfasste, wurde dagegen vollständig eingesehen. Dadurch erhielt die Autorin Einblicke in die so genannte
„Krüppelfürsorge“47 sowie die Verbreitung von Infektions- und Geschlechtskrankheiten,
insbesondere über die Trachomendemie in der „Ostmark“. Darüber hinaus enthielten diese
Kartons keine weiterführenden Informationen über die Ursachen und Verbreitung von
Erblindungen oder blindenspezifische Einrichtungen und Vereine. Ab 1940 wurde die Verwaltung dieses Bereiches von Berlin aus vorgenommen. Die Dokumente aus dem Zeitraum
1941 bis 1945 werden daher nicht im ÖStA verwahrt.
Aufschluss über den Ablauf der Gleichschaltung der zahlreichen Vereine und Einrichtungen von und für Zivilblinde, Kriegsblinde und blinde Menschen jüdischer Herkunft
unter dem NS-Regime und der Einführung der NS-Blindenorganisationen in der „Ostmark“
geben die Dokumente der aufgelösten Organisationen und Vereine blinder Menschen der
Magistratsabteilung 119, die im Zeitraum 1920 bis 1974 gelöscht worden waren, im „Wiener
Stadt- und Landesarchiv“ (WStLA). Insgesamt konnten durch die Recherchen in den Akten
des Stillhaltekommissars im ÖStA, im WStLA sowie in der Polizeidirektion Wien vereinsrechtliche Unterlagen von 28 verschiedenen relevanten Selbsthilfe- und Fürsorgevereinen
ausfindig gemacht werden.48 Im WStLA befindet sich auch der Bestand des Erbgesundheitsgerichtes Wien, aus dem 14 Verfahrensakten von Personen mit der angenommenen
GzVeN-Diagnose „erbliche Blindheit“ eingesehen wurden.49
Im Wiener „Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes“ (DÖW) konnten diverse Primär- sowie gedruckte Quellen und Sekundärliteratur über die Verfolgung
blinder Menschen jüdischer Herkunft aufgefunden werden. Dort ebenfalls archiviert sind
Dokumente der Wiener Magistratsabteilung 21 zur Vertreibung blinder MieterInnen jüdischer Herkunft aus Gemeindewohnungen in Wien. Im WStLA waren diese nicht auffindbar.50 Eine Durchsicht der Ausgaben des „Jüdischen Nachrichtenblattes“ zwischen 1939 und
1944, das in Wien erschien, gab weitere Einblicke in die schwierigen Lebensbedingungen
44
45
46
47
48
49
50
28
Vgl. weiterführend: o. A., Vorbemerkung, in: Pawlowsky, Leisch-Prost, Klösch, Vereine im Nationalsozialismus, S. 13–25.
Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 56, Sg. 1943, Betreff: Blindenwesen.
Trotz intensiver Bemühungen der zuständigen Archivarin, Hana Keller, konnte der Verbleib der Dokumente nicht ausfindig gemacht werden.
Zur Begriffsdefinition vgl. die Ausführungen in den Fußnoten von Kapitel II.1.2.
Vgl. Kapitel II.3.2.
Claudia Spring hat den Bestand des Wiener Erbgesundheitsgerichts für ihre Dissertation, die 2009 publiziert wurde, bearbeitet und der Autorin freundlicherweise die Aktenzahlen von 14 Verfahren auf Grund
der GzVeN-Diagnose „erbliche Blindheit“ zur Verfügung gestellt. Vgl. Kapitel II.8.
Vgl. Kapitel IV.3.2, 3.3.1.
blinder Menschen jüdischer Herkunft unter dem NS-Regime. Über die vom DÖW erstellten
Deportationslisten und der Datenbank mit den österreichischen Opfern des Holocausts ließ
sich fallweise das Schicksal blinder Menschen jüdischer Herkunft, die namentlich bekannt
waren, eruieren.
Am umfangreichsten dokumentiert wird die Versorgung blinder Menschen jüdischer
Herkunft zwischen 1938 und 1942 durch den erhaltenen Bestand der IKG Wien im „Central
Archives of the history of jewish people“ (CAHJP) in Jerusalem. 51 Die dort archivierten
Listen über blinde Menschen ermöglichten, ergänzt durch entsprechende Dokumente aus
dem WStLA und des ÖStA, eine namentliche Erfassung von blinden und sehbehinderten
Menschen jüdischer Herkunft. Ob betreffende Personen „blind“ oder „sehbehindert“ waren,
konnte auf Grund fehlender Angaben dazu, allerdings nicht unterschieden werden.52
Im „Bundesarchiv Deutschland“ am Standort Berlin Lichterfelde (BAB) konnten
durch die digitale Registrierung der Bestände der Abteilung R „Deutsches Reich“ viele
relevante Dokumente verschiedenster NS-Ministerien wie dem Reichsverkehrsministerium, Reichsfinanzministerium, Reichsministerium für Volksaufklärung, Reichswirtschaftsministerium und der Reichstheaterkammer eingesehen werden. Während die im
ÖStA aufbewahrten Quellen in erster Linie Auskunft über den Zeitraum 1938 bis 1940
gaben, informierten diese Bestände über die Versorgung Kriegsblinder und Zivilblinder
im „Deutschen Reich“ darüber hinaus bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Besonders
aussagekräftig waren dabei Unterlagen aus dem Bestand des „Deutschen Gemeindetags“
(DGT). Nach der Machtübertragung an Adolf Hitler 1933 hatten die bis dahin in Deutschland bestehenden sechs kommunalen Spitzenverbände ihre Selbständigkeit verloren. Der
DGT wurde zur einzigen von der NSDAP anerkannten, korporativen Vertretung aller
deutschen Städte- und Gemeindeverbände. Diese Studie zeigt, dass dieser Bestand nicht
nur für kommunale und regionale Fragestellung relevant ist. 1940 wurde im DGT etwa
eine „Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung“ eingerichtet, in der
auch VertreterInnen aus der „Ostmark“ eingebunden wurden.53 Die diversen Schreiben
von und an den DGT sowie erhaltene Protokolle der verschiedenen Gremien verdeutlichen zeitgenössische Probleme in der Versorgung blinder Menschen, ihre Integration in
die Arbeitswelt, Bestimmungen bezüglich der Bildungsmöglichkeiten, die Arbeitsweise
des „Reichsbann B“ für blinde Kinder und Jugendliche in der „Hitler-Jugend“ sowie
versorgungsrechtliche Grundsätze des NS-Regimes in Bezug auf blinde Menschen im
gesamten „Deutschen Reich“.
Allerdings weist auch der Bestand im BAB erhebliche Lücken auf. Vom „Hauptamt für
Volkswohlfahrt“ ist beispielsweise kein für diese Studie relevantes Schriftgut erhalten. Auch
die Dokumente der Reichsjugendführung der „Hitler-Jugend“ sind im Laufe des Zweiten
Weltkrieges vernichtet worden. Eine weiterführende Recherche über den „Reichsbann B“
der „Hitler-Jugend“ war deshalb im BAB nicht möglich.
51
52
53
Die Mikroficheablichtungen dieses Bestandes sind zwar ebenfalls in Wien archiviert, waren aber nach
Anfrage der Autorin zum erforderlichen Zeitpunkt für die Fragestellung dieser wissenschaftlichen Arbeit
nicht zugänglich.
Abgesehen von wenigen Ausnahmen gestattet das CAHJP keine Einsicht der Originaldokumente. Deshalb erfolgte lediglich die Sichtung von Mikrofiche-Bändern, die stellenweise auf Grund mangelnder
Qualität schwer lesbar, zum Teil gänzlich unleserlich waren. Vgl. Kapitel IV.1.3.
Vgl. Kapitel II.3.5.2.
29
Weiter ergänzt wurde die Quellenrecherche für diese Studie durch von der „Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs“ und den „Österreichischen Blinden- und Sehbehinderten-Verband“ zur Verfügung gestellten Dokumente aus dem Besitz
dieser Vereine.
Im Zuge der Quellenarbeit konnten also vor allem Dokumente die Umsetzung fürsorgerechtlicher Vorschriften und Beschlüsse betreffend, erstellt von NS-Behörden, NSOrganisationen, AutorInnen, die der NS-Ideologie zuzuordnen waren, oder beispielsweise
der von den NS-Machthabern gelenkten IKG, konsultiert werden. Diese Archivalien sowie
gedruckten Dokumente zeigen die Lebensumstände blinder Menschen also aus der Per­
spek­ti­ve der Akteure und nicht die Sichtweise der Betroffenen. Die eingesehenen Akten und
gedruckten Dokumente geben daher keine Auskunft darüber, wie blinde Menschen selbst
ihr Leben unter dem NS-Regime beurteilten. Soweit vorhanden, wurden daher publizierte
Aussagen blinder ZeitzeugInnen herangezogen, auf die im folgenden Kapitel eingegangen wird. Außerdem wurde mit Hilfe der Oral-History-Methode ein Interview mit dem
Kriegsblinden Bernhard Lindmayr am 15. September 2006 in Kapfenberg und mit der
Zivilblinden Emma Leichter am 7. Juni 2010, die 1940 aus Sterzing an die Blindenschule in
Innsbruck kam, geführt. Auf Grund des hohen finanziellen sowie zeitlichen Aufwandes für
eine Oral-History-Studie mit blinden Menschen aus ganz Österreich musste von weiteren
ZeitzeugInnenbefragungen abgesehen werden.
Dem hier erläuterten Quellenbestand entsprechend handelt es sich bei dieser wissenschaftlichen Arbeit um eine quantitative Studie. Die Erschließung und Auswertung des
Quellenmaterials erfolgte nach der hermeneutisch-kritischen Methode. Die Interpretationen ergaben sich aus dem eingesehenen Material, das zuvor entsprechend quellenkritisch
hinterfragt wurde. Mit einbezogen in die Erkenntnisfindung wurde auch der im Folgenden
beschriebene Forschungsstand und Fachdiskurs.
30
3.Beschreibung des aktuellen Forschungsstandes
Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden in der „Ostzone“ Deutschlands sowie der späteren DDR einige Publikationen, die sich nicht wissenschaftlich fundiert
und zum Teil tendenziös mit der Rolle blinder Menschen unter dem NS-Regime auseinandersetzten, veröffentlicht.54 Erst 1968 erschien dann, ebenfalls in der DDR, erstmals
eine wissenschaftliche Arbeit zur Geschichte des Blindenwesens von 1800 bis 1945.55 Der
Verfasser dieser Dissertation war Martin Jaedicke. Gemeinsam mit Helmut Pielasch, dem
Präsidenten des „Deutschen Blinden- und Sehschwachenverbandes“ der DDR, publizierte
Jaedicke in der Folge 1971 ein Buch mit dem Titel „Geschichte des Blindenwesens in Deutschland und in der DDR“56. Beide Werke thematisieren die NS-Zeit und sind quellenfundiert.
Den damaligen politischen Verhältnissen der DDR entsprechend vertraten beide Autoren
aber das kommunistische Weltbild.57
Bis in die 1980er Jahre kam es zu keiner weiteren nennenswerten Auseinandersetzung
mit den Lebensumständen blinder Menschen unter dem NS-Regime, was dem Forschungsstand über Menschen mit einer Beeinträchtigung in diesem Zeitraum entsprach. Historische
Studien setzten sich erst im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Zwangssterilisierungen und NS-„Euthanasie“ auch mit den Lebensbedingungen von Menschen mit Beeinträchtigungen in diesem Zeitraum auseinander.58 Diese Aspekte der NS-Herrschaft wurden
allerdings erst in den 1980er Jahren „auf breiter Front“59 erforscht.60
Die in den 1980er Jahren gestarteten Initiativen und Arbeiten zur Aufarbeitung des
Schicksals von Menschen mit einer Behinderung standen im Zusammenhang mit der damaligen Emanzipationsbewegung von Menschen mit einer Behinderung und verfolgten in
ihrer Vermittlung daher spezifische Ziele: Ein Beispiel dafür ist Stefan Romey. Sein 1982
publizierter Aufsatz „Von der Aussonderung zur Sonderbehandlung“61, diente nicht nur der
Darstellung der Lebensbedingungen von Menschen mit einer Behinderung unter dem NSRegime, sondern erfüllte den Zweck, seine tagespolitischen Forderungen, wie die Auflösung
von Sondereinrichtung und Großkliniken, zu untermauern, indem er darauf hinwies, das
bestehende System würde die Wiederholung der unter dem NS-Regime begangenen Verbrechen begünstigen.62 Romey ist ein charakteristisches Beispiel dafür, dass dieses erkenntnisleitende Interesse den Blick auf die konkreten Lebensumstände verhinderte: So stellte er
zwar fest, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung durchaus Überlebensmöglichkeiten
54
55
56
57
58
59
60
61
62
Vgl. Beiträge aus der Reihe „Nazispiegel“ der Zeitschrift „Die Gegenwart“ (Quellenangaben in den Fußnoten zu Kapitel II.11.1); Schöffler, Blinde im Leben des Volkes; Waldtraut Rath, Vorwort, in: Dierks,
Sehgeschädigte Menschen im Nationalsozialismus, S. 7–11, hier S. 8; Hoffmann, Blinde Menschen in der
„Ostmark“, S. 28.
Vgl. Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens.
Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens.
Vgl. die Ausführungen in den Fußnoten von Kapitel II.1.1.
Vgl. Rudnick, Behinderte im Nationalsozialismus. Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat; Rudnik, Aussondern;
Wunder, Sierck, Sie nennen es Fürsorge; Kräuse-Schmitt, Die Ermordung geistig behinderter Menschen
in Grafeneck 1940, S. 8–10; Thom, Die Entwicklung der Psychiatrie, S. 127–165.
Vgl. Schmuhl, Patientenmorde, S. 295–328, hier S. 297.
Der aktuelle Forschungsstand zu diesem Themenkomplex wird in den Fußnoten zu Kapitel II.8 wiedergegeben.
Romey, Von der Aussonderung zur Sonderbehandlung, S. 13–26.
Vgl. Romey, Von der Aussonderung zur Sonderbehandlung, S. 13–26, hier insb. S. 24–25.
31
unter dem NS-Regime hatten, diese allerdings „allein vom Wert“ ihrer „Arbeitskraft“ abhingen.63 Gleichzeitig kam er aber nicht zu dem Umkehrschluss, dass es dementsprechend auch
Integrations- und Kooperationsmöglichkeiten gegeben haben muss. Ein weiteres Beispiel
für eine undifferenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema Anfang der 1980er Jahren
ist Wolfgang Jantzen, der 1982 das Verhältnis von Behinderung und NS-Regime auf die
Kurzformel brachte: „Behinderung = Arbeitsunfähigkeit = Vernichtung“64. Damit ignorierte
Jantzen die Tatsache, dass nicht alle Menschen mit einer Beeinträchtigung unter dem NSRegime getötet wurden und es außerdem unter ihnen durchaus Berufstätige gab.
Wissenschaftlich fundierte Studien, die sich mit Fragestellungen, die über die NS-Rassenhygiene hinausreichten, beschäftigten, erschienen dann beginnend Mitte der 1980er
Jahre und insbesondere in den 1990er Jahren beispielsweise in Deutschland und den USA.
Im Zusammenhang mit der Darstellung von Integrationsmöglichkeiten „arbeitsfähiger“
Menschen mit einer Beeinträchtigung gingen die AutorInnen dieser Arbeiten unter anderem der Frage nach, ob unter Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung sowie
Hör- oder Sehbehinderung nicht nur Opfer, sondern auch TäterInnen waren. Diese internationalen Werke und Thesen stammen von WissenschaftlerInnen wie Carol Poore, Horst
Biesold, Donna Ryan, John Schumacher, Ernst Klee oder Henry Friedlander und werden
im Kapitel II.11.1 besprochen.
Die US-amerikanische Germanistin Carol Poore veröffentlichte 2007 eine kulturgeschichtliche Studie unter dem Titel „Disability in Twentieth Century German Culture“,65 die
einen Schwerpunkt auf die Darstellung von Menschen mit einer Beeinträchtigung in der
Propaganda legte. Im Kapitel „Disability and Nazi Culture“66 rekonstruierte sie ein System
von Menschen mit einer Beeinträchtigung unter dem NS-Regime.67 Ihrer Auffassung nach
gab es drei Hauptgruppen: Zum einen waren dies Kriegsveteranen mit einer Beeinträchtigung, welche in der NS-Propaganda heroisch dargestellt und verehrt wurden. Die zweite
Gruppe bildeten diejenigen Menschen mit einer Behinderung, die als erblich belastet galten
und unter anderem durch das GzVeN verfolgt wurden, sowie die Insassen von Anstalten,
die keiner Arbeit nachgehen konnten. Zwischen diesen beiden Polen ordnete sie die blinden,
gehörlosen und Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen an, für die es offizielle
NS-Organisationen gab und die sich am NS-Regime beteiligten.68 Unberücksichtigt blieben
dabei allerdings Menschen mit einer Behinderung, die jüdischer Herkunft waren.
Die erste wissenschaftliche Studie, die sich dezidiert nur mit blinden Menschen unter
dem NS-Regime befasste, erschien 1986 in Freiburg (D). Die publizierte Dissertation von
Gabriel Richter69 mit dem Titel „Blindheit und Eugenik“70 hatte zum Ziel, die im Rahmen
der NS-Eugenik begangenen Verbrechen an dieser Gruppe von Menschen mit einer Beeinträchtigung aufzuarbeiten. Richters umfangreiche Recherchen zeigten, dass einige blinde
Menschen die Umsetzung des GzVeN aktiv unterstützt hatten. Seine Publikation löste im
63
64
65
66
67
68
69
70
32
Vgl. Romey, Behinderte Menschen unterm Hakenkreuz, S. 9–11, hier S. 9.
Jantzen, Sozialgeschichte des Behindertenbetreuungswesen, S. 156.
Vgl. Poore, Disability in Twentieth-Century.
Poore, Disability in Twentieth-Century, pp. 67–138.
Vgl. Poore, Disability in Twentieth-Century, pp. 67–68.
Vgl. Poore, Disability in Twentieth-Century, pp. 67–68.
Nach Angaben von Ernst Klee war Richter auf dieses Thema gestoßen, da sein Schwiegervater ein Kriegsblinder war. Vgl. Klee, Der blinde Fleck.
Richter, Blindheit und Eugenik.
deutschen Blindenwesen eine öffentliche, breit geführte Diskussion über eine mögliche
Beteiligung blinder Menschen am NS-Regime aus und schuf das Bedürfnis nach weiteren
Untersuchungen.71
Unmittelbar nach dem „Fall der Mauer“ fand vom 2. bis 5. November 1989 in BerlinWannsee ein Seminar zum Thema blinde Menschen unter dem NS-Regime72 statt, an dem
sich 50 blinde und sehende Interessierte, ZeitzeugInnen und WissenschaftlerInnen, darunter
auch Gabriel Richter und Martin Jaedicke, beteiligten. Als Veranstalter trat der „Deutsche
Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V.“ auf, durchgeführt
wurde die Veranstaltung von einer Arbeitsgruppe unter der Leitung von Wolfgang SchmidtBlock. Die Aufsätze der ReferentInnen sowie einige auf diesem Seminar geführte Diskussionen wurden 1991 von Wolfgang Schmidt-Block und Martin Jaedicke zusammengestellt
und herausgegeben.73 In diesem Sammelwerk werden verschiedenste Aspekte der Situation
blinder Menschen unter dem NS-Regime dargestellt und die Sichtweise der ZeitzeugInnen,
etwa durch Berichte der beiden blinden Holocaustüberlebenden Max Edelmann74 und Pavel
Les75, berücksichtigt. Auf Grund zum Teil fehlender Quellenangaben weist diese Publikation
allerdings wissenschaftliche Schwächen auf.
1996 erschien von Wolfgang Drave unter dem Titel „Hier riecht’s nach Mozart und nach
Tosca – Blinde Menschen erzählen ihr Leben“76 ein Buch, das sich mit den Erzählungen
von 28 blinden Frauen und Männern über ihre Leben auseinandersetzte. Drave fungierte
damals als stellvertretender Schulleiter an einer Einrichtung für blinde und sehbehinderte
Menschen in Würzburg und hatte die Betreffenden mittels wissenschaftlicher Methoden
über Aspekte ihres Lebens vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg befragt.
Ein wichtiges Instrumentarium zur Aufarbeitung des Themas lieferte 1998 Klaas Dierks
mit seiner Bibliographie mit dem Titel „Sehgeschädigte Menschen im Nationalsozialismus“.77
Der Verfasser, der Sonderpädagogik mit Schwerpunkt auf blinde und Menschen mit einer
Körperbehinderung sowie Sozialgeschichte und Anglistik an der Universität Hamburg sowie
der University of Durham (England) studiert hatte, erfasste insgesamt 83 zeitgenössische
Zeitungsartikel, 110 Monographien, 27 Aufsätze aus Sammelschriften, drei Zeitschriftentitel
und 2.367 Aufsätze aus über 200 verschiedenen Zeitschriften.78
Bearbeitet wurde das Thema „Blinde Menschen unter dem NS-Regime“ in Deutschland
ebenfalls im Rahmen einiger sozialpädagogischer Facharbeiten, wie beispielsweise von
Anna Hielscher79 oder Ilka Lorenschat80, die durchaus relevante Hinweise liefern, allerdings
hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Qualität und Bearbeitung stark differieren.81
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
Dieser Aspekt wird in Kapitel II.11.1 weiter ausgeführt.
Vgl. Blinde unterm Hakenkreuz [zusammengestellt von Martin Jaedicke, Wolfgang Schmidt-Block].
Vgl. Blinde unterm Hakenkreuz [zusammengestellt von Martin Jaedicke, Wolfgang Schmidt-Block].
Edelmann, Der Tag der Befreiung eines blinden Überlebenden, S. 224–230.
Les, Drei Jahre im Ghetto Theresienstadt, S. 206–224, hier S. 209.
Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben.
Vgl. Dierks, Sehgeschädigte Menschen im Nationalsozialismus.
Einige der dort aufgeführten Titel werden in dieser Studie zitiert, aber diese Bibliographie bietet weitere
relevante Hinweise auf gedruckte Quellen.
Vgl. Hielscher, Blinde im Nationalsozialismus.
Vgl. Lorenschat, Sterilisation Behinderter im Dritten Reich.
Vgl. u. a.: Esser, Bild des blinden Menschen; Sauer, Situation blinder Jugendlicher; Abraham, Historische
und gegenwärtige Aspekte.
33
In derselben Marburger-Schriftenreihe, wie der erwähnte Bericht über das Seminar in
Berlin-Wannsee 1989, erschien 2002 die Dissertation des 1986 vom Iran nach Deutschland übersiedelten Politik- und Geisteswissenschaftlers Mohammad Reza Malmanesh:82
„Blinde unter dem Hakenkreuz. Eine Studie über die Deutsche Blindenstudienanstalt Marburg und den Verein der blinden Akademiker Deutschlands e. V. unter dem Faschismus.“83
Diese Arbeit setzte sich in erster Linie mit der Rolle der „Blindenstudienanstalt“ in
Marburg an der Lahn auseinander. Die dortige „Blindenstudienanstalt“ war eine der
umfassendsten Ausbildungsstätten für Kriegs- und Zivilblinde unter dem NS-Regime.
Malmanesh geht dabei ausführlich auf die Schwierigkeiten bei der Bearbeitung dieses
Themas auf Grund nicht mehr auffindbarer Quellen ein. 84 Für österreichische Fragestellungen ist diese Studie ebenfalls von Bedeutung, da Zivil- und Kriegsblinde aus der
„Ostmark“ in Marburg an der Lahn ausgebildet wurden, auch wenn auf diesen Umstand
nicht explizit eingegangen wird.
Im selben Jahr erschien ein regionalgeschichtlicher Beitrag von Christhard Schrenk.
Der Historiker und Leiter des Stadtarchivs Heilbronn bearbeitet das Leben von Rudolf
Kraemer (1885–1945)85 und damit die Lebensbedingungen desjenigen blinden Rechtsanwaltes und Aktiven der Blindenselbsthilfebewegung, der als Ausnahmeerscheinung gilt,
weil er sich durch seine 1933 veröffentlichte Schrift „Kritik der Eugenik“86 öffentlich gegen
die NS-Diktatur stellte.87
Die Lebensbedingungen blinder Menschen, die in der „Ostmark“ lebten, wurden bisher
nur ansatzweise bearbeitet. Dies dürfte damit in Zusammenhang stehen, dass eine wissenschaftliche Aufarbeitung der im Zuge der Zwangssterilisierungen und NS-„Euthanasie“
begangenen Verbrechen in Österreich im Vergleich zu Deutschland „erst sehr spät“88 erfolgte.
Dieser Umstand dürfte offenbar in der Folge eine über diese Fragestellungen hinausgehende
Auseinandersetzung mit Aspekten der Lebensbedingungen von Menschen mit einer Behinderung unter den NS-Machthabern verzögert haben. Dementsprechend kam es erst in den
letzten Jahren zu einer wissenschaftlichen Bearbeitung des Themas gehörlose Menschen
unter der NS-Diktatur durch beispielsweise eine Diplomarbeit 2003 von Andrea Runggatscher89 sowie durch ein Forschungsprojekt (Mai 2008 bis April 2009) von Verena Krausneker vom Institut für Sprachwissenschaften Wien. Krausneker publizierte gemeinsam
mit Katharina Schalber 2009 eine DVD mit acht Kurzfilmen unter dem Titel „Gehörlose
82
83
84
85
86
87
88
89
34
Weitere Informationen zur Biografie vgl. Dr. Mohammad Reza Malmanesh (Hrsg.), <www.malmanesh.
de>, Download am 26.7.2009.
Vgl. Malmanesh, Blinde unter dem Hakenkreuz.
Diese Arbeit ist darüber hinaus für blinde Menschen von besonderem Wert, da sie in einer digitalen, barrierefreien Version erschienen ist.
Vgl. Schrenk, Kraemer.
Vgl. Kraemer, Kritik der Eugenik.
Seine Tätigkeit als Rechtsanwalt und Funktionär im Blindenwesen konnte er nach der Veröffentlichung
seines Aufsatzes „Kritik der Eugenik“ auf Grund von Repressalien durch das NS-Regime nicht mehr ausüben. Er war aber weiterhin im Management von Blindenkonzerten tätig, bis er im Juli 1945 einem Herzleiden erlag.
Vgl. hierzu auch die dort wiedergegebene Literatur: Neugebauer, Zwangssterilisierungen und „Euthanasie“, S. 17–28 hier S. 17.
Runggatscher, Lebenssituation gehörloser Menschen.
Österreicherinnen und Österreich im Nationalsozialismus“90, die nach Intention der Au­torin­
nen vor allem im Schulunterricht verwendet werden sollte.91
Teilaspekte der Situation blinder Menschen jüdischer Herkunft unter dem Nationalsozialismus erforschte Herbert Exenberger, ein inzwischen im Ruhestand befindlicher Mitarbeiter des DÖW. Im Zuge seiner Mitarbeit an einer 1996 veröffentlichten Studie über
die Vertreibungen von MieterInnen jüdischer Herkunft aus Wiener Gemeindewohnungen
verfasste Exenberger ein eigenes Kapitel über betroffene blinde BewohnerInnen jüdischer
Herkunft.92 Im November 1999 hielt er auf dem „Jüdischen Institut für Erwachsenbildung“
in Wien ein im Internet veröffentlichtes Referat mit dem Titel „Vertrieben, verfolgt, ermordet.
Jüdische Blinde in Wien“93 und fertigte diverse unveröffentlichte Aufsätze über Kriegsblinde
jüdischer Herkunft an.94 1999 verfasste Corinna Wolffhardt eine Diplomarbeit über das
„Israelitische Blindeninstitut“ auf der Hohen Warte in Wien. Auf die Ereignisse nach dem
„Anschluss“ und die Zerstörung dieser Einrichtung geht sie nach eigenen Angaben nur
„bruchstückhaft“ ein, was sie mit der „dürftigen Quellenlage“ begründet.95
2003 erschien ein von Shosana Duizend-Jensen verfasster Artikel über Menschen jüdischer Herkunft mit einer Behinderung in der österreichischen Fachzeitschrift „Bizeps“.
Darin werden unter anderem einzelne Aspekte der Verfolgung blinder Menschen jüdischer
Herkunft quellenfundiert herausgearbeitet.96 Ihre Erkenntnisse über das jüdische Vereinswesen eignete sie sich durch ihre 2004 erschienene Arbeit über „Arisierungen“ und Restitution
bei jüdischen Gemeinden, Vereinen, Stiftungen und Fonds an.97 Die Ergebnisse dieser Studie
wurden bei Erstellung dieser Arbeit ebenso herangezogenen wie die in derselben Reihe
erschienene Darstellung von Verena Pawlowsky, Edith Leisch-Prost und Christian Klösch
über Vereine im Nationalsozialismus.98
Einen wichtigen Beitrag zu den Lebensbedingungen Kriegsblinder lieferte der Historiker
und Blindenlehrer Otto Jähnl, der 1996 seine Dissertation unter dem Titel „Die österreichischen Kriegsblinden beider Weltkriege“99 veröffentlichte. Jähnl berücksichtigte den Zeitraum
zwischen 1938 und 1945 allerdings nicht explizit in seinen wissenschaftlichen Fragestellungen und geht auf die Situation Kriegsblinder unter dem NS-Regime daher nur am Rande
ein. Darüber hinaus gibt es bisher keine Monographie oder keinen Aufsatz, die bzw. der
sich mit dem Sonderschicksal von Kriegsblinden unter der NS-Herrschaft auseinandersetzt.
Demzufolge stellten publizierte Lebensberichte einen wichtigen Erkenntnisbeitrag dar.
Walter Malasek veröffentlichte seine Autobiographie zu einem unbekannten Zeitpunkt
90
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99
Krausneker, Schalber, Gehörlose Österreicherinnen und Österreicher im Nationalsozialismus. [Vgl. zu
diesem Thema auch die auf der DVD befindliche Literaturliste.]
Krausneker, Schalber, Gehörlose Österreicherinnen und Österreicher im Nationalsozialismus. [Vgl. zu
diesem Thema auch die auf der DVD befindliche Literaturliste.]
Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 71–75.
Vgl. Exenberger, Jüdische Blinde in Wien.
Vgl. Exenberger, 1916 erblindet am Cellon; Exenberger, Das Israelitische Blindeninstitut auf der Hohen
Warte. [Unveröffentlichtes Manuskript. Exenberger stellte die Beiträge freundlicherweise der Autorin zur
Verfügung.]
Vgl. Wolffhardt, Israelitische Blindeninstitut Hohe Warte, S. 6 und S. 100–103.
Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Behinderte in Österreich.
Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden.
Pawlowsky, Leisch-Prost, Klösch, Vereine im Nationalsozialismus.
Jähnl, Kriegsblinden.
35
im Rahmen einer Gedichtsammlung.100 Der Wiener erblindete 1944 und erlebte das Ende
des Krieges in Wien. Eine weitere Autobiographie eines österreichischen Kriegsblinden
ist wesentlich umfassender und stammt von Bernhard Lindmayr, der als 18-Jähriger im
April 1945 erblindete. Sein 2007 erschienenes Buch trägt den Titel „Erfülltes Leben“.101 Auf
Grund der erst gegen Ende des Krieges erfolgten Erblindungen von Malasek und Lindmayr
können die beiden Autoren allerdings nur wenige Angaben zur Versorgung Kriegsblinder
unter der NS-Diktatur machen. Ebenfalls im April 1945 erblindete Willi Finck, ein Flieger
der Wehrmacht, der nach Ende des Zweiten Weltkrieges in der DDR lebte und 1998 seine
Lebenserinnerungen102 und 2005 das Buch „Zwischen Licht und Schatten – Kriegsblinde in
der DDR“103 veröffentlichte. Finck geht insbesondere in dem Kapitel „Der Bund erblindeter
Krieger im Spiegel der NS-Politik und NS-Weltanschauung“104 auf die Beteiligung der NSKOV
„Fachabteilung erblindeter Krieger“ am NS-Regime ein.105 Seine Informationen beruhten
neben persönlichen Erfahrungen auf Quellenrecherchen. Auf Grund seiner persönlichen
Betroffenheit und seiner vom Duktus der DDR geprägten Sprache gelingt Finck allerdings
keine ausgewogene Darstellung. Wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse wurden bisher
lediglich zum Thema Kriegsopfer allgemein veröffentlicht, wie durch die beispielsweise
aus dem angloamerikanischen Raum stammenden Historiker James Diehl106 und David
Gerber107 sowie zu Teilaspekten wie beispielsweise der Umgang mit Soldaten, die nach einer
Verwundung an psychischen Beeinträchtigungen litten.108
Zu keiner fundierten Aufarbeitung der Rolle blinder Menschen unter dem NS-Regime
kam es bisher seitens der Blindenvereine. In diversen Jubiläumsschriften sollte zwar die
Geschichte des Blindenwesens dargestellt werden, allerdings diente dies vor allem dazu,
die Errungenschaften der jeweiligen herausgebenden Organisation zu veranschaulichen.
In diesen Publikationen findet sich daher lediglich der Hinweis, dass 1938 alle für blinde
Menschen relevanten Vereine aufgelöst wurden und nur mehr die zugelassenen NS-Blindenorganisationen unter NSV-Aufsicht weiterhin tätig waren.109 Personelle Kontinuitäten
durch blinde Funktionäre, die zwischen 1938 bis 1945 im Reichsdeutschen Blindenverband
(RBV) oder anderen NS-Organisationen aktiv waren und nach 1945 sich an den wiedergegründeten Blindenvereinen betätigten, blieben dabei ebenso unerwähnt wie die Verbrechen
an blinden Menschen im Zuge der NS-„Euthanasie“ oder dem Holocaust.
Einen nennenswerten, wenn auch nicht wissenschaftlichen Beitrag zur Erinnerung an
die Vertreibung und Vernichtung von blinden Menschen, die auf Grund der „Nürnberger
100
101
102
103
104
105
106
107
108
109
36
[Malasek], Vom Waffenrock zum Blindenstock, S. 1–57.
Vgl. Lindmayr, Erfülltes Leben.
Finck, Leben jenseits des Lichts.
Willi Finck, Kriegsblinde in der DDR. [2006 publizierte Willi Finck außerdem noch ein Buch über die
Geschichte der Erholungsheime für Kriegsblinde. Der Schwerpunkt dieser Publikation liegt allerdings auf
der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Vgl. Finck, Geschichte der Kurfürsorge.]
Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 194–213.
Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 194–225.
Diehl, The Thanks of the Fatherland; Diehl, Disabled Veterans in the Third Reich.
Gerber, Disabled Veterans, pp. 899–916.
Vgl. u. a. Blaßneck, Militärpsychiatrie im Nationalsozialismus; Komo, Die Militärpsychiatrie in den Weltkriegen; Müller, Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg.
Vgl. Schmid, Chronologie der Blindenselbsthilfe, S. 70–74, hier S. 72; Benesch, 175 Jahre Blindenfürsorge
in Österreich, S. 10–36, hier S. 27; Hartig, Schmid, Martini, Chronologie der Blindenselbsthilfe in Österreich, S. 8–11.
Rassengesetze“ als Jüdinnen und Juden galten, leistete die „Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs“, beispielsweise durch die Enthüllung eines Mahnmals
1966110 und die Errichtung einer Tafel zur Erinnerung an das ehemalige „Israelitische Blindeninstitut“ im nunmehrigen Bezirkspolizeikommissariat Döbling 2002 in Wien.111 Dieses
Engagement ging von der Vereinsleitung aus, die ab 1952 Robert Vogel inne hatte. Vogel war
im Alter von 19 Jahren in Wien erblindet und musste auf Grund seiner jüdischen Herkunft112
vor dem NS-Regime im November 1938 nach Holland flüchten.113
An dieser Stelle wurde nur ein kurzer Überblick über den aktuellen Forschungsstand
gegeben. Weitere Hinweise, insbesondere zu einzelnen Teilaspekten, werden in den betreffenden Unterkapiteln angesprochen. Da es sich bei dieser Publikation um eine gekürzte
und überarbeitete Version der Dissertation der Autorin handelt, können weitere Angaben
auch diesem wissenschaftlichen Manuskript entnommen werden.114
110
111
112
113
Vgl. Kapitel IV.6.1.
Vgl. Kapitel IV.5.3.2.
Zur Verwendung des Begriffes „jüdischer Herkunft“ vgl. Kapitel IV.1.1.
Vgl. Kapitel IV.4. Robert Vogel verstarb 2001. Daraufhin übernahm sein Sohn Heinz Vogel die Vereinsleitung bei der Hilfsgemeinschaft.
114 Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“.
37
4.Definitionen von Blindheit und Sehbehinderung
im zeitgenössischen Diskurs
Ein Problem bei der Erfassung blinder Menschen ist die Frage, wie „Blindheit“ definiert
wird.115 Weit verbreitet in der Bevölkerung ist der Irrglauben, dass Personen, die „blind“
sind, überhaupt keinen Lichtschein wahrnehmen. Dies ist historisch wie aktuell unrichtig,
da sowohl im Untersuchungszeitraum wie heute Personen als „blind“ gelten, auch wenn
sie schwache Lichtempfindung haben. Die Möglichkeit, beispielsweise hell und dunkel zu
unterscheiden, ist zwar für die Betroffenen bei der Orientierung durchaus hilfreich. Zur
Alltagsbewältigung werden aber auch in diesem Fall entsprechende Hilfsmittel, Schulungen und/oder fallweise fremde Hilfe benötigt. Im 20. Jahrhundert hat sich der Begriff
„Blindheit“ daher sinnhaft um Formulierungen wie „‚sozialblind‘, ‚praktischblind‘ oder
auch ‚erwerbsblind‘“116 erweitert. Diese Gegebenheiten wurden von der Sozialgesetzgebung bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts berücksichtigt. Dies geschah aber
nicht einheitlich und führte dazu, dass die Festlegungen von „Blindheit“ in privat-, schul-,
versicherungs- und versorgungsrechtlichen Bestimmungen voneinander abwichen.117 Im
Folgenden werden die diesbezüglichen Bestimmungen in Deutschland referiert, da diese
durch die Einführung der deutschen fürsorgerechtlichen Bestimmungen in der „Ostmark“
ab 1938 für den Untersuchungszeitraum dieser Studie relevant waren.118
In Deutschland legten zunächst die Ausführungsbestimmungen vom 16. November 1920
zu § 29 des „Reichsversorgungsgesetzes“ vom 12. Mai 1920 fest: „Als blind im Sinne dieser
Vorschrift gelten alle Beschädigten, deren Sehvermögen so gering ist, daß es wirtschaftlich
wertlos ist.“119 Gemäß dieser Bestimmung lag eine „praktische“ Erblindung vor, wenn „noch
1/50 bis 1/25 der normalen Sehschärfe, d. h. der mit gewöhnlichen Hilfsmitteln zu erreichenden
Sehleistung, erhalten“ war.120
Unter dem NS-Regime wurde dann der Personenkreis der „praktisch Erblindeten“
in den Durchführungsbestimmungen des Wehrmachtsfürsorge- und -versorgungsgesetzes (WFVG) vom 26. August 1938 erweitert. Demnach konnte eine praktische Blindheit
auch zuerkannt werden, wenn das Sehvermögen besser war als ein Fünfzigstel bis ein
Fünfundzwanzigstel der normalen Sehschärfe, aber zusätzlich auf Grund der Art und
Weise der Erkrankung oder Schädigung eine erhebliche Einschränkung des Gesichtsfeldes
vorlag, Augenzittern oder Nachtblindheit auftrat oder wenn eine krankhafte Veränderung im Augeninneren die Sehleistung herabsetzte.121 Diese Definition einer so genannten
115
116
117
118
119
Vgl. Kapitel II.1.1.
Schöffler, Blinde im Leben des Volkes, S. 32.
Vgl. Schrenk, Kraemer, S. 15–16.
Vgl. Kapitel II.2; Kapitel III.2.
[D] RGBl., Nr. 225, Ausführungsbestimmungen zum Reichsversorgungsgesetz vom 12. Mai 1920, erlassen
am 16. November 1920, S. 1907–1985, hier S. 1922.
120 Vgl. [D] RGBl., Nr. 225, Ausführungsbestimmungen zum Reichsversorgungsgesetz vom 12. Mai 1920,
erlassen am 16. November 1920, S. 1907–1985, hier S. 1922.
121 Vgl. [D] RBGl., Teil I, Durchführungsbestimmungen zum WFVG vom 29. September 1938, S. 1293–1308,
Erläuterungen zu § 93.1. Mit der Einführung des WFVG und der Verordnung zur Durchführung und Ergänzung der Reichsarbeitsdienstverordnung vom 3. Feber 1939 wurden diese Bestimmungen auch in der
„Ostmark“ relevant. Vgl. Kapitel III.2.3; GBlÖ, Nr. 222/1939, Erste Verordnung zur Durchführung und
Ergänzung des RADVG vom 3. Februar 1939.
38
„praktischen Blindheit“ entsprach nach damaliger Auffassung dem zeitgenössisch „neuesten
wissenschaftlichen Forschungen“.122 Auf Bestreben der NSDAP und des Reichsdeutschen
Blindenverbandes (RBV) sollte diese Definition dann auch von weiteren NS-Organisationen berücksichtigt werden. Dementsprechend erweiterte beispielsweise der „Reichsverband
für das Blindhandwerk“123 per Erlass des „Reichs- und Preußischen Arbeitsministers“
bereits im April 1938 seine Bestimmungen zur Definition von Blindheit.124 1939 erfolgte
eine Anpassung innerhalb des Steuerrechts, das für erwerbstätige blinde Menschen Sondervorschriften vorsah.125 Die Erweiterung des Personenkreises, der von diesen Bestimmungen erfasst werden sollte, hatte als offizielles Ziel, mehr blinden oder hochgradig
sehbehinderten Menschen Maßnahmen zur Verbesserung ihrer beruflichen Integration
zukommen zu lassen.
Von diesen Bestimmungen abweichend war allerdings die Definition von Blindheit im
GzVeN:
„Als blind werden auch solche Menschen zu erachten sein, die zur Ausübung eines
gewöhnlichen Berufes untauglich sind, also anderen zu Last fallen, ferner Menschen,
die im Kindesalter zum Schulbesuch infolge hochgradiger Sehschwäche untauglich
sind und daher in einer Blindenanstalt unterrichtet werden müssen […].“126
Diese Auslegung ließ Raum für willkürliche Einstufungen und ermöglichte es, auch sehbehinderte Menschen unter der GzVeN-Diagnose „erbliche Blindheit“ erfassen zu können.127
Überprüft werden sollte eine „Erblindung“ durch eine „fachärztliche Untersuchung“.128
Die FachärztInnen hatten viel Raum für ihre Beurteilung. Der Leiter der Städtischen Augenklinik Dortmund, Martin Bartels, meinte dementsprechend im 1939 vom RBV herausgegebenen „Ratgeber für Blinde“:129 „Eine scharfe Grenze ist überhaupt nicht zu ziehen.“130
Für diese Studie bedeutete diese unterschiedliche und teilweise willkürliche Auslegung
des Begriffes „Blindheit“ und „praktische Erblindung“ in den Quellen, dass nicht eindeutig
definiert werden kann, wer unter dem NS-Regime als blind, praktisch blind oder sehbehindert galt. Dies ist allerdings, wie eingangs erwähnt, kein dezidiertes Spezifikum der
NS-Zeit.131 Deshalb wird im Folgenden der Begriff „blind“ nicht in Anführungsstriche
gesetzt, da es auch in heutiger Zeit schwierig wäre, diesen genau zu bestimmen. Wolfgang
Drave meinte dazu:
122 Vgl. BAB, R 2, RFM, Zl. 20435, GZ H. VIII 3/2, NSDAP Reichsleistung an den RMdF vom 16.2.1939, Betreff: Praktische Blindheit.
123 Vgl. Kapitel II.6.2.
124 Vgl. BAB, R 2, RFM, Zl. 20435, Richtlinien zur Beurteilung der praktischen Blindheit vom Reichsverband
für das Blindenhandwerk vom April 1938.
125 Vgl. Kapitel II.2.4.1; BAB, R 2, RFM, Zl. 20435, S 2100–21 III, Nr. 873, Runderlass RMdF vom 15.6.1938,
Betreff: Steuerliche Behandlung der Blinden.
126 Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz, S. 107–108.
127 Vgl. II.8.2.2
128 Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 9 [!] –7. [Im Original liegt ein Druckfehler vor, die richtige Seitenzahl
müsste 6 lauten. Bartels war Leiter der Städtischen Augenklinik Dortmund.]
129 Vgl. Meurer, Ratgeber für Blinde.
130 Vgl. Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 3.
131 Vgl. weiterführend: European Blind Union, Integration – eine Vision.
39
„Blindheit ist ein wesentlich komplexerer Begriff und beinhaltet neben der medizinischen Definition […] auch psychologische, soziologische und pädagogische
Komponenten.“132
132 Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 10.
40
II. Zivilblinde
1.Ausmaß und Ursachen von Erblindungen
unter der Zivilbevölkerung
1.1 Statistische Erfassung blinder Menschen
Die Frage, wie viele Zivilblinde in Österreich zwischen 1938 und 1945 lebten, kann nicht
exakt beantwortet werden. Dies liegt zum einen daran, dass nur wenige Quellen existieren,
die konkrete Informationen liefern können. Zum anderen birgt die statistische Erfassung
blinder Personen generell Problematiken. Da es keine einheitlichen Anerkennungskriterien
und -verfahren bei der Definition von Blindheit gab, ist es schwierig, bei einer Erhebung
Personen als blind oder als sehbehindert einzustufen.133
Bei der Interpretation des Datenmaterials zu Blindheit muss daher immer hinterfragt
werden, welche Kriterien für die Definition von Blindheit verwendet wurden. Häufig lassen
sich dazu allerdings keine Hinweise finden. Weiter muss beachtet werden, wer die Angaben
machte: Wurden die Betroffenen von ÄrztInnen als „blind“ diagnostiziert oder beruhen
die Aussagen auf eigenen Einschätzungen? Tatsächlich verfügen viele blinde Menschen
noch über ein Empfinden von hell und dunkel oder über einen minimalen Sehrest.134 Dies
kann dazu führen, dass sie sich selbst als „sehbehindert“ einschätzen, auch wenn sie medizinisch gesehen als „praktisch blind“ gelten müssen. Betroffene können außerdem unter
Umständen mit dem eigenen Schicksal besser umgehen, wenn sie sich nicht als „vollblind“,
sondern als „sehbehindert“ wahrnehmen. Da das Vorliegen einer Behinderung auch eine
negative Stigmatisierung bedeutete und immer noch bedeutet, versuchen Betroffene, diese
zu vertuschen. Es stellt sich daher die Frage, wie ehrlich Betroffene selbst über ihre Sehbehinderung Auskunft geben, wenn die Angaben nicht von einer Medizinerin bzw. einem
Mediziner oder einer anderen Instanz überprüft werden. Statistische Erhebungen über
blinde Menschen zeigen daher bestenfalls Größenordnungen. Vor diesem Hintergrund
müssen generell statistische Angaben über blinde Menschen beurteilt werden.
Die hier erwähnten Schwierigkeiten bei der statistischen Erhebung von blinden Menschen spielten schon im zeitgenössischen Diskurs des 20. Jahrhunderts eine Rolle.135
Viktor Gehrmann beschäftigte sich im Jahr 1919 in seinem Aufsatz über das Ergebnis der
„Gebrechlichenzählung“ im Rahmen der Volkszählung 1910 ausgiebig mit den Problemen
der Erfassung von blinden Menschen bei Volkszählungen. Insbesondere verwies er auf die
eigentlich notwendige ärztliche Überprüfung der durch die Volkszählung gewonnenen
Ergebnisse. Trotzdem wurde diese bei dieser Volkszählung nicht durchgeführt.136 Auch
133 Vgl. Kapitel I.1., I.4.
134 Vgl. Kapitel I.4.
135 Vgl. Crzellitzer, Blindenwesen, S. 163–171, hier S. 163–164. [Zur Problematik bei der Erstellung der ersten
Blindenstatistik in der Habsburgermonarchie im Rahmen der allgemeinen Volkszählung 1869 vgl. auch
die dort angegebene Literatur: Wolffhardt, Israelitische Blindeninstitut Hohe Warte, S. 9–10.]
136 Vgl. Gehrmann, Blinden und Taubstummen, S. 1–104, hier 9–12.
41
das Problem der Definition von Blindheit und die Abgrenzung zur Sehbeeinträchtigung
beschrieb Gehrmann: „Sind nur auf einem oder beiden Augen blinde Personen zu zählen?
Wo hört Schwachsichtigkeit auf, wo beginnt Blindheit?“137
1910 wurde für die so genannten „Alpenländer“ eine Zahl von 5.578 blinden Menschen
ermittelt.138 Diese Zahl wurde allerdings von Siegfried Altmann, dem damaligen Direktor
des „Israelitischen Blindeninstituts“ auf der Hohen Warte in Wien, in seinem 1930 publizierten Aufsatz über das Blindenwesen139 in Österreich als zu hoch eingeschätzt. Er verweist in
diesem Zusammenhang auf die Umstände der Volksbefragung. Die Rubrik „blind“ auf den
Zählbögen sei nicht näher erklärt und daher seien wohl auch Personen mit verschiedenen
„Gebrechen“ zu dieser Kategorie gezählt worden.140 Nach Altmann gab es nach 1910 keine
neue, spezielle amtliche Blindenzählung mehr.141 Trotzdem nannte Altmann 1930 eine
Gesamtanzahl von 3.663 Zivilblinden für Österreich. Zu diesem Ergebnis kam er durch eine
private Erhebung aus dem Jahr 1928.142 Auch hier fehlt eine Erläuterung, wie diese zustande
gekommen ist und welche Kriterien für die Ermittlung von „Blindheit“ verwendet wurden.
Zu der Anzahl der Zivilblinden in Österreich konnte nur mehr eine weitere statistische
Angabe aus dem Jahr 1938 recherchiert werden. Bei der 194. Sitzung der „Tarifkommission
der Deutschen Eisenbahnverwaltung“ im Dezember 1938 in München wurde ein Antrag auf
Ermäßigungen der Tarife für Zivilblinde gestellt. Zur Berechnung des zu erwartenden Einnahmeausfalles wurde angegeben, dass für Österreich eine Gesamtzahl von 4.000 blinden
Menschen angenommen werde. Diese Daten sollen auf einer Auskunft des Reichsdeutschen
Blindenverbandes (RBV) beruhen.143 Der RBV war nach dem „Anschluss“ 1938 auch für
die „Ostmark“ zuständig. In dieser Zahl sind allerdings die rund 350 Kriegsblinden mit
eingerechnet.144 Die Interessenvertretung blinder Menschen, der RBV, ging also von der
gleichen Zahl wie Altmann aus. In Ermangelung weiterer Quellen muss daher die Anzahl
von 3.650 Zivilblinden zur Zeit des „Anschlusses“ für Österreich als ungefähre Größenordnung angesehen werden.
137 Gehrmann, Blinden und Taubstummen, S. 1–104, hier S. 3.
138 Vgl. Gehrmann, Blinden und Taubstummen, S.1–104, hier S. 14. Für die Anzahl blinder Menschen in den
„Alpenländern“ wurden die Angaben der Länder Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark,
Kärnten, Tirol und Vorarlberg herangezogen. Insgesamt lebten nach diesen Angaben 1910 19.816 blinde Menschen in der österreichisch-ungarischen Monarchie (Gesamtbevölkerungszahl 27,939.285). Auf
10.000 EinwohnerInnen kamen 6,9 Blinde, berechnet aus den Ergebnissen der Volkszählung. Die Anzahl
der blinden Menschen ist demnach seit 1880 erheblich zurückgegangen: Zu diesem Zeitpunkt waren von
10.000 EinwohnerInnen 9,1 blind gewesen. Vgl. Gehrmann, Blinden und Taubstummen, S. 1–104, hier
S. 13.
139 Verstanden werden darunter nicht nur die blinden Menschen selbst, sondern alle Personen, Gruppen,
Einrichtungen und Initiativen, die sich für sie einsetzen, und schließlich sämtliche Gesetze und Verordnungen, die sich direkt oder indirekt mit blinden Personen befassen. Diese Formulierung wird in ihrer
ursprünglichen Bedeutung bis heute verwendet, ist allerdings unter Fachleuten umstritten. Vgl. Malmanesh, Blinde unter dem Hakenkreuz, S. 14; Karl Sobotka, Das deutsche Blindenwesen vom Gesichtspunkt
der Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik, Borna 1936, S. 1, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 10.
140 Vgl. Altmann, Blindenwesen, S. 146–162, hier S. 149.
141 Vgl. Altmann, Blindenwesen, S. 146–162, hier S. 149.
142 Vgl. Altmann, Blindenwesen, S. 146–162, hier S. 149.
143 Vgl. BAB, Reichsverkehrsministerium, R 5/3048, Auszug 194. Sitzung der ständigen Tarifkommission der
Deutschen Eisenbahnverwaltung in München vom 6., 7., 8.12.1938, S. 141.
144 Vgl. Kapitel III.1.1.
42
Gesamt
Wien (Stadt u. Land)
1.372
Niederösterreich
323
Oberösterreich
447
Steiermark
704
Kärnten
275
Salzburg
165
Tirol
226
Vorarlberg
91
Burgenland
60
Zahl der Zivilblinden
Hierzu Zahl der
Kriegsblinden in allen
Bundesländern
Gesamtzahl der Blinden
in der Österreichischen
Republik
1–20
Jahre
21–50
Jahre
über 50
Jahre
früh
erbl.
spät
erbl.
beschult
in Heimen**)
204
538
630
646
726
179
286
40
117
290
165
282
24
36
35
130
3
25
7
10
17
148
3.663
350
4.013
**) mitgezählt sind hier auch jene Blinden, die in allgemeinen Versorgungshäusern befürsorgt
werden. Quelle: Siegfried Altmann, Das Blindenwesen in Österreich, in: Carl Strehl (Hrsg.), Handbuch der Blindenwohlfahrtspflege. Teil II. Europa und Nordamerika, Marburg 1930, S. 146–162,
S. 149.
Abb. 01: Erhebung über blinde Menschen von Siegfried Altmann (1928).
Diese Zahl entspricht in etwa den Verhältnissen in Deutschland. Für das Gebiet des „Altreiches“ wurden 1938 von der „Tarifkommission der Deutschen Eisenbahnverwaltung“,
laut Angaben des RBV, 32.000 Zivilblinde angenommen.145 Danach gab es also rund 35.650
Zivilblinde im „Deutschen Reich“ einschließlich der „Ostmark“.
In einem von Peter Meurer herausgegebenen „Ratgeber für Blinde“,146 der 1939 im Verlag
des RBV erschien, wurden die Zahlen für das „Deutsche Reich“ allerdings nicht bestätigt.
Zu Österreich wurden keine Angaben gemacht, sondern nur die Zahlen der zur Zeit der
Weimarer Republik durchgeführten „Reichsgebrechlichenzählung“ aus dem Jahre 1926/27
wiedergegeben.147 Diese Zählung gilt in der Fachliteratur als die wichtigste statistische Erhebung dieser Art in der Zwischenkriegszeit, auch wenn ihre Ergebnisse in Frage gestellt
werden müssen, da nur ein Teil der Daten von MedizinerInnen erhoben wurde.148 Ihre
Ergebnisse können daher wieder nur ungefähre Richtwerte liefern. Da es eine vergleichbare
umfassende Befragung in diesem Zeitraum in Österreich nicht gab, lohnt es sich trotzdem,
diese Auswertung näher zu betrachten. Nach den Angaben dieser Statistik lebten damals
im „Deutschen Reich“ 33.192 blinde Menschen, 19.157 Männer und 14.035 Frauen.149 Das
bedeutet, der Anteil der blinden Männer überwog mit 57,72 Prozent zu 42,28 Prozent.150
145 Vgl. BAB, Reichsverkehrsministerium, R 5/3048, Auszug 194. Sitzung der ständigen Tarifkommission der
Deutschen Eisenbahnverwaltung in München vom 6., 7., 8.12.1938, S. 141.
146 Meurer, Ratgeber für Blinde.
147 Vgl. Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 1.
148 Richter, Blindheit und Eugenik, S. 8
149 Vgl. o. A., Die Ergebnisse der Reichsgebrechlichenzählung 1915/1926, S. 408.
150 Auch bei der „Gebrechlichenzählung“ im Rahmen der Volkszählung 1910 in der österreichisch-ungarischen Monarchie überwog die Zahl der männlichen Blinden, wenn auch zu einem geringen Prozentsatz von 51,58 Prozent zu 48,42 Prozent. Hierbei wurde die Angabe für die Alpenländer herangezogen.
43
Für die angenommene Größenordnung von 3.650 Zivilblinden in Österreich würde diese
Aufteilung bedeuten, dass 1938 rund 2.107 männliche und 1.543 weibliche Blinde in Österreich lebten.
Neben dem Anteil von Männern und Frauen an der Gesamtzahl wurde 1926/27 in der
Weimarer Republik auch noch die Zahl der Menschen mit mehrfachen Beeinträchtigungen
erhoben. Danach waren 3.106 der 33.192 blinden Menschen von zusätzlichen Behinderungen
wie Gehörlosigkeit oder Schwerhörigkeit sowie körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen betroffen, die nicht weiter ausgeführt wurden.151 Laut diesen Angaben hatten also
9,36 Prozent der blinden Menschen eine zusätzliche Behinderung. Legt man diesen Prozentschlüssel auf Österreich um, bedeutet dies, dass rund 328 blinde Menschen noch eine
weitere Beeinträchtigung aufwiesen. Diese Größenordnung ist insofern von Bedeutung, da
unter ihnen viele als „berufsunfähig“ galten und sie daher mehr durch die NS-„Euthanasie“
bedroht waren als andere blinde Menschen.152
Auf Basis der Daten der „Reichsgebrechlichenzählung“ wurde auch die Altersstruktur
blinder Menschen erhoben.153 Demnach waren fast 20 Prozent der Blinden unter fünf Jahre
alt. Das entspricht der Tatsache, dass viele Erblindungen bereits im Kindesalter auftraten.
Für die RassenhygienikerInnen war diese Zahl Grund genug, auf die Bedeutung der „Prophylaxe“ hinzuweisen.154 In einer Aufstellung in der deutschen Zeitschrift „Der Blindenfreund“ wurde das Erblindungsalter von 1.425 Erwachsenen und 1.332 Kindern untersucht.
Demnach waren 25,83 Prozent der untersuchten blinden Menschen von Geburt an blind
und 1.244, das entspricht 22,56 Prozent, erblindeten im Alter zwischen eins und fünf.155
Allerdings wurden für diese Angaben nur blinde Menschen herangezogen, die in Anstalten
lebten. Späterblindete Erwachsene, die meist nicht mehr von den Blindenanstalten versorgt
wurden, wurden in dieser Statistik daher wohl nicht berücksichtigt.
Auch wenn es sicherlich viele blinde Menschen gab, die schon in ihrer Kindheit oder
Jugend erblindet waren: Augenerkrankungen sind auch Alterserscheinungen. Helmut
Pielasch und Martin Jaedicke schätzten daher 1971, dass etwa 45 Prozent der blinden Menschen unter dem NS-Regime zum Zeitpunkt ihrer Erblindung über 50 Jahre alt waren.156
151
152
153
154
155
156
44
Mögliche Gründe für eine höhere Anzahl von männlichen Blinden sind Arbeitsunfälle und eventuelle
Krankheiten, die bei Männern häufiger auftraten. Nach dem Ersten Weltkrieg kam zusätzlich hinzu, dass
die Kriegsblinden in die Erhebungen aufgenommen wurden. Vgl. Gehrmann, Blinden und Taubstummen, S. 1–104, hier S.19.
Vgl. Gehrmann, Blinden und Taubstummen, S. 1–104, hier S. 19.
Vgl. Kapitel II.8.3.
Vgl. Bartels, Hygiene, S.1–15, S. 1. [Tabellarische Darstellung: Hoffmann, Blinde Menschen in der Ostmark, S. 527.]
Vgl. Osw. Hübner, Statistik aller Aufnahmen in den deutschen Blindenanstalten in den Jahren 1919–1924,
die vorzugsweise die Frage: „Was lehren uns die Aufnahmen in den Jahren 1919–1924 über Erblindungsursachen?“ beantworten soll, in: Der Blindenfreund, Nr. 4, Jg. 46 (1926), S. 75–76, zitiert in: Drave, Blinde
Menschen erzählen ihr Leben, S. 45.
Vgl. Osw. Hübner, Statistik aller Aufnahmen in den deutschen Blindenanstalten in den Jahren 1919–1924,
die vorzugsweise die Frage: „Was lehren uns die Aufnahmen in den Jahren 1919–1924 über Erblindungsursachen?“ beantworten soll, in: Der Blindenfreund, Nr. 4, Jg. 46 (1926), S. 75–76, zitiert in: Drave, Blinde
Menschen erzählen ihr Leben, S. 45.
Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 147. [Jaedicke war Leiter der Hörbücherei der
Deutschen Zentralbücherei für Blinde (DZB) in Leipzig und Pielasch Präsident des Deutschen Blindenund Sehschwachenverbandes der DDR. Nach Unterziehung dieser Schrift einer ausführlichen Quellenkritik kann festgestellt werden, dass sie eine brauchbare Sekundärquelle für die Geschichte blinder Menschen
Vergleicht man die Angaben des RBV für das „Altreich“ aus dem Jahre 1938, die von
32.000 Zivilblinden ausgehen, mit dem Ergebnis der „Reichsgebrechlichenzählung“ 1926/27,
bei der 33.192 Zivilblinde eruiert wurden, dann scheint sich die Zahl der Zivilblinden um
rund 1.200 verringert zu haben. Für diese angenommene Reduzierung gab es nach damaliger Ansicht mannigfaltige Gründe, die im Anschluss an das Kapitel über die Ursachen
von Erblindungen erläutert werden.
1.2 Wie wurden Erblindungen bei Zivilblinden verursacht?
Im Folgenden wird ein Überblick darüber gegeben, von welchen Ursachen für eine Erblindung die Wissenschaft auf Basis des damaligen medizinischen Erkenntnisstandes ausgegangen ist. Martin Bartels, Leiter der städtischen Augenklinik in Dortmund (D), nannte
im Jahr 1939 folgende Hauptursachen:
„Augenverletzungen mit Schädelverletzungen und sympathische Augenentzündungen157, grüner Star, Vererbung, Arteriosklerose und Alterserscheinungen, Tuberkulose
und Skrofulose, akute Infektionskrankheiten, Kurzsichtigkeit (Netzhautablösung),
Syphilis, angeboren ohne nähere Angabe, Hirnhautentzündung, Körnerkrankheit.“158
Welchen genauen Anteil diese einzelnen Ursachen an der Anzahl von blinden Menschen
hatten, kann nicht dargestellt werden, da dazu keine weiteren zeitgenössischen Informationen gefunden wurden. Bemerkenswert dabei ist, dass Bartels auch noch die „Körnerkrankheit“ als eine der Hauptursachen von Erblindungen nennt. Gemeint ist hiermit das Trachom.
Dabei handelt es sich um eine Virusinfektion des Auges. Diese verursacht eine schwere
Entzündung der Bindehaut. Bei der Abheilung kann es zur Narbenbildung kommen. Im
Endstadium ist eine Erblindung durch ein Übergreifen der Infektion auf die Hornhaut
möglich.159 Das Trachom ist eine sehr ansteckende Krankheit. Schon zur Zeit des Ersten
Weltkrieges kam es endemisch in der Bevölkerung vor.160 In der Zwischenkriegszeit kam
es allerdings zu einem deutlichen Rückgang der Erkrankungszahlen.161 Auf Grund der
157
158
159
160
161
in der NS-Zeit darstellt. Die Darstellungen beruhen auf den Erfahrungen der blinden Überlebenden der
NS-Zeit und die Autoren zitieren aus vielen Quellen des Blindenwesens. Zu dem gleichen Ergebnis kommt
auch Gabriel Richter. Vgl. Richter, Blindheit, S. 4.]
Bei dieser Erkrankung, heute „Sympathische Ophthalmie“ genannt, kommt es zu einer schweren Entzündung des eigentlich gesunden Auges nach schwerer Traumatisierung des anderen Auges, was zu einer
Erblindung führen kann. Vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, S. 218–219.
Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 3. [Aus dem Text geht nicht hervor, ob die Angaben nach der Häufigkeit
der angenommenen Ursachen aufgelistet sind.]
Vgl. Pschyrembel, Wörterbuch, S. 1676. Das Trachom kommt in unseren Breitengraden nicht mehr vor.
Es ist aber in allen tropischen und subtropischen Regionen mit mangelhafter Hygiene sehr verbreitet und
mit 400 bis 500 Millionen erkrankten Menschen auf der Erde weltweit heute die häufigste Ursache für
Erblindungen.
Auch Soldaten erkrankten daran und wurden schließlich in eigenen Trachomformationen zusammengeschlossen und meist in staubfreien Gebirgsgegenden eingesetzt. Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 43–45.
Vgl. ÖStA, AdR, BM f. soz. V., Volksgesundheit, Kt. 2429, Zl. 251642/39 Landeshauptmannschaft Niederdonau an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 24.1.1939, Betreff: Trachombekämpfung im Gebiete des ehemaligen Burgenlandes.
45
Durchsicht der Akten für Volksgesundheit im ÖStA scheint das Trachom allerdings auch
noch in den 1930er Jahren endemisch in der Bevölkerung aufgetreten zu sein.162 In den
betroffenen Gebieten konnten Trachomerkrankungen also noch durchaus zu Erblindungen
führen. Deren Bedeutung für die Verursachung von Blindheiten war aber im Vergleich zum
19. Jahrhundert oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr gering.
Im Folgenden werden einige Aspekte dieser Ursachen exemplarisch diskutiert. Hierbei
wurden diejenigen herausgenommen, die insbesondere in der NS-Zeit intensiv thematisiert
worden sind.
1.2.1 „Gonorrhöische Augenentzündung“163
Hiermit ist eine Augenerkrankung gemeint, die durch die Geschlechtskrankheit Gonorrhö, auch „Tripper“ genannt, verursacht werden kann.164 Wenn die Augen mit Erregern
der erkrankten Geschlechtsteile in Kontakt kommen, kann dies zu einer so genannten
„gonorrhöischen Augenentzündung“ führen. Dies kann bei Erwachsenen durch die
Hände oder Wäschestücke der Fall sein, betrifft aber vor allem Neugeborene. Die Säuglinge infizieren sich dabei während der Geburt, wenn die Mutter erkrankt ist. Dabei kann
es zu einer irreversiblen Hornhautschädigung kommen, die zu einer starken Sehbehinderung oder Blindheit führt. Bei mehr als fünf Prozent war das der Fall. Verschiedene
Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 25 und 40 Prozent der Erblindungen im
19. Jahrhundert durch diese Infektion verursacht wurden.165 Verbessert wurde die Situation durch die Entwicklung der „Credéschen Prophylaxe“166 1880. Diese Einträufelung
der Augen wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts verpflichtend. Weitere prophylaktische
Maßnahmen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten führten zu einem Rückgang
der Zahl der Erblindungen.167 Bartels gab im Jahr 1939 an, dass vier bis fünf Prozent der
blinden Menschen durch „Augentripper“ erkrankt seien.168 Der Arzt Carl Siering, der
als Gesundheitsbeirat für den RBV tätig war, sprach ebenfalls von einem Rückgang. Er
verwies aber darauf, dass diese Infektion der Augen immer noch der „Bekämpfung“169
bedürfe.
162 Vgl. ÖStA, AdR, BM f. soz. V., Volksgesundheit, Kt. 2358, 1938, Betreff: Infektionskrankheiten [Enthält
auch Aufstellung von Trachomerkrankungen aus dem Jahr 1937].
163 Der heutige Fachterminus für diese Augenentzündung ist Gonoblennorrhö. Diese Erkrankung wurde
im 20. Jahrhundert auch mit dem Begriff Augentripper beschrieben. Vgl. Siering, Gonokokkeninfektion,
S. 15–18, hier S. 16.
164 Vgl. Breger, Geschlechtskrankheiten, S. 25.
165 Vgl. Schmidt, Gonorrheal ophtalmia neonatorum, S. 95–115, hier S. 95.
166 Der deutsche Gynäkologe Carl Siegmund Franz Credé (1819–1892) entwickelte diese Methode, bei der
eine zweiprozentige Silbernitratlösung zur Vorbeugung in das Auge der Neugeborenen geträufelt wurde.
Er führte diese Methode erstmals 1880 in seiner Klinik in Leipzig ein. Als „Credésche Prophylaxe“ wird
noch heute so verfahren, allerdings hat sich die Zusammensetzung der Lösung verändert. Vgl. Schmidt,
Gonorrheal, S. 95–115, hier S. 95.
167 Vgl. Sachße, Tennstedt, Der Wohlfahrtsstaat, S. 172; Alfred Bielschowsky, Das Sehorgan und die zur Erblindung führenden Erkrankungen, in: Carl Strehl (Hrsg.), Handbuch der Blindenwohlfahrtspflege, Berlin 1927, zitiert in: Richter, Blindheit, S. 28.
168 Vgl. Bartels, Hygiene, S.1–15, hier S.4.
169 Siering, Gonokokkeninfektion, S.15–18, hier S. 16.
46
Die Reduzierung der Anzahl von mit Geschlechtskrankheiten infizierten Personen
zählte zu den „bevölkerungsbiologischen Zielsetzungen“ des NS-Regimes.170 In Deutschland
rechnete man 1933 mit einem jährlichen Geburtenausfall allein auf Grund der Gonorrhö von
40.000.171 Zu den Maßnahmen zur Verringerung der Anzahl von Geschlechtserkrankungen
gehörte das Ehegesundheitsgesetz, das am 1. Jänner 1940 gemeinsam mit dem GzVeN in
der „Ostmark“ in Kraft trat. Es verbot geschlechtskranken Personen eine Eheschließung,
solange eine Ansteckungsgefahr bestand.172 Außerdem wurde per Verordnung des Ministerrates für die Reichsverteidigung vom 21. Oktober 1940 das „Gesetzes zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten“ geändert.173 Laut den Durchführungsbestimmungen sollten an einer ansteckungsgefährlichen Geschlechtskrankheit erkrankte Personen ärztliche
Behandlung erhalten, auch wenn sie nicht selbst für die Kosten aufkommen konnten. Die
Finanzierung sollte in diesem Fall aus öffentlichen Mitteln erfolgen.174
Als weitere Geschlechtskrankheit, die auch als Blindheitsursache galt, ist die Syphilis
zu nennen. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts erkannte die Wissenschaft, dass es sich
bei Gonorrhöe und Syphilis um zwei verschiedene Erkrankungen handelte. Es war daher
möglich, dass Laien bei den Erblindungsursachen diese beiden Krankheiten immer noch
verwechselten. Auf die Syphilis wird hier allerdings nicht weiter eingegangen, weil sie nicht
so häufig zu Erblindungen führte wie die Gonorrhöe. Im Vergleich zum „Tripper“ trat die
Syphilis außerdem nur rund ein Viertel so häufig auf.175
1.2.2 Erbliche Augenerkrankungen und ihr Anteil an den Erblindungen
Welche Erblindungen erblich bedingt waren, wurde im Zusammenhang mit der hohen
Aufmerksamkeit für „rassenhygienische“ Fragen und durch die Einführung des GzVeN in
Deutschland 1933 und in der „Ostmark“ 1939 von blinden Menschen selbst, im Blindenwesen und von RassenhygienikerInnen sowie MedizinerInnen stark diskutiert. Es kristallisierten sich dabei zwei Streitfragen heraus. Zum einen ging es darum zu klären, wie hoch
der Anteil von „erblich bedingten Erkrankungen“ unter den Zivilblinden tatsächlich war.
Zum anderen gab es vor allem unter den MedizinerInnen keine Einigkeit darüber, welche
Erblindungsursachen überhaupt erblich waren.
Die Antworten auf die Frage, wie viel Prozent der Erblindungen durch Erbkrankheiten
verursacht seien, gingen dementsprechend weit auseinander. Es gab vor allem unter den
170 Weiterführende Literatur zu den biopolitischen Bestrebungen der NS-Zeit vgl. u. a: Baader, Hofer, Mayer,
Eugenik in Österreich; Horn, Malina, Medizin im Nationalsozialismus.
171 Vgl. Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 173.
172 Vgl. Siering, Gonokokkeninfektion, S. 15–18, hier S. 17; Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 5.
173 Dieses Gesetz wurde schon 1927 im Deutschen Reich eingeführt. Es stattete die Gesundheitsfürsorge
mit Möglichkeiten gesundheitspolizeilichen Zwangs aus. Vgl. Christoph Sachße, Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Band 2. Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871–1919, Stuttgart
1988, S. 143 ff, zitiert in: Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 172.
174 Vgl. Siering, Gonokokkeninfektion, S.15–18, hier S. 16.
175 Vgl. Hans Haustein, Die Geschlechtskrankheiten einschließlich der Prostitution, in: E. G. Dresel, A.
Goetzl, H. Haustein (Hrsg.), Handbuch der Sozialen Hygiene und Gesundheitsfürsorge Bd. 3, Wohlfahrtspflege, Alkohol, Geschlechtskrankheiten, Berlin 1929, S. 593 zitiert in: Zschiegner, Syphilis in Österreich, S. 46.
47
AnhängerInnen der Rassenhygiene und den GegnerInnen von eugenischen Zwangsmaßnahmen unterschiedliche Auffassungen. Gabriel Richter beschäftigte sich in seiner 1986
veröffentlichten Dissertation ausgiebig mit dieser Problematik.176 Der Anhänger der Rassenhygiene Alfred Grotjahn glaubte etwa, dass zwei Drittel der „Gebrechlichen“, unter ihnen
auch blinde Menschen, erblich „belastet“ seien.177
Der deutsche Blinde Rudolf Kraemer, Verfasser einer Streitschrift gegen das GzVeN,178
und Carl Strehl, Direktor der Marburger Blindenanstalt, sprachen dagegen von 3,85 Prozent
bis 15 Prozent auf Grund einer Erbkrankheit erblindeter Menschen.179 Mehr praktische
Relevanz hatten die Aussagen führender Nationalsozialisten zu diesem Thema. Sie sprachen
nicht von „erbkranken Blinden“, sondern, im Sinne des GzVeN, von „zu sterilisierenden
Blinden“. Reichsärzteführer Gerhard Wagner schätzte, dass 15 bis 20 Prozent der blinden
Menschen zwangssterilisiert werden sollten.180
Auch wenn diese Diskussionen nur für Deutschland dokumentiert sind, so waren sie für
die „Ostmark“ gleichermaßen relevant, denn das GzVeN trat mit 1. Jänner 1940 auch dort
in Kraft. Es ist weiters anzunehmen, dass im Rahmen der unterschiedlichen Überlegungen
zur Eugenik in Österreich ebenfalls die Frage nach den „erblichen Erblindungsursachen“
behandelt wurde.181 Ein Beleg dafür ist der Aufsatz „Eugenische Massnahmen gegen angeborene Blindheit“182 des Wiener Arztes Hermann Swoboda aus dem Jahr 1935.
Die Augenheilkunde konnte allerdings trotz intensiver Forschungsarbeit zum damaligen
Zeitpunkt viele Fragen zu den „erblichen Augenerkrankungen“ noch nicht beantworten.183
Als eine „erbliche“ Ursache für eine Erblindung oder schwere Sehbehinderung wurde
damals die Starerkrankung angenommen. Es war bekannt, dass sie in verschiedenen Formen auftrat. Die unterschiedlichen Ausprägungen galten überwiegend als „erblich“.184 Der
angeborene Star galt als eine der häufigsten Ursachen angeborener Blindheit.185 Unter dem
so genannten „angeborenen Totalstar“ verstand man eine schon bei der Geburt vorhandene, meist doppelseitige, mehr oder weniger vollständige Trübung der Linse, die auch bei
einer frühzeitigen Behandlung meist zu einer hochgradigen Sehbehinderung führte.186 Der
176 Vgl. Richter, Blindheit, S. 26–31; Kapitel II.8.1.
177 Vgl. Alfred Grotjahn, Soziale Pathologie, Versuch einer Lehre von den sozialen Beziehungen der menschlichen Krankheiten als Grundlage der sozialen Medizin und der sozialen Hygiene, Berlin 31923, S. 472,
zitiert in: Richter, Blindheit, S. 28.
178 Vgl. Kraemer, Kritik der Eugenik, S. 342–379.
179 Richter, Blindheit, S. 29; Kraemer, Kritik der Eugenik, S. 342–379, hier S. 347. [Tabelle mit Aussagen zeitgenössischer Autoren über die Erblichkeit der Blindheit Vgl. Richter, Blindheit, S. 31.]
180 Vgl. Gehard Wagner, Rasse und Gesundheit. Rede, gehalten auf dem Parteikongress 1934, in: Ziel und
Weg, Nr. 4 (1934), S. 63, zitiert in: Richter, Blindheit, S. 30.
181 Eine ausführliche Schilderung der Frage, inwieweit das Thema „erbliche Erblindungen“ im Diskurs um
eugenische Maßnahmen in der Zwischenkriegszeit eine Rolle gespielt hat, kann in dieser Arbeit nicht
gegeben werden. Weiterführende Literatur vgl u. a. Baader, Hofer, Mayer, Eugenik in Österreich.
182 Swoboda, Eugenische Massnahmen gegen angeborene Blindheit.
183 Eine sehr detailreiche Darstellung des damaligen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu den Erbkrankheiten des Auges mit Hinweisen zu als notwendig angesehenen eugenischen Maßnahmen vgl. Gütt,
Erbleiden des Auges.
184 Verschuer, Blindheit und Eugenik, S. 8. [Hrsg. vom RBV; Gegenäußerung zur „Kritik der Eugenik“ von
Rudolf Kraemer.]
185 Vgl. Lenz, Die krankhaften Erbanlagen, S. 169–407, hier S. 198 [vermehrte und verbesserte Auflage]; Gütt,
Rüdin, Ruttke, Gesetz, S. 109.
186 Vgl. Max Bücklers, Linsentrübungen, S. 112–141, hier S. 112.
48
Oberarzt der Augenklinik Tübingen, Max Bücklers, stellte dies so in seinem Aufsatz „Erbliche
Linsentrübungen“187 dar, der von Arthur Gütt in seinem „Handbuch der Erbkrankheiten“188
1938 herausgegeben wurde. Bücklers Ausführungen verdeutlichen allerdings auch, dass die
„erblichen Linsentrübungen“ noch nicht umfassend erforscht waren: „Es soll daher nicht
verschwiegen werden, daß unser Wissen gerade auf diesem Gebiete vielfach noch lückenhaft
ist.“189 Bei der Beschreibung des Erbganges des „angeborenen Totalstars“ zitierte Bücklers unterschiedliche Wissenschaftler, die jeweils eine dominante Vererbung, eine rezessiv
geschlechtsgebundene Vererbung oder „vielleicht“190 einen rezessiven Erbgang annahmen.191
Bücklers kam auf Grund dieser Angaben zu dem Ergebnis, der Erbgang sei nicht einheitlich.192 Trotz dieser großen Unsicherheit im Wissen über den Erbgang hielt er aber eine
Zwangssterilisation bei der Diagnose „angeborener Totalstar“ für unvermeidlich.193 Die
Diagnose „erbkrank“ erfolgte daher auf der Basis eines lückenhaften medizinischen Wissensstandes und der willkürlichen Auslegung von nicht vollständig bekannten Erbgängen.
Nach heutigem Wissensstand sind zwar einige Formen des angeborenen Kataraktes
tatsächlich erblich. Die meisten angeborenen totalen Katarakte sind aber durch Virusinfektionen wie Röteln, Mumps, Hepatitis oder Toxoplasmose der Mutter in der Frühzeit der
Schwangerschaft bedingt.194
Ebenfalls bekannt war die Erblichkeit der „Retinitis Pigmentosa“195, die unterschiedliche
Ausprägungen haben konnte.196 Diese fortschreitende Erkrankung der Netzhauterkrankung
gilt heute als eine der häufigsten Ursachen für Erblindungen im mittleren Erwachsenenalter.197
Zu den weiteren Erkrankungen der Augen, die als „erblich“ galten, zählten angeborene
Formen von „Missbildungen“ des Auges, wie das Fehlen der Iris, schwarze Kolobomben,
Mikrophthalmus und Anophthalmus.198 Verschiedene Erscheinungen davon werden auch
heute noch als erblich eingestuft, wie auch die so genannte „amaurotische Idiotie“199 und die
hochgradige Myopie200, die nach Othmar von Verschuer allein nach fachärztlicher klinischer
Diagnose als „Erbkrankheit“ bezeichnet werden konnte.201
187
188
189
190
191
192
193
194
195
196
197
198
199
200
201
Bücklers, Linsentrübungen.
Gütt, Erbleiden.
Bücklers, Linsentrübungen, S. 112–141, S. 112.
Bücklers, Linsentrübungen, S. 112–141, S. 113.
Dass sich die Fachärzte zur damaligen Zeit nicht sicher waren über die Erblichkeit von angeborenen Star­
er­k ran ­kun­gen, zeigte auch ein von Jessika Hennig beschriebener Fall am Erbgesundheitsgericht Offenbach. Vgl. Hennig, Zwangssterilisation in Offenbach, S. 182.
Vgl. Bücklers, Linsentrübungen, S. 112–141, hier S. 113.
Vgl. Bücklers, Linsentrübungen, S. 112–141, hier S. 114.
Vgl. Lang, Augenheilkunde, S. 189.
Dieser Begriff ist auch heute noch gebräuchlich. Medizinisch korrekt ist allerdings die Bezeichnung „Retinopathia pigmentosa“.
Vgl. Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz, S. 110; Jess, Pigmententartung der Netzhaut, S. 179–190, hier S. 190.
Vgl. Pro Retina Deutschland e. V., Retinitis pigmentosa (RP).
Unter Kolobome wurden Spaltmissbildungen des Auges, unter Mikrophtalmus eine abnorme Kleinheit
des Auges und unter Anophthalmus Augenlosigkeit verstanden. Vgl. Fleischer, Typische Spaltmißbildungen, S. 1–34, hier S.1.
Zum Thema „amaurotische Idiotie“ vgl. Kapitel IV.2.
Myopie ist der Fachterminus für Kurzsichtigkeit.
Vgl. Verschuer, Blindheit, S. 9.
49
Als problematisch stufte Verschuer 1933 allerdings die Diagnose bei denjenigen Krankheiten ein, die sowohl in einer „erblichen“ als auch in einer „nichterblichen“ Form auftraten.
Dies war zum Beispiel bei dem Glaukom202 und der Optikusatrophie203 der Fall. Damit bei
einer vorliegenden Krankheit festgestellt werden konnte, ob diese „erblich“ war, hielt Verschuer eine Familienerhebung für notwendig. Diese sollte die Voraussetzung dafür sein,
ob die Betroffenen Nachkommen haben durften oder nicht.204
Trotz dieser hier angedeuteten Probleme bei der Diagnose von „erblich bedingten Erblindungen“ waren sich Verschuer und die Ärzte, welche über die einzelnen „erblichen Augenerkrankungen“ im „Handbuch der Erbkrankheiten“ publizierten, 1933 darüber einig, dass
der Forschungsstand für die Durchführung des GzVeN bei einer angenommenen „erblich
bedingten Blindheit“ ausreichend war.205
Die Forschungslücken in der Bestimmung von erblich bedingter Blindheit hatten fatale
Folgen für die Betroffenen. Trotz der unsicheren Forschungslage wurde in einigen Fällen
eine „erbliche Blindheit“ festgestellt und gegebenenfalls eine Zwangssterilisierung durchgeführt. Die Fragestellung, welche Indikation zu einer Zwangssterilisierung auf Grund
der GzVeN-Diagnose „erbliche Blindheit“ führte, ist daher in diesem Zusammenhang von
besonderer Bedeutung und wird ausführlich in dem Kapitel „Blindheit und Eugenik“206
thematisiert.
1.2.3 „Vermeidbare Erblindungen“ und der Rückgang der absoluten Anzahl von Zivilblinden
Auch wenn es bei der Erforschung der „erblich“ bedingten Augenerkrankungen noch viele
Lücken gab, so hatten verschiedene medizinische Erkenntnisse doch dazu geführt, dass die
absolute Zahl der Erblindungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie bereits im Kapitel I.1.1
über die statistischen Angaben angedeutet, tatsächlich zurückging. Als Beispiel ist hier der
bereits beschriebene Rückgang der so genannten „gonhorrhöischen Augenentzündungen“
und die Eindämmung der Trachomendemie zu nennen. Eine weitere bedeutende Ursache
für Erblindungen im 19. Jahrhundert waren die Pocken. Die Anzahl der Erkrankungen
konnte durch die Einführung der Pockenimpfung stark reduziert werden. Bartels attestierte
1939, dass keine neue Erblindung durch Pockenerkrankungen vorgekommen sei.207 Eine
vom damaligen Volksgesundheitsamt herausgegebene Statistik aus dem Jahr 1935 bestätigte
diesen Befund.208
Nicht ganz beseitigt, aber vermindert werden konnten bis zum Beginn des Zweiten
Weltkrieges Erblindungen durch die Augentuberkulose (Iridocylis tuberculosa). Es handelte
sich dabei um eine Teilerscheinung einer allgemeinen Tuberkuloseerkrankung. Diese konnte
nur behandelt werden, wenn eine solide Ausheilung der gesamten Tuberkulose im Körper
202
203
204
205
206
207
208
50
Darunter ist der so genannte „Grüne Star“ zu verstehen.
Medizinischer Begriff für einen Schwund des Sehnervs.
Vgl. Verschuer, Blindheit, S. 10.
Vgl. Verschuer, Blindheit, S. 10–12.
Vgl. Kapitel II.8.
Vgl. Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 4.
Vgl. Brezina, Bichler, Eheschließungen.
möglich war.209 Bei der Augentuberkulose ist die Augenmittelhaut von Tuberkulosebakterien, den Auslösern der Lungentuberkulose, befallen. Die durch den Befall hervorgerufene Entzündung, „scrophulöse Augenentzündung“ genannt, kann zur Erblindung führen.
Dieser Erscheinungstyp der Tuberkuloseinfektion kam in der Regel nur unter besonders
schlechten, unhygienischen Lebensbedingungen vor.210
Der Augenarzt Bartels meinte 1939, dass die Maßnahmen gegen die Tuberkulose dazu
geführt hätten, dass die schweren Erkrankungen bei Kindern abgenommen hatten und
damit eine Abnahme der Erblindungen durch diese Erkrankung die Folge war.211
Erblindungen, die durch Tuberkulose, Pocken oder andere Infektionskrankheiten ausgelöst wurden, sowie die „erblich“ bedingten Erblindungsursachen zählten im damaligen
Sprachgebrauch zu der Kategorie der „vermeidbaren“212 Erblindungen. Die NS-Gesundheitspolitik war deshalb darauf ausgerichtet, die Zahl dieser Erkrankungsformen gegebenenfalls
weiter zu senken.213
Aber nicht nur Krankheiten führten zu Erblindungen, sondern auch Augenverletzungen.
Die Zahl der Berufsunfälle sollte durch Verordnungen reduziert werden. Diese umfassten
das Tragen von Schutzbrillen, um Augenschäden durch Blendung, Wärme, Fremdkörper
oder Verätzungen zu verhindern.214
Die Maßnahmen des NS-Regimes zur Reduzierung der „vermeidbaren“ Erblindungen
führten keineswegs zu einem weiteren Rückgang der absoluten Zahl blinder Menschen.
Abgesehen von der Sinnlosigkeit insbesondere der eugenischen Maßnahmen machte der
Beginn des Zweiten Weltkrieges die Erfolge bei der Senkung der absoluten Anzahl von blinden Menschen zunichte. Denn nicht nur die unmittelbaren Kriegsauswirkungen, wie zum
Beispiel Bombenangriffe oder herumliegende Sprengkörper,215 ließen die Zahl der zivilen
Kriegserblindungen ansteigen. Auch die mittelbaren Begleitumstände wie mangelnde Versorgung, eine eingeschränkte medizinische Infrastruktur und die sich verschlechternden
hygienischen Bedingungen erhöhten die Zahl der Erblindungen während des Zweiten Weltkrieges, vor allem bei Kindern. Beispielsweise stieg auch die Zahl der Tuberkulosesterbefälle
in der Zivilbevölkerung in dieser Zeit wieder rapide an.216 Eine Berichterstattung darüber
war AkteurInnen des Blindenwesens sowie Ärztinnen und Ärzten durch die NS-Propaganda
verboten. Quellenmaterial zu den Auswirkungen des Kriegs auf die Anzahl von Erblindungen ließ sich vermutlich auch deshalb nicht finden. Das ist noch ein Forschungsdesiderat.
209 Vgl. Werdenberg, Beurteilung und Behandlung der Augentuberkulose, S. 30.
210 Vgl. Schöffler, Blinde im Leben des Volkes, S. 44. [Der selbstbetroffene Autor verfügt über ein umfassendes
medizinisches Wissen. Seine Aussagen sind aber teilweise deutlich von der NS-Zeit geprägt. (z. B. S. 46).
Sein Werk ist daher als unseriös zu bewerten.]
211 Vgl. Bartels, Hygiene, S.1–15, hier S. 4.
212 Vgl. u. a. Breger, Geschlechtskrankheiten, S. 25; Schöffler, Blinde im Leben des Volkes S. 50, S. 80; Crzellitzer, Blindenwesens, S. 163–171, hier S. 167.
213 Die NS-Tuberkulosepolitik wurde von Elisabeth Dietrich-Daum in einer Studie ausführlich dargestellt.
Dietrich-Daum, Wiener Krankheit, S. 292–317.
214 Vgl. Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 4.
215 Vgl. Kapitel III.1.2.5.
216 Vgl. Dietrich-Daum, Wiener Krankheit, S. 316–317.
51
2.Der NS-Wohlfahrtsstaat: Öffentliche Fürsorge und
gesetzliche Bestimmungen für Zivilblinde217
2.1 Grundsätze der öffentlichen Fürsorge und der Gesetzgebung
Für den Anspruch auf staatliche Fürsorge zählte in der NS-Zeit nicht das klassische Kriterium der Hilfsbedürftigkeit. Vom NS-Regime wurde nur eine solche Fürsorge gewährt,
die als „produktiv“ galt. Das bedeutete, jeder sollte dazu in die Lage versetzt werden,
sich aus eigener Kraft versorgen zu können. 218 Für die Zivilblinden hieß dies, dass die
Berufsfürsorge zum wichtigsten Aspekt der staatlichen Unterstützung wurde. 219 Diese
so genannte „Brauchbarmachung“ durch Berufsqualifikation sollte in der NS-Zeit durch
eine Zusammenarbeit der öffentlichen und „freien“ Wohlfahrtspflege erfolgen. 220 Welche gesetzlichen Bestimmungen 221 dabei für die Zivilblinden relevant waren, wird im
Folgenden erläutert.
Die nationalsozialistische Fürsorge für die Zivilblinden war daher, wie das Petra
Fuchs bereits für körperbehinderte Menschen festgestellt hat, utilitaristisch orientiert.222
Der in Deutschland von dem Orthopäden und Mitwirkenden bei der Entwicklung der
„Krüppelfürsorge“223 Konrad Biesalski geprägte Leitsatz, „Krüppel von Almosenempfängern zu Steuerzahlern“ 224 zu machen, galt genauso für die NS-Blindenfürsorge. 225
Der Grundgedanke der „volkswirtschaftlichen Verwertbarkeit“ von Menschen mit
einer Behinderung in der Fürsorge wurde aber nicht erst durch die NS-Diktatur geprägt.
Schon in der deutschen Fürsorgegesetzgebung der Zwischenkriegszeit wurde er umgesetzt, wie das Beispiel des preußischen „Krüppelfürsorgegesetzes“ vom 6. Mai 1920 zeigt.
Auch in Österreich herrschte dieser Gedanke in der Sozialgesetzgebung vor. Ein Beleg
dafür ist das „Invalidenbeschäftigungsgesetz“ 226, das im Folgenden noch ausführlich
behandelt wird.
217 Weitere Informationen zu diesem Thema finden sich im Manuskript der dieser Publikation zugrunde
liegenden Dissertation. Insbesondere sind dort Informationen zur Fürsorge und Versorgung erblindeter
Angehöriger des Reichsarbeitsdienstes (RAD) enthalten. Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“,
S. 85–87.
218 Vgl. Malmanesh, Blinde, S. 196.
219 Vgl. Pork, Zusammenarbeit, S. 109–114, hier S. 110. [Pork war Landesrat aus Münster in Westfalen und
Leiter der Hauptfürsorgestelle dort.]
220 Vgl. Kapitel II.3. Da alle Vereinigungen und Einrichtungen für blinde Menschen mit Beginn der NS-Zeit
gleichgeschaltet wurden, muss der Begriff „frei“ hier in Anführungsstriche gesetzt werden. Er entsprach
zwar der damaligen öffentlichen Darstellung, aber keineswegs den tatsächlichen Bedingungen des NSVereinswesens.
221 Eine weiterführende zeitgenössische Darstellung der fürsorglichen Bestimmungen der NS-Zeit mit Erläuterungen bietet folgendes Werk: Linde, Zimmerle, Fürsorge des Staates.
222 Vgl. Fuchs, „Körperbehindert“, S. 138.
223 Vgl. Kapitel I.5.
224 Konrad Biesalski (Hrsg.), Umfang und Art des jugendlichen Krüppeltums und der Krüppelfürsorge in
Deutschland nach der durch die Bundesregierung erhobenen amtlichen Zählung, Hamburg, Leipzig 1909,
S. 20, zitiert in: Fuchs, „Körperbehindert“, S.137.
225 Vgl. Bögge, Aufgabe, S. 1–7, hier S. 3.
226 [Ö] BGBl. Nr. 69/1928, Invalidenbeschäftigungsgesetz (Text vom Februar 1928) vom 8. Februar 1928.
52
Charakteristisch für das NS-Fürsorgesystem war außerdem, dass der Einzelne nur
noch als Teil der Gemeinschaft von Bedeutung war.227 Jeder sollte ein „wertvolles Mitglied
der Volksgemeinschaft“ werden.228 Diese wurde durch rassische sowie soziale Kategorien
bestimmt. Als unterstützungswürdig wurden daher auch nur diejenigen anerkannt, die als
„wertvolle“ Mitglieder galten, oder das durch Maßnahmen zur beruflichen Integration werden konnten.229 Das bedeutete, allgemein gesprochen, nur wer die vorgeschaltete Selektion
überstand oder sich dafür einsetzte, erwerbstätig zu werden, erhielt auch fördernde Hilfsleistungen. Christoph Sachße und Florian Tennstedt sprechen in diesem Zusammenhang von
einer „Gratifikation für völkisches Wohlverhalten“230 und Marie-Luise Recker stellte kritisch
fest, dass der Wohlfahrtsstaat mehr zu einem „Wohlverhaltensstaat“231 wurde.
Blinde Menschen konnten Teil dieser Volksgemeinschaft werden, weil sie grundsätzlich als „arbeitsfähig“ eingeschätzt wurden.232 Wer allerdings durch seine Blindheit und
etwaige weitere Behinderungen sowie durch sein Alter so schwer beeinträchtigt war, dass
er nicht arbeiten konnte, gehörte zu den „Ballastexistenzen“. Welche Konsequenzen dies
unter Umständen hatte, klärt das Kapitel über „Blindheit und Eugenik“233 in dieser Studie.
Auf Basis der gesetzlichen Regelung können allerdings nur bedingt Rückschlüsse darauf
gezogen werden, wie diese Bestimmungen tatsächlich umgesetzt wurden. Da aber gerade für
diese Arbeit, wie eingangs bereits erwähnt, die wichtigsten Versorgungsakten und Unterlagen der Interessenvertretungen in den einschlägigen Archiven nicht auffindbar waren, ist
es notwendig, ausführlich die rechtlichen Prinzipien bei der Versorgung blinder Menschen
im NS-Staat zu schildern.
2.2 Gesetzliche Grundlagen
2.2.1 Einführung des deutschen Fürsorgerechts in Österreich
Die Aufgaben und Pflichten der öffentlichen Unterstützung in der NS-Zeit für die Zivilblinden beruhten auf dem deutschen Fürsorgerecht. Dieses trat mit der „Einführung der fürsorgerechtlichen Vorschriften im Lande Österreich“ 234 (Fürs.Einf.VO) mit 1. Oktober 1938
227 Vgl. Hermann Althaus, Nationalsozialistische Volkswohlfahrt. Wesen, Aufgaben und Aufbau, Berlin
21936, S. 9, zitiert in: Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 119.
228 Zum Thema NS-Volksgemeinschaft gab es insbesondere in den vergangenen Jahren aktuelle Forschungen.
Vgl. Nolzen, Tagungsbericht „Volksgemeinschaft“. Darüber hinaus weiterführende Literatur u. a.: Bajohr,
Wildt, Volksgemeinschaft; Verhey, Der „Geist von 1914“.
229 Vgl. Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 97.
230 Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 97.
231 Recker, Sozialpolitik, S. 123–134, hier S. 130.
232 Diese Auffassung war zentraler Bestandteil der NS-Propaganda gegenüber blinden Menschen. Vgl. u. a.:
Bögge, Aufgabe, S. 1–7; Meurer, Vorwort des Herausgebers, S. V–VII, hier S. V; o. A., Arbeitstagung der
Leiter und Lehrer.
233 Vgl. Kapitel II.8.
234 Die politische Neuorganisation nach dem „Anschluss“ war durch das Bestreben gekennzeichnet, den
Namen und den Begriff Österreich auszulöschen, um die Beseitigung der staatlichen Selbständigkeit
zu betonen. Nach dem das „Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs“ am 4. März 1939 erlassen
worden war, ist in Gesetzestexten und Verordnungen nur mehr von der „Ostmark“ die Rede. Mit dem
53
in der „Ostmark“ in Kraft.235 Die Aufgaben der öffentlichen Fürsorge sollten nach § 2 von
Landesfürsorgeverbänden und Bezirksfürsorgeverbänden in eigener Verantwortung übernommen werden: „Jedes ehemals österreichische Land bildet einen Landesfürsorgeverband.“ 236
Die Bezirksfürsorgeverbände wurden nach den Stadtkreisen, die sich mit den Verwaltungsbezirken jeder Bezirkshauptmannschaft deckten, gebildet. Einzelne österreichische Städte
z. B. Innsbruck, Linz, Wien bildeten eigene Magistrate, während Klein- und Mittelstädte,
etwa Bregenz oder Kufstein, mit weiteren Gemeinden einen Verwaltungssprengel bildeten.
§ 5 regelte die „besonderen Aufgaben“ der Landesfürsorgeverbände. Dazu zählten die
„Bewahrung“, „Kur“ und „Pflege“ der „hilfsbedürftigen“ „Geisteskranken“, „Geistesschwachen“, Epileptiker, „Taubstummen“, Blinden und „Krüppel“ in geeigneten Einrichtungen,
soweit Anstaltspflege als erforderlich galt. Bei blinden Menschen, „Taubstummen“, „Krüppeln“ und Minderjährigen zählten auch die „Erwerbsbefähigung“ und die Erziehung zu
den „besonderen Aufgaben“. Diese beinhaltete die Verpflichtung, blinde Menschen zu
unterrichten.237
Mit der Fürs.Einf.VO wurde also die Berufsfürsorge für blinde Menschen zur Aufgabe
der öffentlichen Fürsorge. Eine Unterbringung von blinden Menschen in geeigneten Heimen sollte nur dann erfolgen, wenn die Betroffenen aus Altersgründen oder wegen weiterer
körperlicher Beeinträchtigungen keiner Erwerbstätigkeit nachgehen konnten.238
Die Einführung der deutschen Fürsorgebestimmungen in Österreich verlief nicht problemlos, da sich damit im Vergleich zu den bisherigen Bestimmungen einiges änderte.
Bisher hatte es keine einheitlichen Bundesfürsorgegesetze gegeben. Die Leistungsfähigkeit
der jeweiligen Fürsorgeträger war daher sehr unterschiedlich.239 Die Gemeinden wurden
in der NS-Zeit als Träger der öffentlichen Fürsorge von den Landesfürsorge- und Bezirksfürsorgeverbänden abgelöst. Bei der Festlegung der Zuständigkeit musste der bisherige
Heimatrechtsgrundsatz dem Grundsatz des gewöhnlichen Aufenthaltes weichen.240
Die Landesfürsorgeverbände wurden außerdem durch die „besonderen Aufgaben“ der
§§ 5 und 6 der Fürs.Einf.VO stark finanziell belastet. Bei Unterbringung der Menschen mit
einer Behinderung gab es zudem Unklarheiten. Bei der Umsetzung kam es so zu Widerständen der öffentlichen Behörden.241 Schwierigkeiten bereitete insbesondere die Umsetzung
235
236
237
238
239
240
241
54
„Ostmarkgesetz“ vom 14. April 1939 wurden die ehemaligen Bundesländer endgültig zu so genannten
Reichsgauen. Ab 1942 war nur mehr die Formulierung „Alpen- und Donaureichsgaue“ zulässig.
Vgl. GBlÖ, Nr. 397/1938, Verordnung über die Einführung fürsorgerechtlicher Vorschriften im Lande
Österreich vom 3. September 1938.
GBlÖ, Nr. 397/1938, § 2 (2).
Dies wird auch in einer Zusammenstellung über die „Krüppelfürsorge“ in der „Ostmark“ vom August
1938 bestätigt. Vgl. ÖStA, AdR, BM f. soz. V., Kt. 2411, GZ 57146/38 eingelegt in Zl. 253114/39, Betreff:
Fürsorge für Krüppel in der Ostmark, Zusammenstellung, August 1938.
Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Nr. III, 2512/40,
Niederschrift über die erste Tagung der Arbeitsgemeinschaft am 25.10.1940 in Berlin, S. 5.
Vgl. Kurt Preiser, Die öffentliche Armenpflege in Österreich, in: Deutsche Zeitschrift für Wohlfahrtspflege, Nr. 1, Jg. 14, (1938), S. 1–5, zitiert in: Hansen, Wohlfahrtspolitik, S. 188.
Vgl. GBlÖ, Nr. 397/1938, § 8,2. Das Heimatrecht wurde bis auf wenige Ausnahmen nur durch Geburt oder
Heirat erworben und war die Voraussetzung für eine Armenunterstützung. Vgl. Hansen, Wohlfahrtspolitik, S. 188.
Weiterführende Quelle dazu: ÖStA, AdR, BM f. soz. V., Volksgesundheit, Zl. 129.468-II/3/39 eingelegt in
GZ 257.419/39, Der Minister für innere und kulturelle Angelegenheiten an das RM d. I. vom 14.4.1939,
Betreff: Auslegung der §§ 5 und 6 Fürs.Einf.VO.
§§ 5 und 6 der Fürs.Einf.VO zur „besonderen Aufgabe“ der Landesfürsorge. 1940 wurde
daher aus den „besonderen Aufgaben“ der Landesfürsorgeverbände eine „außerordentliche
Fürsorgepflicht“. Das RM d. I. und das RAM gaben 30. März 1940242 einen Runderlass heraus, der die geltenden Bestimmungen genauer regelte. Um Missverständnisse zu vermeiden,
wurde in diesem Erlass genau definiert, welche Voraussetzungen gegeben sein sollten, damit
die öffentlichen Stellen dieser erweiterten Versorgungspflicht nachkommen mussten. Es
musste zum Beispiel ein bestimmtes „Gebrechen“ vorliegen. Dieses wurde durch ein amtsärztliches Gutachten festgestellt.243 Dabei fällt auf, dass Blindheit nur sehr oberflächlich
beschrieben wurde. Andere Beeinträchtigungen wie „Geisteskrankheit“, Gehörlosigkeit
oder körperliche Behinderungen wurden ausführlicher bestimmt.244 In diesem Runderlass
hieß es nur: „Blindheit setzt voraus, daß die Sehkraft auf beiden Augen praktisch fehlt.“ 245
Diese ungenaue Definition ließ viel Raum für willkürliche Entscheidungen. Insbesondere
wird dadurch nicht eindeutig geklärt, ob auch praktisch blinde Menschen Anspruch auf
die außerordentlichen Fürsorgemaßnahmen hatten.
Dabei war dieser Runderlass für die Zivilblinden gerade deshalb von besonderer Bedeutung, weil er die Unterbringung in Anstalten exakter regelte. Bei der Festlegung, in welcher
Anstalt eine blinde Person unterzubringen sei, wurde nach dem „Wert“ des Betreffenden für
die „Volksgemeinschaft“ differenziert. Blinde und andere Menschen mit einer Behinderung
sollten immer dann in Anstalten mit „besonderen Einrichtungen“ oder „besonderem Personal“ unterkommen, wenn ihre Erwerbsfähigkeit dadurch erhalten, wiederhergestellt oder
gebessert werden konnte.246 Für blinde Minderjährige, „Taubstumme“247 und „Krüppel“ war
generell vorgesehen, sie in eine Anstalt zu schicken, die auch eine allgemeine schulmäßige
Ausbildung anbieten konnte.248
Wer allerdings als nicht mehr „arbeitsfähig“ eingestuft wurde, der sollte in einer beliebigen Anstalt untergebracht werden. Die übrigen „Anstaltsinsassen“ durften durch die
Unterbringung der „Hilfsbedürftigen“ mit einer Behinderung allerdings nicht beeinträchtigt werden.249 Als „Ballastexistenzen“ hatten sie kein Recht auf eine besondere Fürsorge.
Wegen der kriegsbedingten Ressourcenprobleme wurden mit der vierten Verordnung
zur Vereinfachung des Fürsorgerechtes vom 9. November 1944 auch diese Bestimmungen
242 Die Bestimmungen traten mit 1. April 1940 in Kraft. Vgl. RMBliV, Runderlass des RM d. I. und des RAM,
Betreff: Außerordentliche Fürsorgepflicht der Gaufürsorgeverbände der Ostmark und des Gaufürsorgeverbandes Reichsgau Sudetenland vom 30. März 1940, S. 683, abgedruckt und kommentiert in: Heller,
Ringhofer, Fürsorgerecht, S. 138–153.
243 Vgl. RMBliV, Runderlass des RM d. I. und des RAM vom 30. März 1940, S. 683, abgedruckt in: Heller,
Ringhofer, Fürsorgerecht, S. 138–153, hier S. 140.
244 Vgl. Kapitel I.1.4.
245 RMBliV, Runderlass des RM d. I. und des RAM vom 30, März 1940, S. 683, abgedruckt in: Heller, Ringhofer, Fürsorgerecht, S. 138–153, hier S. 139.
246 Vgl. RMBliV, Runderlass des RM d. I. und des RAM vom 30, März 1940, S. 683, abgedruckt in: Heller,
Ringhofer, Fürsorgerecht, S. 138–153, hier S. 144.
247 Diese Bezeichnung wird zum Teil noch heute verwendet, von vielen Betroffenen allerdings als Abwertung
verstanden. Viele gehörlose Menschen erlernen beispielsweise die Lautsprache und/oder Gebärdensprache und können daher nicht als „stumm“ gelten.
248 Vgl. RMBliV, Runderlass des RM d. I. und des RAM vom 30. März 1940, S. 683, abgedruckt in: Heller,
Ringhofer, Fürsorgerecht, S. 138–153, hier S. 144–145.
249 Vgl. RMBliV, Runderlass des RM d. I. und des RAM vom 30. März 1940, S. 683, abgedruckt in: Heller,
Ringhofer, Fürsorgerecht, S. 138–153, hier S. 144.
55
aufgehoben und ersetzt.250 Da diese Verordnung erst am 1. April 1945 in Kraft trat, spielte
sie in der Praxis der Versorgung der Betroffenen in Hinblick auf das Kriegsende und der
Befreiung aber keine Rolle mehr.
2.2.2 Bestimmungen der „Reichsgrundsätze“ (RGS) und der „Fürsorgepflichtverordnung“
(Fürs.Pflicht.VO)
Mit der Fürs.Einf.VO traten auch die „Reichsgrundsätze über Art und Maß der öffentlichen
Fürsorge“ (RGS) und die „Fürsorgepflichtverordnung“ (Fürs.Pflicht.VO) in Kraft.251 Diese
bestimmten maßgeblich Umfang und die Art der Unterstützungsmaßnahmen.252
Nach § 1 der RGS hatten die öffentlichen Fürsorgeträger die Aufgabe, „Hilfsbedürftigen“
den „notwendigen Lebensbedarf“ zu gewähren. Die „Hilfsbedürftigen“ sollten dabei „tunlichst“ in den Stand versetzt werden, für sich und ihre unterhaltsberechtigten Angehörigen
den „Lebensbedarf“ selbst zu beschaffen.253 Das Postulat einer „produktiven“ Fürsorge legte
die NS-Regierung hier gesetzlich fest.
Als „hilfsbedürftig“ eingestuft wurden Personen, die den „notwendigen Lebensbedarf“
für sich und ihre unterhaltsberechtigten Angehörigen gar nicht oder nicht ausreichend
selbst beschaffen konnten. Sie durften auch nicht von anderer Seite, zum Beispiel von den
Angehörigen, finanziert werden.254
Wer als unterstützungswürdig angesehen wurde, hatte aber nicht nur Anrecht auf das
„unbedingt Notwendige“ zum Lebenserhalt, sondern § 6 der RGS definierte auch das, „was
zur Wiederherstellung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit“ benötigt wurde, als „notwendigen Lebensbedarf“.255 Gemäß diesen Richtlinien zählte bei „Blinden, Taubstummen und
Krüppeln“ die „Erwerbsbefähigung“ zur „Pflichtaufgabe der Fürsorge“.256 Diese drei Gruppen
von Menschen mit einer Beeinträchtigung nahmen demnach eine Sonderstellung ein.257
Zur „Erwerbsbefähigung“ insbesondere blinder Menschen und auch anderer „Schwererwerbsbeschädigter“ zählte auch die Gewährung von Hilfsmitteln, die zur Ausübung eines
Berufes notwendig waren.258
250 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Vierte Verordnung zur Vereinfachung des Fürsorgerechts vom 9. November 1944,
S. 323–324. Besonders bemerkenswert ist, dass trotz der Aufhebung des Runderlasses die Bestimmungen
der „außerordentlichen Fürsorgepflicht“, wenn auch eingeschränkt, von der Verwaltungspraxis und auch
vom Verwaltungsgerichtshof bis in die 1960er Jahre weiterhin angewendet wurden. Vgl. Heller, Ringhofer, Fürsorgerecht, S. 138–153, hier S. 144–145; Steingruber, Der Behindertenbegriff im österreichischen
Recht, <http://bidok.uibk.ac.at/library/steingruber-recht.html>, Download am 24.09.2008 [Abdruck der
Diplomarbeit Steingrubers an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz,
Juni 2000].
251 Vgl. GBlÖ, Nr. 397/1938.
252 Vgl. Kuhweide, Fürsorge, S. 121–128, hier S. 121–122.
253 Vgl. GBlÖ, Nr. 397/1938.
254 Vgl. GBlÖ, Nr. 398/1938, Erläuterungen zu § 5.
255 Vgl. GBlÖ, Nr. 398/1938, Erläuterungen zu § 6.
256 Vgl. GBlÖ, Nr. 398/1938, Erläuterungen zu § 6.
257 Dieser Aspekt weist auf eine am Schluss noch zu erläuternde Sonderstellung blinder Menschen und eine
Hierarchie unter Menschen mit einer Behinderung, bewertet nach ihrer „volkswirtschaftlichen Verwertbarkeit“, hin. Vgl. Kapitel V.
258 Vgl. GBlÖ, Nr.398/1938, Erläuterungen zu § 6.
56
Zivilblinden und anderen „Hilfsbedürftigen“ konnte darüber hinaus unter Umständen
zur Existenzsicherung ein rückzahlungspflichtiges Darlehen gewährt werden.259 Geregelt
wurde dies durch § 11 der RGS. Darin wurde festgelegt, dass die öffentliche Fürsorgeleistungen aus Geldzahlungen, Sachleistungen, persönlicher Hilfe oder Darlehen bestehen
konnte.260
Als „hilfsbedürftig“ Eingestufte hatten aber nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. § 7
der RGS regelte, dass auch nicht „voll arbeitsfähige“ „Hilfsbedürftige“ verpflichtet waren, ihre
restliche Arbeitskraft einzusetzen. Nach § 19 der Fürs.Pflicht.VO konnten „Hilfsbedürftige“
zur Leistung angemessener Arbeit gemeinnütziger Art herangezogen werden. In einem
Aufsatz im „Ratgeber für Blinde“ wird in diesem Zusammenhang von „Pflichtarbeit“261
gesprochen.
Außerdem waren die „Hilfsbedürftigen“ prinzipiell nach § 8 der RGS zunächst dazu
verpflichtet, ihre eigenen finanziellen Mittel einzusetzen, bevor sie Anspruch auf öffentliche Fürsorge hatten. Bei diesem Aspekt, kam allerdings die bereits zitierte Tatsache zum
Tragen, dass der Wohlfahrtsstaat in der NS-Zeit vielmehr ein „Wohlverhaltensstaat“262
war. Wer trotz vorgerückten Alters oder starker Beschränkung der Erwerbsfähigkeit unter
„Aufwendung besonderer Tatkraft einem Erwerbe“263 nachging, bei dem wurde ein angemessener Betrag des Arbeitsverdienstes bei der Einziehung des eigenen Vermögens nicht
angerechnet. Nach den RGS galt dies besonders bei blinden, hirnverletzten und anderen
„schwererwerbsbeschränkten“264 Menschen.
Die Fürs.Pflicht.VO legte darüber hinaus in § 25 noch fest, dass der oder die Unterstützte
verpflichtet sei, dem Fürsorgeverband die aufgewendeten Kosten zu ersetzen. Die Kosten der
beruflichen Integration von blinden, gehörlosen Menschen und „Krüppeln“ wurden davon
allerdings explizit ausgenommen.265 Die Kosten für ihre Berufsausbildung mussten blinde
Menschen also nicht mehr von ihrem geringen Einkommen zurückerstatten.266
2.2.3 „Invalidenbeschäftigungsgesetz“
Neben den bereits erwähnten Gesetzen war auch die gesetzliche Regelung zur Schaffung
von Arbeitsplätzen für Kriegsgeschädigte und andere Menschen mit einer Behinderung von
besonderer Bedeutung. Betriebe sollten verpflichtet werden, ab einer gewissen Anzahl von
Angestellten Kriegsgeschädigte und andere Menschen mit einer Behinderung anzustellen.
Schon vor Beginn der NS-Zeit wurden in Österreich und Deutschland die gesetzlichen
Voraussetzungen dafür geschaffen, die dann auch in der NS-Zeit ihre Gültigkeit behielten.
259
260
261
262
263
264
Vgl. Rhode, Berufsfürsorge, S.20–24, hier S. 21 [BAB, RD 89/1, 1939/2].
GBlÖ, Nr. 397/1938, § 11.
Vgl. Kuhweide, Fürsorge, S. 121–128, hier S. 124.
Vgl. Recker, Sozialpolitik, in: Benz, Graml, Weiß, Enzyklopädie, S. 123–134, hier S. 130.
GBlÖ, Nr. 398/1938, Erläuterungen zu § 8.
Laut den Erläuterungen zu den RGS galten Personen als „schwererwerbsbeschränkt“, die wenigstens um
„50 von Hundert“ in ihrer Erwerbsfähigkeit eingeschränkt waren. Vgl. GBlÖ, Nr. 398/1938, Erläuterungen
zu § 8.
265 Das Gleiche galt für die Wochenfürsorge von Müttern und für Leistungen, die „Hilfsbedürftigen“ vor der
Vollendung des 18. Lebensjahres gewährt wurden.
266 Vgl. Kuhweide, Fürsorge, S. 121–128, S. 124.
57
In Österreich wurde am 1. Oktober 1920 das „Invalidenbeschäftigungsgesetz“ erlassen.267 Dieses Gesetz sollte zunächst die berufliche Wiedereingliederung der Kriegsinvaliden ermöglichen.268 Aber Betriebe konnten auch blinde ArbeitnehmerInnen, „die am Tage
der Kundmachung dieses Gesetzes im Betrieb beschäftigt“269 waren, auf die Pflichtzahl der
anzustellenden Kriegsgeschädigten anrechnen. Dasselbe galt für Unfallverletzte des eigenen
Betriebes.270 In der Fassung vom 8. Februar 1928 wurde der oben zitierte Beisatz zu den
blinden Menschen weggelassen. Damit waren blinde Menschen genauso wie Kriegsgeschädigte auf die Pflichtzahl anrechenbar.271
In Deutschland wurde am 6. April 1920 das „Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter“ erlassen, das zunächst nur Kriegsgeschädigte und BezieherInnen von Unfallrenten umfasste.272 Mit 1. Jänner 1923 erhielt es aber eine neue Fassung und die gesetzlichen
Bestimmungen wurden auch auf blinde und andere Menschen mit einer Behinderung,
deren Erwerbsfähigkeit um mindestens Fünfzig von Hundert beschränkt war, ausgeweitet.
Auch sie sollten eine Anstellung finden, wenn dadurch die Beschäftigung eines Kriegs- oder
„Unfallbeschädigten“ nicht gefährdet wurde.273 Kriegsopfer waren dadurch gegenüber anderen Menschen mit einer Behinderung immer noch bevorzugt, aber die Bestimmungen in
Deutschland betrafen wesentlich mehr Menschen mit einer Beeinträchtigung als in Österreich. Trotzdem ist doch auffällig, dass beide Staaten blinde Menschen extra erwähnten.
Dies zeigt, dass blinde Menschen in den Fürsorgebestimmungen bereits vor der NS-Zeit
eine Sondereinstellung eingenommen haben.
Das Besondere an diesen beiden Gesetzen ist, dass sie jeweils formal in der NS-Zeit
gültig blieben. Das deutsche Gesetz über die Beschäftigung „Schwerbeschädigter“ wurde in
Österreich nie eingeführt. Das „Invalidenbeschäftigungsgesetz“ blieb in Kraft. Im Folgenden
wird nun kurz aufgezeigt, wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte.
Bereits im Jahr 1937 wurde eine Verlängerung der Geltungsdauer des „Invalidenbeschäftigungsgesetzes“, das ansonsten ausgelaufen wäre, bis Ende 1939 festgelegt.274 Diese
Regelung blieb 1938 in Kraft. Anfang 1940 wurde dann nicht, wie man vermuten könnte,
das deutsche Gesetz eingeführt. Es wurde nur eine Verordnung über die Beschäftigung
„Schwerbeschädigter“ in der „Ostmark“ erlassen.275 Die damit verbundenen ergänzenden
Bestimmungen zum „Invalidenbeschäftigungsgesetz“ änderten die bisherigen Regelungen
und führten zu einer indirekten Angleichung an die geltenden Bestimmungen im „Altreich“.
Trotzdem verlängerte man die Geltungsdauer des „Invalidenbeschäftigungsgesetzes“ immer
267 Vgl. [Ö] StGBl., Nr. 459/1920, Gesetz vom 1. Oktober 1920 über die Einstellung und Beschäftigung Kriegsbeschädigter (Invalidenbeschäftigungsgesetz).
268 Weiterführende Literatur: Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 150–152.
269 [Ö] StGBl., Nr. 459/1920, § 4,2.
270 Vgl. [Ö] StGBl., Nr. 459/1920, § 4.
271 Vgl. [Ö] BGBl., Nr. 69/1928.
272 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Nr. 7407/1920, Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter vom 6. April 1920,
S. 458–464.
273 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Bekanntmachung der neuen Fassung des Gesetzes über die Beschäftigung Schwerbeschädigter vom 12. Januar 1923, S. 57–62.
274 Vgl. [Ö] BGBl., Nr. 448/1937, Bundesgesetz betreffend die Verlängerung der Geltungsdauer des Invalidenbeschäftigungsgesetzes; [Bereits in der ersten Fassung vom 1. Oktober 1920 war vorgesehen, dass das
Gesetz mit 31. Dezember 1924 seine Wirksamkeit verlieren sollte. Vgl. StGBl. Nr. 459/1920, § 26,1.]
275 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Beschäftigung Schwerbeschädigter in der Ostmark vom 23. Januar 1940, S. 234–235.
58
wieder bis zum Dezember 1942.276 Mit der dritten Verordnung vom 25. November 1942 blieb
das „Invalidenbeschäftigungsgesetz“ über den 31. Dezember 1942 hinaus bis zum „Ablauf
des auf das Kriegsende folgenden Kalenderjahres“ gültig.277
Die Fortdauer des Krieges und die damit verbundenen Umstände verhinderten hier wohl
die ursprüngliche Planung, denn das deutsche Gesetz zur Beschäftigung „Schwerbeschädigter“ sollte möglichst rasch in der „Ostmark“ eingeführt werden. Dies bemerkte Oberregierungsrat Rhode in seinem Aufsatz über die Berufsfürsorge in „Großdeutschland“.278 Rhode
verfasste den Aufsatz allerdings bevor die ergänzenden Änderungen zum „Invalidenbeschäftigungsgesetz“ vom 23. Jänner 1940 eingeführt wurden.279 Der wichtigste Unterschied der
beiden Gesetze wurde durch diese Regelungen aufgehoben. Mit dieser Verordnung wurden
die Bestimmungen über den Personenkreis, der den schwergeschädigten Kriegsversehrten
und Unfallopfern gleichgestellt war, ausgedehnt. Blinde und andere Menschen mit einer
Behinderung, deren Erwerbsfähigkeit um mindestens Fünfzig von Hundert vermindert war,
konnten nun auch von den Regelungen des „Invalidenbeschäftigungsgesetzes“ in Österreich profitieren. Die Maßgabe, dass die Unterbringung „schwerbeschädigter“ Kriegs- und
Unfallopfer dadurch nicht gefährdet sein sollte, blieb aufrecht.
Für Österreich in der Zeit von 1938 bis 1945 bedeutete diese Entwicklung aber, dass
gewerbliche Betriebe aller Art weiterhin dazu verpflichtet waren, auf 20 ArbeitnehmerInnen mindestens einen Invaliden anzustellen. Auf je 25 weitere ArbeitnehmerInnen musste
mindestens ein weiterer beschäftigt werden.280 Festgeschrieben wurde außerdem, dass
die Entlohnung der Arbeitsleistung bei voller Beschäftigung auch den Lebensunterhalt
ermöglichen sollte.281 Betriebe, die dieser Anstellungspflicht nicht nachkamen, mussten
eine Ausgleichstaxe zahlen. Diese betrug 1928 für jede einzelne Person, die zu beschäftigen
gewesen wäre, 200 Schilling.282 Über die Höhe der Summe in der NS-Zeit konnten keine
Unterlagen gefunden werden. Die Mittel der Ausgleichsabgaben sollten aber für die Kosten
der „Schwerbeschädigtenfürsorge“ verwendet werden.283
2.3 Versicherungsfragen
An dieser Stelle werden anhand des Beispieles der Unfall- und der Invalidenversicherung
der Reichsversicherungsordnung284 die Charakteristika des NS-Sozialversicherungswesens
in Bezug auf die Zivilblinden aufgezeigt.
276 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Verlängerung der Geltungsdauer des Invalidenbeschäftigungsgesetzes in den Reichsgauen der Ostmark vom 21. Dezember 1940, S. 1668; RGBl. Teil I, Zweite Verordnung über die Verlängerung der Geltungsdauer des Invalidenbeschäftigungsgesetzes in den Reichsgauen
der Ostmark vom 24. November 1941, S. 757.
277 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Dritte Verordnung über die Verlängerung der Geltungsdauer des Invalidenbeschäftigungsgesetzes in den Alpen- und Donau-Reichsgauen vom 25. November 1942, S. 664.
278 Vgl. Rhode, Berufsfürsorge, S.20–24, hier S. 23.
279 Vgl. Rhode, Berufsfürsorge, S.20–24, hier S. 21.
280 Vgl. [Ö] BGBl. Nr. 69/1928, § 1.
281 Vgl. [Ö] BGBl. Nr. 69/1928, § 6.
282 Vgl. [Ö] BGBl. Nr. 69/1928, § 9.
283 Vgl. Rhode, Berufsfürsorge, S. 20–24, hier S. 23.
284 Andere Pflichtversicherungen wie die Knappschafts- oder Angestelltenversicherung enthielten keine dezidierten Sonderregelungen für blinde Menschen. Aber auch sie gewährten erblindeten Versicherungs-
59
Angestellte, die infolge eines Betriebsunfalles oder einer „entschädigungspflichtigen
Berufskrankheit“285 erblindeten, waren durch die Unfallversicherung nach der Reichsversicherungsordnung anspruchsberechtigt.286 Die Reichsversicherungsordnung wurde durch
die „Verordnung über die Einführung der Sozialversicherung“ vom 22. Dezember 1938 in der
„Ostmark“287 eingeführt. Das bedeutete das Ende der österreichischen Sozialversicherung
und damit einhergehende tiefgreifende Veränderungen auf dem Gebiet der Organisation,
des versicherten Personenkreises, der Leistungen, des Beitragswesens sowie der Verfahrensvorschriften.288
Bei einer durch einen Berufsunfall verursachten Verletzung gewährten die Berufsgenossenschaften nach § 558: 1. Krankenbehandlung, 2. Berufsfürsorge und 3. eine Rente
oder Krankengeld, Tagegeld sowie Familiengeld für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit 289
Die Krankenbehandlung umfasste in erster Linie die ärztliche Behandlung. Aber auch
die Versorgung mit Medikamenten und die Ausstattung mit „Körperersatzstücken“ gehörten dazu. Bei blinden Menschen kamen dabei beispielsweise künstliche Augen in Frage. Zur
weiteren Heilbehandlung gehörte auch, dass Unfallblinde Anspruch auf einen Führhund mit
Geschirr hatten. Hier orientierten sich die Bestimmungen an dem RVG für Kriegsblinde. 290
Die berufliche Rehabilitation galt aber auch hierbei als wichtigste Aufgabe der Versicherungsträger.291 Als Rente sollten blinde Menschen zwei Drittel des anrechnungsfähigen
Jahresarbeitsverdiensts bekommen. Das bedeutete, ihnen stand die Vollrente zu.292 Der
Verlust der Sehkraft wurde also wie bei den Kriegsopfern als eine der schwersten Formen
von Invalidität bewertet.
Betroffene hatten Anspruch auf Rente, solange sie als völlig erwerbsunfähig galten.293
Inwieweit mit den Rentenzahlungen an Unfallerblindete verfahren wurde, wenn sie wieder
einer Erwerbstätigkeit nachgingen, konnte aus den vorliegenden Gesetzestexten und Dokumenten nicht eindeutig eruiert werden. Bei einem Wiedereintritt ins Berufsleben dürften die
Betroffenen den Anspruch auf ihre Rente allerdings verloren haben.294 § 31 des Gesetzes über
weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlass des Krieges vom 15. Jänner 1941
hob diese Bestimmung für Unfallerblindete für die Zeit des Krieges allerdings wieder auf:
285
286
287
288
289
290
291
292
293
294
60
nehmerInnen die Vollrente. Vgl. Nowack, Versicherungsfragen, in: Meurer, Ratgeber, S. 104–105, hier
S. 104.
Nowack, Versicherungsfragen, in: Meurer, Ratgeber, S. 98–104, hier S. 98.
Vgl. Reichsversicherungsordnung, Stuttgart, Berlin 371942, Unfallversicherung, S. 213–350.
[D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Einführung der Sozialversicherung im Lande Österreich vom
22. Dezember 1938, S. 1912–1918; GBlÖ, Nr. 703/1938, Verordnung über die Einführung der Sozialversicherung im Lande Österreich vom 22. Dezember 1938. Diese Verordnung und andere betreffend die
Sondervorschriften der Reichsversicherungsordnung für die „Ostmark“ sind abgedruckt in: Reichsversicherungsordnung, Anhang IV, S. 518–573, hier S. 522–536.
Vgl. Reidegeld, Sozialpolitik, S. 464; Jakob, Neues Sozialversicherungsrecht der Ostmark (1939), S. 57 zitiert in: Neuwirth, Ehegesetz und Reichsversicherungsordnung, S. 175–214, hier S. 176.
Vgl. Reichsversicherungsordnung, Unfallversicherung, S. 213–350, hier S. 230 [§ 558].
Vgl. Nowack, Versicherungsfragen, S. 98–104, hier S. 99. Das Reichsversorgungsgesetz wird in Kapitel
III.2.2 näher erläutert. Zur Versorgung der Zivilblinden mit Führhunden siehe auch Kapitel II.2, II.9.
Vgl. Nowack, Versicherungsfragen, S. 98–104, hier S. 101–102.
Vgl. Nowack, Versicherungsfragen, S. 98–104, hier S. 102; Vgl. Reichsversicherungsordnung, Unfallversicherung, S. 213–350, hier S. 234 [§ 559 a].
Vgl. Nowack, Versicherungsfragen, S. 98–104, hier S. 102; Vgl. Reichsversicherungsordnung, Unfallversicherung, S. 213–350, hier S. 234 [§ 559 a].
So wurde auch in Bezug auf die Invalidenrente verfahren, die im folgenden Kapitel dargestellt wird.
„Ist eine wegen Invalidität (Berufsunfähigkeit) gewährte Rente deshalb rechtskräftig
entzogen worden, weil der Berechtigte während des Krieges erneut eine Tätigkeit
aufgenommen hat, so ist sie auf Antrag wieder zu gewähren.295
Dadurch wurden auch blinde RentnerInnen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen konnten,
in der Zeit des Krieges, die durch einen Arbeitskräftemangel gekennzeichnet war, angeregt,
wieder eine Tätigkeit aufzunehmen.296
Eine ähnliche Vorgehensweise gab es auch bei der „Invaliden-Versicherung“297, die es als
weitere Absicherung für Berufstätige nach der Reichsversicherungsordnung gab. Für ArbeiterInnen, GesellInnen oder HausgehilfInnen sowie einige andere Berufsgruppen bestand
eine Versicherungspflicht.298 Auch unter Zivilblinden waren einige InvalidenrentnerInnen.
Der Invaliditätsbegriff wurde allerdings in der NS-Zeit sehr eng gefasst. Die restriktive
Praxis bei der Rentengewährung war eine Methode, um der Arbeitskräfteverknappung entgegenzutreten.299 InvalidenrentnerInnen, die wieder einer Beschäftigung nachgingen, drohte
allerdings der Verlust ihrer Bezüge, was gegebenenfalls eine finanzielle Schlechterstellung
bedeuten konnte. Nachdem Art und Umfang einer erneuten Beschäftigung festgestellt worden waren, ordnete die Versicherungsbehörde eine ärztliche Untersuchung des Rentners
oder der Rentnerin an. Diese hatte dann gewöhnlich zur Folge, dass der Versicherungsarzt
das weitere Vorliegen der Invalidität und damit die Voraussetzung für einen Rentenbezug
verneinte.300 In der RBV Zeitschrift „Die Blindenwelt“ wurde dazu festgestellt: „Diese Bestimmung wirkte sich für den Arbeitseinsatz der noch erwerbsfähigen Rentner hinderlich aus.“301
Eine Tatsache, die den Zielen der NS-Sozialpolitik entgegenstand. Wie bei den Regelungen
der Renten der Unfallversicherung wurde diese Vorgehensweise daher durch das bereits
zitierte Gesetz über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung wegen des Krieges mit
15. Jänner 1941 aufgegeben.302
Im Gegensatz zu den InvalidenrentnerInnen im „Altreich“ waren die Bezüge der Betroffenen in der „Ostmark“ allerdings wesentlich geringer.303 Viele Betroffene waren daher
dazu gezwungen, wieder einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, um ihre Existenz zu sichern.
Aus den Akten über die Versorgung der Kriegsblinden ist der Fall des zivilblinden Invalidenrentners Christian N. bekannt, der 1943 als 63-Jähriger in der „Fernsprechanlage“ des
Rathauses in Feldkirch angestellt war.304 Bis 1940 hatte der Vater von fünf Kindern, drei
davon minderjährig, als Setzer in der Buchdruckerei Karl Haller in Feldkirch gearbeitet.
295 [D] RGBl., Teil 1, Gesetz über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlass des Krieges vom
15. Januar 1941, S. 34–36, hier S. 36.
296 Hierzu wird auch auf die Ausführungen zu der Auswirkung dieses Gesetzes auf die Invalidenrente im
folgenden Kapitel verwiesen.
297 Vgl. Reichsversicherungsordnung, Invaliden-Versicherung, S. 351–416.
298 Vgl. Reichsversicherungsordnung, Invaliden-Versicherung, S. 351–416, hier S. 352–356 [§ 1226–§ 1242].
299 Vgl. Reidegeld, Sozialpolitik, S. 454.
300 Vgl. Gerl, Invalidenrente, S. 33–34, hier S. 33.
301 Vgl. Gerl, Invalidenrente, S. 33–34, hier S. 33.
302 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Gesetz über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlass des Krieges
vom 15. Januar 1941, S. 34–36, hier S. 35.
303 Vgl. AVA, Oberversicherungsamt, Kt. 1082, Übersicht über die Altersfürsorgerenten und Invalidenrenten
in der Ostmark erstellt von Ministerialrat Rudolph vom 2.5.1941, zitiert in: Tálos, Arbeits- und Sozialrecht, S. 231–254, hier S. 248.
304 Vgl. Kapitel II.6.5.
61
Wiederholte schwere Augenentzündungen ließen ihn schließlich praktisch erblinden. Er
erhielt auf Grund seiner Invalidität von der Landesversicherungsanstalt Salzburg eine Invalidenrente im Ausmaß von monatlich 61,10 RM (Stand 1943). Damit konnte er seine Familie
nicht ernähren und war gezwungen, wieder einem Beruf nachzugehen. Er fand schließlich
eine Anstellung als Telefonist im städtischen Dienst. Ob er auf Grund seiner Vorbildung,
seines Alters und seiner Behinderung für diesen Beruf geeignet war, erscheint mehr als
fraglich. Bei seiner Anstellung spielten angeblich karitative Überlegungen eine Rolle. Der
Bürgermeister der Stadt Feldkirch setzte sich dann auch für N. ein, als der Kriegsblinde
Johann G. dessen Posten für sich beanspruchte. Offenbar mit Erfolg, denn G. fand schließlich eine andere Anstellung beim Landesgericht.305
2.4 Vergünstigungen für Zivilblinde
2.4.1 Steuerliche Sonderrechte
In der Steuergesetzgebung der NS-Zeit waren einige Sonderregelungen für blinde Menschen
enthalten. Die bisher geschilderten Grundsätze in der NS-Fürsorgepolitik für blinde Menschen schlugen sich auch in der Steuergesetzgebung nieder.
Die Grundlage für das Steuerrecht im „Dritten Reich“ bildete das Steueranpassungsgesetz aus dem Jahre 1934.306 In § 1 wurde festgehalten, dass alle Steuergesetze nach „nationalsozialistischer Weltanschauung“ auszulegen seien. So war es möglich, viele Sondersteuern einzuführen, die das Ziel hatten, Menschen jüdischer Herkunft sowie andere verfolgte
Gruppen zu diskriminieren.307
Das deutsche Steuer- und Abgabenrecht und damit die Sonderregelungen für blinde
Menschen wurden schrittweise in Österreich eingeführt.308 Der RBV war dafür zuständig, die in ihm organisierten blinden Menschen über die steuerlichen Vorschriften des
„Deutschen Reiches“ aufzuklären. Dies diente aber nicht nur der Information, sondern der
Propaganda für das NS-Regime. Blinde Menschen sollten davon überzeugt werden, dass
der NS-Staat Verständnis und Anerkennung für ihre Bedürfnisse hätte.309
Die Legitimation für solche Vergünstigungen sah der selbst blinde Rechtsberater des
RBV, Bruno Gerl, darin gegeben, dass blinde Menschen einen höheren Lebensaufwand hatten, um zum Beispiel einen Beruf zu bekommen. Die Vergünstigungen, die blinde Menschen
erhielten, seien dafür ein vom Staat gesetzlich anerkannter Ausgleich.310 Tatsächlich dürfte
bei der NS-Steuergesetzgebung für blinde Menschen aber wohl der pädagogische Aspekt der
305 Vgl. ÖSTA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann G.
306 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Steueranpassungsgesetz (StAnpG) vom 16. Oktober 1934, S. 925–941.
307 Vgl. Faber, Meissel, Steuerrecht, S. 1.
308 Ondraczek spricht von 26 als solche ausdrücklich bezeichnete und nummerierte Einführungsverordnungen. Vgl. Ondraczek, Juristische Blätter 1959, 357, FN 4, zitiert in: Faber, Meissel, Steuerrecht, S. 3; Voß,
Steuern im Dritten Reich. Vom Recht zum Unrecht der Herrschaft des Nationalsozialismus (1995) [sic!],
zitiert in: Faber, Meissel, Steuerrecht, S. 3.
309 Vgl. Gerl, Steuervergünstigungen, S. 90–96, hier S. 90.
310 Vgl. Gerl, Steuervergünstigungen, S. 90–96, hier S. 90.
62
NS-Sozialpolitik zum Tragen gekommen sein. Blinde Menschen, die weniger verdienten als
sehende, sollten durch den Gesetzgeber eine Entlastung erfahren. Damit wurde ein Anreiz
geschaffen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.
Unter diesem Gesichtspunkt können beispielsweise die Sonderbestimmungen für blinde
Menschen bei der Lohnsteuer betrachtet werden. Mit der zweiten Lohnsteuerdurchführungsverordnung aus dem Jahr 1938, die noch im Dezember desselben Jahres in Österreich
in Kraft trat,311 wurde eine Steuerfreiheit für blinde Angestellte und ArbeiterInnen bei einem
Arbeitseinkommen bis zu 400 RM monatlich eingeführt. Die nicht mehr erwerbstätigen
blinden Menschen – gemeint waren damit zum Beispiel RuhegehaltsempfängerInnen – die
eine Steuerkarte bekamen, waren bis zu einem Einkommen von 240 RM monatlich von
der Lohnsteuer befreit.312
Bemerkenswert ist die Sonderstellung, die Zivilblinde dabei gegenüber allen anderen Menschen mit einer Behinderung einnahmen. Für blinde und praktisch blinde
ArbeitnehmerInnen galten die gleichen Vergünstigungen wie für Kriegs- oder Dienstgeschädigte, die eine Pf legezulage oder erhöhte „Verstümmelungszulage“ bezogen.
Sie bekamen demnach die höchsten monatlichen Freibeträge zugesprochen. Bei der
Lohnsteuergesetzgebung gab es also eine Gleichstellung zwischen Zivilblinden und
Kriegsblinden. Gleichzeitig wurden damit Zivilblinde gegenüber allen anderen Menschen mit einer Behinderung bevorzugt. Nur „Zivilbeschädigte“ 313 mit einer Minderung
der Erwerbsfähigkeit um mindestens 25 Prozent und durch „Geburtsfehler Körperbehinderte“ hatten noch Anspruch auf Freibeträge, die allerdings geringer waren als bei
Zivilblinden. Zu dieser Gruppe wurden Personen gezählt, „die von Geburt an durch
einen äußerlich erkennbaren Fehler, z. B. steifen Arm, körperlich behindert sind. Bloße
Krankheitsanlagen von Geburt an, z. B. Tuberkulose, […]“ 314 genügten nicht. Durch
diese Formulierung war es also möglich, Menschen mit einer Behinderung, die eine
Erbkrankheit hatten oder zum Beispiel eine Hörbehinderung, von den steuerlichen
Vergünstigungen auszunehmen.
Gekoppelt an die Einkommenssteuer war auch die Wehrsteuer. Wer also keine Lohnsteuer auf Grund dieser Gesetzgebung zahlen musste, war von der Wehrsteuer befreit, auch
wenn es dafür keine ausdrücklichen Befreiungsvorschriften gab.315 Die Wehrsteuer mussten
all jene zahlen, die nicht zum aktiven Wehrdienst einberufen worden waren.
311 Vgl. GBlÖ, Nr. 699/1938, Siebente Verordnung zur Einführung steuerrechtlicher Vorschriften im Lande
Österreich vom 17. Dezember 1938.
312 Vgl. [D] RGBl, Teil I, Zweite Verordnung zur Durchführung des Steuerabzuges vom Arbeitslohn (Zweite
LStDVO) vom 6. Februar 1938, S. 149–180, § 26, S. 158–161; Gerl, Steuervergünstigung, S. 90–96, hier
S. 91.
313 Zivilbeschädigte waren Personen, die außerhalb des Kriegs-, Militär- oder Reichsarbeitsdienstes entweder
durch ein von außen wirkendes Ereignis (Unfall, Verletzung) beschädigt waren oder bei denen ein inneres
Leiden in typischem Zusammenhang mit ihrer Berufstätigkeit bestand (typische Berufskrankheit). Vgl.
RGBl, Teil I, Zweite Ordnung zur Durchführung des Steuerabzuges vom Arbeitslohn (Zweite LStDVO)
vom 6. Februar 1938, S. 149–180, hier S. 160 [§ 26 3c].
314 [D] RGBl, Teil I, Zweite Verordnung zur Durchführung des Steuerabzuges vom Arbeitslohn (Zweite
LStDVO) vom 6. Februar 1938, S. 149–180, hier S. 160 [§ 26 3d]. Diese Bestimmungen blieben auch aufrecht nach den Lohnsteuerdurchführungsbestimmungen vom 10. März 1939 vgl. GBlÖ, Nr. 1446/1939,
Zwanzigste Verordnung zur Einführung steuerrechtlicher Vorschriften in der Ostmark vom 21. November 1939.
315 Gerl, Steuervergünstigungen, S. 90–96, hier S. 91–92.
63
Von der nächsten hier behandelten Steuerbefreiung waren die meisten blinden Menschen
betroffen. Es handelt sich dabei um den Erlass der Bürgersteuer. Geregelt wurde dies durch
die Bürgersteuerverordnung, die am 1. Februar 1939 in Österreich in Kraft trat. Ab diesem
Jahr waren die Gemeinden erstmals berechtigt, die Bürgersteuer zu erheben. Grundlage
für diese bildete das Einkommen. Unter bestimmten Bedingungen mussten die Teilbeträge der Einkommenssteuer nicht bezahlt werden. Darunter fiel auch Blindheit, wenn das
Einkommen der Betroffenen in dem Erhebungsjahr nicht die Obergrenze von 4.500 RM
überschritt.316 Dies war bei den meisten blinden Menschen der Fall.317
Ebenfalls befreit waren blinde Menschen unter bestimmten Bedingungen von der
Umsatzsteuer. Diese war ebenfalls von Bedeutung, da einige blinde Menschen als Selbständige, zum Beispiel als BürstenbinderInnen oder KorbflechterInnen, arbeiteten. Die
deutschen Bestimmungen zur Umsatzsteuer traten in Österreich mit 1. Mai 1938 in Kraft.318
Nach § 32 dieser Durchführungsbestimmungen waren die Umsätze jener blinden Selbständigen steuerfrei, die nicht mehr als zwei ArbeitnehmerInnen beschäftigten und welche die
Voraussetzungen der Steuerfreiheit durch eine Bescheinigung des Bezirksfürsorgeverbandes nachweisen konnten. Die Ehefrau, minderjährige Kinder und die Eltern der Blinden
sowie Lehrlinge galten nicht als ArbeitnehmerInnen. Außerdem waren die Umsätze der
Werkstätten von Blindenanstalten von Steuern befreit. Diese Gesetzgebung zielte also eindeutig darauf ab, selbständige blinde Menschen bei der Aufrechterhaltung ihres Betriebes
oder Arbeitsplatzes zu entlasten. Dies geschah nicht aus karitativen Überlegungen. Blinde
HandwerkerInnen waren vor allem durch die industrielle Konkurrenz in ihren Existenzmöglichkeiten gefährdet.319
Keine besonderen Vorschriften gab es für blinde Menschen bei der Einkommenssteuer,
der Vermögenssteuer sowie der Kirchensteuer.320 Ermäßigungen wegen Blindheit waren
darüber hinaus bei der Gewerbe-, Grunderwerbs-, Wertzuwachs- und der Grundsteuer
nicht vorgesehen.321
An dieser Stelle konnte nur ein Überblick über die Steuergesetzgebung für blinde Menschen in der „Ostmark“ zwischen 1938 und 1945 gegeben werden. Durch den Kriegsverlauf
und die Unterordnung der gesamten Gesetzgebung unter kriegswirtschaftliche Prioritäten
kam es zu zahlreichen Änderungen in der Steuergesetzgebung, von denen unter Umständen auch blinde Menschen betroffenen waren. Die hier erläuterten steuerlichen Vergünstigungen lassen aber trotzdem schon einige Rückschlüsse zu. Zum einen entsprachen sie
der NS-Ideologie, nach der die BezieherInnen von geringerem Einkommen nicht übermäßig zur Finanzierung der Rüstungs- und Kriegsausgaben herangezogen werden sollten.
316 Vgl. GBlÖ, Nr. 159/1939, Neunte Verordnung zur Einführung steuerrechtlicher Vorschriften im Lande
Österreich vom 20. Januar 1939 [Bürgersteuerverordnung für das Land Österreich (Öst. BstVO), § 14, 5].
317 Laut Angabe des Rechtsberaters des RBV, Bruno Gerl, gab es auch noch für blinde Menschen, deren Jahreseinkommen 4.500 RM überschritt, die Möglichkeit, eine Ermäßigung der Bürgersteuer zu erreichen.
Da es aber nur sehr wenige blinde Menschen gab, die so viel verdienten, kam es nur selten zu so einem
Antrag. Dieser Aspekt wird daher hier auch nicht weiter ausgeführt. Vgl. Gerl, Steuervergünstigungen,
S. 90–96, hier S. 93–94.
318 Vgl. GBlÖ, Nr. 94/1938, Erste Verordnung zur Einführung steuerrechtlicher Vorschriften im Lande Österreich vom 14. April 1938.
319 Vgl. Kapitel II.6.1, II.6.2.
320 Vgl. Gerl, Steuervergünstigungen, S. 90–96, hier S. 91, 92, 94.
321 Vgl. Gerl, Steuervergünstigungen, S. 90–96, hier S. 96.
64
„Die deutsche Führung schuf und garantierte einen Kriegssozialismus, der auf die Loyalität
der kleinen Leute zielte.“322 So beschrieb Götz Aly in seinem Buch „Hitlers Volksstaat“323
die Steuerpolitik des „Deutschen Reiches“ in einem Kapitel über die „Steuermilde für die
Massen“324. Zum anderen sollten die steuerlichen Vergünstigungen für blinde Menschen
durch die Propaganda des RBV auch bei ihnen eine loyale Einstellung zum NS-Staat erwirken. Gleichzeitig manifestierte die Steuergesetzgebung auch die privilegierte Rolle Blinder
unter den Menschen mit einer Behinderung in der NS-Hierarchie.325
2.4.2 Sondervergünstigung bei Kinderbeihilfen
Ein erklärtes bevölkerungspolitisches Ziel des NS-Regimes war es, eine Vermehrung der
„rassistisch“ und genetisch „erwünschten“ Bevölkerungsteile zu erreichen. Um diese Entwicklung zu fördern, waren in der NS-Gesetzgebung Kinderbeihilfen und Steuervergünstigungen für Familien mit Kindern vorgesehen. Gleichzeitig sollte durch das GzVeN die
Geburt von Kindern mit einer Behinderung verhindert werden. Von den Zwangssterilisierungen waren blinde Menschen betroffen. Das bedeutete aber nicht, dass auch als „erbgesund“ definierte blinde Menschen keine Nachkommen zeugen sollten. Da das NS-Regime
davon ausging, dass sie in der Lage waren, „gesunde“ Nachkommen zu bekommen, sollten
die kinderreichen Familien von blinden Männern326 ebenfalls unterstützt werden. Geregelt
wurde dies durch die „neunte Durchführungsverordnung zur Gewährung von Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien“ vom 20. Dezember 1938.327 Laufende Kinderbeihilfen in der
Höhe von zehn RM wurden jeder Mutter für das fünfte und jedes weitere Kind ausgezahlt.
Allerdings konnten Ehefrauen von blinden Männern sowie Witwen, geschiedene oder ledige
Frauen328 laufende Kinderbeihilfen bekommen, „wenn sie für weniger als fünf Kinder unter
sechzehn Jahren zu sorgen“329 hatten.
Gemäß der Ausrichtung der Gesetzgebung nach bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten bekamen nicht alle Eltern diese Kinderbeihilfen zugesprochen. Sie mussten aus Sicht
des Staates in der Lage sein, „wünschenswerten“ Nachwuchs zu zeugen. Deshalb mussten
sie „arisch“, im Besitz der „bürgerlichen Ehrenrechte“ und aus staatlicher Sicht dazu gewillt
sein, „in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen.“330 Außerdem galt folgende Bestimmung: „Vorleben, Leumund und soziales Verhalten der Eltern müssen erwarten lassen, daß
die Beihilfen zur Besserung der wirtschaftlichen Lage der Familie verwendet werden.“331 Ausgeschlossen waren außerdem Familien mit einem Jahreseinkommen von über 8.000 RM.
322
323
324
325
326
327
328
329
330
331
Aly, Hitlers Volksstaat, S. 68.
Aly, Hitlers Volksstaat, S. 68.
Aly, Hitlers Volksstaat, S. 66–77.
Vgl. Kapitel V.
Warum blinden Frauen die Mutterrolle nicht zugetraut wurde vgl. Kapitel II.10.
Vgl. GBlÖ, Nr. 21/1939, Neunte Durchführungsbestimmung zur Verordnung über die Gewährung von
Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien (Neunte KFVDB) vom 20. Dezember 1938.
Vgl. GBlÖ, 21/1939, § 4,1.
[D] RGBl., Teil I, Siebente Durchführungsbestimmungen zur Verordnung über die Gewährung von Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien vom 13. März 1938, S. 241–243, hier S. 242 [ad § 17.2].
O. A., Sondervergünstigungen für Blinde bei der Gewährung von Kinderbeihilfen, S. 96–98, hier S. 97.
O. A., Sondervergünstigungen für Blinde bei der Gewährung von Kinderbeihilfen, S. 96–98, hier S. 97.
65
Durch diese Definition des Empfängerkreises gab es wiederum viel Spielraum für willkürliche Auslegungen. Ein an das Regime angepasster Lebensstil eines blinden Familienvaters konnte so zur Existenzsicherung beitragen.
Blinde Mütter scheinen von dieser Regelung nicht betroffen gewesen zu sein. Dabei
ging der Gesetzgeber wohl davon aus, dass diese von ihren „sehenden“ Männern versorgt
würden. Hinzu kam, dass einer blinden Frau die Mutterrolle wohl nicht zugetraut wurde.332
2.4.3 Ermäßigungen im öffentlichen Verkehr
In den vorherigen Kapiteln wurden bereits viele Vergünstigungen für berufstätige Blinde
aufgezeigt. Diese gab es auch im öffentlichen Verkehr. Die Reichsbahn beförderte blinde
Menschen für Berufsreisen zum halben Preis in der dritten und zweiten Klasse. Die Ermäßigung galt ebenfalls für eine/n sehende/n Begleiter/in.333 Diese Bestimmungen aus dem
„Altreich“ wurden mit 1. Jänner 1939 in der „Ostmark“ eingeführt.334 Um diese Ermäßigung
zu erhalten, war ein hoher bürokratischer Aufwand notwendig.
Blinde Menschen, die keinem Beruf nachgingen, sollten nicht in den Genuss dieser
Ermäßigung kommen. Ausnahmeregelungen gab es nur für „mittellose Blinde zum vorübergehenden Besuch in Blindenanstalten“335 sowie für „mittellose Zöglinge und Pfleglinge
von Blindenanstalten.“336 Die LeiterInnen von Blindenschulen, Werkstätten und Heimen
konnten Ermäßigungsscheine für den halben Fahrpreis in der dritten Klasse ausstellen,
damit die Betroffenen die Einrichtung wieder verlassen oder besuchen konnten. Außerdem
konnte alleinreisenden BegleiterInnen zum Abholen des/r Blinden oder zur Rückfahrt die
Ermäßigung gewährt werden.
Der große bürokratische Aufwand hinter diesen Tarifbestimmungen wurde auf der
194. Sitzung der „Tarifkommission der Deutschen Eisenbahnverwaltung“ im Dezember 1938
diskutiert. Die Reichsbahndirektion München stellte einen Antrag, blinden Menschen die
Ermäßigung für jede beliebige Reise zu genehmigen. In der Begründung hieß es, dass blinde
Menschen kaum zu ihrem „Vergnügen“ [sic!] reisen würden und dass es nur sehr schwer war
nachzuprüfen, ob eine Berufsreise wirklich notwendig war oder nicht. Außerdem gab es
bei der Ausstellung der Bescheinigung durch die Eisenbahnverwaltung anscheinend immer
wieder viele „unerquickliche Auseinandersetzungen“.337 Die Eisenbahndirektion München
332 Vgl. Kapitel II.10. Weiterführende Literatur zu dem Thema: vgl. Ulrike Heitkamp, Die Situation blinder
Frauen und Mädchen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Christine Burger (Hrsg.), Du mußt Dich halt behaupten. Die gesellschaftliche Situation behinderter Frauen, Würzburg 1992, S. 89–189.
333 Vgl. Gäbler-Knibbe, Blinden im Verkehr, S. 76–83, hier S. 80–81. [Der Autor Dr. Lothar Gäbler-Knibbe
war selbst erblindet und beim RBV tätig.]
334 Vgl. BAB, Reichsverkehrsministerium, R 5/3048, DRB 15 Tpeb, Entwurf Schreiben an NSKOV Fachabteilung erblindeter Krieger Berlin und Wien vom 7.11.1938, Betreff: Fahrpreisermäßigung für Blinde zu
Berufsreisen.
335 Vgl. BAB, Reichsverkehrsministerium, R 5/3048, Auszug aus 194. Sitzung der Ständigen Tarifkommission
der Deutschen Eisenbahnverwaltung, München den 6., 7., 8.12.1938, S. 136.
336 Vgl. Gäbler-Knibbe, Blinden im Verkehr, S. 76–83, hier S. 80–81; BAB, Reichsverkehrsministerium,
R 5/3048, Auszug aus 194. Sitzung der Ständigen Tarifkommission der Deutschen Eisenbahnverwaltung,
München den 6., 7., 8.12.1938, S. 135–136.
337 Vgl. BAB, Reichsverkehrsministerium, R 5/3048, Auszug aus 194. Sitzung der Ständigen Tarifkommission
der Deutschen Eisenbahnverwaltung, München den 6., 7., 8.12.1938, S. 136.
66
hatte auch keine Bedenken, dass Blinde dadurch anderen Menschen mit einer Behinderung
gegenüber eine starke Bevorzugung erhalten würden.
„Berufungen anderer körperlicher Behinderter können mit dem Hinweis darauf abgewehrt werden, daß die 38.000 blinden Volksgenossen […] eine besondere Berücksichtigung verdienen, weil es ein großes Unglück ist, blind zu sein, weil das seelische Leid
der Blinden mit keinem anderen Leid verglichen werden kann und weil bei Blinden
kaum überflüssige Reisen zu erwarten sind.“338
Zu einer Vereinfachung der Tarifermäßigung für blinde Menschen kam es dann aber doch
nicht. Als Ablehnungsgrund wurde eine Berechnung für den zu erwartenden Einnahmenausfall angestellt. Durch die Ausdehnung der Tarifordnung auf die „Ostmark“ errechnete
man einen Einnahmenausfall von 324.000 RM allein durch die alten Bestimmungen. Der
zusätzliche Einnahmenausfall wurde mit rund 30.000 RM bewertet. Trotz dieser geringen
Summe kam die Tarifkommission zu dem Ergebnis, die Reichsbahn müsse zusätzliche
Kosten durch eine Ausdehnung des Kreises der Berechtigten nicht in Kauf nehmen. In der
Begründung der Ablehnung wurde weiter davon ausgegangen, dass wenige nicht berufstätige Blinde das Angebot nutzen würden, weil unter ihnen viele aus Altersgründen dazu
nicht mehr in der Lage seien.
Grundlage für die Berechnung bildeten die Zahlen aus dem „Altreich“ aus dem Jahr
1937. 4.847 Bescheinigungen zur Erlangung einer Fahrpreisermäßigung für blinde Menschen zu Berufsreisen waren in diesem Jahr dort ausgestellt worden.339 Bei einer angenommenen Anzahl von 32.000 Zivilblinden nutzten also gerade einmal rund 15 Prozent der
blinden Menschen diese Möglichkeit, wenn in der Zahl nicht auch noch doppelte Anträge
von blinden Menschen enthalten sind, die mehrfach eine Berufsreise unternommen haben.
Die Mobilität blinder Menschen dürfte daher nicht sehr groß gewesen sein.
Zur Vollständigkeit sei hier noch erwähnt, dass es für blinde Menschen noch teilweise
in den Straßenbahnen und Bussen zahlreicher Städte Ermäßigungen gab. Die Regelungen
dafür waren aber regional sehr unterschiedlich. Sogar die Lufthansa gewährte blinden
Reisenden eine Vergünstigung von 25 Prozent. Auch einige Schifffahrtslinien kannten
solche Preisreduktionen.340
2.4.4 Vergünstigungen bei Kulturveranstaltungen und Literatur in Blindenschrift
Auch die so genannte „geistige Fürsorge“ wurde als ein wichtiger Aspekt der Versorgung
blinder Menschen betrachtet. Auf Grund der Tatsache, dass die Betroffenen nicht die
Schwarzschrift, sondern nur die Blindenschrift lesen konnten, mussten sie auf anderem
Wege Zugang zu Medien, Büchern und geistiger Zerstreuung finden.341
338 BAB, Reichsverkehrsministerium, R 5/3048, Auszug aus 194. Sitzung der Ständigen Tarifkommission der
Deutschen Eisenbahnverwaltung, München den 6., 7., 8.12.1938, S. 136.
339 Vgl. BAB, Reichsverkehrsministerium, R 5/3048, Auszug aus 194. Sitzung der Ständigen Tarifkommission
der Deutschen Eisenbahnverwaltung, München den 6., 7., 8.12.1938, S. 139–149.
340 Vgl. Gäbler-Knibbe, Blinden im Verkehr, S. 76–83, hier S. 82.
341 Vgl. o. A., Geistige Fürsorge, S. 137–140, hier S. 137.
67
Eigentlich war dies ein Kernaufgabenbereich der Blindenvereine, also der „freien“ Wohlfahrt. Trotzdem erließ auch die öffentliche Hand Ermäßigungen und Sonderregelungen
für blinde Menschen.
Dies zeigt sich zum Beispiel bei der Befreiung von den Rundfunkgebühren. Das Radio
wurde als das wichtigste Medium für blinde Menschen angesehen. Blinde Menschen, die
nur über ein geringes Einkommen verfügten, konnten bei den Bezirksfürsorgestellen einen
Antrag auf Befreiung von den Rundfunkgebühren stellen. Menschen jüdischer Herkunft
waren davon dezidiert ausgenommen.342 Unter den in Betracht kommenden AntragsstellerInnen wurde dann ausgewählt, wer von den Postämtern für eine Befreiung vorgeschlagen wurde.343 Auch hierbei war also von vorneherein einer willkürlichen Auslegung der
Bestimmungen Tür und Tor geöffnet. Der Antrag auf Gebührenbefreiung musste ab 1938
jedes Jahr neu gestellt werden. So wurde kontrolliert, ob die Voraussetzungen für die Gebührenbefreiung immer noch gegeben waren.344
Erleichtert werden sollte blinden Menschen ebenso der Zugang zu vielen kulturellen Veranstaltungen wie Konzerten, Theater- oder Opernaufführungen. Meistens kümmerten sich
darum die ortsansässigen Blindenvereine.345 Der RBV strebte bei der Reichstheaterkammer eine
generelle Regelung für den Besuch von kulturellen Veranstaltungen an. Dort wurde intensiv
darüber beraten. Der Schriftverkehr aus den Jahren 1943 bis 1944 zu dem Thema ist im BAB
erhalten.346 Reichskulturkammer, Reichstheaterkammer, Reichsarbeitsministerium (RAM), RBV
und die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ diskutierten jahrelang, ohne Einigung zu
erzielen, über eine Lösung.347 Bedenken gab es vor allem in Hinblick auf die Kriegsblinden. Ihre
Sonderstellung sollte auf keinen Fall durch die Vergünstigungen für Zivilblinde beeinträchtigt werden.348 Erst am 21. August 1944 wurde die Angelegenheit ergebnislos eingestellt. „In
Anbetracht der Totalisierung des Krieges wird die Weiterbearbeitung der vorstehend bezeichneten
Angelegenheit – als nicht kriegswichtig – einstweilen zurückgestellt.“349 Dass von den betreffenden
Stellen zu diesem Zeitpunkt dieses Thema überhaupt debattiert wurde, unterstreicht, dass die
„geistige Fürsorge“ in der NS-Blindenpolitik einen relativ hohen Stellenwert hatte.
Nach einer Weisung350 des „Reichsministers für Propaganda“ Goebbels aus dem Jahr
1943 sollten Theater im „Deutschen Reich“ aber so genannte „Blindenplätze“ zur Verfügung
342
343
344
345
346
347
Vgl. weiterführend Kapitel IV.3.1.
Vgl. o. A., Geistige Fürsorge, S. 137–140, hier S. 137–138.
Vgl. o. A., Geistige Fürsorge, S. 137–140, S. 138.
Vgl. o. A., Geistige Fürsorge, S. 137–140, hier S. 139.
Vgl. BAB, Reichstheaterkammer, R 56 III 303, Eintrittspreisermäßigungen für Blinde 1943–1944.
Vgl. BAB, Reichstheaterkammer, R 56 III 303, GZ. RKK 33, Präsident der Reichkulturkammer, gez. Köhler, an den Präsidenten der Reichstheaterkammer (Nr. 31679 2. 1 – 1943), vom 3.7.1943, Betreff: Eintrittspreisermäßigungen für Blinde.
348 Vgl. BAB, Reichstheaterkammer, R 56 III 303, GZ B 1 – 31679 – Sch/Brü, Präsident der Reichstheaterkammer an Präsidenten der Reichskulturkammer vom 3.7.43, Betreff: RKK 33; BAB, Reichstheaterkammer,
R 56 III 303, GZ B 1 Nr. 14 – 3.2.44, Fachschaft Bühne, Fachgruppe Theaterveranstalter an den Präsidenten
der Reichskulturkammer vom 3.2.44, Betreff: RKK 33.
349 BAB, Reichstheaterkammer, R 56/III 303, GZ. AZ RKK 33, Reichskulturkammer an den Präsidenten der
Reichstheaterkammer, vom 21.8.1944, Betreff: Eintrittspreisermäßigung für blinde Volksgenossen bei
kulturellen Veranstaltungen.
350 Über Nummer und Jahr dieser Weisung ist nichts bekannt. Vgl. BAB, Reichstheaterkammer, R 56 III 303,
GZ. RKK 33, Präsident der Reichkulturkammer, gez. Köhler, an den Präsidenten der Reichstheaterkammer (Nr. 31679 2 1 – 1943), vom 3.7.1943, Betreff: Eintrittspreisermäßigungen für Blinde.
68
stellen. Dies waren Plätze mit schlechter Sicht, aber guter Akustik. Sie wurden bereits bei
einigen kulturellen Veranstaltungen, zum Teil kostenlos, blinden Gästen zugeteilt.351
Mit Hilfe von öffentlichen Geldern sollten blinde Menschen auch leichter die Möglichkeit haben, Literatur in Blindenschrift zu erhalten. Die Bücherausgaben in der
Punktschrift waren in der Regel sehr umfangreich und deshalb schwer zu versenden.
Die Reichspost bot daher für Blindensendungen Sondergebühren an. 352 Zur Ideologisierung blinder Menschen sollte ihnen auch die NS-Standardliteratur zugänglich gemacht
werden. So wurde in Marburg an der Lahn zum Beispiel Adolf Hitlers „Mein Kampf “ in
hoher Auflage353 in Blindenschrift gedruckt und zu einem günstigen Preis im gesamten
„Deutschen Reich“ verkauft. Ermöglicht wurde dies unter anderem durch entsprechende
finanzielle Zuschüsse. 354
Abb. 02 und Abb. 03: Die Brailleschriftausgabe von „Mein Kampf “ im BBI Wien
(Rückseite und Titelseite).
351 Vgl. BAB, Reichstheaterkammer, R 56 III 303, GZ. RKK 33, Präsident der Reichkulturkammer, gez. Köhler, an den Präsidenten der Reichstheaterkammer (Nr. 31679 2 1 – 1943), vom 3.7.1943, Betreff: Eintrittspreisermäßigungen für Blinde.
352 Vgl. o. A., Geistige Fürsorge, S. 137–140, hier S. 139.
353 Bei einem Besuch im Archiv der Blindenstudienanstalt in Marburg an der Lahn erzählte der dortige Archivar, dass bis heute kein Buch in Blindenschrift jemals wieder so eine hohe Auflage erreicht haben soll
wie „Mein Kampf“. Dies ist durch Quellen allerdings nicht belegbar.
354 Vgl. o. A., Geistige Fürsorge, S. 137–140, hier S. 139.; Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens,
S. 160.
69
2.5 Weitere rechtliche Bestimmungen und Schlussfolgerungen
Es war nicht möglich, in diesem Kapitel alle gesetzlichen Bestimmungen355, die für blinde
Menschen relevant waren, zu erörtern. Insbesondere ausgeklammert wurde hier der Diskurs
über die Geschäftsfähigkeit. Regelungen dazu wurden bereits vor der NS-Zeit getroffen.356
Gesetzlich geregelt wurde in der NS-Zeit die Möglichkeit für blinde Menschen, ihr Testament mündlich vor einem Richter oder Notar zu erklären.357 Eine Untersuchung dieses
Themas macht allerdings nur Sinn, wenn die in der NS-Zeit gültigen Gesetze mit den davor
gültigen Regelungen verglichen werden. So ließe sich eventuell eruieren, ob die NS-Zeit
in diesem Bereich gravierende Veränderungen für blinde Menschen bewirkte oder nicht.
Dieser explizit rechtshistorische Ansatz führt über die Fragestellung dieser Arbeit hinaus.
Auch wenn über die tatsächliche Umsetzung der gesetzlichen Bestimmungen nicht
viel bekannt ist, so wird doch deutlich, dass im NS-Staat „arbeitsfähige“ blinde Menschen
unterstützungsberechtigt waren und alle anderen durch das staatliche Sicherheitsnetz fielen.
Blindheit wurde als das größte „Leid“ angesehen. Dabei manifestierten die gesetzlichen
Bestimmungen und Verordnungen der öffentlichen Fürsorge die Stellung der blinden Menschen an der Spitze einer Hierarchie von Menschen mit einer Behinderung in der NS-Zeit.
Eine weitere Differenzierung dieses Systems wird durch die Schilderungen in den nächsten
Kapiteln deutlich werden.
Eine Ausdifferenzierung gab es aber auch unter blinden Menschen, zwischen „Arbeitsfähigen“ und „nicht Arbeitsfähigen“. Außerdem hatten Unfallblinde einen umfassenderen Anspruch auf Versorgung. Sie waren nicht genetisch belastet, sondern erblindeten bei
ihrer „Pflichterfüllung“, der Arbeit. Um seiner eigenen Propaganda nicht zu widersprechen,
konnte der NS-Staat sie deshalb nicht unversorgt lassen. Dementsprechend trifft auch auf
die Fürsorgepolitik für blinde Menschen Folgendes zu: „Der Wohlfahrtsstaat des Nationalsozialismus war Instrument nicht der Integration der Schwachen und Benachteiligten,
sondern der Verschärfung rassistischer Ungleichheit.“358
355 Eine umfangreiche Darstellung der Gesetzgebung in der NS-Zeit bietet: Buschmann, Nationalsozialistische Weltanschauung.
356 Gerl, Reichsbestimmungen für Blinde, S. 88–90, hier S. 88.
357 Das deutsche Gesetz über die Errichtung von Testamenten und Erbverträgen wurde 1938 in der „Ostmark“ eingeführt. Vgl. GBlÖ, Nr. 346/1938, Gesetz über die Errichtung von Testamenten und Erbverträgen vom 31. Juli 1938.
358 Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 276.
70
3.Die „freie“ Blindenwohlfahrt in der NS-Zeit:
NSV, Fürsorge- und Selbsthilfevereine
3.1 Überblick
Laut NS-Propaganda setzte sich die „Wohlfahrtspflege“ im „Dritten Reich“ aus den Maßnahmen der öffentlichen und der „freien“ Fürsorge zusammen.359 Tatsächlich gab es aber
in der NS-Zeit überhaupt keine freie Vereinstätigkeit mehr. 1938 wurden in Österreich alle
sozial tätigen Organisationen entweder aufgelöst oder unter die Führung der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“ (NSV) gestellt.360
Die bestehenden Vereine, die sich mit den Belangen und Interessen der blinden Menschen beschäftigten, setzten sich aus zwei verschiedenen Gruppierungsformen zusammen:
Selbsthilfe- und Fürsorgeorganisationen. Unter den Blindenselbsthilfevereinen wurden
Zusammenschlüsse blinder Menschen zu einem bestimmten Vereinszweck verstanden. In
erster Linie waren es Zusammenschlüsse von blinden Erwerbstätigen. Sie sollten zwar als
Interessenvertretungen für alle blinden Menschen fungieren, durch die Einhebung von
Mitgliedsbeiträgen wurden aber Betroffene ohne eigenes Einkommen von einer Beteiligung
teilweise ausgeschlossen.361 In den Blindenfürsorgevereinen, häufig Träger von Blindenschulen und Heimen, waren hingegen in erster Linie sehende Menschen tätig. Eine besondere
Rolle spielte bei ihnen die BlindenlehrerInnenschaft.362 Beide Vereinsgruppen beanspruchten
jeweils für sich die Vormachtstellung im Blindenwesen.363
1938 wurden in Österreich die bestehenden Selbsthilfe- und Fürsorgevereine gemäß
ihres Aufbaues auf die zwei großen Dachorganisationen des NS-Blindenwesens aufgeteilt.
Diese waren der RBV und der „Deutsche Blindenfürsorgeverband“ (DBV)364. Beide waren
dem Hauptamt für Volkswohlfahrt der NSV unterstellt. Die totale Erfassung, Kontrolle und
nationalsozialistische Ausrichtung aller Vereine und Organisationen erfolgte in Österreich
durch die Tätigkeit des Stillhaltekommissars.365
359 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Nr. III, 2512/40,
Niederschrift über die erste Tagung der Arbeitsgemeinschaft am 25. Oktober 1940 in Berlin; Rhode, Berufsfürsorge, S. 20–24; Pork, Zusammenarbeit, S. 109–114.
360 Die konfessionellen Vereine in der NS-Zeit sind dabei ein Sonderthema, auf das an dieser Stelle nur hingewiesen wird. Vgl. u. a. Hansen, Wohlfahrtspolitik, S. 105–118 und 178–180; Vorländer, NSV, S. 109–113.
361 Vgl. Blinde unterm Hakenkreuz, S. 162–163. [Aussage von Martin Jaedicke im Rahmen einer Diskussion.]
362 Vgl. Richter, Blindheit, S. 13; Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 58.
363 In der NS-Zeit kam es unter Leitung der NSV zu einer forcierten Zusammenarbeit zwischen Blindenselbsthilfe und -fürsorgevereinen. Vgl. Kapitel II.3.3.1.
364 Für diesen Verein gibt es unterschiedliche Schreibweisen: mit oder ohne Bindestrich. Die an dieser Stelle
verwendete entspricht der in den Akten des DGT und des Stillhaltekommissars Wien. Im Organisationshandbuch der NSDAP wird der DBV folgendermaßen geschrieben „Deutscher Blinden-Fürsorgeverband“.
In der Arbeit wird die erstgenannte Schreibweise übernommen. Vgl. z. B.: Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch der NSDAP, S. 279; BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und
Blindenbildung, Nr. III, 2512/40, Niederschrift über die erste Tagung der Arbeitsgemeinschaft am 25. Oktober 1940 in Berlin; ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 17, Asyl für blinde Kinder des „Vereines
von Kinder-Jugendfreunden“, Verfügung vom 27.11.1939.
365 Vgl. Pawlowsky, Leisch-Prost, Klösch, Vereine im Nationalsozialismus, S. 13–14.
71
Die Vorstöße gegen das traditionelle Vereinswesen erfolgten nicht nur auf organisatorischer Ebene, sondern waren ebenfalls finanzieller Natur. Durch das Sammlungsgesetz
wurde die Spendenwerbung gesetzlich reglementiert. Davon profitierte vor allem das „Winterhilfswerk“ (WHW). Die Vereine mussten starke Einnahmeeinbußen hinnehmen. Hinzu
kam die Reduzierung der Zuschüsse öffentlicher Fürsorgeträger. Gefördert werden sollten
nur mehr Projekte, die den rassenbiologischen und bevölkerungspolitischen Grundsätzen
entsprachen. Hauptaufgabe der „freien Blindenwohlfahrtspflege“ war dementsprechend
die berufliche Integration blinder Menschen. Durch den Verlauf des Zweiten Weltkrieges
kamen zu dieser Kernaufgabe neue Agenden hinzu. Die im NS-Blindenwesen tätigen Organisationen mussten Unterbringungsmöglichkeiten für evakuierte oder durch Luftangriffe
obdachlos gewordene blinde Menschen schaffen. Durch die Tatsache, dass viele Soldaten
von der Front erblindet heimkehrten, übernahmen auch diejenigen Vereine, deren Kompetenz eigentlich in der Unterstützung von Zivilblinden lag, Aufgaben bei der Versorgung
der Kriegsblinden.366
Kriegsbedingt wurden zudem die Vereinstätigkeiten stark beeinträchtigt. Sitzungen
konnten kaum mehr durchgeführt werden. Durch die völlige oder teilweise Zerstörung
von Einrichtungen kam die Arbeit gegen Ende des Zweiten Weltkrieges gänzlich zum
Erliegen. Auf die hier im Überblick dargestellten Ereignisse gehen die folgenden Kapitel
näher ein.
3.2 Die Gleichschaltung der Vereine
Das autonome Vereinsleben stand der NS-Ideologie entgegen. Am 16. März 1938 verordnete
Josef Bürckel daher die Stilllegung jeder organisatorischen Tätigkeit von Vereinen und Verbänden bis zur Durchführung der Volksabstimmung über den „Anschluss“. Am 18. März
1938 wurde der NSDAP-Mann Albert Hoffmann zum Stillhaltekommissar für Vereine,
Organisationen und Verbände ernannt und dem „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ unterstellt. Er sollte das Vereinswesen
gemäß den nationalsozialistischen Interessen neu regeln und die NSV als führende Kraft
der „freien Wohlfahrtspflege“ etablieren. Der Stillhaltekommissar wurde so zur „Schaltstelle
der NSV-Interessen“367 in Österreich.
Die rechtliche Grundlage dafür bildete das Gesetz vom 17. Mai 1938 über die Überleitung
und Eingliederung von Vereinen, Organisationen und Verbänden.368 Am 1. Dezember 1939
wurde dieses Gesetz wieder aufgehoben. Die Tätigkeit des Stillhaltekommissars war damit
offiziell beendet. Davor wurden alle Vereine, welche die Meldung bei der Behörde unterlassen hatten, aus dem Vereinskataster gestrichen. Noch anhängige Fälle wurden durch die
Aufbaufonds-Vermögensverwaltungsgesellschaft, die Nachfolgeeinrichtung des Stillhalte-
366 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, AZ Nr. III 719/43, DGT an die Verwaltungen der Provinzial- bzw. Bezirksverbände, Betreff: Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung vom 4.10.1943.
367 Hansen, Wohlfahrtspolitik, S. 180.
368 Vgl. GBlÖ, Nr. 136/38, Gesetz über die Überleitung und Eingliederung von Vereinen, Organisationen und
Verbänden vom 17. Mai 1938.
72
kommissars bzw. den Abwickler zu Ende gebracht.369 Bereits ein Jahr nach dem „Anschluss“
konnte unter der Leitung von Hoffmann die Auflösung von ca. 110.000 Organisationen
verfügt werden, so dass in der nunmehrigen „Ostmark“ nur noch etwa 5.000 Vereine und
sonstige Organisationen bestehen blieben.370
Das Blindenvereinswesen konnte rasch gleichgeschaltet werden, obwohl es zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ stark zersplittert gewesen war. Allein auf Grund der für diese
Arbeit gemachten Recherchen in den Akten des Stillhaltekommissars im ÖStA, im WStLA
sowie in der Polizeidirektion Wien konnten die Unterlagen von 28 verschiedenen Selbsthilfe- und Fürsorgevereinen eruiert werden, welche Zivilblinde, Kriegsblinde und blinde
Menschen jüdischer Herkunft unterstützten.371
Nach dem „Anschluss“ wurden sämtliche Blindenselbsthilfevereine unter Aufhebung
ihrer Rechtspersönlichkeit in den RBV „eingegliedert“ und dann aus dem Vereinsregister
gelöscht.372 Diese Entwicklung wurde im Februar 1939 als abgeschlossen betrachtet. In
einem Schreiben des RBV an das Wiener Magistrat am 23. Februar 1939 wurden elf Blindenvereine mit Sitz in Wien aufgelistet, die in den RBV „eingegliedert“ worden waren.373
Insgesamt konnten auf Grundlage des konsultierten Quellenmaterials 19 österreichische
Selbsthilfeorganisationen für Zivilblinde eruiert werden, mit denen auf diese Art und Weise
verfahren worden war.
Bei den Fürsorgevereinen gab es eine von dieser Praxis abweichende Vorgehensweise. Im durchgesehenen Quellenbestand befand sich allerdings nur der Akt eines
Fürsorgevereines. Der Blindenfürsorgeverein „Asyl für blinde Kinder des Vereines von
Kinder-Jugendfreunden“ wurde durch Verfügung des Stillhaltekommissars „der Aufsicht
des Leiters des Amtes für Volkswohlfahrt, Gau Wien“ direkt unterstellt und dem DBV
„angeschlossen“.374 Dass dies kein Einzelfall, sondern Usus war, wird durch die Quellen
zu den Blindenfürsorgeanstalten in Graz und Innsbruck bestätigt.375 Insgesamt wurden
nach Angaben in der Zeitschrift „Deutsche Blindenfürsorge (Der Blindenfreund)“ sechs
Blindenfürsorgevereine und die fünf in Österreich bestehenden Blindenanstalten dem
369 Vgl. Pawlowsky, Leisch-Prost, Klösch, Vereine, S. 13–14; Pawlowsky, interne Struktur des Stillhaltekommissars, S. 26–81, hier S. 27.
370 Vgl. Hansen, Wohlfahrtspolitik, S. 180.
371 Mit diesen 28 Organisationen wurde folgendermaßen umgegangen. 19 wurden in den RBV „eingegliedert“, eine dem DBV „angeschlossen“. Ein anderer Verein, der für Heimstätten für Kriegsblinde zuständig
war, wurde in die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ „eingegliedert“. Die fünf jüdischen Vereine
wurden entweder gelöscht oder in das „Jüdische Blindeninstitut Hohe Warte“ und die „Selbsthilfegemeinschaft der jüdischen Körperbeschädigten“ „eingegliedert“. Über die Vorgehensweise bei den restlichen
zwei Vereinen ist nichts bekannt. Über die Organisationen der Kriegsblinden und der blinder Menschen
jüdischer Herkunft wird in den Kapiteln III.3, IV.2 sowie IV.5 eingegangen. Die hier genannte Anzahl von
Organisationen ist nicht vollständig, da es vor allem in den Ländern noch weitere, insbesondere Fürsorgevereine, gab, deren Akten für diese Arbeit allerdings nicht herangezogen werden konnten.
372 Das Wort „Eingliederung“ entspricht dem Wortlaut der Quellen.
373 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 3201/35, Verein blinder Siedler im österreichischen Verband der Kleintiergärtner, Siedler und Kleintierzüchter, Schreiben RBV an Wiener Magistrat o. Z. vom 23.2.1939, Betreff:
Auflösung Verein blinder Siedler.
374 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 17, Asyl für blinde Kinder des „Vereines von KinderJugendfreunden“, Verfügung vom 27.11.1939.
375 Vgl. Kapitel II.3.3.1.
73
DBV durch den Stillhaltekommissar „angeschlossen“. 376 Das bedeutete, die Blindenfürsorgevereine blieben im Gegensatz zu den Selbsthilfeorganisationen als „Mitgliedsvereine“
des DBV formal „eigenständig“.377 Der Anschluss der Blindenfürsorgevereine an den DBV
muss aber als reiner Formalakt beurteilt werden. Der DBV hatte seinen Sitz direkt im
„Hauptamt für Volkswohlfahrt“ in Berlin. 378 Außerdem wurden laut den Verfügungen
des Stillhaltekommissars die Fürsorgevereine direkt unter die Aufsicht der NSV gestellt.
In den Anordnungen zur Löschung und „Eingliederung“ der Selbsthilfevereine in den
RBV wurde dagegen die Aufsichtsfunktion der NSV nicht explizit angeführt. Sie war aber
dadurch gegeben, dass der RBV selbst unter Aufsicht der NSV stand. 379 Im Gegensatz
zum DBV verfügte dieser in Berlin allerdings noch über eine selbständige Geschäftsstelle
außerhalb des NSV-Verwaltungsgebäudes. 380
Bei der Liquidierung der Vereine kam es zu Streitigkeiten zwischen dem DBV und dem
RBV. Der Verein „Österreichische Blindenindustrie“381 war mit Verfügung vom 29. September 1938 ebenfalls unter Aufsicht des Gauamtsleiters der NSV, Gau Wien, gestellt und dem
DBV „angeschlossenen“ worden. Diese Einrichtung zur Beschäftigung blinder Hand­wer­
kerIn­nen war allerdings vom vormaligen „Verband der Blindenvereine Österreichs“382, einer
Selbsthilfeorganisation, 1924 ins Leben gerufen worden und in dessen Geschäftsstelle in
der Rotensterngasse383 25 untergebracht. Die „Österreichische Blindenindustrie“ war also
eine Gründung der Blindenselbsthilfebewegung. Der RBV sah sich daher als Rechtsnachfolger an und ging gegen den Beschluss des Stillhaltekommissars vor. Dieser änderte seine
ursprüngliche Entscheidung trotz einer Eingabe des DBV und wies den betreffenden Verein
in den RBV ein.384
Ebenfalls in den RBV „eingegliedert“ wurde das „Mädchen-Blindenheim Elisabethinum“385
in Melk. Dieses wurde von dem NSDAP-Mann und Rechtsanwalt Wilhelm Kreft geleitet.
Auf Grund des Aufbaues des Vereines kann darauf geschlossen werden, dass es sich hierbei
eher um eine Fürsorgeeinrichtung gehandelt haben muss. Trotzdem erfolgte die Einweisung
in den RBV. Dies lässt die Vermutung zu, dass dieser bei der Gleichschaltung des Blindenwesens bevorzugt behandelt wurde.386
376 Hartmann rechnet die Blindenanstalt Linz irrtümlich zu den Fürsorgevereinen und kommt daher nur auf
vier Anstalten, die dem DBV angeschlossen wurden. Tatsächlich waren es aber fünf Anstalten. Dies könnte damit zusammenhängen, dass Hartmann angibt, das „Privatblindeninstitut in Linz“ im Gegensatz
zu den anderen Einrichtungen noch nicht persönlich besucht zu haben. Vgl. Hartmann, Angliederung,
S. 71–74, hier S. 71–72 und S. 74.
377 Zur Entwicklung der RBV-Landesgruppe „Ostmark“ siehe Kapitel II.3.4.2.
378 Der DBV war im Hauptamt für Volkswohlfahrt in Berlin, Maybach-Ufer 48–51 untergebracht.
379 Vgl. Kapitel II.3.4.
380 Der RBV verfügte in Berlin über eigene Geschäftsstelle in der Belle-Alliancestr. 33. Vgl. Kapitel II.3.3.1.
381 ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 14, Verein Österreichische Blinden-Industrie.
382 Vgl. Kapitel II.3.4.2.
383 In dem zitierten Aufsatz von Hartmann liegt ein Tippfehler vor, da er die Straße als „Rothensterngasse“
bezeichnet. Vgl. Hartmann, Angliederung, S. 71–74, hier S. 71.
384 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 14, Verein Österreichische Blinden-Industrie; Hartmann, Angliederung, S. 71–74, hier S. 72.
385 Zur Bezeichnung „Mädchenheim“ vgl. Kapitel II.10.
386 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 20, Mädchen-Blindenheim „Elisabethinum“.
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3.3 Die „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ (NSV)
Die NSV387 zählte 1943 über 17 Millionen Mitglieder und war damit nach der „Deutschen
Arbeitsfront“ (DAF) die zweitgrößte NS-Massenorganisation im „Dritten Reich“.388 Sie
hatte die Rechtsform eines eingetragenen Vereins, gehörte aber zu den der NSDAP angeschlossenen Verbänden.389 Der Aufgabenkatalog der NSV orientierte sich nach dem Leitbild
„Gemeinnutz vor Eigennutz“. Ein wichtiges Kriterium für Unterstützungsleistungen war
deren Nutzen für die „Volksgemeinschaft“. Gewährte Gelder und Leistungen sollten nicht
als Almosen, sondern als Unterstützung der „Volksgemeinschaft“ begriffen werden. Im
Gegenzug wurde von den „Unterstützten“ erwartet, dass sie ihre Kräfte vorbehaltlos der
„Volksgemeinschaft“ zur Verfügung stellten.390 Die NSV sah ihre Arbeit als Erziehungsaufgabe an.
Der RBV und der DBV waren dem Hauptamt für Volkswohlfahrt direkt unterstellt. Der
Leiter dieses Amtes hatte in Personalunion die Leitung der NSV und des WHW391 inne.392
Der Führungsanspruch der NSV erstreckte sich aber nicht nur auf die „freie“, sondern auf
die gesamte, somit auch auf die öffentliche, Wohlfahrtspflege.393
Welche offiziellen Leitgedanken die NSV in Bezug auf das Blindenwesen verfolgte, wird
durch einen Artikel von Hans Georg Ballarin394, zuständiger Abteilungsleiter im Hauptamt
für Volkswohlfahrt in Berlin, aus dem Jahr 1938 deutlich:
„Sinn einer Blindenfürsorge muß letztendlich der sein, sich selbst überflüssig zu
machen. […] Das erstrebenswerte Ziel aller Blindenbetreuungsarbeit ist die restlose
Eingliederung des Blinden in die werktätige Volksgemeinschaft […].“395
Der Gedanke von Ballarin, dass sich die Blindenfürsorge selbst überflüssig machen würde,
muss vor allem vor dem Hintergrund der damaligen Blindenstatistik als bedenklich und als
reine Propaganda bewertet werden. Helmut Pielasch und Martin Jaedicke schätzten 1971,
dass etwa 45 Prozent der blinden Menschen zwischen 1933 und 1945 zum Zeitpunkt ihrer
Erblindung über 50 Jahre alt waren. Dadurch waren sie nur schwer in der Lage, Umschulungen zu absolvieren oder einen Arbeitsplatz zu finden. Außerdem befanden sich unter
ihnen kranke oder mehrfachbeeinträchtigte Menschen. Dazu kamen noch die seit ihrer
Geburt oder Jugend Erblindeten, die in der NS-Zeit bereits ein hohes Lebensalter erreicht
387 Eine ausführliche Darstellung zur Geschichte der NSV bietet u. a. folgendes Werk: Vorländer, NSV.
388 Vgl. Th. E. de Witt, The Nazi Party and Social Welfare 1919–1939, Diss. [Manuskript], Virginia 1972,
S. 129, 157, zitiert in: Kramer, Fürsorgesystem im Dritten Reich, S. 173–218, hier S. 187.
389 Vgl. Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 142; Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 87 und
274.
390 Vgl. Meyers Lexikon 1936ff., Bd. 8, 1940, S. 155, zitiert in: Schmitz-Berning, Vokabular, S. 91.
391 Vgl. Kapitel II.3.7.
392 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 87.
393 Vgl. Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 142; Hansen, Wohlfahrtspolitik, S. 188.
394 Ballarin war der Leiter der Rechtsabteilung im Hauptamt für Volkswohlfahrt. In seiner Hand lag auch die
Sonderfürsorge für Körperbehinderte sowie Kapital- und Kleinrentner, die ebenfalls zum Tätigkeitsbereich der NSV gehörte. Vgl. Vorländer, NSV, S. 86.
395 Ballarin, NS-Volksdienst, S. 128–131, hier S. 130. [Dieser Artikel erschien ebenfalls in der Zeitschrift
„Deutsche Blindenfürsorge (Der Blindenfreund)“. Vgl. Ballarin, nationalsozialistische Blinden-Wohlfahrtspflege, S. 1–5.]
75
hatten.396 Nach den NS-Richtlinien zählte demnach fast die Hälfte der blinden Menschen
zu den so genannten „Ballastexistenzen“.
3.3.1 Die Rolle der NSV im „ostmärkischen“ Blindenwesen
Unmittelbar nach dem „Anschluss“ kontrollierte die NSV sämtliche Ein- und Ausgänge
auf den Konten der Blindenvereine, bis der Stillhaltekommissar eine endgültige Verfügung
über die betreffende Organisation getroffenen hatte. Diese Aufgabe übernahm der kommissarische Leiter für das Blindenwesen in der „Ostmark“ bei der NSV Gauverwaltung Wien,
Wilhelm Delasbe. Seine Tätigkeit endete 1938, da das Blindenwesen zu diesem Zeitpunkt
nahezu vollständig gleichgeschaltet worden war.397 Dementsprechend konnten die Vereine
schon unmittelbar nach dem „Anschluss“ ihre Tätigkeit ohne Zustimmung der NSV nicht
mehr ausüben.398
Diese Gleichschaltung hatte weitreichende Folgen für die Vereinstätigkeit: Der RBV und
seine regionalen Vertretungen, in der „Ostmark“ „Gaubünde“ genannt, mussten der NSV
Tätigkeitsberichte vorlegen und den NSV-Richtlinien konform agieren. Publikationen wie
zum Beispiel die RBV-Zeitschrift „Die Blindenwelt“ wurden zensuriert.399 Damit wurde es
den blinden FunktionärInnen unmöglich gemacht, sich gegen das Regime oder zum Beispiel
das GzVeN zu äußern. Mit der Rotensterngasse 25 verfügte der RBV „Ostmark“ im Gegensatz zum DBV zwar über eine eigene Geschäftsstelle außerhalb des NSV-Hauptsitzes,400
der RBV besaß aber nur nach seinem äußeren Erscheinungsbild Selbständigkeit. Praktisch
agierte er ebenfalls als Abteilung der NSV.401
Die Blindenfürsorgevereine wurden dagegen allerdings direkt unter die Aufsicht des
Leiters des Amtes für Volkswohlfahrt des jeweiligen Gaues gestellt und dem DBV „angeschlossen“. Anhand des „Odilien-Blindenvereines“, Träger der „Odilien-Blindenanstalt“ in
Graz, kann die Auswirkung dieser Vorgehensweise aufgezeigt werden.402 Der Stillhaltekommissar ordnete am 14. November 1938 an, dass dieser Blindenfürsorgeverein zwar weiter
bestehen bleiben könne, aber seine Satzung ändern müsse. Dies geschah im Rahmen einer
vorgedruckten, standardisierten Anordnung, was darauf schließen lässt, dass die darin enthaltenen Bestimmungen auch für andere Fürsorgevereine galten.403 Mit den Vorschriften zur
Änderung der Satzungen wurde die Selbständigkeit des Vereines aufgehoben. Das Amt für
Volkswohlfahrt in Graz konnte die Rechnungslegung der Geschäftsführung einsehen und
Maßnahmen des Vereines untersagen, wenn sie den „Grundsätzen einer planwirtschaftlichen
396 Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 147.
397 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 196, Zl. 4351/13, M. Abt. 2/9689/38, Abschrift Wiener Magistratsabteilung 2 an den Minister für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 7.1.1939, Betreff: Bericht über
Zentralbibliothek für Blinde in Österreich.
398 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Nr. III, 2512/40,
Niederschrift über die erste Tagung der Arbeitsgemeinschaft am 25. Oktober 1940 in Berlin, S. 8.
399 Vgl. Malmanesh, Blinde, S. 127–130 und S. 160–171.
400 Es ist nicht bekannt, dass der DBV nach dem Vorbild des RBV über einen eigenen Sitz in der „Ostmark“
verfügte.
401 Vgl. Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 321.
402 Vgl. Liebmann, Behindertenbetreuung, S. 77–106.
403 Vgl. Liebmann, Behindertenbetreuung, S. 77–106, hier S. 86.
76
Gestaltung der freien Wohlfahrtspflege widersprachen.“404 Nach § 5 der neuen Satzungen
bedurften Beschlüsse der Mitgliederversammlung zur Durchführung der Zustimmung
durch die NSV.405 Außerdem sollte der „Arierparagraph“ eingeführt werden. Die diesen
Vorgaben entsprechenden neuen Satzungen des „Odilien-Vereins“ wurden am 9. Dezember
1938 vom Stillhaltekommissar genehmigt.406 Ein Bericht von Anton Berchtold aus dem
Jahre 1967 bestätigt die gleiche Vorgehensweise für den „Blindenfürsorgeverein für Tirol
und Vorarlberg“.407
Darüber hinaus wurden weitere Maßnahmen getroffen, um die Vormachtstellung der
NSV im Blindenwesen zu manifestieren. Nach dem „Anschluss“ wurde unter Leitung der
NSV eine Arbeitsgemeinschaft aus Blindenselbsthilfe- und Blindenfürsorgeverbänden in
Wien ins Leben gerufen.408 Durch regelmäßige Treffen sollte über die Fragen des „ostmärkischen“ Blindenwesens beraten werden. Wenn sich die beteiligten Vertreter der Fürsorge und
Selbsthilfe nicht einigen konnten, traf die NSV-Gauamtsleitung Wien eine Entscheidung.409
Im Jänner 1941 wurde diese Entwicklung in Wien durch die Gründung der „Blindenführung“ weitergeführt. Sie setzte sich zusammen aus VertreterInnen des RBV, der BlindenlehrerInnenschaft, des Blindenfürsorgewesens und der Gemeinde Wien. Die „Blindenführung“
sollte über alle offenen Fragen des Wiener Blindenwesens beraten. Die erste Sitzung fand
am 14. Juli 1941 statt. Darin wurde beschlossen, die stellvertretende Leiterin des „Amtes
für Volkswohlfahrt, Abteilung allgemeine Wohlfahrt“, Dr. Kernmayr, zu ersuchen, den
Vorsitz zu übernehmen.410
Die von der NSV forcierte Zusammenarbeit von Blindenfürsorge- und SelbsthilfevertreterInnen sollte die Produktivität des NS-Blindenwesens steigern. Warum RBV und DBV
nicht überhaupt zusammengelegt wurden, konnte nicht eruiert wurden. Bereits 1936 hatte
es in Deutschland solche Bestrebungen, eine Zusammenlegung beider Dachorganisationen,
allerdings gegeben. Die Gründung eines Einheitsverbandes war geplant. VertreterInnen des
RBV und des DBV verhandelten unter der Leitung des Hauptamtes für Volkswohlfahrt über
die Statuten.411 Dieser Versuch scheiterte allerdings vorerst, auf Grund welcher Umstände
ist nicht bekannt.
404 Sicherheitsdirektion-Archiv Graz, Fasc. 0/118/1975, abgedruckt in: Liebmann, Behindertenbetreuung,
S. 77–106, hier S. 86. [Der gesamte Text ist in der Dissertation abgedruckt: Hoffmann, Blinde Menschen in
der „Ostmark“, S. 530.]
405 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, Satzungen des Odilien-Vereins zur Fürsorge für die
Blinden Steiermarks in Graz [1938].
406 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, Satzungen des Odilien-Vereins zur Fürsorge für die
Blinden Steiermarks in Graz [1938].
407 Vgl. Berchtold, Rückblick, S. 1–14, hier S. 8. Berchtold war zur Zeit dieser Publikation (1967) Direktor der
Blindenanstalt in Innsbruck. Im Kapitel über das Schulwesen wird die Geschichte dieser beiden Einrichtungen in Graz und Innsbruck in der NS-Zeit behandelt. Vgl. Kapitel II.4.5.2 und II.4.5.3.
408 Vgl. Hartmann, Angliederung, S. 71–74, hier S. 73.
409 Vgl. Hartmann, Angliederung, S. 71–74, hier S. 73.
410 Vgl. o. A., Zur Chronik des Blindenwesens, Wien, S. 216–217.
411 Vgl. BAB, DGT, R 36/1757, Nr. 294, RBV an den DGT eingegangen am 18. Januar 1936, Betreff: Gründung
eines Einheitsverbandes.
77
3.4 Der „Reichsdeutsche Blindenverband“ (RBV)
„Der abgesehen von seinem Augenleiden gesunde
Blinde selbst will keine bloße Betreuung, sondern
eine Hilfe, die ihn dazu befähigt, sich im Wirtschaftskampf zu behaupten; […]“412
3.4.1 Aufgaben und Ziele
Der RBV präsentierte sich in der NS-Zeit als „Reichsspitzenorganisation der deutschen
Blinden“.413 Der RBV war 1912 gegründet worden.414 1929 zählte er rund 14.000 Mitglieder.
Seit der Vereinsgründung gab der RBV die Zeitschrift „Die Blindenwelt“ heraus.415 Nach der
Machtübertragung an Hitler 1933 begann die Gleichschaltung und Ausrichtung des RBV
nach den nationalsozialistischen Vorgaben. Die meisten RBV-FunktionärInnen wollten oder
konnten dagegen keinen erkennbaren Widerstand leisten.416 Eine Statutenänderung 1939
bildete beim RBV den Abschluss dieser Vorkriegsentwicklung. Formal reduzierte sich die
Zahl der Paragraphen von 21 auf 14. In den einzelnen Bestimmungen manifestierte sich
der große Einfluss der NSV.417
Die so genannte „Berufsfürsorge“ wurde zur Hauptaufgabe des RBV.418 Von der
„Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ hatte der RBV den
Auftrag zur nichtgewerbsmäßigen Arbeitsvermittlung. Die Unterbringung von blinden
Menschen nicht nur in den typischen Handwerksberufen, sondern vor allem in den Betrieben der Wirtschaft und Verwaltung sollte dabei forciert werden.419 Blinde HandwerkerInnen waren im „Reichsverband für das Blindenhandwerk“, der dem RBV angeschlossen
war, organisiert.420 Darüber hinaus gab es im RBV Fachgruppen für blinde MusikerInnen,
KlavierstimmerInnen, IndustriearbeiterInnen, Büroangestellte, MasseurInnen, SchriftstellerInnen und KomponistInnen. Für Späterblindete war ein Heim zur Berufsumschulung und -ausbildung vorhanden.421 Blinden MusikerInnen stand eine Notenzentrale zur
Verfügung. Der Vorsitzende des RBV war zudem Leiter des Blindenkonzertamtes in der
Reichsmusikkammer.422
412 Meurer, Vorwort, S. V–VII, hier S. V.
413 Gersdorff, Reichsdeutscher Blindenverband, S. 141–144, hier S. 142. [Gersdorff war der Leiter des RBV];
ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, Spendenschreiben des RBV an „Deutsche Volksgenossen“ vom Juni 1939. [Die entsprechende Formulierung wurde im Briefkopf dieses Schreibens verwendet.]
414 Als Nachfolgeorganisation des RBV sieht sich der Deutsche Blinden- und Sehbehinderten-Verband e. V.
Dieser wurde 1949 gegründet. Vgl. o. A., Deutscher Blinden- und Sehbehinderten-Verband.
415 Vgl. Richter, Blindheit, S. 14; Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 115. [Weiterführende
Literatur zur Gründung des RBV: Schrenk, Kraemer, S. 94–100.]
416 Vgl. Schrenk, Kraemer, S. 23.
417 Vgl. Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 321.
418 Vgl. Gersdorff, Reichsdeutscher Blindenverband, S. 141–144, hier S. 142–143.
419 Vgl. Kapitel II.6.
420 Vgl. Kapitel II.6.2.
421 Vgl. Gersdorff, Reichsdeutscher Blindenverband, S. 141–144, hier S. 142.
422 Vgl. Gersdorff, Reichsdeutscher Blindenverband, S. 141–144, hier S. 144.
78
Durch „körperliche Ertüchtigung“ sollte das Leistungsvermögen blinder Menschen
im Berufsleben erhöht werden.423 Der RBV unterstützte daher finanziell das Sportangebot
von einzelnen Mitgliedsvereinen. Nach „biologisch-völkischen“ Kriterien ausgerichtet
war die so genannte „Erholungsfürsorge“ des RBV.424 Der RBV verfügte über zahlreiche
Erholungsheime, die in erster Linie berufstätigen Blinden zur Verfügung stehen sollten.
Dieser Bereich wurde allerdings durch die Auswirkungen des Krieges gravierend eingeschränkt.425
Beim RBV tätig war darüber hinaus der Rechtsberater Bruno Gerl, der im vorherigen
Kapitel bereits zitierten selbst betroffenen Rechtsanwalt, der RBV-Mitglieder bei Fragen
die Fürsorgegesetzgebung betreffend beraten sollte. Über eine RBV-Hilfsmittelzentrale in
Dresden konnten blinde Menschen aus dem gesamten „Deutschen Reich“ Gegenstände
aller Art, die sie für ihr Berufs- oder Alltagleben benötigten, erhalten.426
Eine weitere Aufgabe des RBV war die Erziehung blinder Menschen im nationalsozialistischen Sinn.427 Propaganda in diesem Sinne wurde von den RBV-FunktionärInnen
bei jeder Gelegenheit betrieben. Ob sie dies auf Grund des äußeren Drucks oder aus
innerer Überzeugung heraus taten, kann wissenschaftlich nicht beurteilt werden.428
Der ärztliche Gesundheitsrat dieser Organisation, der erblindete Arzt Carl Siering,
war vor allem für die Verbreitung der NS-Lehren zu „erbbiologischen“ Fragen zuständig.429 Dementsprechend unterstützte der RBV offiziell zum Beispiel die Einführung
und Umsetzung des GzVeN. Wigand von Gersdorff, Leiter des RBV, kommentierte
die Einführung der gesetzlich legitimierten Zwangssterilisierungsmaßnahmen 1933
folgendermaßen:
„Der Reichsdeutsche Blindenverband e. V. begrüßt alle Mittel und Wege, die geeignet sind, die Zahl der Blindheitsfälle zu vermindern. Er hat […] nichts einzuwenden
gegen die Einführung der freiwilligen Sterilisierung bei solchen Personen, bei denen
die Gefahr der Vererbung ihres Gebrechens vorhanden ist. Hinsichtlich der Frage,
ob die vorliegenden Forschungsergebnisse eine zwangsweise Durchführung […]
rechtfertigen, glaubt der Reichsdeutsche Blindenverband sich mit Rücksicht auf
die z. T. sich widersprechenden Meinungen vorerst eine Stellungnahme enthalten
zu müssen.“430
423
424
425
426
427
428
Vgl. Gersdorff, Reichsdeutscher Blindenverband, S. 141–144, hier S. 142–143.
Vgl. Siering, Gesundheitspflege, S. 131–137, hier S. 134.
Vgl. Kapitel II.7.
Vgl. Gersdorff, Reichsdeutscher Blindenverband, S. 141–144, hier S. 144.
Vgl. Gersdorff, Reichsdeutscher Blindenverband, S. 141–144, hier S. 142–143.
Malmanesh hat in seiner Studie „Blinde unter dem Hakenkreuz“ untersucht, wie nahe Carl Strehl, der damalige Direktor der Blindenstudienanstalt in Marburg an der Lahn (D), den Nationalsozialisten wirklich
gestanden ist und inwieweit seine Anbiederung nur opportunistisch begründet war. Eine befriedigende
Antwort darauf kann aber auch er nicht geben. In dieser Arbeit wird versucht im Kapitel II.11.4 der Frage
nachzugehen, ob blinde Menschen in der NS-Zeit als Akteure oder Opfer einzustufen sind. Vgl. Malmanesh, Blinde, S. 80–99; Kapitel II.12.
429 Vgl. Gersdorff, Reichsdeutscher Blindenverband, S. 141–144, hier S. 143.
430 Wigand v. Gersdorff, Bericht über die Sitzung des Verwaltungsrats des Reichsdeutschen Blindenverbandes
e. V. am 21. und 22. April 1933 im Blindenerholungsheim zu Wernigerode am Harz, in: Die Blindenwelt,
Jg. 21 (1933), S. 210–217, hier S. 211, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 16–34, hier S. 26–27.
79
Unter den blinden Menschen im „Altreich“ gab es durch diese Einstellung des RBV die
Meinung, es wäre sinnvoll, sich von dieser Organisation fernzuhalten, da die Betroffenen
fürchteten, schneller in das „Visier der Sterilisationsmaschinerie“431 zu kommen.432
Ein wichtiges Organ des RBV zur Verbreitung der NS-Ideologie war die Zeitschrift „Die
Blindenwelt“. Die Herausgabe der Zeitschrift wurde mit Geldern der „Presseabteilung der
Reichsregierung“ finanziert.433 Sie wurde als „Zeitschrift für alle Fragen der Berufsförderung,
der Wohlfahrt und der Fürsorge für Blinde“434 in Schwarz- und Blindenschrift herausgegeben
und enthielt unter anderem antisemitische Beiträge sowie Artikel über die bevölkerungsund rassenpolitischen Ansichten des NS-Regimes. Sie erreichte 1942 eine Gesamtauflage
von 2.783 Stück (1941: 2.450)435. 1.583 Ausgaben (1941: 1.300) davon wurden in Punktschrift
gedruckt. „Die Blindenwelt“ erschien zwölfmal im Jahr. Ab Mitte 1944 wurden nur mehr
Doppelnummern herausgegeben.436 In den Monaten zuvor hatte sich der Umfang kontinuierlich verringert. Die für diese Arbeit letzte eingesehene Ausgabe ist die elfte Nummer vom
November 1944. Laut Eingangsstempel langte sie am 29. Jänner 1945 in der Blindenschule
in Wien ein.437 Der lange Lieferzeitraum ist ein Hinweis darauf, dass es zu Kriegsende nicht
mehr möglich war, die Zeitschrift regelmäßig zu produzieren und zu versenden.
Damit die FunktionärInnen ihre Aufgaben im Sinne der NS-Propaganda ausüben konnten, organisierte der RBV ab 1935 ideologische Schulungen in den RBV-Erholungsheimen
für blinde VereinsleiterInnen. Zuständig dafür war Franz Löffler, der Leiter des „Bayerischen
Blindenbundes“, einer Landesgruppe des RBV. 1941 nahmen insgesamt 56 TeilnehmerInnen
daran teil. Sie hörten Vorträge zur politischen und „weltanschaulichen Schulung“, „Wohlfahrtspflege“ und zum „Fürsorgerecht“ sowie zur Fragen der Verwaltung.438 An diesen Kursen
könnten nach 1938 VertreterInnen aus der „Ostmark“ teilgenommen haben.
Aber nicht nur blinde Menschen waren Ziel der Propagandatätigkeit des RBV. 1941
wurde daher eine „Nachrichtenstelle für das Blindenwesen“ mit folgendem Ziel gegründet:
„Aufgabe der Nachrichtenstelle ist es, alle Volkskreise auf dem Wege über die verschiedenen publizistischen Führungsmittel (Zeitung, Zeitschrift, Buch, Film, Rundfunk) über das Blindenwesen aufzuklären und dadurch ein breites Verständnis für
die sozialen und ethischen Belange der Blindenschaft zu erwirken.“439
Der Verlauf des Zweiten Weltkrieges beeinflusste allerdings die Arbeit des RBV enorm. Der
RBV, eigentlich eine Organisation für Zivilblinde, übernahm Aufgaben bei der Versorgung
431 Hielscher, Blinde im Nationalsozialismus, S. 11; Poore, Disability in Twentieth Century, p. 126.
432 Durch einen Rückgang der Mitgliederzahlen beim RBV kann diese Aussage nicht bestätigt werden. Allerdings sind nur die vom RBV selbst publizierten Werte bekannt. Diese müssen aber vor dem Hintergrund
der Propagandatätigkeit des RBV in Frage gestellt werden. Gersdorff gab 1939 an, der RBV umfasse 16.000
Zivilblinde, inklusive der Betroffenen aus der „Ostmark“. Vgl. Gersdorff, Reichsdeutsche Blindenverband,
S. 141–144, hier S. 142.
433 Gersdorff, Bericht [1942], S. 279–283, hier S. 282; Gersdorff, Tätigkeitsbericht [1941], S. 221–229, hier
S. 227.
434 Gersdorff, Reichsdeutscher Blindenverband, S. 141–144, hier S. 143.
435 Vgl. Gersdorff, Tätigkeitsbericht [1941], S. 221–229, hier S. 227.
436 Vgl. Die Blindenwelt, Nr. 7/8, Jg. 32 (1944).
437 Diese Ausgabe der Blindenwelt steht in der Bibliothek des BBI Wien.
438 Vgl. Gersdorff, Bericht [1942], S. 279–283, hier S. 280.
439 Gersdorff, Tätigkeitsbericht [1941], S. 221–229, hier S. 227–228.
80
der erblindeten Soldaten. Über die RBV-Hilfsmittelzentrale erhielten auch Kriegsblinde
notwendige Hilfsmittel für die Berufsausübung.440 Die Auswirkungen des Krieges prägten
zunehmend den Vereinsalltag. Die eigentlich jährlich stattfindenden Versammlungen des
RBV, die so genannten „Verbandstage“, fanden seit 1941 wegen „kriegsbedingten verkehrstechnischen Gründen“ nicht mehr statt.441
„In den Blindenvereinen wurde die Zahl der Versammlung von Jahr zu Jahr geringer,
das gesellige Leben schwand weitgehend, weil der Arbeitseinsatz, die Reduktion des
öffentlichen Lebens durch Verdunkelung und Fliegeralarme, die Furcht vor Spitzeln
und die zunehmende Verkehrsschwierigkeiten es nicht mehr zuließen.“442
Ende 1943 mussten die wichtigsten Bereiche der RBV-Geschäftsstelle auf Grund der Luftangriffe in Berlin nach Wernigerode, in das Erholungs- und Schulungsheim, verlegt werden.
3.4.2 Die Entwicklung des RBV in der „Ostmark“
Die Verbandsakten des RBV und der Abteilung „Ostmark“ sind nicht mehr auffindbar. Die
Geschichte des RBV „Ostmark“ kann daher nur auf Basis der Informationen aus den Zeitschriften „Die Blindenwelt“ und den „Marburger Beiträgen“443 rekonstruiert werden. Beide
Medien wurden durch die NSV zensiert und sind als Propagandaschriften zu bewerten. Der
darin wiedergegebene Inhalt muss dementsprechend kritisch hinterfragt werden. Sie stellen
aber die einzige Quelle zu diesem Thema dar und lassen durchaus gewisse Rückschlüsse auf
die Tätigkeiten des RBV in der „Ostmark“ zwischen 1938 und 1945 zu.
1938 gründete der RBV die Landesgruppe „Ostmark“. Als Geschäftsstelle übernahm der
RBV „Ostmark“ den Sitz des „Verbandes der Blindenvereine Österreichs“ in der Rotensterngasse 25 in Wien.444 Dieser Verband war 1924 durch den Zusammenschluss von fünf Vereinen entstanden: „Erster Österreichischer Blindenverband“, „Bund der später Erblindeten“,
„Hilfsverein der jüdischen Blinden“445, „Blindenverein Lindenbund“ und „Steiermärkischer
440 Als ein Beispiel kann hier der aus Tirol stammende Kriegsblinde Johann H. herangezogen werden, der
1942 eine Stenographiermaschine vom RBV erhielt. Eine diesbezügliche Rechnung vom 31.12.1942 an
das HVA Wien befindet sich in seinem Fürsorgeakt. Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA,
Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend soziale Fürsorge Johann H.
441 Vgl. Gersdorff, Bericht [1942], S. 279–283, hier S. 279.
442 Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 332.
443 Die „Marburger Beiträge zum Blindenbildungswesen“ sind das erste Mal 1918 erschienen und wurden
von der „Hochschulbücherei, Studienanstalt und Beratungsstelle für blinde Akademiker e. V.“ (Blindenstudienanstalt) herausgegeben. Ab 1924 wurde auch der „Verein der blinden Akademiker Deutschlands
e. V.“ zum Herausgeber. Bis 1943 erschien sie monatlich und zwar in Punktschrift und in einer verkürzten Schwarzschriftausgabe. Viele Beiträge liegen daher nur in Blindenschrift vor und erschienen nie in
Schwarzschrift. Die Ausgabe in Blindenschrift liegt in einer digitalisierten Form im AIDOS in Marburg
an der Lahn vor und ist so für Menschen zugänglich, welche die Brailleschrift nicht lesen können. Vgl.
Schäfer, Bibliographie der „Marburger Beiträge“ [Beitrag aus der Zeitschrift „horus“, Nr. 5/2003].
444 Im Krieg wurde dieser Vereinssitz fast vollständig zerstört. Vgl. Kapitel II.3.4.3, II.9.
445 Diese Organisation ging aus dem 1911 gegründeten Blinden-Hilfsverein „Humanitas“ hervor, der sich
1919 zum Hilfsverein der jüdischen Blinden umbenannte. Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 3257/20,
Hilfsverein der jüdischen Blinden.
81
Blindenverband“.446 Durch den „Arierparagraphen“ wurden blinde Menschen jüdischer
Herkunft nach dem „Anschluss“ vom RBV ausgeschlossen.447 Andere Funktionäre des „Verbandes der Blindenvereine Österreich“ arbeiteten allerdings 1938 im RBV weiter. In der
öffentlichen Darstellung wurde die Zusammenarbeit mit dem „Hilfsverein der jüdischen
Blinden“ aus der Zeit vor 1938 allerdings verleugnet.448 Proteste gegen den Ausschluss der
ehemaligen jüdischen „VereinskollegInnen“ sind nicht überliefert.
In der RBV-Zeitschrift „Die Blindenwelt“ wurde die erzwungene „Eingliederung“ der
Blindenselbsthilfevereine in den RBV als „freiwillig“ dargestellt.449 Karl Satzenhofer, der
ehemalige Obmann des „Verbandes der Blindenvereine Österreichs“450, veröffentlichte
im Mai 1938 in der Zeitschrift „Die Blindenwelt“ einen Artikel, in dem er von einer
angeblich großen AnhängerInnenschaft der NationalsozialistInnen unter den blinden
Menschen in Österreich berichtete: „Wohl niemand in Oesterreich hat den Zusammenschluß mit dem Deutschen Reich sehnlicher herbeigewünscht als die Blinden.“451 Sein
Beitrag gibt einen Hinweis darauf, welche Motivation blinde Menschen gehabt haben
könnten, die „Zwangseingliederung“ ihrer Vereine in den RBV zu begrüßen: „Was wir
von der Eingliederung in das große Deutsche Reich und damit in den RBV. erwarten, das
läßt sich in zwei Worten ausdrücken: Ordnung und Arbeit.“452 Das stark zersplitterte
Blindenwesen der Zwischenkriegszeit konnte angesichts der in Österreich herrschenden
enormen Arbeitslosigkeit den blinden Menschen nur bedingt helfen. Dies nutzte der
RBV „Ostmark“, um blinden Menschen mit der Aussicht auf Besserung ihrer Lage an
das NS-Blindenwesen zu binden.
Als kommissarischer Geschäftsführer und Leiter der Landesgruppe „Ostmark“ wurde
der „Parteigenosse“ Franz Hartl eingesetzt.453 Die gleiche Funktion übte er über das „ostmärkische Blindenfürsorgewesen“ aus. Er galt damit als Generalkommissar für das „ostmärkische Blindenwesen“.454 Die beiden Vereinsgruppierungen im Blindenwesen wurden also
zunächst in Personalunion geführt. Nach dem „Anschluss“ wurde so offenbar versucht, die
446 Altmann, Blindenwesen, S. 146–162, hier S. 152–153; Bachleitner, Vogel, Jakob Wald, S. 32–33, hier
S. 33.
447 Vgl. weiterführend: Kapitel II.11.2, IV.2; Die jüdischen Blindenorganisationen wurden 1938 zwangsweise
in das „Israelitische Blindeninstitut“ „eingegliedert“. Vgl. Kapitel IV.5.
448 In einem Aufsatz von Satzenhofer in „Die Blindenwelt“ über das Blindenselbsthilfewesen in Österreich
zwischen 1934 und 1938 wird die Beteiligung des „Hilfsvereins der jüdischen Blinden“ an dem „Verband
der Blindenvereine Österreichs“ nicht erwähnt. Vgl. Satzenhofer, Blindenselbsthilfewesen, S. 127–130,
hier S. 127.
449 Vgl. Gersdorff, Willkommensgruß, S. 86–87, hier S. 87. [Franz Holzer war bis zum „Anschluss“ der Leiter
des Verbandes der Blindenvereine Österreichs. Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 366, Zl. 22/F, Sg. 2, Verband der Blindenvereine Österreichs.]
450 Satzenhofer war vor der NS-Zeit Obmann des „Ersten Österreichischen Blindenvereins“. Zur genauen
Dauer seiner Amtsperiode konnten keine Angaben gefunden werden. Später war er für den RBV aktiv. In
welcher Funktion ist nicht bekannt, aber er verfasste Beiträge in der Zeitschrift „Die Blindenwelt“ über die
Tätigkeit des RBV in der Ostmark.
451 Satzenhofer, Blindenselbsthilfewesen, S. 127–130, hier S. 130.
452 Satzenhofer, Blindenselbsthilfewesen, S. 127–130, hier S. 130.
453 Vgl. o. A., Verzeichnis, S. 141–160, hier S. 154.
454 Vgl. Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160–162. [Zitiert wird hier aus der digitalisierten Punkschriftausgabe des AIDOS. Die bibliographischen Angaben entsprechen den Angaben dieser Quelle. Aus der originalen Brailleschriftausgabe kann nicht zitiert werden, da die Autorin nicht über die Kenntnisse verfügt,
diese zu lesen.]
82
gesamte „freie“ Blindenwohlfahrt möglichst schnell nach nationalsozialistischen Gesichtspunkten auszurichten. Im Zuge dessen versuchte Hartl, das „Israelitische Blindeninstitut“
auf der Hohen Warte in den Besitz des RBV zu bekommen. Die Geschäftsstelle in der
Rotensterngasse sollte mit der jüdischen Einrichtung getauscht werden, da diese geräumiger
war. Die NS-Verwaltung erteilte diesem Ansinnen allerdings zunächst eine Absage. Das
geht aus einem handschriftlichen Vermerk in einem Bericht zu diesem Ansinnen in den
Akten des Stillhaltekommissars im ÖStA hervor. Zur Begründung dieser Entscheidung
hieß es dort wörtlich:
„[M]uss bis auf weiteres dem jüdischen Blindeninstitut erhalten bleiben, da auch dieses
Körperbehinderte betreut. Eine Räumung des Gebäudes durch die Juden wird erst
ca 1 Jahr [sic!] spruchreif.“455
Auch nach der Deportation aller im „Israelitischen Blindeninstitut“ untergebrachten Jüdinnen und Juden ging das Gebäude allerdings nicht in den Besitz des RBV über. Die Hintergründe dieser Entwicklung sind allerdings nicht bekannt.
Anfang 1939 war die Neuorganisation des „ostmärkischen“ Blindenselbsthilfewesens in ihren Grundzügen abgeschlossen. Diesbezüglich fand eine Besprechung unter
Leitung von Hartl mit dem ersten Vorsitzenden des RBV Wigand von Gersdorff456
statt. Zu seinem Stellvertreter in der „Ostmark“ wurde in dieser Sitzung Otto Binder
ernannt. Dieser wurde von Satzenhofer folgendermaßen beschrieben: „Pg. Otto Binder
ist Klaviervirtuose und ein alter Vorkämpfer für den Nat.-Sozialismus unter den Blinden
in Österreich.“457
Ebenfalls festgelegt wurde, dass der Mitgliedsbeitrag für den RBV „Ostmark“ wie im
„Altreich“ zwei RM betragen sollte. Dies war aber umstritten, da auf Grund der schlechten
wirtschaftlichen Lage unter den blinden Menschen in der „Ostmark“ dieser Beitrag als zu
hoch angesehen wurde.458
Bis 1939 war die Aufteilung der Landesgruppe „Ostmark“ in Gaubünde noch nicht festgelegt worden. Nur in der Steiermark, wo schon vor 1938 der „Steirische Blindenverband“
existiert hatte, gab es zu diesem Zeitpunkt schon eine regionale Gruppe des RBV.459 In der
Sitzung Anfang 1939 wurden fünf weitere „Gaubünde“ bestimmt. Steiermark und Kärnten
waren zu jeweils einem Gaubund zusammengefasst. In Wien, „Niederdonau“, „Oberdonau“,
„Tirol-Vorarlberg“ und Salzburg gab es jeweils einen eigenen Gaubund. Als Leiter dieser
wurden laut Satzenhofer zum größten Teil „Parteigenossen“ eingesetzt.460 Den Gaubund
„Niederdonau“ übernahm Walther Otto Fürstenberg, der von Satzenhofer als Begründer
der NS-Blindengruppe in Österreich tituliert wurde. Der Leiter des Gaubundes Wien wurde
Gustav Adolf Besser. Vor der NS-Zeit war er Leiter der „Interessengemeinschaft für blinde
455 ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 558, Mappe B 9, Undatierte Bericht von Franz Hartl. Vgl. Kapitel II.11,
IV.5.3.2.
456 In dem Beitrag von Satzenhofer wird Gersdorff ebenfalls als Parteigenosse tituliert. Vgl. Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160–162.
457 Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160–162.
458 Vgl. Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160–162.
459 Vgl. o. A., Verzeichnis, in: Meurer, Ratgeber, S. 141–160, hier S. 154.
460 Der Text von Satzenhofer ist im Anhang des Dissertationsmanuskripts abgedruckt. Vgl. Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 533.
83
Musiker und Klavierstimmer“ gewesen. Diese führte mit Genehmigung der Behörden schon
1937 den „Arierparagraphen“461 ein.462
Auch andere blinde Männer, die schon vor 1938 Funktionäre in Blindenvereinen waren,
erhielten leitende Funktionen in den Gaubünden des RBV „Ostmark“. So wurde der Gaubund Steiermark von Franz Fichtl geleitet. Dieser war bereits Obmann des „Steiermärkischen Blindenvereins“ seit dessen Gründung im Jahr 1921.463 Den Vorsitz für den Gaubund
„Oberdonau“ übernahm Georg Briedl, der zuvor Obmann der Landesgruppe Oberösterreich
des „Ersten Österreichischen Blindenvereins“ war.464 Das Gleiche galt für Josef Schwaiger,
der gleichfalls vorher Obmann der Landesgruppe Salzburg des eben genannten Blindenvereines gewesen sein soll.465
Bis zum Ende des Krieges blieb diese Aufteilung der Gaubünde des RBV „Ostmark“
nicht bestehen. Die Gaubünde „Oberdonau“ und Salzburg466 wurden unter der Leitung von
Josef Schwaiger zusammengelegt. Der ursprünglich an die Steiermark angegliederte Gau
Kärnten bekam eine eigene RBV-Vertretung mit der Bezeichnung „Gaubund für Kärnten“.
Dort übernahm Rupert Molzbichler die Leitung.467 Über weitere Veränderungen ist nichts
bekannt.468
Ende 1941 wurde die Abteilung „Ostmark“ des RBV aufgelöst. Die RBV-Gaubünde in
den „Alpen- und Donaureichsgauen“ wurden direkt der Zentrale des RBV in Berlin unterstellt. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Land Österreich seine Rechtspersönlichkeit bereits
verloren. Mit dem Abschluss der Durchführung des „Ostmarkgesetztes“ vom 31. März 1940
endete diese. Die Zentralbehörden in Wien wurden liquidiert und die neuen Reichsgaue
direkt den Berliner Zentralbehörden unterstellt.469 Diese Vorgehensweise wurde im Blindenwesen 1941 praktisch nachgeholt.
461 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer, Bescheid M. Abt. 2/4019/37 vom 15.7.1937.
462 Es fällt auf, dass unter den genannten Funktionären des RBV „Ostmark“ viele Musiker waren. Diese Inter­
essengemeinschaft könnte daher durchaus als Auffangbecken für illegale NSDAPler und AnhängerInnen
der Nationalsozialisten unter den Blinden vor 1938 gedient haben. Zu diesem Aspekt vgl. Kapitel II.11.2.
463 Vgl. o. A., Chronik; o. A., Zur Chronik des Blindenwesen, S. 268.
464 Dass er diese Funktion vor 1938 ausgeübt hat, wird durch den Stiko-Akt des Vereins bestätigt. Vgl. ÖStA,
AdR, Stiko Wien, Kt. 366, Zl. 22/F, Sg. 7, Erster österreichischer Blindenverein, Landesgruppe Oberösterreich.
465 In den Akten des Stillhaltekommissars wird allerdings Otto Eberhard, ein Oberlehrer in Rente, als Leiter
der Landesgruppe Salzburg des „Ersten Österreichischen Blindenvereins“ genannt. Ob Schwaiger zu dieser Zeit eine andere Funktion im Vorstand ausgeübt hat, ist nicht bekannt. Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien,
Kt. 366, Zl. 22/F, Sg. 8, Erster Österreichischer Blindenverein, Landesgruppe Salzburg.
466 In den Akten zur Volksgesundheit des ÖStA ist nicht von einer Zusammenlegung, sondern von der
Auflösung des Landesblindenvereines die Rede. Vgl. ÖStA, AdR, BM f. soz. Verw., Volksgesundheit, Kt.
2411/1939, Zl. 253114/39, Landesfürsorgeamt Salzburg an den Minister für innere und kulturelle Angelegenheiten, vom 13.2.1939, Betreff: Richtlinien für die Durchführung der Fürsorge für Körperbehinderter
in der Ostmark.
467 Vgl. Binder, Organisatorisches, S. 24–25, hier S. 24.
468 Nach den Angaben von Gersdorff soll der RBV „Ostmark“ Ende 1940 sieben Gaubünde umfasst haben.
Auf Grund der von mir gemachten Recherchen gab es bis 1940 nur sechs Gaubünde im RBV. Wegen der
lückenhaften Quellenlage ist es aber möglich, dass es noch weitere, nicht überlieferte regionale Veränderungen im RBV gegeben hat. Unter Umständen wurde die Zusammenlegung der Gaubünde „Ober- und
Niederdonau“ wieder rückgängig gemacht. Vgl. Gersdorff, Tätigkeitsbericht [1941], S. 221–229, hier S. 222.
469 Vgl. BAB, R 1401, Aktenbände 1335 und 3292; R 2, Aktenband 56.229; R 18/891, MF 1–5, zitiert in: Goldberger, „Erb- und Rassenpflege“ in Oberdonau, S. 345–366, hier S. 347.
84
Welche personellen Konsequenzen diese Vorgehensweise gehabt hat und welche Funktion der Stellvertreter Gersdorffs im RBV „Ostmark“, Otto Binder, übernommen hat, kann
aus den vorliegenden Quellen nicht eruiert werden.
3.4.3 Die RBV-Gaubünde in den „Alpen- und Donaureichsgauen“
Auf Grund der sehr lückenhaften Quellenlage kann nur wenig über die Vereinstätigkeit des
RBV in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ gesagt werden. Die Schaffung von Arbeitsplätzen zur „Brauchbarmachung“ der Blinden hatte oberste Priorität. Der Leiter des 1939
gegründeten Gaubundes Kärnten, Rupert Molzbichler, berichtet 1944 in der RBV Zeitschrift
„Die Blindenwelt“, dass in den fünf Jahren, die dieser Gaubund bestand, viele Schulungen,
Umschulungen stattgefunden hatten und Arbeitsplätze vermittelt werden konnten. Einige
blinde Menschen in Kärnten konnten eine Beschäftigung in der Werkstätte der Blindenschule des Gaues Kärnten finden.470 Trotzdem waren nach seinen Angaben nur die Hälfte
der rund 100 Mitglieder des RBV-Gaubundes Kärnten angestellt und verfügten damit über
ein eigenes Einkommen. Molzbichler deutet in seinem Beitrag an, dass die nicht „arbeitsfähigen“ blinden Menschen von den öffentlichen Behörden oft nicht ausreichend vorsorgt
wurden. Um ihnen zu helfen, schlossen sich blinde Menschen angeblich selbst zusammen,
um im Rahmen ihrer Möglichkeiten diese zu unterstützen.471
Einige Gaubünde des RBV in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ beschäftigten selbst
blinde HandwerkerInnen in ihren eigenen Werkstätten. Diese Einrichtungen waren schon
vor der NS-Zeit gegründet worden. Dazu zählte die Korbflechterei des ehemaligen „Steiermärkischen Blindenvereins“. Lorenz Prutti leitete diesen Betrieb und feierte 1941 sein
20jähriges Dienstjubiläum.472 Diese Einrichtung wurde als Zweigbetrieb des RBV angesehen.
1943 waren dort 18 Arbeiter, darunter vier Frauen, angestellt.473
Auch in Wien beschäftigte der RBV blinde HandwerkerInnen. 1938 war der Verein
„Österreichische Blindenindustrie“ in den RBV zwangseingegliedert worden, der Werkstätten für blinde ArbeiterInnen betrieb.474
Der RBV unterhielt eine eigene Abteilung zur Arbeitsbeschaffung für blinde HandwerkerInnen. Unter anderem wurden Aufträge zur Produktion von Besen, Bürsten und
Strickwaren von der Wehrmacht vermittelt und die Zuteilung mit Rohstoffen geregelt. 1941
bestanden im gesamten „Deutschen Reich“ nach RBV-Angaben 129 Werkstätten, die blinde
Menschen beschäftigten. Davon waren 36 Einrichtungen von Blindenanstalten und Fürsorgevereinen, 27 gehörten Blindenvereinen und Genossenschaften und 66 galten als private
Werkstätten. Einschließlich der Rohstoffe erzielte der RBV so 1941 nach eigenen Angaben
einen Warenumsatz von 1.578.959 RM.475
470
471
472
473
474
Vgl. Molzbichler, Fünf Jahre, S. 195–197, hier S. 196.
Vgl. Molzbichler, Fünf Jahre, S. 195–197, hier S. 195–196.
Vgl. o. A., Zur Chronik des Blindenwesens, S. 268.
Vgl. Fichtl, 20 Jahre Blindenwerkstätte, S. 211–212, hier S. 211.
Vgl. Hartmann, Angliederung, S. 71–74, hier S. 72. [Bei dieser Eingliederung in den RBV gab es einen
Konflikt mit dem DBV. Vgl. Kapitel II.3.2.]
475 Vgl. Gersdorff, Tätigkeitsbericht [1941], S. 221–229, hier S. 224. [1942 bekam der RBV noch eine Zweigstelle in Straßburg zugewiesen. Daher kam es zu einer Steigerung des Jahresumsatzes auf 3.629.000 RM. Vgl.
Gersdorff, Bericht, [1942], S. 279–283, hier S. 280.]
85
Die Beschäftigung in anderen Berufen als den traditionellen Handwerkstätigkeiten sollte
aber Priorität haben. Öffentliche und industrielle ArbeitgeberInnen hatten allerdings Vorurteile, blinde Menschen zu beschäftigen. Durch die NS-Propaganda gegen „Minderwertige“ wurde insbesondere die Leistungsfähigkeit blinder Menschen in Frage gestellt. Der
RBV wirkte diesen Tendenzen im Rahmen seiner Propagandaarbeit entgegen. Beispielsweise durch die Herausgabe der Broschüre: „Der Blinde in Betrieben der Wirtschaft und
Verwaltung“476 Die Zeitschrift erreichte eine Auflage von 20.000 Exemplaren. 650 verschiedene Arbeitsmöglichkeiten in unterschiedlichen Betrieben wurden dort aufgeführt.477 Mit
finanziellen Mitteln der NS-Regimes wurde demnach gegen die Auswirkungen der eigenen
Agitation vorgegangen. RBV-FunktionärInnen sollten diese Broschüre bei Gesprächen mit
potentiellen ArbeitergeberInnen und Arbeitsämtern verwenden. Sie wurde auch in den
„Alpen- und Donaureichsgauen“ verbreitet, zum Beispiel durch Walther Otto Fürstenberg,
dem Leiter des RBV-Gaubundes „Niederdonau“.478
Die Kontaktaufnahme der RBV-Gaubünde in der „Ostmark“ mit blinden Menschen
erfolgte zum Teil persönlich, unter anderem auf dafür eingerichteten Sprechtagen. Kriegsund verkehrsbedingt war die Mobilität blinder Menschen allerdings nicht sehr hoch, weshalb
auch mittels Briefverkehr kommuniziert wurde.479 In Kontakt traten die RBV-Gaubünde
mit ihren Mitgliedern darüber hinaus über Rundschreiben.480
1942 wurde für die Propagandatätigkeit in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ eine
eigene „Fachgruppe für Presse und Schrifttum“ eingerichtet. Der blinde „ostmärkische“
Dichter Kurt Klebert fungierte als deren Obmann.481
In kleinen Städten und Dörfern im Gau „Niederdonau“ fanden Veranstaltungen in
Zusammenarbeit mit der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ statt. Im Rahmen eines so
genannten „Bunten Abends“ hielt der RBV-Gaubundleiter einen Vortrag über „Die Blinden
im Dienste der Volksgemeinschaft“. Danach traten blinde KünstlerInnen auf, die Gedichte
vortrugen oder musizierten.482
Die Propaganda in Bezug auf „erbbiologische Fragen“ übernahm auch in der „Ostmark“
der bereits erwähnte Gesundheitsbeirat des RBV Carl Siering. Er reiste 1941 für Vorträge
nach Salzburg und Innsbruck. Kriegsbedingt stellte er diese Reisen zunehmend ein, bis sie
schließlich 1942 gar nicht mehr durchgeführt wurden.483
Von der Ausdehnung der Kampfhandlungen auf die „Alpen- und Donaureichsgaue“
und der Bombardierung der Städte waren auch die RBV-Einrichtungen betroffen. Bekannt
ist, dass der Sitz des RBV in Wien in der Rotensterngasse durch einen Bombentreffer fast
vollständig zerstört wurde.484
476
477
478
479
480
481
482
483
484
86
Anspach, Blinde in Betrieben; Vgl. Kapitel II.6.1.
Vgl. Anspach, Blinde in Betrieben; Pielasch, Jaedicke, Geschichte, S. 158–159.
Vgl. Fürstenberg, Blinden von Niederdonau, S. 287–289, hier S. 287.
Vgl. Molzbichler, Fünf Jahre, S. 195–197, hier S. 196.
Vgl. Fürstenberg, Blinden von Niederdonau, S. 287–289, hier S. 288. Im eingesehenen Quellenbestand
befand sich keine Ausgabe dieser Rundschreiben.
Vgl. o. A., Zur Chronik des Blindenwesens. Wien, in: Die Blindenwelt, Nr. 5, Jg. 30 (1942), S. 129.
Vgl. Fürstenberg, Blinden von Niederdonau, S. 287–289, hier S. 288.,
Vgl. Gersdorff, Bericht [1942], S. 279–283, hier S. 280.
Vgl. ÖBSV, Protokoll der konstituierenden Versammlung des Österreichischen Blindenverbandes vom
9.3.1946, S. 2; Schmid, Chronologie der Blindenselbsthilfe, S. 70–74, hier S. 72.
Ab Herbst 1944 verlor der RBV in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ immer mehr
an Einfluss unter den blinden Menschen. Ein Hinweis darauf ist, dass es erste Treffen von
blinden Menschen in Wien gab, die über eine Neugestaltung des Blindenselbsthilfewesens
nach der „Befreiung“ von der NS-Diktatur berieten. Jakob Wald berichtete auf der konstituierenden Versammlung des „Österreichischen Blindenverbandes“ am 9. März 1946, dass
er und einige andere nicht näher genannte blinde Menschen sich „sofort nach der Befreiung
Wiens durch die Rote Armee“485 informell in einem Verbandslokal in der „Linken Wienzeile“
als provisorische Leitung des „Österreichischen Blindenverbandes“ zusammengeschlossen
und ihn zum ersten Vorsitzenden gewählt hatten.486
Weitere Aussagen über die Tätigkeiten des RBV in den „Alpen- und Donaureichsgauen“
sind auf Basis des derzeitigen Quellenstandes nicht möglich. Es bleiben daher viele Fragen
unbeantwortet. Wie viele Mitglieder hatte der RBV? War die Mitgliedschaft freiwillig?
Wie schaute das zwischenmenschliche, gesellschaftliche Leben in den Gaubünden aus?
Die Liste mit möglichen wissenschaftlichen Fragenstellungen könnte noch beliebig verlängert werden.
3.5 Der „Deutsche Blindenfürsorge-Verband“ (DBV)
3.5.1 Aufgaben und Ziele
Der zweite der NSV unterstellte Dachverband, der neben dem RBV im NS-Blindenwesen
tätig war, war der DBV. Alle Blindenfürsorgevereine und Blindenanstalten wurden ihm
zwangsweise als Mitgliedsvereine „angeschlossen“.487
Da viele Fürsorgevereine Träger von Blindenschulen waren, zählte traditionell die Erziehung der blinden Kinder und Jugendlichen zum Aufgabenbereich der Blindenfürsorge. Die
Betreuung der Jugend im nationalsozialistischen Sinn war aber wiederum eine Kernaufgabe der NSV. Maßnahmen zur Erziehung der Kinder hatten im NS-Fürsorgesystem eine
Vorrangstellung. Darüber hinaus war gesetzlich festgelegt worden, dass die Unterbringung
blinder Menschen in Anstalten Aufgabe der öffentlichen Hand war. Der Einfluss der Blindenfürsorgevereine und ihrer Dachorganisation, dem DBV, auf die Blindenschulen sollte
daher geschwächt werden.488 Durch die Unterbringung der Geschäftsstelle des DBV in Berlin
im Sitz des Hauptamtes für Volkswohlfahrt wurde gewährleistet, dass sich dieser auf das
„Engste“ an die Arbeit der NSV anschloss.489
Zur Hauptaufgabe des DBV sollte die Ausbildung und Schulung der Späterblindeten werden.490 Die Mitgliedsvereine des DBV leisteten außerdem einen Beitrag zur
485 ÖBSV, Protokoll der konstituierenden Versammlung des Österreichischen Blindenverbandes vom
9.3.1946, S. 2.
486 Vgl. ÖBSV, Protokoll der konstituierenden Versammlung des Österreichischen Blindenverbandes vom
9.3.1946, S. 2.
487 Vgl. o. A., Deutsche Blindenfürsorge-Verband e. V., S. 147–148, hier S. 147.
488 Vgl. o. A., Deutsche Blindenfürsorge-Verband e. V., S. 147–148, hier S. 147.
489 Horbach, Aufgaben, S. 35–42, hier S. 36. [Horbach war selbst Direktor der Blindenschule in Düren und ab
1939 Leiter des DBV.]
490 Vgl. Horbach, Aufgaben, S. 35–42, hier S. 37.
87
NS-Propagandatätigkeit: „Die erste und grundlegendste Sorge, die die Fürsorgevereine den
Blinden zuzuwenden haben, ist Erziehung und Schulung im nationalsozialistischen Geiste.“491
Ein wichtiges Thema dieser Propagandaarbeit war die so genannte „Blindheitsverhütung“492.
Durch die Verbreitung von angeblichen Erkenntnissen über Ursachen von Erblindungen
sollte die Zahl der so genannten „vermeidbaren Erblindungen“493 reduziert werden. Zur
Verbreitung der NS-Ideologie gab der DBV die Zeitschrift „Deutsche Blindenfürsorge (Der
Blindenfreund)“494 heraus.
Oberste Priorität hatte beim DBV darüber hinaus auch die Schaffung von Arbeitsplätzen
für blinde Menschen. Fürsorgevereine waren auf dem Gebiet der Stellen- und Arbeitsvermittlung für blinde HandwerkerInnen tätig. Das Blindenfürsorgewesen sollte seine Werkstätten für späterblindete Lehrlinge und blinde Gesellen ausbauen und durch Vermittlung
von Heimarbeit, Vergrößerung der Verkaufsbetriebe eine Steigerung der Arbeitsmöglichkeiten erreichen.495 RBV und DBV hatten in diesem Bereich dasselbe Aufgabengebiet. Manche
Werkstätten der Fürsorgevereine wurden, wie bereits erwähnt, sogar direkt vom RBV mit
Rohstoffen versorgt.
In den Aufgabengebieten gab es demnach Überschneidungen. Doppelgleisigkeiten im
NS-Blindenwesen sollten abgebaut werden, was dazu führte, dass die Bedeutung des DBV
und seiner Mitgliedervereine bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges kontinuierlich verringert wurde.
3.5.2 Entwicklung des DBV
Ursprünglich waren im Zuge der Gleichschaltung des Blindenwesens sämtliche Blindenfürsorgevereine und -einrichtungen dem DBV „angeschlossen“ oder aufgelöst worden. Im
Laufe des Jahres 1940 traten die von den preußischen Provinzen und Bezirksverbänden
unterhaltenden Blindenanstalten auf Anweisung der Landeshauptleute aus dem DBV aus.
Wie bereits erwähnt, wurde die Erziehung der blinden Jugend als Aufgabe der öffentlichen Fürsorge angesehen. Über die genauen Gründe für diesen Austritt werden in den
Akten des DGT (Deutscher Gemeindetag) im BAB allerdings keine Angaben gemacht.
Der DGT wurde aber aufgefordert, eine Arbeitsgemeinschaft zu gründen, in der die Träger „der öffentlichen Blindenanstaltspflege Gelegenheit zu einem Erfahrungsaustausch“496
bekommen sollten. Zur ersten Tagung der neu gebildeten „Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung“ am 25. Oktober 1940 in Berlin versandte der DGT in
Berlin Einladungen im gesamten „Deutschen Reich“, auch an die Reichsstatthalter in den
„Alpen- und Donaureichsgauen“. Hier wurden also die VertreterInnen der öffentlichen
491
492
493
494
Horbach, Aufgaben, S. 35–42, hier S. 37.
Horbach, Aufgaben, S. 35–42, hier S. 36.
Horbach, Aufgaben, S. 35–42, hier S. 36. Vgl. Kapitel II.1.2.3.
Der „Blindenfreund“ war vor der NS-Zeit die Fachzeitschrift der deutschen BlindenlehrerInnen, die
durch den „Verband Deutscher Blindenlehrer“ organisiert waren. Dieser wurde allerdings aufgelöst und
seine Mitglieder wurden in den NS-Lehrerbund, Fachschaft V. eingewiesen. Die Zeitschrift konnte allerdings weiterhin herausgegeben werden, nur eben als Publikation des DBV. Vgl. hierzu Kapitel II.4.4.
495 Vgl. Horbach, Aufgaben, S. 35–42, hier S. 36–37.
496 BAB, DGT, R 36/1762, Protokoll Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung ohne Datum [1940.], [S. 1.]
88
Fürsorge, nicht der Fürsorgevereine eingeladen. An der Tagung nahmen dann schließlich auch Vertreter der Gauverwaltungen aus Wien, Graz und Salzburg teil. Sie wurden
als künftige Träger der öffentlichen Blindenanstaltsfürsorge eingeladen und sollten in
der Arbeitsgemeinschaft mitarbeiten, um sich mit den anfallenden Fragestellungen zu
beschäftigen.497 Auch in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ war also ein Austritt der
Blindenanstalten aus dem DBV geplant.498
Im Laufe der Zeit entwickelte sich die „Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und
Blindenbildung“ zu einer Konkurrenzeinrichtung zum DBV und es gab zahlreiche Überschneidungen zu den Aufgabengebieten der Fürsorgevereine.
Die Ausschaltung des DBV durch die NS-Machthaber führte auch zu einer Namensänderung. Aus dem Briefkopf eines Schreibens in den Akten des DGT kann entnommen
werden, dass der DBV 1941 folgendermaßen tituliert wurde: „Reichsverband deutscher
Blindenfürsorge- und Blindenarbeitsfürsorge-Einrichtungen unter der Aufsicht der NSDAP,
Reichsleitung, Hauptamt für Volkswohlfahrt“.499
Beeinflusst wurde die Entwicklung des DBV auch durch den Ausbruch des Zweiten
Weltkrieges. 1939 war der DBV-Geschäftsführer Georg Hartmann zum Heeresdienst einberufen worden. Zum Leiter wurde daraufhin der stellvertretende Vorsitzende, Hubert
Horbach, Direktor der Blindenanstalt in Düren, ernannt.500 Die Unterbringungsmöglichkeiten von blinden Menschen nach Luftangriffen sowie die Einbeziehung aller der Blindenfürsorge dienenden Einrichtungen in die Betreuung der Kriegsversehrten gehörten zu
den immer wichtiger werdenden Aufgabenstellungen. Außerdem wurde die Beschaffung
von Lehrmitteln für den Unterricht zunehmend schwieriger.501 Davon waren auch die
noch verbleibenden Einrichtungen und Anstalten des DBV betroffen. Die Verbandsversammlungen mussten kriegsbedingt eingestellt werden. Eine Arbeitstagung des DBV, die
für November 1941 in Weimar geplant war, wurde offiziell wegen Einschränkungen des
Verkehrs abgesagt.502
3.5.3 Die Mitgliedsvereine des DBV in der „Ostmark“
Über die Tätigkeit des DBV und seiner Mitgliedsvereine in der „Ostmark“ konnten nur
wenige Aufzeichnungen gefunden werden, weil die Vereinsakten des DBV nicht auffindbar
waren.
497 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Gz. III 2512/40, Niederschrift über die erste Tagung der Arbeitsgemeinschaft
für Blindenfürsorge und Blindenbildung des DGT am 25.11.1940 in Berlin, S. 2–3.
498 Hintergrund dieser Entwicklung ist die bereits in Kapitel II.2 geschilderte Tatsache, dass nun die Landesfürsorgeverbände Träger der Blindenschulen waren. Vgl. Kapitel II.2.2.1.
499 BAB, DGT, R 36/1797, DBV Geschäftsstelle Nürnberg an den DGT vom 18.10.1941, Betreff: Einladung zur
Arbeitstagung am 7.11.41 in Weimar.
500 Vgl. BAB, DGT, R 36/1797, Blindenfürsorgeverband Bd. 3, 1939–1942, Der Geschäftsführer des Vereins zur
Förderung der wirtschaftlichen Selbständigkeit der Blinden an den DGT, Z. III 2552/39 vom 29.11.1939,
Betreff: Schreiben des DGT an den deutschen Blindenfürsorgeverband vom 10.11.1939.
501 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, AT Nr. III 719/43, DGT an die Oberpräsidenten der Provinzial- und Bezirksverbände vom 4.10.1943, Betreff: Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung.
502 Vgl. BAB, DGT, R 36/1797, Blindenfürsorgeverband B. 3, 1939–1942, Z. III 2863/41, DBV an den DGT vom
27.1.42, Betreff: Arbeitstagung am 7.11.41 in Weimar.
89
Die Blindenfürsorgevereine standen unter direkter NSV-Aufsicht. Sie waren nicht der
DBV-Geschäftsstelle Berlin, sondern in erster Linie den regionalen NSV-Stellen unterstellt.
Der Einfluss des DBV auf seine Mitgliedsvereine dürfte daher eher gering gewesen sein. Es
ist auch nur mehr schwer nachvollziehbar, inwieweit sie beim DBV mitarbeiteten und an
den Sitzungen teilnahmen. An einer Arbeitstagung im Oktober 1938 in Berlin gab es keine
Beteiligung aus der „Ostmark“.503 Zu diesem Zeitpunkt war allerdings die Gleichschaltung
des österreichischen Blindenfürsorgewesens noch nicht abgeschlossen. Erst von späteren
Tagungen ist eine Entsendung von VertreterInnen aus der „Ostmark“ bekannt.
Insgesamt wurden elf österreichische Blindenfürsorgevereine und -anstalten dem DBV
formal angeschlossen.504 Demnach gab es außer in den Gauen „Niederdonau“ und Salzburg
in allen späteren „Alpen- und Donaureichsgauen“ entweder einen Fürsorgeverein, eine
Blindenanstalt oder beides.505 Für „Niederdonau“ dürften die Wiener Fürsorgevereine und
das „Blindenerziehungsinstitut“ in der Wittelsbacherstraße 5 zuständig gewesen sein. Blinde
SchülerInnen aus Salzburg besuchten die Blindenschule in Linz.506
Zu den ursprünglich zwangsweise dem DBV „angeschlossenen“ Blindenfürsorgevereinen und -anstalten gehörte auch das „Asyl für blinde Kinder“ des „Vereins von Kinderund Jugendfreunden“ in Wien. Die NSV löste diese Einrichtung daraufhin allerdings
auf, da nur mehr zwei Kinder dort untergebracht waren. Sie kamen im „Blindenerziehungsinstitut“ in Wien unter.507 Auch der Verein „Österreichische Blindenindustrie“ war
ursprünglich dem DBV „angeschlossen“ worden. Wie bereits erwähnt, war dieser aber aus
der Blindenselbsthilfebewegung hervorgegangen. Der Stillhaltekommissar änderte daher
seinen ursprünglichen Beschluss und „gliederte“ die „Österreichische Blindenindustrie“
in den RBV ein.508 Die nach diesen Entwicklungen bestehenden neun „ostmärkischen“
Blindenfürsorgevereine und -einrichtungen erschienen im Oktober 1941 in einer Mitgliederliste des DBV. Insgesamt waren dort 39 Vereine und Einrichtungen aus dem gesamten
„Deutschen Reich“ aufgelistet.509
Für den Aufbau des Blindenfürsorgewesens in Österreich gab es offenbar einen
„Ostmarkfonds“.510 Dieser Aspekt stand zumindest auf der Tagesordnung einer DBV-Tagung
am 9. März 1940. Auf einer geplanten Tagung in Weimar, die allerdings im November 1941
503 Vgl. o. A., Bericht über die Arbeitstagung des Deutschen Blindenfürsorge-Verbandes, S. 3–5.
504 Vgl. Hartmann, Angliederung, S. 71–74, hier S. 71–72.
505 Im Ratgeber für Blinde sind noch vier Einrichtungen angegeben, von denen nicht klar ist, wie mit ihnen
in der NS-Zeit verfahren wurde. Demnach gab es in Salzburg ein Blindenheim in der Müllner-Hauptstr.
56, in Wien das Blindenarbeiterheim in der Baumgartnerstr. 75–79 und das Blindenmädchenheim in der
Bahnhofstr. 6 sowie die Blindenleihbücherei des Blindenerziehungsinstituts, Wittelsbacherstr. 5. Diese
Fragestellung könnte eventuell durch weitere Quellenrecherchen in den diversen Landesarchiven beantwortet werden. Eine vertiefende Darstellung dieser Einrichtung hätte aber nicht dem Ziel dieser Arbeit
entsprochen, einen Überblick zu geben. Vgl. o. A., Verzeichnis, in: Meurer, Ratgeber, S. 141–160, hier
S. 154; ÖStA, AdR, BM. f. soz. Verw., Volksgesundheit, Kt. 2411/1939, Krüppelfürsorge.
506 Vgl. Emanuel Scheib, Stand des Blindenschulwesens in Oberdonau, in: Die deutsche Sonderschule, Nr. 8,
Jg. 8 (1941), S. 438–439; Kapitel II.4.5.
507 Vgl. Hartmann, Angliederung, S. 71–74, hier S. 71.
508 Vgl. Kapitel II.3.2.
509 Vgl. BAB, DGT, R 36/1797, Blindenfürsorgeverband Bd. 3, 1939–1942, Nr. III 2758/4, DBV an den DGT,
eingegangen am 23.10.1941, Betreff: Mitgliederverzeichnis Stand 23.10.1941.
510 BAB, DGT, R 36/1797, Blindenfürsorgeverband Bd. 3, 1939–1942, GZ Ha/Gr, DBV an den DGT, Betreff:
Vorstandssitzung vom 4.3.1940.
90
abgesagt werden musste, hätte es auch einen Vortrag über das Blindenfürsorgewesen im
Gau Wien geben sollen. Als Redner war dafür der „Parteigenosse“ und „Direktor aus Wien“
Zwierschütz511 vorgesehen.512
Die Tätigkeiten des DBV und seiner Mitgliedsvereine in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ waren darüber hinaus geprägt von einer engen Zusammenarbeit mit dem RBV. Da
sich die Aufgabenbereiche der beiden regionalen Gruppen des DBV und des RBV überschnitten, kam es unter der Leitung der NSV zu Kooperationen. Auf diese Entwicklung
geht das folgende Kapitel ein.
3.6 „Verein blinder Akademiker“ (VdBA)
Neben den beiden großen Dachorganisationen gab es im NS-Blindenwesen noch einige
wenige andere Vereine, die Sonderinteressen vertraten.513 Der wichtigste war der „Verein
der blinden Akademiker Deutschlands“ (VdBA), der seinen Sitz in Marburg an der Lahn
hatte und der nach dem „Anschluss“ seine Tätigkeit auf die „Ostmark“ ausdehnen sollte.
An dieser Interessenvertretung beteiligten sich Kriegs- und Zivilblinde. Das war zur damaligen Zeit eine Besonderheit, da in der Regel für diese Gruppen eigene Vereine gegründet
worden waren.
Wegen des schweren Zugangs von Zivilblinden zu höheren Bildungseinrichtungen gab
es unter ihnen nur wenige AkademikerInnen. Initiativen wie die des VdBA sollten blinden
Menschen den Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen erleichtern und die schlechte
Beschäftigungssituation verbessern. Auch in Österreich gab es verschiedene Bemühungen
in diese Richtung. Maßgeblich waren dabei aber die Kriegsblinden, da unter ihnen die
AkademikerInnenquote höher lag. Schon während des Ersten Weltkrieges richtete sich
das Augenmerk der Kriegsblindenfürsorge vermehrt auf ihre akademische Ausbildung.
In Marburg an der Lahn wurde deshalb 1918 die „Hochschulbücherei, Studienanstalt und
Beratungsstelle für blinde Studierende e. V“ gegründet, die auch Kriegsblinde aus Österreich
aufnahm und über die angeschlossene Hochschulbücherei mit studienrelevanter Literatur
in Blindenschrift versorgte.514 Der VdBA war zwei Jahre zuvor vom späteren Direktor der
Studienanstalt, Carl Strehl, gegründet worden. Die Unterstützung der Studienanstalt wurde
zur Hauptaufgabe des Vereines, der außerdem blinden Studierenden finanzielle Beihilfen
gewährte.515
511 Laut einer Auflistung aller Direktoren und Leiter des BBI in Wien war Anton Kaiser Direktor dieser Einrichtung vom 1.6.1939 bis 15.6.1945. Um welchen Direktor es sich daher bei Zwierschütz, der Vorname
ist ebenfalls nicht eruierbar, gehandelt haben könnte, ist nicht bekannt. Vgl. o. A., Direktoren und Leiter,
S. 115. [Eine diesbezüglich Anfrage bei Direktorin Susanne Alteneder vom BBI blieb unbeantwortet.]
512 Vgl. BAB, DGT, R 36/1797, Blindenfürsorgeverband B. 3, 1939–1942, Z. III 2863/41, DBV an den DGT vom
27.1.42, Betreff: Arbeitstagung am 7.11.41 in Weimar.
513 Eine weitere wichtige Blindenorganisation war der „Verein blinder Frauen Deutschlands e. V.“. Dieser
Reichsverein war dem RBV angeschlossen und zählte Ende 1938 rund 800 Mitglieder. Blinde Frauen waren zur damaligen Zeit benachteiligt. Vor allem die Arbeitslosenquote war unter ihnen höher als bei blinden Männern. (Vgl. Kapitel II.6.1, II.10.) Der Verein war dem damaligen Zeitgeist entsprechend vor allem
im Bereich der „Berufsfürsorge“ tätig und wendete sich im Besonderen an blinde Handarbeiterinnen und
Maschinenstrickerinnen. Vgl. Kapitel II.6.1, II.10; o. A., Verein der blinden Frauen, S. 145–146, hier S. 145.
514 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 115–119.
515 Vgl. o. A., Verein der blinden Akademiker, S. 144–145, hier S. 144.
91
Anfang der 1930er Jahre wurde in Österreich ein Verein gegründet, der die Sonderinteressen der so genannte „blinden Geistesarbeiter“ vertrat. Im Herbst 1930 gründeten die selbst
blinden F. Guggi, Karl Satzenhofer und der jüdische Jurist David Schapira516 den „Verein
blinder Intellektueller Österreich“.517 Sie bezogen Geschäftsräume in der Rotensterngasse
25, dem Sitz des „Verbandes der Blindenvereine Österreichs“. Laut Statut sollte dieser Verein
eng mit dem VdBA in Deutschland zusammenarbeiten.518 Allerdings beendete der Verein
1934 seine Tätigkeit aus unbekannten Gründen wieder.519
Der VdBA hatte nach der Machtübertragung an Hitler unter der Leitung von Carl Strehl
als einer der ersten Vereine den „Arierparagraphen“ in seine Statuten aufgenommen und
begrüßte öffentlich die Einführung des GzVeN.520 Außerdem stand der Verein mit vielen
weiteren NS-Organisationen in Verbindung wie dem NS-Juristenbund, dem NS-Lehrerbund, der Reichskultur-, Reichsmusik-, Reichspresse- und Reichsschrifttumskammer durch
Doppelmitgliedschaften. Durch die dem VdBA angehörenden Kriegsblinden gab es eine
direkte Verbindung zur NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“.521
Die Ausdehnung der Zuständigkeit des VdBA auf die „Ostmark“ gestaltete sich allerdings zunächst schwierig. Durch die Auflösung des „Vereines blinder Intellektueller Österreichs“ gab es nach dem „Anschluss“ keine bestehenden Strukturen mehr, die der VdBA
übernehmen hätte können. Zunächst war der RBV „Ostmark“ für blinde AkademikerInnen
zuständig. Da der VdBA blinde AbsolventInnen höherer Schulen auch bei der Arbeitssuche
unterstützte, war die Ausdehnung seiner auch auf die „Ostmark“, insbesondere auf Wien,
durch die NS-Behörden erwünscht.522 Der VdBA erhielt daher Anfang 1939 die Genehmigung, seine Spendensammlung im Rahmen des NS-Sammlungsgesetzes auf die „Ostmark“
auszudehnen.523 Nach dem „Anschluss“ verstand sich der VdBA daher als „Standes- und
Berufsorganisation der blinden Geistesarbeiter Großdeutschlands“.524
Eine der österreichischen blinden Menschen, die durch den VdBA unterstützt wurden,
war der blinde Leopold Mayer.525 Seine Ausbildung in der Lehrerbildungsanstalt Wien für
alle Unterrichtsgegenstände der Mittelschule absolvierte er mit Hilfe des VdBA und der
Studienanstalt Marburg.526
516
517
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526
92
Zu David Schapira vgl. Kapitel IV.7.
Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 75.
Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 5849/30, Verein blinder Intellektueller Österreichs, [1930].
Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 5849/30, Verein blinder Intellektueller an die Bundespolizeidirektion
vom 30.11.1934, Betreff: Auflösung dieses Vereins.
Eine ausführliche Darstellung der Geschichte des VdBA in der NS-Zeit bietet die publizierte Dissertation
von Malmanesh. Vgl. Malmanesh, Blinde, S. 83, 110–131.
Vgl. Geschäftsbericht des Vereins der blinden Akademiker Deutschlands e. V. Marburg-Lahn für das Jahr
1935, S. 4, zitiert in: Malmanesh, Blinde, S. 113.
Vgl. ÖStA, AdR, Bürckl-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/16, GZ II/5–400.343/1938, Wiener Magistrat an das
Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 11.1.1939, Betreff: Bewilligung zur Spendenwerbung in der Ostmark des VdBA.
Vgl. ÖStA, AdR, Bürckl-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/16, GZ V W II/2/39/9165, Reichsminister des Inneren an
den VdBA vom 22.2.1939, Betreff: Zum Antrag vom 22.11.1938.
Vgl. Carl Strehl, Geschäftsbericht [1940]. [BAB, Reichskanzlei, R 43/4036, Spenden an Blinden- und Gehörlosenvereine].
Zu den Möglichkeiten von blinden Menschen in der NS-Zeit eine höhere Ausbildung zu absolvieren vgl.
Kapitel II.6.6.
Vgl. Mayer, Blinder in einer Lehrerbildungsanstalt, S. 171–178. [Digitalisierte Punktschriftausgabe im
AIDOS.]
Im Laufe des Zweiten Weltkrieges ging die Arbeit des VdBA für die Zivilblinden
kontinuierlich zurück: Seine Tätigkeiten konzentrierten sich vermehrt auf die Kriegsblinden.
Nicht nur die Betreuung der Kriegsblinden, sondern auch Finanzierungsprobleme auf
Grund fehlender Spendeneinnahmen erschwerten den Ausbau der Tätigkeiten des VdBA
in der „Ostmark“. Die Auswirkungen des NS-Sammlungsgesetzes und die Förderung der
WHW, welche im folgenden Kapitel erläutert werden, führten beim VdBA zu gravierenden
Einnahmerückgängen. Laut eigenen Angaben fehlten dem Verein durch die nicht genehmigte Winterwerbung 1938 rund 12.000 RM.527 Erst am 22. Februar 1939 erhielt der Verein
die Genehmigung, in der Zeit vom 1. bis 30. April im gesamten Reichsgebiet mit Ausnahme
des „Sudentenlandes“ Spendenschreiben auf dem Postweg zu versenden.528
3.7 Spendensammlungen in der NS-Zeit
„[…] Entweder sind die Blinden […] arbeitsunfähig,
dann ist eine Erziehung durch den Staat und durch
die HJ nicht gerechtfertigt; oder die Blinden sind
durchwegs leistungsfähig, dann müssen die Sammlungen zurücktreten […].“529
Auf Grund der nicht auffindbaren Vereinsakten des NS-Blindenwesens in Österreich können über die finanzielle Lage keine Aussagen gemacht werden. Klar ist aber, dass sich die
Finanzierung der Vereine, die vor der NS-Zeit vor allem durch Spenden erfolgte, nach
dem „Anschluss“ änderte. Vor dem Hintergrund der gravierenden Einschränkung der
Sammlungsmöglichkeiten für Vereine dürfte es schwer gewesen sein, ausreichende Mittel
zu lukrieren.530
Mit 10. August 1938 trat in der „Ostmark“ das „Gesetz zur Regelung der öffentlichen Sammlungen und sammlungsähnlichen Veranstaltungen“ (Sammlungsgesetz) mit
der dazugehörigen Verordnung in Kraft.531 Damit wurden öffentliche Sammlungen und
„sammlungsähnliche Veranstaltungen“ grundsätzlich von einer behördlichen Genehmigung
abhängig. Offiziell zugelassen werden sollten nur mehr Spendenaktionen, die im Sinne der
NS-Ideologie als „gemeinnützig“ und „mildtätig“ angesehen wurden.532
527 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/16, Abschrift zu V W II 11/38 9165, VdBA Vorsitzender
Strehl an das R. M. d. I. vom 22.11.1938, Betreff: Sammlungs- und Werbegenehmigung.
528 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/16, V W II 2/39 9165, Abschrift RM d. I. an den VdBA vom
22.2.1939, Betreff: Zum Antrag vom 22. November 1938.
529 Bögge, Aufgabe, S. 1–7, hier S. 3.
530 Vgl. Demmel, Nacht zum Licht, S. 232.
531 Vgl. GBlÖ, Nr. 364/1938, Verordnung über die Einführung des Gesetzes zur Regelung der öffentlichen
Sammlungen und sammlungsähnlichen Veranstaltungen (Sammlungsgesetz) vom 30. Juli 1938.
532 Über die Bestimmungen zum Vollzug der Verordnung über die Einführung des Sammlungsgesetzes gibt
folgende Quelle Auskunft: ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 196, Zl. 4350/4, Reichskommissar für die
Wiedervereinigung Österreichs an den Reichsschatzminister vom 25.7.1938, Anhang: Vollzug der Verordnung über die Einführung des Sammlungsgesetzes im Landes Österreich vom 30.7.1938, Runderlass des
RM d. I.
93
Tatsächlich war dies ein wichtiges Steuerungselement zur Ausrichtung des Vereinswesens nach nationalsozialistischen Vorstellungen. Ausgenommen von der Genehmigungspflicht und den umfassenden Kontroll- und Aufsichtsmaßnahmen dieses Gesetzes waren
nur Sammlungen und Veranstaltungen der NSDAP sowie ihrer Untergliederungen und
angeschlossenen Verbände.533
Das Sammlungsgesetz sah aber nicht nur staatliche Aufsichts- und Kontrollbefugnisse,
sondern auch Strafsanktionen bei Verstößen vor. § 13 des Sammlungsgesetzes regelte, dass
ein Verstoß gegen das Sammlungsgesetz mit Gefängnis bis zu sechs Monaten und mit
Geldstrafe oder mit einer dieser beiden Strafen geahndet werden konnte. Von diesen Regelungen betroffen war auch der Verein „Zentralbibliothek für Blinde in Österreich“, der
nach dem „Anschluss“ im Frühsommer 1938 ein Spendenschreiben534 ohne Genehmigung
versandt hatte.535 Der „Minister für innere und kulturelle Angelegenheiten“ veranlasste
daraufhin eine Unterbindung der Sammlungstätigkeit.536 Die Wiener Magistratsabteilung
2 führte eine Untersuchung durch. Von einer Strafverfügung wurde allerdings mit der
Begründung Abstand genommen, die eingenommenen Gelder seien nicht „missbräuchlich“ verwendet worden. Sämtliche Ausgaben des Vereinskontos erfolgten erst nach deren
Genehmigung durch den kommissarischen Leiter des Blindenwesens der NSV, Gau Wien,
Wilhelm Delasbe.
Im Zuge der Ermittlungen wurden auch Erich Chalupka, der Leiter des Vereines bis
zum „Anschluss“, und sein Nachfolger Gustav Adolf Besser, der spätere Leiter des RBVGaubundes Wien, einvernommen. Sie sagten aus, dass Spendenaufrufe nur an ehemalige
Förderinnen und Förderer des Blindenwesens versandt worden seien, soweit sie der Leitung
bekannt waren.537 Es handelte sich bei der betreffenden Sammlung also nur um eine Aktion
mit geringer Reichweite. Das dürfte die Behörden dazu bewogen haben, von einer Strafverfolgung abzusehen. Der Verein wurde schließlich gelöscht und in den RBV „eingegliedert“.
Nachdem die Gleichschaltung des Blindenwesens in Österreich abgeschlossen worden war, suchten auch die beiden großen Dachorganisationen, der DBV und der RBV, um
Sammlungsgenehmigungen an. Diese wurden dann, wenn überhaupt, erst im Laufe des
Jahres 1939 erteilt. Über ein Jahr hatten die Vereine der „Ostmark“ damit kein Einkommen
durch Spenden, was sich auf ihre Handlungsmöglichkeiten fatal ausgewirkt haben dürfte.
533 Die Sammlungstätigkeiten dieser Organisationen wurden durch die Sammlungsordnung der NSDAP, die
in Österreich am 11. Oktober 1938 in Kraft trat, geregelt. Vgl. GBlÖ, Nr.528/1938, Einführung der Sammlungsordnung der NSDAP im Lande Österreich vom 10. Oktober 1938.
534 Eine Kopie des Schreibens befindet sich im nachfolgend zitierten Akt im ÖStA. Das Schreiben ist allerdings nicht datiert, sondern enthält nur den Hinweis „Datum des Poststempels“. Beim Reichskommissar
für die „Wiedervereinigung“ Österreichs mit dem Deutschen Reich ist es am 5. September 1938 eingegangen. Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 21, AZ 19, Spendenschreiben der Zentralbibliothek
für Blinde in Österreich eingegangen am 5.9.1938.
535 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 196, Zl. 4351/13, GZ II/5-247.264-1938, Der Minister für innere und
kulturelle Angelegenheiten an das Magistrat Wien eingegangen am 4. 11. 1938, Betreff: Übermittlung
Spendenaufruf der Dr. Kal Glossy’schen Zentralbibliothek für das Blinden.
536 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 196, Zl. 4351/13, GZ II/5-261.018/1938, Der Minister für innere
und kulturelle Angelegenheiten an den Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs vom
3.12.1938, Betreff: Dr. Karl Glossy’sche Zentralbibliothek für Blinde.
537 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 196, Zl. 4351/13, M. Abt. 2/9689/38, Abschrift Wiener Magistratsabteilung 2 an den Minister für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 7.1.1939, Betreff: Bericht über
die Zentralbibliothek für Blinde in Österreich.
94
Der Blindenfürsorgeverein in Kärnten musste so seine regelmäßigen Unterstützungen für
notleidende blinde Menschen einstellen, weil das Barvermögen des Vereins 1939 fast gänzlich aufgebraucht war.538
Zudem bekamen die Organisationen, wenn sie eine Genehmigung erhielten, nur die Erlaubnis, Personen anzuschreiben, welche die Vereine auch bisher nachweislich unterstützt haben.
Die Vereine konnten daher keine neuen SpenderInnen gewinnen. Nicht mit einbezogen werden
durften die Behörden des „Deutschen Reichs“, der Länder, der Gemeinden, Gemeindeverbände
sowie deren LeiterInnen. Wenn ein Unternehmen der deutschen Wirtschaft sich auf eine Beteiligung an der „Adolf-Hitler-Spende“ berief, dann musste auch bei diesem die Spendenwerbung
eingestellt werden.539 Dabei handelte es sich um eine 1933 eingeführte jährliche Zwangsabgabe
von Betrieben an die NSDAP, berechnet nach der Lohn- und Gehaltssumme.
In der Folge wurde die Zahl der FörderInnen der Vereine immer geringer. Wenn keine
neuen UnterstützerInnen dazu gewonnen werden durften, dann konnte die natürliche Reduzierung des Kreises der SpenderInnen durch Todesfälle und Einstellungen der Spendentätigkeit aus den diversesten Gründen nicht ausgeglichen werden.
Hinzu kam noch, dass die Organisationen mit dem WHW konkurrieren mussten, das
im „Dritten Reich“ unter Aufwendung zahlreicher propagandistischer Mittel beworben
wurde. Die beträchtlichen Einnahmen setzten sich aus Beiträgen von Firmen und Organisationen, aus Erlösen von Haus- und Straßensammlungen sowie Lohn- und Gehaltsbezügen
zusammen. Die Spenden für das WHW wurden allerdings nicht immer „freiwillig“ geleistet.
Wer nicht spendete, galt als „Volksfeind“ und war erheblichen Repressionen ausgesetzt.540
1939 befanden sich die Blindenselbsthilfe und -fürsorgevereine demnach in einer finanziell sehr angespannten Lage. Trotzdem erhielt der DBV am 17. Mai 1939 die Genehmigung,
eine Sammlung durch Postversand lediglich im „Altreich“ durchzuführen. Dagegen legte
der DBV beim „Reichsminister des Inneren“ Einspruch ein und bat um die Genehmigungserteilung auch für die „ostmärkischen“ Fürsorgeeinrichtungen. Diese wurde am 8. August
1939 erteilt. Vorher hatten die zuständigen Stellen allerdings bei allen Landeshauptmannschaften Erkundigungen eingeholt.541 Die zuständige Behörde aus „Oberdonau“ sprach sich
dabei gegen eine Ausdehnung der Sammlungsgenehmigung des DBV aus, unter anderem
mit der Begründung, dass der damaligen Gesetzgebung entsprechend die „Befürsorgung“542
blinder Menschen Pflichtaufgabe der öffentlichen Behörden sei. „[…] Almosenleistungen
der Systemzeit bei einer derartigen Anstalt [müssen] endgiltig [sic!] überwunden sein […].“543
538 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, Zl. 6827, Landeshauptmannschaft Kärnten an das
Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 30.6.1939, Betreff: DBV, Genehmigung zur
Sammlung.
539 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, Sammlung DBV [Enthält auch Schreiben des RBV].
540 Vgl. A. Behrens, Faschismus und Ideologie. 1 und 2, Berlin-West 1980 b, S. 207ff, zitiert in: Jantzen, Sozialgeschichte, S. 143–144.
541 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, Betreff: Sammlung DBV. Das Schreiben der Landeshauptmannschaft Tirol und Vorarlberg, wo ebenfalls eine Blindenschule bestanden hatte, ist in diesem
Akt nicht überliefert. Vgl. weiterführend Kapitel II.4.5, II.4.5.3.
542 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, E/I Zl. 4460/4-39, Abschrift, Landeshauptmannschaft
Oberdonau an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 20.7.1939, Betreff: Genehmigung zur Sammlung und Werbetätigkeit.
543 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, E/I Zl. 4460/4-39, Abschrift, Landeshauptmannschaft
Oberdonau an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 20.7.1939, Betreff: Genehmigung zur Sammlung und Werbetätigkeit.
95
Das Versenden von Spendenschreiben in der „Ostmark“ stieß offenbar auf Unverständnis. Diese Annahme bestätigt sich durch die Akten zur Sammlungsgenehmigung des RBV
im ÖStA. Dieser hatte bereits am 26. Mai 1939 die Erlaubnis bekommen, seine für das „Altreich“ genehmigte Sammlung zwischen dem 1. Mai und 30. Juni 1939 auf die „Ostmark“
auszudehnen, mit der Auflage, die Reingewinne in diesen Gauen auch ausschließlich dort
zu verwenden.544 Das galt auch für den Vertrieb des RBV-„Blindenfreund-Kalenders 1940“.
Bei seinem Ansuchen war der RBV sogar von der NSDAP Reichsleitung Berlin unterstützt
worden.545 Das daraufhin im Juni 1939 versendete Spendenschreiben des RBV befindet
sich im hier zitierten Akt im ÖStA. Ein anonymer Absender hatte es mit dem Vermerk
„Ist Bettlerei im 3ten Reich möglich ?????? [sic!]“546 versehen. Durch die NS-Propaganda, die
ja versprochen hatte, die Not des „Volkes“ zu beenden und blinde „Volksgenossen“ dazu
zu befähigen, sich selbst zu helfen, kam es, dass Genehmigungen von „Bettelbriefen“ für
Unverständnis in der Bevölkerung sorgten. Die Hintergründe und Ursachen für dieses
Spannungsfeld können in dieser Arbeit allerdings nicht dargestellt werden und bedürfen
einer weitergehenden Analyse.
Nicht bekannt ist, wie hoch die Spendeneinnahmen durch die 1939 genehmigten Sammlungsschreiben waren. Die hier aufgezeigte Entwicklung zeigt aber, dass in der NS-Zeit die
Vereine im Blindenwesen nur eingeschränkt Spendenmittel erhalten konnten. Nur durch
Genehmigung und ausschließlich auf schriftlichem Weg, zeitlich auf einen bestimmten
Adressatenkreis beschränkt, durften Spenden lukriert werden. Die Blindenselbsthilfevereine hatten dabei gegenüber der Blindenfürsorge bessere Möglichkeiten, weil ihnen auch
der Vertrieb des „Blindenfreund-Kalenders“ erlaubt worden war.
544 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, V W II 7.39-9160, Abschrift, RM d. I. an den RBV
Berlin vom 26.5.1939, Betreff: Zum Antrag vom 11.4.1939.
545 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, Abschrift zu V W II 6/39/19160, NSDAP Reichsleitung an den RM d. I. vom 29.4.1939, Betreff: Antrag des RBV auf Ausdehnung der ihm für das Altreich
bereits erteilten Genehmigung zur schriftlichen Mittelwerbung.
546 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, Anonymer Hinweis angebracht an Spendenschreiben
des RBV vom Juni 1939.
96
4.Blindenschulen
„Ich erinnerte mich an meine Schulzeit, in der ich
im Jahre 1936 […] im Sprechchor sagen mußte […]:
‚Blind sein heißt kämpfen!‘“547
4.1 Rahmenbedingungen
Zwischen 1938 und 1945 kam es zu einer völligen Umgestaltung des Blindenschulwesens.548
Die einzige Erziehungs- und Ausbildungsanstalt für blinde Menschen jüdischer Herkunft in
Europa, das „Israelitische Blindeninstitut“ auf der Hohen Warte in Wien, wurde nach dem
„Anschluss“ schrittweise aufgelöst.549 Die anderen Blindenschulen der „Ostmark“ blieben
zwar bestehen, aber es kam zu einer neuen Ausrichtung der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik in der „Ostmark“.
Bis 1939 war das Blindenschulwesen österreichweit nicht einheitlich geregelt. Vor dem
„Anschluss“ hatte es nur eine Landesblindenschule, die bereits erwähnte Einrichtung in
Kärnten, gegeben.550 Das Wiener „Blindenerziehungsinstitut“ war eine staatliche Einrichtung, als Träger trat das Land Österreich auf.551 Die anderen bestehenden Schulen in Graz,
Innsbruck und Linz sowie das „Israelitische Blindeninstitut“ finanzierten sich durch Spenden und gegebenenfalls öffentliche Förderungen sowie durch die Unterstützung der ihnen
zugehörigen Blindenfürsorgeverbände. Nach dem „Anschluss“ war die Erhaltung der Blindenschulen dann, wie bereits erwähnt, Aufgabe der Landesfürsorgeverbände.552
Vor 1939 gab es außerdem keinen Zwang, blinde Kinder in einer Blindenanstalt auszubilden.553 Die Einführung eines entsprechenden Gesetzes gehörte aber zu den Anliegen der
BlindenlehrerInnenschaft in der Zwischenkriegszeit. Sie forderten auch eine einheitliche
gesetzliche Regelung für ganz Österreich. Darüber berichtete der Direktor des „Israelitischen Blindeninstituts Hohe Warte“, Siegfried Altmann, 1930 in einem Aufsatz.554 Durch
547 Schulze, Standardwerk zum Blindenwesen in Deutschland [= Ausgabe Horus Nr. 2/1996]. [Schulze erzählte hier von seinem Besuch als blinder Schüler der Feier zum 15-jährigen Bestehen des Westfälischen
Blindenvereins 1936.]
548 Zum Schulwesen in Österreich in der NS-Zeit vgl. dazu auch die Literaturangaben folgender Werke: Herbert Dachs, Schule in der „Ostmark, S. 446–466; Schreiber, Schule in Tirol und Vorarlberg; Kraftschik,
Schule, Unterricht und Erziehung im Nationalsozialismus; Unterthiner, nationalsozialistische Schulwesen; Kriechbauer, Kruckenkreuz und Hakenkreuz; Cerwenka, Erziehung und Schule in „Oberdonau“.
549 Vgl. Kapitel IV.5.3.
550 Neben dem Landesblindenheim in Salzburg Mülln gab es ansonsten keine weitere Blindeneinrichtung, die
nur aus Staats-, Landes- oder Gemeindemitteln finanziert wurde. Das Heim in Salzburg verfügte über 30
Betten und war Anfang 1939 voll belegt. Vgl. Altmann, Blindenwesen, S. 146–162, hier S. 158; ÖStA, AdR,
BM f. soz. Verw., Volksgesundheit, Kt. 2411, Zl. 410/T. L. F. A., Landesfürsorgeamt Salzburg an den Minister für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 13.2.1939, Betreff: Richtlinien für die Durchführung
der Fürsorge für Körperbehinderte in der Ostmark.
551 Vgl. Strehl, Schulische, berufliche und nachgehende Fürsorge, S. 76.
552 Vgl. Kapitel II.2.2.1.
553 Für die Schulpflicht in Österreich gab es keine expliziten Regelungen. Die Schul- und Unterrichtsordnung
vom 29. September 1905, die einen allgemeinen Unterrichtszwang vorsah, wurde sinngemäß auch für
blinde Kinder ausgelegt. Vgl. Altmann, Blindenwesen, S. 146–162, hier S. 158.
554 Vgl. Altmann, Blindenwesen, S. 146–162, hier S. 159.
97
das Reichsschulpflichtgesetz der NS-Regierung wurden diese Forderungen dann umgesetzt.
Zwischen den nationalsozialistischen Vorstellung und denen der BlindenlehrerInnenschaft
aus der Zeit vor 1938 gab es also gewisse Überschneidungen. Das hat die Akzeptanz der
NS-Maßnahmen beeinflusst.
Das Reichsschulpflichtgesetz555 und die dazugehörige Durchführungsverordnung556
traten am 1. August 1939 in der „Ostmark“ in Kraft.557 Das Reichsschulpflichtgesetz schrieb
in den §§ 6 und 7 vor, dass geistig und körperlich behinderte Kinder zum Besuch einer entsprechenden Sonder- oder Hilfsschule verpflichtet waren. Dabei sollte offenbar vermieden
werden, Blindenanstalten direkt als Sonder- oder Hilfsschule zu titulieren. Blindenschulen
galten wie Gehörlosenschulen und „Krüppelschulen“ als Sonderschulen im „engeren Sinn“.558
Diese begrifflichen Feinheiten verfolgten das Ziel, eine gewisse Unterscheidung der Blindenanstalten von den Einrichtungen für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen zu
erreichen. Blinde, körperbehinderte und gehörlose Menschen hatten in der NS-Zeit eine
andere Stellung, weil sie als „arbeitsfähig“ und damit als „ noch brauchbar“ galten.559
Das Reichsschulpflichtgesetz sah auch eine Sonderregelung für blinde und „taubstumme“
Kinder vor. Ihre Schulpflicht konnte unter Umständen um bis zu drei Jahre verlängert werden, wenn die betreffenden SchülerInnen das Lernziel in der Regelschulzeit von acht Jahren
nicht erreicht hatten.560 Per Runderlass vom 19. Mai 1939 erfolgte die reichseinheitliche
Bestimmung, Blindenanstalten in „Blindenschulen“ gegebenenfalls mit dem Zusatz „mit
Heim“ umzubenennen.561
Die Bestimmungen der Schulpflicht für Kinder mit einer Behinderung sollten in der
Folge allerdings noch weitergehend reichseinheitlich geregelt werden. Dies legte die „Erste
Verordnung zur Durchführung des Reichsschulpflichtgesetzes“ vom 7. März 1939, die gleichzeitig mit dem Reichsschulpflichtgesetz in der „Ostmark“ in Kraft getreten war, fest. Diese
Pläne setzte allerdings erst am 18. Februar 1942 ein Runderlass des „Reichsministeriums für
Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ um: „Die Umsetzung dieser lange erwarteten
Regelung war jedoch durch den Krieg äußerst schwierig, wenn nicht gänzlich unmöglich.“ 562
Dieser Runderlass führte 1942 detailliert aus, was bereits in der Gesetzgebung vorgesehen war: Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung galten als „belastende“ und
„hemmende Faktoren“ des Volksschulunterrichts. Laut der Gesetzgebung war daher ein
„separater“ Schulbesuch notwendig.563 Den Zwang zum Besuch einer Sonderschule für
555 Vgl. [D] RBGl., Teil I, Nr. 105/1938, Gesetz über die Schulpflicht im Deutschen Reich (Reichsschulpflichtgesetz) vom 6. Juli 1938, S. 799–801.
556 Vgl. GBlÖ Nr. 982/1939, Erste Verordnung zu Durchführung des Reichsschulpflichtgesetzes vom 7. März
1939 [(D) RGBl., Teil I, 1938, ab S. 438].
557 Vgl. GBlÖ, Nr. 982/1939, Verordnung zur Einführung des Reichschulpflichtgesetzes vom 25. Juli 1939.
558 Vgl. Benze, Erziehung im Großdeutschen Reich, S. 28; Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 19. [Das
Manuskript dieser schriftlichen Hausarbeit ist nicht veröffentlicht worden, weil das Werk unautorisierte
Zitate von Betroffenen enthält, die nach erfolgter Zustimmung zum Interview die Veröffentlichung der
Passagen untersagt haben. Diese Arbeit ist allerdings im AIDOS in Marburg/Lahn unter Berücksichtigung dieses Aspektes einsehbar.]
559 Vgl. Keim, Erziehung, S. 113.
560 Vgl. Reichsschulpflichtgesetz § 6.4 [Zitiert a. a. O.].
561 Vgl. Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 33.
562 Fricke-Finkelnburg, Nationalsozialismus und Schule, S. 134; Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 18.
563 Vgl. Fuchs, „Körperbehinderte“, S. 132; Vgl. Deutsch. Wiss. Erziehg. Volksbild. 1942, S. 108, NHr. 163,
Überweisung von Kindern an die Hilfsschulen, Sehschwachen-, Schwerhörigen- und Sprachheilschulen
98
blinde SchülerInnen beschönigten die NS-Behörden als „kostenlosen Pflichtbesuch“564. In
erster Linie war er aber mit Hinblick auf die SchülerInnen ohne eine Behinderung erlassen
worden.565
Hinter diesen Sonderbestimmungen stand die Auffassung, Blindenschulen seien die
geeignetste Einrichtung, blinde SchülerInnen so zu erziehen, dass sie ihren Lebensunterhalt später selbst bestreiten konnten.566 Hauptziel des Unterrichts für blinde, gehörlose und
körperlich behinderte Kinder war daher die so genannte „Berufsbefähigung“.567
Blinde Kinder, die auf Grund einer weiteren Beeinträchtigung, wie zum Beispiel einer
kognitiven, als nicht „arbeitsfähig“ galten, sollten nicht mehr mit anderen blinden Schü­lerIn­
nen an Blindenschulen unterrichtet werden. Das galt ebenso für die taubblinden Kinder, die
häufig Blindenschulen besuchten. Im „Altreich“ war dafür ein eigenes Taubblindenheim in
Berlin zuständig, welche Einrichtung in der „Ostmark“ diese Aufgabe übernehmen sollte,
ist nicht bekannt.568
Genauso wurden sehbehinderte Kinder, deren Sehrest zum Lesen und Schreiben ausreichte, vom Unterricht an den Blindenschulen ausgeschlossen, da die NS-Behörden fürchteten, ein Besuch dieser Schulen würde ihre Berufsmöglichkeiten mindern.569 Sie sollten
Volksschulen besuchen, zu denen Sonderschulen für Kinder mit leichten Behinderungen
gehörten. Dazu zählten Schwerhörigen-, Sehschwachen- und „Sprachheilschulen“.570
Das Reichsschulpflichtgesetz führte darüber hinaus die Berufsschulpflicht ein. Diese galt
auch für blinde Jugendliche. Für sie kam dabei in erster Linie eine Lehre in Betracht. Der
Besuch weiterführender, höherer Schulen war ihnen nur erschwert möglich.571
4.2 Unterricht und Leitbilder
Als einzige Primärquelle572 zum Unterricht an den Blindenschulen in der „Ostmark“
kann ein Klassenbuch aus dem Schuljahr 1941/42 der Berufsschule für Blinde in Graz
564
565
566
567
568
569
570
571
572
vom 14.3.1942, EII a C 3 – 6/42, zitiert in: Fricke-Finkelnburg, Nationalsozialismus und Schule, S. 132;
Schreiber, Schule in Tirol, S. 119.
Benze, Erziehung, S. 28.
Vgl. Klee, Der blinde Fleck.
Vgl. u. a. Esser, Bild des blinden Menschen, S. 61–62; Keim, Erziehung, S. 113; Schröder, Sehgeschädigte
Menschen, S. 19; Grasemann, Blindenschulen und Hilfsmittel, S. 16–22, hier S. 16.
Benze, Erziehung, S. 28.
Vgl. Grasemann, Blindenschulen, S. 16–22, hier S. 18 und S. 22.
Vgl. Grasemann, Blindenschulen, S. 16–22, hier S. 18.
Vgl. Benze, Erziehung, S. 28; Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 19; Strehl, Schulische, berufliche und
nachgehende Fürsorge, S. 25.
Vgl. Kapitel II.6.6.
In dieser Studie soll nur ein Überblick über das Blindenschulwesen in der „Ostmark“ gegeben werden.
Weiterführende Quellenbestände vgl. u. a. StLA, LReg, Pol.V-Ga 25-2902/1940, Odilien-Blindenverein
Graz; TLA, Amt der Tiroler Landesregierung, Abteilung Bildung, Personalakten Reihe 1, Nr. 260 [Karton
6], Anton Berchtold, geb. 8.11.1910; WStLA, Schulverwaltung, Stadtschulrat (Landesschulrat) 1871–1955,
B 2: Geschäftsprotokoll: Index 1938–1945. Für die Blindenschule in Innsbruck war primär nicht der Landesschulrat als Schulbehörde zuständig, sondern der Oberbürgermeister der Gauhauptstadt Innsbruck
als Bezirksverwaltungsbehörde für den Stadtkreis Innsbruck (Abteilung II: Schul- und Kulturamt). Die
Bestände sind im Stadtarchiv – Stadtmuseum Innsbruck verwahrt. Zu Personalakten und NS-Mitgliedschaften des Wiener Lehrpersonals: WStLA, M. Abt. 202, A 5: Personalakten 1. Reihe 1920–1973;
99
herangezogen werden.573 Diese Berufsschule war Teil der vor der NS-Zeit als „OdilienBlindenanstalt“ bekannten Einrichtung in der Leonhardstraße. In dem vorliegenden Klassenbuch wurde der Stundenplan der „allgemein-gewerblich fachlichen Fortbildungsschule“
festgehalten. Neben den Unterrichtsgegenständen, welche für die berufliche Qualifikation
notwendig waren, wie zum Beispiel gewerbliches Rechnen und Kalkulation, enthielt der
Stundenplan „Reichskunde“, „Anstandslehre“ sowie „Gesundheitslehre“. Die letzten drei
Fächer unterrichtete der Direktor der Grazer Einrichtung, Ernst Kortschak. Ebenfalls Teil
des Lehrplanes war die „körperliche Ertüchtigung“574 sowie der Besuch der Lehrwerkstätte.
Damit entsprach der Lehrplan dem damaligen Zeitgeist: „Sport“ und „Werken“ galt als
wichtigstes Prinzip der Hilfsschulerziehung.575
Wie viele SchülerInnen diese Klasse besucht haben, ist nicht bekannt. Zwar lässt die
Quelle eine tiefergehende Analyse nicht zu, aber es können doch verschiedene Merkmale
des Unterrichts und der Leitbilder an Blindenschulen in der NS-Zeit aufgezeigt werden.576
Zum Beispiel wird deutlich, dass die Erziehung im nationalsozialistischen „Geist“ neben
der „Berufsbefähigung“ das wichtigste Lernziel darstellte.577 Der Stundenplan enthielt daher
Fächer, in denen nationalsozialistische Ideologien vermittelt wurden.578
Außerdem reichte es in der NS-Zeit nicht aus, blinde Menschen für einen späteren
Beruf auszubilden. Es sollte darüber hinaus eine „Leistungssteigerung“579 erzielt werden. Was
darunter verstanden wurde, zeigen die Vorgaben für die Ausbildung von StenotypistInnen.
Da bei blinden Menschen beim Übertragen der Stenogramme durch das Lesen der Blindenschrift mit der Hand ein Zeitverlust gegenüber den sehenden StenotypistInnen unvermeidbar war, sollten blinde SchülerInnen dazu befähigt werden, dies durch eine schnellere
Übertragung auszugleichen. Blinde Menschen, die dazu nicht in der Lage waren, sollten
nicht zum StenotypistInnenberuf zugelassen werden.580 Der Leistungsdruck auf blinde
SchülerInnen dürfte dementsprechend hoch gewesen sein.
Um die körperlichen Fähigkeiten der blinden SchülerInnen zu verbessern, stieg auch
die Bedeutung des Sportunterrichts. Diese Entwicklung war aber nicht nur bedingt durch
573
574
575
576
577
578
579
580
100
WStLA, M. Abt. 119, A 42: NS-Registrierung 1945–1957; WStLA NSDAP Wien, „Gauakten“, A 1: „Gauakten“
Personalakten des Gaues Wien, 1932–1955 und K 1: Kartei zu den „Gauakten“ 1945–1955. Vergleichbare Recherchen sind auch im StLA, TLA und gegebenenfalls im Stadtarchiv Innsbruck möglich.
Vgl. Archiv Odidilieninstitut Graz, Allgemein-gewerbliche Fachliche Fortbildungsschule für Blinde in
Graz, Klassenbuch und Nachweisung über den täglich durchgenommenen Lehrstoff, 2. Klasse für Blinde,
Schuljahr 1941/42.
Kapitel II.7.
Vgl. Fricke-Finkelnburg, Nationalsozialismus und Schule, S. 135.
In der Bibliographie zum Sehgeschädigtenwesen 1933–1945 von Klaas Dierks befinden sich weiterführende Literatur- und Quellenverweise zu dem Aspekt „Erziehung und Unterricht sehgeschädigter Menschen“:
vgl. Dierks, Sehgeschädigte Menschen im Nationalsozialismus, S. 238–239.
Vgl. Esser, Bild des blinden Menschen, S. 58; Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 14.
Grasemann, Blindenschulen, S. 16–22, hier S. 18–19.
Leistung war ein rassisch definiertes NS-Schlagwort. Überwiegend wurden damit die Maßnahmen zur
Produktionssteigerung im Rahmen des Vierjahresplanes bezeichnet. Vgl. Heinz Paechter in Association with Bertha Hellmann, Hewig Paechter, Karl O. Paetel, Nazi-Deutsch. A Glossary of Contemporary
German Usage with Appendices on Government, Military und Economic Institutions, New York 1944,
zitiert in: Schmitz-Berning, Vokabular, S. 384. Manfred Seipt behandelt den Leistungsbegriff im Nationalsozialismus in seiner Diplomarbeit in einem eigenen Kapitel. Vgl. Seipt, Arbeit im Nationalsozialismus,
S. 80–87.
O. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 29.
die Vorgaben der nationalsozialistischen Führung. Der Blindenlehrer Friedrich Benesch,
der 2004 in der Festschrift zum 200-jährigen Bestehen des BBI einen Aufsatz über die
Geschichte der Blindenpädagogik verfasste, gibt an, dass schon in den 1930er Jahren der
„Arbeitsschulgedanke“581 ausgebaut worden war. Mit Hinblick auf eine Verbesserung der späteren Erwerbsmöglichkeiten sollte die Selbständigkeit der blinden SchülerInnen durch Sport
gefördert werden. Am „Blindenerziehungsinstitut“ in Wien wurde dementsprechend der
Schwimmunterricht obligatorisch eingeführt. Das galt allerdings nur für die Sommermonate, da für die Hallenbäder das notwendige Eintrittsgeld nicht aufgebracht und daher nur
die Freibäder aufgesucht werden konnten.582 Ab 1938 rückte die „körperliche Ertüchtigung“
dann in den „Vordergrund aller pädagogischen Bemühungen“583. Teil des Sportunterrichts
waren ab dann auch „exerzierähnliche Übungen“584.
Der Unterricht an den Blindenschulen zwischen 1938 bis 1945 war darüber hinaus
geprägt von Einsparungen. Um die Kosten so gering wie möglich zu halten, wurde den
LeiterInnen der Blindenschulen vorgegeben, ihre Einrichtungen „einfach“585 zu halten. Die
Qualität des Unterrichts war dabei sekundär. Vor allem bei der Anschaffung von Unterrichtsmaterialien sollte gespart werden. Da die Herstellung von Schulbüchern in Blindenschrift aufwändig war, musste vor einer Übertragung der „Nationalsozialistische Lehrerbund e. V.“ (NSLB) Fachschaft V586, die Zustimmung dazu geben.587
Die NS-Behörden rechneten allerdings auch ohne solche Einsparungsmaßnahmen mit
einer Verringerung der Ausgaben, da sie einen Rückgang der Anzahl von blinden SchülerInnen erwarteten.588 Durch den Geburtenrückgang sowie sanitäre und gesundheitspolitische
Maßnahmen zur Reduzierung der als vermeidbar geltenden Erblindungsursachen, wie zum
Beispiel die „Bekämpfung“ der Geschlechtskrankheiten,589 nahm die NS-Verwaltung an,
die Ursachen von Erblindungen würden sich reduzieren. Die Anzahl der Kinder mit erblich
bedingten Erblindungen sollte sich zudem durch das GzVeN verringern.590 Nach diesen
Erwartungen wären die Klassen an den Blinden- und Gehörlosenschulen zukünftig nur
mehr gering besetzt gewesen. In der Folge war daher die Zusammenlegung von Einrichtungen beabsichtigt. Die Ausarbeitung eines konkreten Plans wurde vom „Reichsminister
des Inneren“ allerdings auf die Zeit nach dem Krieg verschoben.591
Die Durchführung des Unterrichts wurde durch die Mobilmachung im Zuge des
Zweiten Weltkrieges beeinträchtigt. Die Blindenlehrer wurden zum Dienst in der Wehrmacht eingezogen und leisteten diesen zum Teil in den Sammellazaretten für Kriegsblinde, die im ganzen „Deutschen Reich“ eingerichtet wurden. Auf Bestrebungen des
581 Benesch, Wege und Irrwege, S. 11–43, hier S. 38.
582 Vgl. Auguste Janda, Die körperliche Erziehung in der Blindenanstalt, in: Zeitschrift für das österreichische Blindenwesen Nr. 5/6, Jg. 17 (1930), S. 41ff, zitiert in: Benesch, Wege und Irrwege, S. 11–43, hier S. 37.
583 Benesch, Wege und Irrwege, S. 11–43, hier S. 38.
584 Benesch, Wege und Irrwege, S. 11–43, hier S. 38.
585 O. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 29.
586 Auf diese Organisation wird im folgenden Kapitel eingegangen.
587 Vgl. o. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 25.
588 Vgl. Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 2.
589 Vgl. Kapitel II.1.2.1 und II.1.2.3.
590 Vgl. BAB, DGT, R 36/1814, Reorganisation der Taubstummen- und Blindenanstalten, Nr. 3586, Abschrift
RM d. I. an DGT vom 21.6.1937, Betreff: Einrichtung der Taubstummen und Blindenanstalten.
591 Vgl. o. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 12.
101
Oberpräsidenten des Provinzialverbandes Sachsen 1943 sollten diejenigen der Jahrgänge
1900 und jüngere allerdings an die Front versetzt werden.592 Als Ersatz sollten vermehrt
diejenigen LehrerInnen herangezogen werden, die für den Wehrdienst nicht geeigneten
waren, wozu ältere Personen oder selbst blinde PädagogInnen zählten. Dementsprechend
dürften im Laufe des Krieges noch mehr LehrerInnen der Blindenschule mit der zusätzlichen Aufgabe der Rehabilitation der Kriegsblinden betraut worden sein. Es ist bekannt,
dass ein Lehrer der Blindenschule in Wien, Karl Trapny, im Reservelazarett für Kriegsblinde in Wien-Neuwaldegg arbeitete. Er nahm allerdings eine Sonderrolle ein, wie der
Aufstellung im BAB entnommen werden kann: Als einziger der dort aufgelisteten Lehrer
stand bei ihm der Vermerk: „uk“ [unabkömmlich] „gestellt“, und dass er in ziviler Kleidung arbeitete.593 Die personellen Kapazitäten für Zivilblinde wurden weiter dadurch
eingeschränkt, dass die Kriegsblinden an den Schulen in Graz und Wien an den dortigen
Berufsausbildungskursen teilnahmen. Der Unterricht für die zivilblinden Kinder und
Jugendlichen dürfte unter diesen Voraussetzungen im Laufe des Zweiten Weltkrieges
immer mehr eingeschränkt worden sein.
4.3 Die Blindenschule und ihr Beitrag zur NS-Eugenik und Rassenhygiene
Zu den Lernzielen der Blindenschule594 unter dem NS-Regime gehörte ebenfalls die Erziehung zur „Opferbereitschaft“595 im Sinne des GzVeN:596 „Opferbereitschaft meinte in diesem
Zusammenhang die Bereitschaft, sich zum Wohl von Staat und Gesellschaft unfruchtbar
machen zu lassen.“597 Dies sollte durch den Unterricht von „Vererbungslehre“, „Familienkunde“, „Rassenkunde“ und „Rassenpflege“ erreicht werden. An den Blindenschulen setzten
die LehrerInnen dafür Unterrichtsmaterialien ein, welche den blinden SchülerInnen die
NS-Rassenlehre598 anschaulich vermitteln konnten: Tastbare Kopfmodelle in natürlicher
Größe, Halbreliefs und tastbare Zeichnungen galten beispielsweise als geeignete Mittel für
diese Zwecke.599
592 Vgl. BAB, DGT, R 36/1803, Bildungswesen für Blinde, GZ II 1.1.6.3, Oberpräsident Provinzialverband
Merseburg an den DGT (Nr. 1156/43) vom 30.10.1943, Betreff: Schulung Kriegsblinder dieses Krieges
durch ältere Jahrgänge der Blindenlehrer.
593 Vgl. BAB, DGT, R 36/1803, Bildungswesen für Blinde, GZ II 1.1.6.3, Oberpräsident Provinzialverband
Merseburg an den DGT (Nr. 1156/43) vom 30.10.1943, Betreff: Schulung Kriegsblinder dieses Krieges
durch ältere Jahrgänge der Blindenlehrer; Kapitel III.4.2.1.
594 Auf den Aspekt „Rassenhygiene und Erziehung“ kann hier nur in Bezug auf die Blindenschulen eingegangen werden. Wie sich die rassenhygienischen Theorien auf die Erziehungswissenschaft auswirkten, wurde
u. a. in folgender Studie untersucht: Harten, Neirich, Schwerendt, Rassenhygiene als Erziehungsideologie.
595 Lorenschat, Sterilisation Behinderter, S. 104.
596 Vgl. o. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 75.
597 Lorenschat, Sterilisation Behinderter, S. 104.
598 Weiterführende Literatur zur praktischen Durchführung der nationalsozialistischen Rassentheorie an
den Blindenschulen: P. Friedrichkeit, Die Blindenschule im Dritten Reich, Wiss. Hausarbeit [Manuskript], Rodenberg 1974, S. 59ff, zitiert in: Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 36.
599 Vgl. Benke, Zur Ausstellung, S. 123–126, hier S. 125; Hildebrand, Rassenkunde in der Blindenschule,
S. 942–947.
102
Abb. 04, 05 und 06: Tastbare „Rassenköpfe“ für den Unterricht an Blindenschulen.
Abb. 04: „Dinarischer Kopf.“ / Abb. 05: „Kopf eines Negers.“ / Abb. 06: „Nordischer Kopf.“
Eine wichtige Rolle spielten dabei die BlindenlehrerInnen.600 Der Beitrag der Blindenschulen
zum GzVeN ging aber über rein erzieherische Maßnahmen weit hinaus. Sie waren auch an
der „erbbiologischen Bestandsaufnahme“ der Bevölkerung beteiligt.601 Die SchülerInnen
der Hilfs- und Sonderschulen der „Ostmark“ sollten erfasst werden, um sie gegebenenfalls
späteren eugenischen Zwangsmaßnahmen zuführen zu können.602
Mit den „Richtlinien für die Durchführung der Erbbestandsaufnahme“ vom
23. März 1938 erfolgte der letzte Schritt zu einer im ganzen Reich einheitlichen Karteiführung. Die Abteilung „Erb- und Rassenpflege“ des Wiener Hauptgesundheitsamtes
nahm im Februar 1939 die Arbeit dafür auf. Allein in Wien konnten mehr als 700.000
Karteikarten mit erbbiologischen Informationen zusammengetragen werden. Damit
verfügte das Wiener Gesundheitsamt über eine der größten Erbkarteien des „Dritten Reiches“.603 Die Informationen für dieses Register stammten unter anderen von
den Blindenanstalten.604 Dementsprechend hat ebenfalls die „städtische Blindenschule
mit Heim“ in Wien, 605 wie das „Blindenerziehungsinstitut“ in Wien 1939–1945 hieß,
erbbiologische Informationen über ihre SchülerInnen an das Wiener Gesundheitsamt
weitergeleitet. In dem Aufsatz von Friedrich Benesch wird dies als „erste organisatorische Maßnahme auf diesem Sektor“ 606 bezeichnet. Benesch gab allerdings an, basierend
auf einer angeblich persönlichen Mitteilung des Direktors der Blindenschule in Wien,
Anton Kaiser (1935–1945), an ihn, es sei aber zu „realen Schritten“ – gemeint sind damit
wohl die Zwangssterilisierungen – auf Grund des Ausbruches des Zweiten Weltkrieges
nicht gekommen.607
Ob tatsächlich keine SchülerInnen der Blindenschule Wien zwangssterilisiert wurden,
kann nicht gesagt werden. Unter den 14 wegen der GzVeN-Diagnose „erbliche Blindheit“608
600
601
602
603
604
605
606
607
608
Vgl. Lange, Blindenschulen, S. 38–43, insbesondere S. 41.
Vgl. Czech, Inventur, S. 284–311, hier S. 284.
Vgl. Fricke-Finkelnburg, Nationalsozialismus und Schule, S. 134; Kapitel II.8.2.4.
Vgl. Czech, Inventur, S. 284–311, hier S. 284–291.
Vgl. Spring, NS-Zwangssterilisation in der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof, S. 42–76, hier S. 49.
Vgl. Kapitel II.4.5.1.
Benesch, Wege und Irrwege, S. 11–43, hier S. 38.
Vgl. Benesch, Wege und Irrwege, S. 11–43, hier S. 38.
Zu dem Begriff GzVeN-Diagnose „erbliche Blindheit“ vgl. Kapitel II.8.2.2.
103
geführten Verfahren am Erbgesundheitsgericht Wien befinden sich jedenfalls keine Fälle
von SchülerInnen dieser Wiener Einrichtung.609
Die Blindenschulen hatten in der NS-Zeit wie die anderen Hilfs- und Sonderschulen
eine besondere Bedeutung. Sie entschieden, welche Kinder als „brauchbar“ oder „unbrauchbar“, „bildungsfähig“ oder „bildungsunfähig“, „erbgesund“, „erbminderwertig“ oder „erbkrank“ zu gelten hatten.610 Von deutschen Schulen ist eine linientreue Umsetzung dieser
nationalsozialistischen Aufgaben bekannt. Dementsprechend viele SchülerInnen dieser
Einrichtungen wurden zwangssterilisiert.611 Die Frage, wie die Blindenschulen in Österreich in der NS-Zeit den rassenhygienischen Aufgaben nachgekommen sind, könnte unter
Umständen eine Untersuchung der Schulakten aus dieser Zeit genauer beantworten. Nach
Angaben der heute noch existenten Nachfolgeeinrichtungen der Blindenschulen der NSZeit, dem BBI in Wien, dem „Odilieninstitut“ in Graz und dem „Sonderpädagogischen
Zentrum für blinde und sehbehinderte Kinder“ in Innsbruck, sind diese aber nicht mehr
vorhanden. In Graz und Innsbruck seien sie kriegsbedingt zerstört worden. Die Direktorin des BBI in Wien, Susanne Alteneder, berichtete mir bei einem persönlichen Gespräch
am 21. November 2007, die betreffenden Unterlagen im Sommer desselben Jahres ausgeschieden zu haben. Eine wissenschaftliche Untersuchung dieser Akten war vorher nicht
durchgeführt worden. 612
4.4 Die BlindenlehrerInnenschaft
„Die [LehrerInnen] sind doch in gewisser Weise ein
Wagnis eingegangen, indem sie trotzdem soviel Einsatzbereitschaft zeigten. Wir waren damals für das
‚Dritte Reich‘ […] lebensunwertes Leben.“613
Laut verschiedener Berichte von ZeitzeugInnen, die in dem bereits zitierten Buch von Wolfgang Drave und in den Texten von Oliver Häuser und Stefanie Krug über die Geschichte der
„Nikolauspflege“, einer Einrichtung für blinde Menschen in Stuttgart, abgedruckt wurden,
hatten einige BlindenlehrerInnen ein gewisses Naheverhältnis zur NS-Ideologie.614 Demnach
sei ein großer Teil Mitglied in NS-Organisationen gewesen. Demnach gingen die Motive
609 Vgl. Kapitel II.8.2.4. Über die anderen Blindenschulen in der „Ostmark“ kann dazu keine Angabe gemacht werden. Zur Beantwortung dieser Fragen wäre eine umfassendere Quellenrecherche notwendig,
die für diese Überblicksarbeit nicht betrieben werden konnte. Vgl. die Angaben in den Fußnoten von
Kapitel II.4.2.
610 Vgl. Keim, Erziehung, S. 114.
611 Vgl. u. a. Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 127 und S. 149–158; Häuser, Krug, 150 Jahre
Nikolauspflege, S. 41; Malmanesh, Blinde, S. 199–207.
612 Für eine weitergehende Untersuchung des Themas „Blindenschulen“ in der NS-Zeit sollte nach Akten der
inzwischen aufgelösten Landesblindenschule Kärntens in Klagenfurt und der Einrichtung in Linz gesucht
werden. Über deren Existenz oder den Verbleib dieser Akten ist nichts bekannt.
613 Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 139. [Diese Aussage tätigte die blinde Frau S. in einem
Interview von Wolfgang Drave. S. besuchte zwischen 1940 und 1943 die Blindenschule in Ilvesheim (D)
und zeigte Verständnis dafür, dass viele BlindenlehrerInnen Parteimitglieder waren.]
614 Vgl. Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 138–141; Häuser, Krug, 150 Jahre Nikolauspflege,
S. 39–40.
104
für einen Beitritt allerdings auseinander: Sie reichten von Opportunismus, um weiterhin
als LehrerIn tätig sein zu können, bis hin zu innerer Überzeugung.615
Über die Haltung der österreichischen LehrerInnen an den Blindenschulen zum Nationalsozialismus ist wenig bekannt, aber es scheint auch unter ihnen AnhängerInnen des
Nationalsozialismus gegeben zu haben. In einem Bericht über das „Odilieninstitut“ in
Graz schrieb Max Liebmann über deren Direktor Ernst Kortschak in der Zeit von 1925 bis
1946: „Kortschak machte keinen Hehl daraus, daß er für das neue Regime starke Sympathien
empfand.“616 1946 verlor der katholische Geistliche auf Grund seiner Unterstützung der
NS-Bewegung in der „Verbotszeit“ von 1933 bis 1938 sowie seiner „nationalsozialistischen
Einstellung“617 seine Position in der Grazer Einrichtung.
Auch die Dienstzeit des Direktors der Wiener Blindenschule, Anton Kaiser (1935–1945),
endete nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges am 15. Juni 1945.618 Aus welchen Gründen
ist allerdings nicht bekannt.
Kortschak und Kaiser nahmen vom 12. bis 13. August 1940 an einer Tagung für die
LeiterInnen und LehrerInnen von Blindenschulen teil.619 Von den 62 TeilnehmerInnen aus
dem gesamten „Deutschen Reich“ stammten sechs aus der „Ostmark“.620 Überliefert ist
diese Veranstaltung durch ein vom Reichserziehungsministerium genehmigtes, zensiertes
Protokoll. Daher werden darin nur die bereits dargestellten NS-Leitbilder der Blindenschulen wiedergegeben, mögliche kritische Stimmen konnten auf diesem Weg nicht überliefert werden. Die Vertreter aus der „Ostmark“ beteiligten sich nicht mit Vorträgen an der
zweitägigen Sitzung. Nur bei den Schlussworten ergriff der Direktor der Wiener Blindenschule, Kaiser, das Wort. Er bedankte sich beim Leiter der Arbeitstagung, dem Vorstand
der Blindenschule in Halle, Eduard Berchtold621, für die Durchführung und Einladung zu
dieser Veranstaltung. „Der deutsche Blinde wird hier so geführt, wie es sein soll“,622 soll er
laut Protokoll gesagt haben.
Organisiert waren BlindenlehrerInnen im „NS-Lehrerbund e. V.“ (NSLB). Dieser war ein
der NSDAP angeschlossener Verband. Ihm sollten alle LehrerInnen angehören. Aufgabe des
NSLB war ihre politisch-weltanschauliche Ausrichtung im Sinne des Nationalsozialismus.
In der „Fachschaft V“ wurden die LehrerInnen der Sonderschulen zusammengefasst.623
Diese Reichsfachschaft verfügte mit der Zeitschrift „Die deutsche Sonderschule“ auch über
ein Publikationsorgan. Dies wurde für die Verbreitung der nationalsozialistischen Weltanschauung genauso genutzt wie für die Darstellung rassenhygienischer Aufgaben im Rahmen
615 Vgl. Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 138–141; Häuser, Krug, 150 Jahre Nikolauspflege,
S. 39–40.
616 Liebmann, Behindertenbetreuung in Graz, S. 77–106, hier S. 101.
617 Liebmann, Behindertenbetreuung in Graz, S. 77–106, hier S. 15; Kapitel II.4.5.2.
618 Vgl. o. A., Direktoren und Leiter des Institutes, in: Bundes-Blindenerziehungsinstitut, 200 Jahre, S. 115.
619 Vgl. o. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer.
620 Neben den beiden genannten Personen kam aus Graz auch „Subdirektor“ Fast. Der Blindenlehrer Anton
Berchtold und Schulrat Leuprecht vertraten die Einrichtung in Innsbruck, aus Klagenfurt war Direktor
Winterleitner angereist. Vgl. o. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 6. [Die Vornamen der betreffenden Personen konnten nicht eruiert werden. Unter Umständen könnten in den weiterführenden Quellenbeständen unter Kapitel II.4.2. weitergehende Informationen dazu recherchiert werden.]
621 Der Direktor trägt denselben Nachnamen wie der Blindenlehrer aus Innsbruck. Über verwandtschaftliche
Beziehungen der beiden ist allerdings nichts bekannt.
622 O. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 87.
623 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 252–254.
105
des GzVeN.624 Von 5.860 SonderschullehrerInnen, welche die „Fachschaft V“ zählte, waren
3.600 LeserInnen der „Deutschen Sonderschule“.625 Die ehemalige Fachzeitschrift der deutschen BlindenlehrerInnen „Der Blindenfreund“, die ab 1933 in Deutschland vom DBV
herausgegeben wurde, dürfte für die BlindenlehrerInnenschaft allerdings von größerer
Bedeutung gewesen sein.626
4.5 Blindenschulen in Österreich
28 Blindenanstalten gab es 1940 im „Großdeutschen Reich“. Insgesamt fünf Schulen627
für blinde Kinder und Jugendliche lagen in den „Alpen- und Donaureichsgauen.“ An den
23 Einrichtungen im „Altreich“ waren 151 BlindenlehrerInnen tätig. Davon waren 1940
bereits 34 Blindenlehrer zum Kriegsdienst eingezogen.628 Zahlen für die „Ostmark“ sind
nicht bekannt.
Beim „Anschluss“ 1938 war die Situation der österreichischen Blindenschulen vor allem
durch die finanziell schwierige Lage geprägt. Die hohe Inflation hatte nach dem Ersten
Weltkrieg die Vermögen der Trägervereine entwertet. Nach dem Schulbesuch konnten
die meisten blinden Jugendlichen, insbesondere die HandwerkerInnen unter ihnen, keine
Anstellung finden. Neben den Blindenselbsthilfe- und -fürsorgevereinen gründeten daher
auch die Blindenanstalten Werkstätten, um Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Trotzdem war es notwendig, dass die Blindenschulen auch Heime einrichteten, um Betroffene
aufnehmen zu können, die nicht bei ihren Familien wohnen konnten. Die Blindenschulen
mussten daher um Wohn- und Arbeitsheime erweitert werden.629
Blindenschulen wie die in Graz, Linz und Innsbruck hatten vor dem „Anschluss“
einen konfessionellen Hintergrund. Unter nationalsozialistischer Herrschaft wurde dieser
zurückgedrängt.630 Der geistliche Direktor Josef Gruber631 und die priesterliche Leitung
der Blindenanstalt632 in Linz wurden zum Beispiel abgesetzt. Diese Institution ging auf
624 Vgl. Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 20.
625 Vgl. Zwanger, Ausrichtung des Deutschen Sonderschulwesens, in: Die deutsche Sonderschule, 1939,
S. 138, zitiert nach: Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 22.
626 Vgl. Kapitel II.3.5.1.
627 Blindenschulen gab es in der „Ostmark“ in Wien, Linz, Graz, Klagenfurt und Innsbruck.
628 Vgl. o. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 12.
629 Vgl. o. A., 100 Jahre Blindenbildung in Tirol. [Der blinde Geschichtslehrer des SPZ Innsbruck, Klaus Guggenberger, verfasste diesen Aufsatz, wird auf der Homepage allerdings nicht als Autor genannt.]
630 Zur Entkonfessionalisierung des Schulwesens vgl. u. a.: Unterthiner, Das nationalsozialistische Schulwesen, S. 35–37; Cerwenka, Die Fahne, S. 38–42.
631 Der geistliche Direktor Josef Gruber soll in der NS-Zeit in einem Nebenlager des KZ Mauthausen ermordet worden sein. Diese Angaben wurden einem Aufsatz von Friedrich Benesch zur 200-Jahr-Feier des
BBI in Wien entnommen. Die ebenfalls in diesem Aufsatz gemachte Angabe Beneschs, wonach 1938 die
Landesblindenanstalt in Klagenfurt ihren Betrieb eingestellt hat, kann aber nicht bestätigt werden. Vgl.
Kapitel II.3.7. Es handelt sich daher bei diesem Aufsatz von Benesch um eine zweifelhafte Quelle. Vgl.
Benesch, 200 Jahre Blindenbildung, S. 11–23, hier S. 21.
632 Die Gründung dieser Einrichtung ging auf eine Initiative des Ursulinenklosters aus dem Jahre 1823 zurück, das damals damit begonnen hatte, vier blinde Kinder zu unterrichten. 1938 war das Institut in der
Volksgartenstraße 14 in Linz untergebracht. Vgl. o. A., Geschichte der Sehbildung in Oberösterreich;
Hartmann, Angliederung, S. 71–74, hier S. 71.; Strehl, Schulische, berufliche und nachgehende Fürsorge,
S. 76–77.
106
eine Gründung aus dem Jahr 1824 zurück und war auch für die SchülerInnen aus Salzburg
zuständig.633 Der neue Leiter stand dann im Angestelltenverhältnis des Landesfürsorgeverbandes „Oberdonau“.634 Die Einrichtung wurde zunächst als „Gaublindenanstalt“ mit
1. April 1939 in St. Florian neugegründet.635 Nach der reichsweiten Anordnung für die
Namensgebung wurde sie zur „Gau-Blindenschule mit Heim. 1939 besuchten 20 SchülerInnen diese Einrichtung. Dazu kamen noch zwölf blinde Menschen, die dort ein Handwerk
erlernten, eine Ausbildung zu KlavierstimmerInnen oder MusikerInnen absolvierten. 23
blinde Menschen waren in der Lehrwerkstätte beschäftigt, insgesamt 37 wohnten in dem
der Schule angeschlossenen Heim.636
Trotz der rigorosen Maßnahmen gegen den Einfluss der Konfessionen auf solche Einrichtungen konnten dagegen an den Blindenschulen in Graz und Innsbruck Teile des alten,
geistlichen Personals weiterarbeiten.637
Geschildert werden können hier nur die Rahmenbedingungen, unter denen blinde Kinder und Jugendliche zwischen 1938 und 1945 die Blindenschulen besuchten. Was sie dabei
– vor dem Hintergrund der Kriegsereignisse, die verbunden waren mit Evakuierungen,
Bombenangriffen, Not, Tod und Terror – empfunden haben, kann nur durch Interviews mit
ZeitzeugInnen herausgefunden werden. Für diese Arbeit wurde lediglich ein Oral-HistoryInterview mit der aus Südtirol stammenden Schülerin Emma Leichter geführt, die 1940 an
die Blindenschule in Innsbruck kam.638
4.5.1 „Blindenerziehungsinstitut“ in Wien
Das „Blindenerziehungsinstitut“ in Wien galt in der NS-Zeit als „älteste Blindenanstalt
des Reiches“639 und beging mit einer kleinen Feierlichkeit noch im Kriegsjahr 1944 ihr
140-jähriges Bestehen. Als Gründungsjahr wurde das Jahr 1804 angenommen, in dem
Johann Wilhelm Klein, erstmalig im deutschsprachigen Raum, einen blinden Jungen in
Wien unterrichtete.640 Ab 1898 war das Wiener Institut in dem Gebäude in der Wittelsbachstraße untergebracht.
633 Vgl. Scheib, Stand des Blindenschulwesens in Oberdonau, S. 438–439, hier S. 438.
634 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/20, E/I Zl. 4460/4-39, Abschrift, Landeshauptmannschaft
Oberdonau an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 20.7.1939, Betreff: Genehmigung zur Sammlung und Werbetätigkeit.
635 Vgl. ÖStA, AdR, BM f. soz. Verw., Volksgesundheit, Kt. 2411, Zl. 5186/3, Landeshauptmannschaft Oberdonau an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 14.6.1939, Betreff: Richtlinien
für die Durchführung der Fürsorge für Körperbehinderte in der Ostmark.
636 Vgl. Strehl, Schulische, berufliche und nachgehende Fürsorge, S. 76–77.
637 Vgl. Kapitel II.4.5.2 und II.4.5.3.
638 An dieser Stelle kann aber auf die Interviews von Wolfgang Drave mit 28 blinden Menschen aus Deutschland hingewiesen werden, aus denen auch Informationen über ihre Schulzeit hervorgehen. Außerdem ist
in dem Band über das Seminar „Blinde unterm Hakenkreuz“ in Berlin-Wannsee 1989 eine Erinnerung an
seine Schulzeit von Fritz Hartmann abgedruckt, der während des Zweiten Weltkrieges die Blindenschule
Ilzach im Elsass besucht hatte. Vgl. Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 61–125; Hartmann,
Schulzeit, S. 189–205.
639 O. A., Zur Chronik des Blindenwesens [1944], S. 163.
640 Vgl. Alexander Mell, Geschichte des k. k. Blindenerziehungsinstitutes, Wien 1904, S. 12ff, zitiert in: Benesch, Wege und Irrwege, S. 11–43, hier S. 21.
107
In der NS-Zeit wurde die Einrichtung zur „Wiener städtischen Blindenschule mit Heim“641
umbenannt. Über die Ereignisse an der Blindenschule, die von Direktor Anton Kaiser in dieser Zeit geleitet wurde, ist nicht viel bekannt.642 Zwischen 1938 und 1945 wurde gemäß den
NS-Richtlinien vor allem die Berufsausbildung blinder Menschen intensiviert. Ab 1939/40
fanden Lehrgänge zur Ausbildung von BetriebstelefonistInnen und StenotypistInnen643
statt. Regierungsrat Adolf Melhuber und der Blindenlehrer Karl Trapny644 übernahmen die
Schulung.645 An dieser Berufsausbildung nahmen auch Kriegsblinde teil.646
Trapny war darüber hinaus auch als Blindenoberlehrer im Reservelazarett für Kriegsblinde in Wien tätig.647
1941 kaufte die Wiener Blindenschule die angrenzende Liechtenstein-Villa. Dort sollten
das Blindenmuseum und die Blindenbücherei untergebracht werden.648 Dies ist bemerkenswert, da die Einrichtungen in der NS-Zeit eigentlich einfach gehalten und möglichst
kostensparend geführt werden sollten. Der Ankauf musste dazu aber kein Widerspruch sein.
Es ist durchaus möglich, dass Pläne vorlagen, die kleineren Blindenschulen in Klagenfurt
und Linz gänzlich zu schließen und die SchülerInnen nach Wien zu schicken. Dort mussten
die Kapazitäten dafür geschaffen werden, was einen Ausbau begründen würde.649
Im Zuge der Kampfhandlungen in Wien wurde die Blindenschule im April 1945 schwer
beschädigt. Der Unterricht konnte in der Wittelsbachstraße nicht mehr fortgesetzt werden.
Die Blindenschule bekam eine provisorische Unterkunft zugewiesen, die nach dem Ende
des Krieges in der US-amerikanischen Zone lag. Erst 1955 wurde mit dem Wiederaufbau
des Stammhauses begonnen.650 Bis heute ist das jetzige BBI dort untergebracht.
4.5.2 „Odilien-Blindenanstalt“ in Graz
Am 10. Mai 1881 wurde die „Odilien-Blindenanstalt“ Graz eröffnet. Gegründet wurde die
Einrichtung vom „Odilien-Verein“. Der Verein war katholisch geprägt. Die „Barmherzigen
Schwestern vom Hl. Vinzent Paul“ führten die Schule und deren Einrichtung, ein Geistlicher
fungierte als Direktor.651 Nach dem „Anschluss“ wurde der Stadtpfarrer Leopold Haas652, der
641 Diese Bezeichnung wurde u. a. auf dem Eingangsstempel der letzten im BBI noch vorhandenen Ausgabe
der RBV Zeitschrift „Die Blindenwelt“ vom November 1944 verwendet.
642 Vgl. zum Verbleib der SchülerInnenakten Kapitel II.4.3.
643 Vgl. Kapitel II.6.5.
644 Vgl. Kapitel II.6.5.
645 Vgl. Klebert, Prüfung blinder Stenotypisten, S. 270–271, hier S. 270; Benesch, 200 Jahre Blindenbildung,
S. 11–23, hier S. 21. [Zu den Personalakten und NS-Mitgliedschaften des Wiener Lehrpersonals vgl. die
Angaben für weiterführende Quellenbestände in den Fußnoten zu Kapitel II.4.2.]
646 Schon im Ersten Weltkrieg hatte die Wiener Blindenschule als „Kriegsblindenzentrale“ eine wichtige
Rolle bei der Unterbringung und Ausbildung erblindeter Soldaten gespielt. Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde,
S. 81–87.
647 Vgl. BAB, DGT, R 36/1803, Bildungswesen für Blinde, GZ II 1.1.6.3, Oberpräsident Provinzialverband
Merseburg an den DGT (Nr. 1156/43) vom 30.10.1943, Betreff: Schulung Kriegsblinder dieses Krieges
durch ältere Jahrgänge der Blindenlehrer. Kapitel III.4.2.
648 Vgl. o. A., Chronik des Blindenwesens [1941], S. 216–217.
649 Vgl. o. A., 100 Jahre Blindenbildung in Tirol.
650 Vgl. Benesch, 200 Jahre Blindenbildung, S. 11–23, hier S. 21–22.
651 Vgl. Benesch, Wege und Irrwege, S. 11–43, hier S. 34.
652 Obmann Haas nahm seine Tätigkeit nach der NS-Zeit wieder auf und behielt seine Funktion bis 1960.
108
1937 zum Obmann des Vereins gewählt worden war, von seinem Stellvertreter Franz Neuer
abgelöst.653 Den Blindenfürsorgeverein leitete ab 1938 der NSV.654 Die „Odilien-Blindenanstalt“ wurde umbenannt in „Blindenschule mit Heim“. Der Direktor, Abt Ernst Kortschak,
der diese Funktion seit 1925 inne hatte, konnte trotz seines konfessionellen Hintergrundes
diese Funktion auch nach 1938 weiter ausüben. Ein Grund dafür könnte gewesen sein, dass
dieser schon in der „Verbotszeit“ als Anhänger der NS-Bewegung gegolten hatte.655
In der Zeit zwischen 1938 und 1939 stieg die Belegschaft wahrscheinlich auf Grund der
Einführung der Sonderschulpflicht für behinderte Kinder von 77 auf 87, dafür stand aber
weniger Raum zur Verfügung. Zwei Zimmer nutzte ein NSV-Kindergarten. Drei Räume
mussten dem Luftschutzrevier II und rund 30 Schlafplätze für Hebammenschülerinnen
zur Verfügung gestellt werden.656
Wie alle anderen Bildungseinrichtungen wurde auch die Grazer Institution nach na­tio­
nal­so­zia­lis­ti­schen Vorgaben geführt. Die blinden SchülerInnen hoben zur Begrüßung die
rechte Hand zum „deutschen Gruß“. Mit der Person des „Führers“ sollten sie durch eine
Büste Adolf Hitlers vertraut werden, die ihnen das Abtasten seiner Gesichtszüge ermöglichte.657
Blinde Menschen jüdischer Herkunft konnten die Schule und das angeschlossene Heim
nicht länger besuchen. Auch die seit 1915 in dem Institut lebende taubblinde Irene Ransburg,
eine katholisch getaufte Frau jüdischer Eltern aus St. Ruprecht a. d. Raab, ereilte dieses
Schicksal. In einem undatierten Bericht von Direktor Kortschak, den dieser in 1950er Jahren verfasst haben soll und aus dem Maximilian Liebmann in seinem 1982 veröffentlichten
Aufsatz zum 100jährigen Bestehen des Odilien-Blindenvereins zitiert,658 berichtet dieser von
Irene Ransburg. Er soll sich demnach angeblich darum bemüht haben, sie vor der Gestapo
zu verstecken.659 Auf Grund unbekannter Umstände wurde sie aber entdeckt und zu einem
unbekannten Zeitpunkt nach „Theresienstadt“ deportiert.660 Der Opferdatenbank des DÖW
ist darüber hinaus zu entnehmen, dass sie von dort am 23.10.1944 nach Auschwitz überstellt
worden war.661 Ein Todesdatum ist nicht bekannt.
Wie in Wien wurden auch an der Grazer Schule Kriegsblinde ausgebildet. Die meisten
erblindeten Soldaten sollten zwar eine „blindentechnische Grundausbildung“, die unter
anderem Lesen und Schreiben der Blindenschrift umfasste, in einem dafür vorgesehenen
Reservelazarett erhalten, aber dabei kam es auch zu Ausnahmen. Der erblindete Soldat
Ernst B. hatte zum Beispiel nach seiner Erblindung keine Ausbildung erhalten, weil seine
Verletzung zunächst nicht als „Wehrdienstbeschädigung“ anerkannt worden war. Das
653
654
655
656
657
658
Vgl. Bericht 1938 und 1939, zitiert in: Liebmann, Behindertenbetreuung in Graz, S. 77–106, hier S. 90.
Vgl. Kapitel II.3.3.1.
Vgl. Liebmann, Behindertenbetreuung, S. 77–106, hier S. 101, S. 103; vgl. weiterführend Kapitel II.4.4.
Vgl. Liebmann, Behindertenbetreuung, S. 77–106, hier S. 101, 103.
Vgl. Liebmann, Behindertenbetreuung, S. 77–106, hier S. 102.
Vgl. Ernst Kortschak, Erziehung und Unterricht der Taubblinden, o. O. o. Z, zitiert in: Liebmann, Behindertenbetreuung, S. 77–106, hier S. 102.
659 Vgl. Ernst Kortschak, Erziehung und Unterricht der Taubblinden, o. O. o. Z, zitiert in: Liebmann, Behindertenbetreuung, S. 77–106, hier S. 102.
660 Vgl. Liebmann, Behindertenbetreuung, S. 77–106, hier S. 102. Eine große Anzahl blinder Menschen jüdischer Herkunft kam nach Theresienstadt. Vgl. Kapitel IV.6.4.
661 Vgl. DÖW, Opferdatenbanken, Shoa-Opfer, <http://de.doew.braintrust.at/db_shoah_91024.html>,
Download am 06.09.2009.
109
Versorgungsamt Graz übernahm dann nach der Entlassung Buchsbaums aus der Wehrmacht die monatlichen Kosten von 15 RM für die Ausbildung und die Anschaffung von
notwendigen Hilfsmitteln für den Besuch der Blindenschule in Graz. Dort erlernten Späterblindete im Einzelunterricht das Lesen und Schreiben der Brailleschrift, um anschließend
eine Berufsausbildung absolvieren zu können.662
Das Kriegsende erlebten die blinden SchülerInnen und HeimbewohnerInnen der Grazer
Einrichtung auf dem Land. Nachdem eine Bombe den Garten getroffen und das Gebäude
entsprechend beschädigt hatte, wurde die Schule nach St. Paul im Lavanttal evakuiert.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das „Odilien-Institut“ wieder aufgebaut und noch heute ist diese Einrichtung in der Leonhardstraße in Graz untergebracht.
Direktor Kortschak wurde auf Grund seiner öffentlichen Unterstützungserklärungen für
das NS-Regime 1946 aus seinem Dienst entlassen.663
4.5.3 Blindenschule in Innsbruck
Die Blindenschule in Innsbruck wurde am 1. Dezember 1907 in den Räumlichkeiten des so
genannten „Leopardi-“ oder „Eggerschlößls“ in Innsbruck-Pradl eröffnet.664 Schü­lerIn­nen
aus Tirol und Vorarlberg sollten dort aufgenommen werden, doch war geplant, ein eigenes
Gebäude zu bauen. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges führte die einsetzende Inflation
allerdings zu einer Verarmung des Trägervereins. Außerdem fanden die für handwerkliche
Berufe ausgebildeten Blinden keine Anstellung und blieben auch nach dem Abschluss ihrer
Schulzeit in dem der Schule angeschlossenen Internat. Zusätzlich zur Blindenschule wurde
so allmählich auch ein Blindenheim geschaffen.665 In der Zwischenkriegszeit erfolgte die
Betreuung der blinden SchülerInnen durch geistliche Schwestern unter der Leitung von
Oberin Melitta. Am 1. Oktober 1936 wurde auf einem Grundstück des „Blindenfürsorgevereins für Tirol und Vorarlberg“ in der Ing.-Etzel-Straße ein neues Haus für den Schul- und
Heimbetrieb eröffnet.666 Zur Erweiterung der Schul- und Berufsausbildung waren noch in
der alten Unterkunft eine Korbflechterei, eine kleine Weberei und eine Maschinenstrickerei
eingerichtet worden. Der Garten des Gebäudes verfügte über eine kleine Landwirtschaft,
die vor allem in der folgenden Kriegszeit nützlich war.
1938 stellte der NSV die Schule und das Heim unter seine Verwaltung. Die Tatsache,
dass das Haus geistliche Schwestern leiteten, führte zu häufigen Inspektionen.667 Trotzdem
kamen die zuständigen NSV-Funktionäre zu dem Ergebnis, dass das Haus „ordentlich“
geführt wurde und die Schwestern konnten ihre Tätigkeit fortsetzen.668 In der Freizeit
betreut wurden die SchülerInnen von Schwester Waltraud. Unterrichtet wurden die jüngeren, die erste bis vierte Klasse war gemeinsam in einem Schulzimmer untergebracht, vor
662 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, Hauptversorgungsamt, Ostmark-Kriegsblinde 1938–45, Kt.
1, A-H, Akten betreffend Soziale Fürsorge Erich Buchsbaum.
663 Vgl. Liebmann, Behindertenbetreuung, S. 77–106, hier S. 103.
664 Vgl. o. A., Allgemeines von Blindenfürsorge und ihre Anfänge in Tirol, S. 11.
665 Vgl. Berchtold, Rückblick, S. 1–14, hier S. 4.
666 Vgl. o. A., 100 Jahre Blindenbildung in Tirol.
667 Auch Emma Leichter kann sich an diese regelmäßigen Besuche erinnern. Interview mit Emma Leichter in
ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 6.
668 Vgl. o. A., 100 Jahre Blindenbildung in Tirol.
110
allem von Schwester Remberta. Das Erlernen der Blindenschrift und den Unterricht für
die fünfte bis achte Klasse, die sich ebenfalls ein Zimmer teilten, übernahm hauptsächlich
der selbst blinde Direktor der Einrichtung, Anton Berchtold.669
Der Bestand der Einrichtung war in der NS-Zeit trotzdem nicht gesichert, denn es lagen
Pläne der NSV vor, die Schule der Einrichtung in München anzuschließen. Dazu kam es aber
nicht mehr, denn durch die ersten Luftangriffe auf Innsbruck im Dezember 1943 veränderte
sich die Lage grundlegend. Da die Schule direkt neben der Westbahnstrecke lag, war die
Gefahr von Bombentreffern sehr hoch und die Einrichtung wurde Anfang 1944 deswegen
geschlossen. Die blinden SchülerInnen kamen nach Ursberg in Bayern, dem Ausweichquartier der Blindenschule München. Anton Berchtold wurde nach Nürnberg versetzt, um
dort in einem Reservelazarett erblindete Soldaten zu unterrichten.670 Bereits in den Jahren
zuvor hatte er Aufgaben in der Kriegsblindenversorgung übernommen. Berchtold nahm
beispielsweise als Blindenfachlehrer neben Vertretern der Wehrmacht und des NSKOV
an einer „Berufsberatung“ für den Kriegsblinden Fridolin L.671 im September 1941 teil.672
Derweil verblieben die erwachsenen HeimbewohnerInnen in der Einrichtung in Innsbruck. Da das Gebäude über keinen Luftschutzkeller verfügte, erlebten sie dort viele „angstvolle“ Stunden. Trotz der exponierten Lage in der Nähe der Bahngleise blieb die Einrichtung unversehrt.673 Im Herbst 1945 konnte der reguläre Schulbetrieb wieder aufgenommen
werden.
Dann kehrten auch die SchülerInnen aus Ursberg zurück. Dort war ein Kloster zu einer
Art „Behindertendorf“674 umfunktioniert worden, wie sich die 1930 in Sterzing geborene
Emma Leichter erinnert. Neben Kindern mit anderen Beeinträchtigungen, die allerdings
von den blinden SchülerInnen getrennt waren, befand sich dort auch noch ein Lazarett für
Kriegsversehrte. Leichter erfuhr dort auch durch Erzählungen der älteren MitschülerInnen,
wie sie sagt, erstmals von den Zwangssterilisierungen von blinden Mädchen und Jungen.675
In Ursberg wurden der Unterricht und die Berufsausbildung der blinden SchülerInnen den
kriegsbedingten Umständen entsprechend fortgesetzt. In den Handarbeitsstunden wurden
die blinden Mädchen allerdings dazu herangezogen, Tarnnetze aus Papierspagat herzustellen. Für Leichter war dies eine „fürchterliche Arbeit“, vor allem deshalb, weil sie von dieser
Tätigkeit sehr wunde Hände bekam.676 Das Lesen der Blindenschrift im Unterricht fiel den
SchülerInnen in der Folge sehr schwer. Gegen Ende lernte Leichter in Ursberg aber sogar
etwas Englisch, da eine Lehrerin angesichts des absehbaren Kriegsendes dies als notwendig erachtete.677 Nach Ende des Krieges wurden die SchülerInnen aus Innsbruck dann von
Schwester Melitta abgeholt und kamen mit verschiedenen Zügen in einem eigentlich für den
669 Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 4.
670 Vgl. o. A., 100 Jahre Blindenbildung in Tirol. [Berchtold wurde nach dem Krieg Direktor der Blindenschule Innsbruck, die heute als „Sonderpädagogisches Zentrum für blinde und sehbehinderte Kinder“
weitergeführt wird.]
671 Vgl. Kapitel III.1.2.4.
672 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Fridolin L., Niederschrift über die Berufsberatung vom 16.9.1941.
673 Vgl. Berchtold, Rückblick, S. 1–14, hier S. 7.
674 Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 8.
675 Vgl. Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 8.
676 Vgl. Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 10.
677 Vgl. Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 11.
111
Transport von Tieren vorgesehenen Waggon zurück nach Innsbruck. „Ich glaub ich war mein
ganzes Leben nie so schmutzig“, erinnert sich Leichter.678 Nach den Aussagen von Leichter
gab es an der Innsbrucker Blindenschule und in Ursberg allerdings keinen „Reichsbann B“
der „Hitler-Jugend“, auf den das folgende Kapitel eingeht.679 Allerdings erinnert sie sich an
regelmäßige Treffen, an denen über Hitler und die „Hitler-Jugend“ geredet worden sei.680
Abb. 07: Herstellung
von Tarnnetzen
in Ursberg aus
Papierspagat.
678 Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 12.
679 Vgl. Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 8.
680 Vgl. Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 13.
112
5.Der „Reichsbann B“ in der „Hitler-Jugend“
„Ich werde darum nicht nachlassen, mit allen mir
zur Gebote stehenden Möglichkeiten den Blinden
in die schaffende Gemeinschaft des Volkes einzugliedern, sodaß […] mit einer fühlbaren Entlastung
des Volkes […] gerechnet werden muß.“681
5.1 Gründung
Außerhalb des Elternhauses und der Schule sollte in der NS-Zeit die Erziehung der Jugend
im nationalsozialistischen Sinn682 von der „Hitler-Jugend“683 (HJ) übernommen werden.684
Für die blinden SchülerInnen aller deutschen Blindenschulen wurde der „Bann B“ (Blinde)
gegründet.685 Dies zeigte das Bestreben des NS-Regimes, auch blinde Menschen in das
nationalsozialistische System einzuordnen.686
Schon kurz nach der Machtübertragung an Hitler in Deutschland, im Februar 1933, war
an der Blindenanstalt in Berlin-Steglitz eine Formation der „Hitler-Jugend“ für blinde SchülerInnen gegründet worden. Im Dezember 1933 erschien zum ersten Mal der „Weckruf“, der
sich im Untertitel „Mitteilungsblatt für die Hitler-Jugend aller deutschen Blindenanstalten“687
nannte. Das Blatt wurde in Punktschrift gedruckt und in Schwarzschrift übersetzt, um den
NS-Beamten, die keine Brailleschrift lesen konnten, eine Zensur zu ermöglichen.688 Die
Zeitschrift entwickelte sich zum offiziellen Publikationsorgan des „Bannes B“.
681 BAB, DGT, R 36/2017, GZ B/H Nr. 11/37, NSDAP Hitler-Jugend, Bann B (Blinde), Scharführer [Franz
Bögge] an den Landesfürsorgeverband der Rheinprovinz Düsseldorf vom 15.1.1937, Betreff: Bitte um finanzielle Unterstützung.
682 Weiterführende gedruckte Quellen zu den Zielen und dem Aufbau der Hitler-Jugend vgl. Schirach, HitlerJugend.
683 In der wissenschaftlichen Literatur sowie in zeitgenössischen Veröffentlichungen und Dokumenten gibt
es keine einheitliche Schreibweise des Begriffes „Hitler-Jugend“. Im Gesetz über die „Hitlerjugend“ vom
1. Dezember 1936 wird der Begriff ohne Bindestrich geschrieben. Dennoch benutzte die Reichsleitung
Briefköpfe, auf denen der Name mit Bindestrich erscheint. Dasselbe gilt für die am 25. März 1939 erlassenen Durchführungsverordnungen. Es kann also davon ausgegangen werden, dass es keine einheitlich
Regelung für die Schreibweise der Organisationsbezeichnung gab. Für diese Arbeit wird die Schreibart
des Bundesarchivs Berlin, mit Bindestrich, übernommen, sofern es sich nicht um direkte Zitate, Literaturhinweise oder die Abkürzung HJ handelt. Vgl. u. a.: BAB, Findbuch Bestand NS 28 Hitler-Jugend, S. 6;
Büttner, Bann G, S. 9.
684 Zur Geschichte der Hitler-Jugend vgl. die hier zitierte Literatur sowie: Klönne, Jugend im Dritten Reich;
Brandenburg, Geschichte der HJ; Kannonier-Finster, Eine Hitler-Jugend.
685 Vgl. Grasemann, Blindenschulen, S. 16–22, hier S. 20.
686 Häuser, Krug, 140 Jahre Nikolauspflege, S. 40.
687 In den für diese Arbeit besuchten Archiven ist keine Ausgabe des „Weckrufes“ erhalten. Ausgaben dieser Zeitschrift sind unter Umständen noch in der heutigen „Johann August Zeune Schule für Blinde“ in
Berlin-Steglitz vorhanden, die über ein Museum verfügen. In der NS-Zeit wurde der „Weckruf“ in dieser
Einrichtung hergestellt. Eine diesbezügliche Anfrage blieb aber unbeantwortet. Ernst Klee zitierte den
Rektor dieser Sonderschule (1995–2001), Uwe Benke, der die Geschichte der dortigen blinden „HitlerJugend“ aufgearbeitet haben soll. Ein entsprechender Aufsatz konnte aber nicht eruiert werden. Vgl. Klee,
Der blinde Fleck.
688 Vgl. Klee, Der blinde Fleck.
113
Am 15. März 1934 erließ der Reichsjugendführer die Anordnung, die blinden Jugendlichen an den Blindenschulen zu „erfassen“ und zu „organisieren“.689 Die Organisation in
der „Hitler-Jugend“ hieß zunächst „NSDAP, Hitler-Jugend, Bann B (Blinde)“.690 Der Blindenoberlehrer Franz Bögge wurde zum „Gefolgschaftsführer“ ernannt. Er war als leitender
Sachbearbeiter im Stab des Reichsjugendführers691 tätig.
Die vier Gliederungen der „Hitler-Jugend“, „Deutsches Jungvolk“ (DJ), BDM und
„Jungmädel“ (JM) sollten der „besonderen Bedingung ‚blind‘ entsprechend“692 in einem Bann
zusammengefasst werden. Durch diese Zentralisierung wurde der „Bann B“ zu einer eigenen Abteilung in der „Hitler-Jugend“ und hatte den Status eines „Sonderbannes“. Seine
Dienststelle war in Hannover-Kirchrode (D). In die Aktivitäten der übrigen „Hitler-Jugend“
sollten die blinden Kinder und Jugendlichen allerdings nur in Ausnahmefällen eingebunden
werden.693
Neben dem „Bann B“ genehmigte Baldur von Schirach 1934 auch die Gründung eines
„Bannes G“ (Gehörgeschädigte). Ein Jahr später erfolgte die Einbindung der „erbgesunden“
Jugendlichen mit einer körperlichen Behinderung als „Bann K“.694 Die Gründung der „Sonderbanne“ war umstritten. Sie stand im Widerspruch zur Propaganda der „Hitler-Jugend“,
die das Ziel, „kerngesunde Körper“695 heranzuzüchten, vorgab. Vor allem der Umgang von
Kindern und Jugendlichen, deren Behinderung als erblich bedingt angesehen wurde, sorgte
für Diskussionen.696 Erst nach internen Unterredungen entschied die Reichsjugendführung
1937 daher endgültig über die Zukunft der „Sonderbanne“: Der „Bann K“ wurde aufgelöst.697
Der „Bann G“ sollte im vollen Umfang bestehen bleiben und auch der „Bann B“ existierte
weiter. Allerdings mit geringen Einschränkungen, die aber nicht weiter bekannt sind.698
Die „Sonderbanne“ für gehörgeschädigte und blinde Jugendliche wurden nach dem
„Anschluss“ auch in der „Ostmark“ eingeführt. Daher kam es zu einer Umbenennung.
Beide Gruppierungen hießen ab 1938 „Reichsbann“, da sich ihre Tätigkeit auf das gesamte
„Reichsgebiet“ erstrecken sollte.699
689 Vgl. Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 54.
690 Briefkopf des Bannes B in den Schreiben mit dem DGT überliefert in: BAB, DGT, R 36/2017, Finanzielle
Unterstützung für Bann B Blinde und G Gehörgeschädigte der Hitler-Jugend; Schröder, Sehgeschädigte
Menschen, S. 55.
691 Die Hitler-Jugend war vertikal in folgende Einheiten gegliedert: Reichsjugendführung, Gebiet, Bann,
Stamm, Gefolgschaft, Schar, Kameradschaft.
692 F[ranz] Bögge, Der Reichsbann Blinde (B), seine Aufgaben und Ziele unter Berücksichtigung der Zusammenarbeit der Blindenanstalten, in: Die deutsche Sonderschule, 6. Jg. (1939), S. 643–655, hier S. 644, zitiert
in: Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 55.
693 Vgl. Sauer, Situation blinder Jugendlicher, S. 35.
694 Vgl. o. A., Körperbehinderte Jugendliche in der HJ, S. 160.
695 Hitler, Mein Kampf, S. 400.
696 Vgl. Kapitel II.5.4.
697 Über die Hintergründe dieser Entscheidung ist nichts bekannt. Petra Fuchs nimmt an, dass die Auflösung in Zusammenhang mit den Kriegsvorbereitungen stand. Sie hatte allerdings keine Kenntnis über
den Fortbestand der Banne für blinde und gehörgeschädigte Menschen. Deshalb erscheint ihre Begründung als nicht plausibel. Vorstellbar ist, dass körperbehinderte Kinder und Jugendliche in der HJ nicht
erwünscht waren, weil man ihnen ihre Beeinträchtigung auf den ersten Blick ansah. Vgl. Fuchs, „Körperbehinderte“, S. 221.
698 Vgl. Eisermann, Festlegung der endgültigen Arbeit, S. 230.
699 Vgl. o. A., Aus dem Reichsbann G der Hitler-Jugend, S. 656.
114
Trotzdem war ihre Existenz in der Öffentlichkeit nach wie vor weitgehend unbekannt.700
Im Organisationshandbuch der NSDAP aus dem Jahre 1943, das über alle Unterorganisationen der Partei, deren Aufgaben, Führungsstruktur, Uniformen etc. akribisch Auskunft gab,
wurden bei der Beschreibung der „Hitler-Jugend“ die beiden Sonderbanne nicht erwähnt.701
Nur bei den Uniform-Abzeichen befinden sich neben den Abbildungen der vielen anderen
Formationen der „Hitler-Jugend“ auch die der „Reichsbanne“ für blinde und gehörgeschädigte Jugendliche.
Abb. 08: Abzeichen der „Hitler-Jugend“ Reichsbann Blinde.
Da zum „Bann B“ der „Hitler-Jugend“ nur mehr sehr wenig Quellen überliefert sind, bleiben
viele Fragen über diese Organisation unbeantwortet.702
5.2 Aufbau der „Hitler-Jugend“ in der „Ostmark“
Der Aufbau und die organisatorische Angleichung der „österreichischen“ „Hitler-Jugend“,
welche in der Zeit des „autoritären Ständestaates“ illegal bestanden hatte, gestalteten sich
nach dem „Anschluss“ schwierig.703 Die Befehlsstelle Südost unter der Leitung des Deutschen
Wilhelm Busch sollte diese Aufgabe durchführen. Diese Stelle wurde am 10. Jänner 1939
700 In der wissenschaftlichen Hausarbeit von Torsten Schröder findet sich ein Hinweis über einen Zeitungsartikel in der Frankfurter Zeitung über den „Bann B“ in der Hitler-Jugend. Dieser konnte allerdings nicht
bei der Universitätsbibliothek Frankfurt bestellt werden. Vgl. H. N., Blinde Hitlerjugend, in: Frankfurter
Zeitung (Reichsausgabe), 22.12.1935, S. 652–653, zitiert in: Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 50.
701 Vgl. Reichsorganisationsleiter der NSDAP, Organisationsbuch, S. 437–447.
702 Das Schriftgut der Reichsjugendführung ist während des Kriegs fast vollständig vernichtet worden. In
den Restbeständen im Berliner Bundesarchiv befindet sich kein Material über den Bann B. Einzig in den
Akten des DGT konnten einige Informationen gefunden werden.
703 Weiterführende Literatur dazu vgl. Gehmacher, Biografie, S. 467–493; Vgl. Ralser, Biographische Re­kon­
struk­t ion; Hering, Kurt, BDM-Werk.
115
wieder aufgelöst. Die neu errichteten BDM Obergaue und HJ-Gebiete sollten unmittelbar
der Reichsjugendführung in Berlin unterstellt werden.704 Zu diesem Zeitpunkt war aber die
gesetzliche Voraussetzung, das Gesetz über die „Hitlerjugend“ 705 vom 1. Dezember 1936,
in der „Ostmark“ noch nicht eingeführt worden. Dieses war 1936 in Deutschland ohne
notwendige Durchführungsverordnungen in Kraft getreten. Weder die konkrete Form des
HJ-Dienstes noch der Personenkreis, der ihn zu leisten hatte, waren festgelegt worden.706
Dies wurde schließlich 1939 nachgeholt. Das führte dazu, dass die beiden Durchführungsverordnungen zum „Gesetz über die Hitlerjugend“ 707 in der „Ostmark“ eingeführt wurden,
bevor das ursprüngliche Gesetz auch auf diesen Teil des „Deutschen Reiches“ ausgedehnt
wurde. Die ambivalente Verwendung des Begriffes „deutsch“ im Nationalsozialismus verzögerte die Einführung. Offen war die Frage, wer in der „Ostmark“ zu der im Gesetz angesprochenen „gesamten deutschen Jugend“ zählen sollte. Ob Angehörige beispielsweise der
slowenischen, kroatischen und ungarischen Volksgruppen in Kärnten sowie in der Steiermark oder in „Niederdonau“ als „deutsche Jugend“ zu erfassen waren, darüber bestand
Uneinigkeit zwischen Reichsjugendführung, Reichskanzlei und dem „Ministerium des
Inneren“.708 Das erklärt, warum erst am 18. Juni 1941 eine Verordnung über die Einführung
der Gesetzgebung für die „Hitler-Jugend“ in den Reichsgauen der „Ostmark“ erfolgte.709
Damit wurde vorerst geregelt, dass alle Jugendlichen aus nichtdeutschen Volksgruppen von
der Dienstpflicht in der „Hitler-Jugend“ zu „befreien“ seien.
Aber nicht nur die verzögerte Einführung der Gesetzgebung behinderte den Aufbau der
„Hitler-Jugend“ in der „Ostmark“, der eigentlich in kurzer Zeit hätte erfolgen sollen: Dafür
wäre eine große Anzahl ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nötig gewesen,
die aber aus den diversesten Gründen nicht aufgetrieben werden konnten.710
Bei dem Aufbau des „Reichsbannes B“711 in der „Ostmark“ dürfte es personelle Schwierigkeiten gegeben haben. Schon im „Altreich“ hatte die Suche nach geeigneten „Führern“ für
den „Bann B“ Schwierigkeiten bereitet. Diese mussten sowohl im Sinne der „Hitler-Jugend“
für die nationalsozialistische „Erziehungsarbeit“ geeignet sein als auch Kenntnisse im
Umgang mit blinden Jugendlichen haben. Als „Bannführer“ wurden daher häufig Leh­rerIn­
nen oder anderes Erziehungspersonal der Blindenschulen eingesetzt.712 Die Zusammenarbeit
zwischen der „Hitler-Jugend“ und der BlindenlehrerInnenschaft wurde dementsprechend
in der öffentlichen Darstellung als eng bezeichnet.713 Der Grundsatz „Jugend soll von Jugend
704 Vgl. Gehmacher, Biografie, S. 467–493, hier S. 480–481.
705 [D] RGBl., Teil 1, Gesetz über die Hitlerjugend vom 1. Dezember 1936, S. 993.
706 Vgl. Mejstrik, Erfindung der deutschen Jugend, S. 494–522, hier S. 496; Gehmacher, Biografie, S. 467–493,
hier S. 482.
707 GBlÖ, Nr. 485/1939, Erste Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Hitler-Jugend (Allgemeine
Bestimmungen) vom 25. März 1938; GBlÖ, Nr. 486/1939, Zweite Durchführungsverordnung zum Gesetz
über die Hitler-Jugend (Jugenddienstverordnung) vom 25. März 1939.
708 Vgl. Gehmacher, Biografie, S. 467–493, hier S. 483–484.
709 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Einführung der Gesetzgebung über die Hitler-Jugend in den
Reichsgauen der Ostmark und im Reichsgau Sudetenland vom 18. Juni 1941, S. 321.
710 Vgl. Gehmacher, Biografie, S. 467–493, hier S. 479.
711 Über den „Reichsbann G“ an den Gehörlosenschulen in der „Ostmark“ vgl. Runggatscher, Lebenssituation gehörloser Menschen.
712 Vgl. Sauer, Situation blinder Jugendlicher, S. 37.
713 Vgl. Eisermann, Festlegung, S. 230.
116
geführt werden“ 714 konnte demnach für die HJ-Formation der blinden Jugendlichen nicht
umgesetzt werden.
Der Quellenlage entsprechend ist wenig über die Organisation des „Reichsbann B“ an
Blindenschulen in der „Ostmark“ bekannt. Auch in der RBV Zeitschrift „Die Blindenwelt“
findet sich nur ein kurzer Hinweis aus dem Jahr 1943, dass 18 „Jungen und Mädel der Blindengefolgschaft“ der „Hitler-Jugend“ in Graz das „Spielzeugwerk“ unterstützt haben.715 Sie
fertigten 50 Spielsachen an, die in einem Geschäft in der Herrengasse ausgestellt wurden.
Die Ausführung von handwerklichen Tätigkeiten entsprach dem Ziel des „Reichsbannes
B“, die Jugendlichen für die spätere Berufsausübung „leistungsfähiger“ zu machen.716
5.3 Ziele
Die offiziellen Motive bei der Einrichtung dieses Sonderbannes sind durch die Sekundärliteratur, Zeitschriftenaufsätze und einem im AIDOS (Marburg an der Lahn) archivierten
„Bericht über die Führertagung des Bann B“ 717 vom Dezember 1937 dargelegt. Demnach
war eine Aufgabe dieser Sonderformation, das nationalsozialistische Gedankengut bei den
blinden Jugendlichen zu fördern.718 Auch auf die „körperliche Schulung“ wurde besonderer Wert gelegt. Als eine für die blinden Jugendlichen besonders geeignete Sportart galt
die Leichtathletik.719 Der Geländesport als „Wehrsport“ war dagegen von den sportlichen
Tätigkeiten der blinden Jugendlichen in der „Hitler-Jugend“ ausgenommen.720 Der übliche
Boxkampf sollte durch Ringen ersetzt werden. Als wichtig wurde die Durchführung von
Marschübungen angesehen, obwohl dies den blinden Jugendlichen besondere Schwierigkeiten bereitete. Zur Lösung der dabei entstehenden Probleme schlug Franz Bögge Folgendes
vor: „Die Schwierigkeiten des Abstandes lassen sich durch die geschickte Einreihung von
Blinden mit Sehresten [sic!] überwinden, wie es die bisherigen Beispiele gezeigt haben.“ 721
In der „Hitler-Jugend“ diente die körperliche „Ertüchtigung“ bei den Jungen eigentlich
dazu, deren Wehrbereitschaft bzw. Wehrfähigkeit zu steigern, bei den Mädchen die Gebärfähigkeit.722 Bei den blinden „Jungen und Mädeln“ sollte die sportliche Betätigung dazu
dienen, sie zu einem „harten Geschlecht“ 723 zu erziehen. Schnellere, geschicktere Bewegungen
714 Angeblich ein Zitat Hitlers, abgedruckt auf der Titelseite von Schirachs Buch über die Hitler-Jugend, der
sich auch in einem eigenen Kapitel mit dem „Prinzip der Selbstführung“ auseinandersetzt. Vgl. Schirach,
Hitler-Jugend, S. 57–65.
715 Vgl. o. A., Zur Chronik des Blindenwesens. Graz, in: Die Blindenwelt, Nr. 1, Jg. 31 (1943), S. 18.
716 Vgl. BAB, DGT, R 36/2017, GZ B/H Nr. 11/37, NSDAP Hitler-Jugend, Bann B (Blinde), Scharführer [Franz
Bögge] an den Landesfürsorgeverband der Rheinprovinz Düsseldorf vom 15.1.1937, Betreff: Bitte um finanzielle Unterstützung; Bögge, Aufgabe der [sic!] Bannes B, S. 1–7, hier S. 2; Söllinger, Sozialarbeit im
Bann B, in: NSDAP Hitler-Jugend Bann B (Blinde), Bericht, S. 1–2, hier S. 1.
717 NSDAP Hitler-Jugend Bann B (Blinde), Bericht.
718 Vgl. BAB, DGT, R 36/2017, GZ B/H Nr. 11/37, NSDAP Hitler-Jugend, Bann B (Blinde), Scharführer [Franz
Bögge] an den Landesfürsorgeverband der Rheinprovinz Düsseldorf vom 15.1.1937, Betreff: Bitte um finanzielle Unterstützung.
719 Vgl. Dyck, Leibeserziehung, S. 1–4, hier S. 1.
720 Vgl. Dyck, Leibeserziehung, S. 1–4, hier S. 4;
721 Bögge, Aufgabe der [sic!] Bannes B, S. 1–7, hier S. 2.
722 Vgl. Schreiber, Schule, S. 16.
723 Fischer, Jugendwandern im Bann B, S. 1–5, hier S. 3.
117
und eine Steigerung der Leistung der Restsinne versprach sich die Führung des „Bannes
B“ durch die Übungen.724
Sogar der Einsatz blinder Menschen im Krieg725 galt für Bögge als nicht ausgeschlossen.
Es war beabsichtigt, blinde Jungen an den Horchgeräten der Flak auszubilden.726 Auch
blinden Mädchen wurde ein „wehrpolitischer Einsatz“ 727, im Nachrichtenwesen oder bei
kulturellen Veranstaltungen, in Aussicht gestellt.728 Ob es sich hierbei um reine Propaganda
der SonderbannführerInnen oder um tatsächliche Pläne handelt, kann nicht weiter geklärt
werden.
Auf Grund von Interviews mit ehemaligen blinden Angehörigen der „Hitler-Jugend“,
die in Deutschland von verschiedenen Seiten geführt wurden, scheint das Angebot des
„Bannes B“ von den Jugendlichen häufig als positiv empfunden worden zu sein. Unter
dem Titel „Wir waren begeistert“ 729 fasste Wolfgang Drave daher die Aussagen der von ihm
befragten 28 blinden ZeitzeugInnen zur „Hitler-Jugend“ zusammen. Der blinde Autor
Herbert Demmel berichtete, dass die Kameradschaftsabende, Geländespiele, Zeltlager, Aufmärsche und Besuche in Lazaretten für Aufführungen auf „große Begeisterung“ gestoßen
sind.730 Eine von Gabriel Richter für seine Arbeit über Blindheit und Eugenik interviewte
blinde Frau, die als Jugendliche auf Grund des GzVeN zwangssterilisiert worden war, gab
als einziges positives Ereignis der Zeit zwischen 1933 und 1945 die Aktivitäten der „blinden
Hitler-Jugend“ an. Das Liedersingen, die Gemeinschaftslager und das Zusammentreffen
mit blinden Mädchen aus anderen Blindenschulen empfand sie als positiv: „Wir tanzten
Volkstänze, sangen, pflegten Gemeinschaft und Kameradschaft und hatten bei manchen
kleinen Streichen viel Spaß.“ 731
Wolfgang Drave fasste die Aussagen der von ihm befragten blinden Frauen und Männer
zur „Hitler-Jugend“ dementsprechend folgendermaßen zusammen:
„Und sie haben das Gefühl, trotz ihrer Blindheit, ihrer empfundenen Minderwertigkeit, nicht nutzlos zu sein, sondern gleichwertig den anderen Jungen und Mädchen
am „neuen Geist“ der Zeit teilhaben zu können.“732
5.4 Widerspruch zur Propaganda: Jugendliche mit einer Behinderung
und „Erbkranke“ in der „Hitler-Jugend“
Wie bereits erwähnt, sollte der Aufbau des „Reichsbann B“ als „Sonderbann“ eine Integration der blinden Jungen und Mädchen in die eigentliche „Hitler-Jugend“ verhindern.
Dementsprechend war ebenfalls eine äußerliche Unterscheidung gewünscht. Das Tragen der HJ-Uniformen war daher zunächst den blinden Jugendlichen nur mit Auflagen
724
725
726
727
728
729
730
731
732
118
Vgl. Bögge, Aufgabe der [sic!] Bannes B, S. 1–7, hier S. 2.
Zu den Einsatzmöglichkeiten von blinden Menschen in der Wehrmacht vgl. Kapitel II.6.4.
Vgl. Bögge, Aufgabe der [sic!] Bannes B, S. 1–7, hier S. 4.
Brunotte, BDM Arbeit, S. 1–3, hier S. 2.
Vgl. Brunotte, BDM Arbeit, S. 1–3, hier S. 2.
Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 128–140.
Vgl. Demmel, Nacht zum Licht, S. 224.
Richter, Blindheit und Eugenik, S. 294.
Drave, Blinde Menschen erzählen, S. 158
erlaubt. Die blinden Jugendlichen durften diese ohne die üblichen Schulterklappen tragen. Die HJ-Armbinde wurde durch die in der STVO733 vorgesehene „gelbe Armbinde mit
den drei schwarzen Punkten“ 734 ersetzt.735 Jugendlichen, die neben ihrer Erblindung noch
andere schwere körperliche Gebrechen hatten, war es nicht erlaubt, mit dem braunen
„Ehrenkleid“ das Gelände der Blindenschulen zu verlassen.736 1937 wurde den blinden
und gehörlosen Kindern und Jugendlichen schließlich das Tragen der Uniform gänzlich
verboten.737
Hintergrund dieses Entschlusses dürften unter anderem Finanzierungsschwierigkeiten gewesen sein. Der „Bann B“ bekam 1937 von der HJ-Kassenverwaltung nur 150
RM monatliche Unterstützung und einen Sonderbetrag für die Durchführung von Zeltlagern.738 Der Sonderbann war daher auf zusätzliche Unterstützung angewiesen und
„Gefolgschaftsführer“ Bögge bat die Mitglieder des DGT um Gelder für die Ausstattung
mit Uniformen. Die Aktion war allerdings nur mäßig erfolgreich, weil die Sinnhaftigkeit des Ansuchens in Frage gestellt wurde.739 Das Landesprovinzialamt Kiel zum
Beispiel hielt eine Finanzierung von Uniformen für die blinden und gehörgeschädigten
HJ-Formationen für nicht notwendig.
„Der Gedanke der Wehrhaftmachung, der für die gesunde Hitlerjugend in erster
Linie leitend ist und in der Uniform seinen Ausdruck findet, kann bei Blinden und
Taubstummen eben wegen ihrer körperlichen Behinderung doch schwerlich angewendet werden.“740
Die Aufnahme von Kindern und Jugendlichen mit einer Behinderung in die „Hitler-Jugend“
sorgte also für Unverständnis. Offiziell konnten nur „Erbgesunde“ an der „Hitler-Jugend“
teilnehmen.741 Wie in dieser Frage bei den Sonderbannen verfahren werden sollte, war
umstritten und stand zunächst in der Schwebe.742 Laut Erinnerungen von Angehörigen des
„Bannes G“ wurde bei der Aufnahme in die „Hitler-Jugend“ allerdings kein Unterschied
733 Vgl. dazu Kapitel II.2.6.
734 Demmel, Nacht zum Licht, S. 223.
735 Das gleiche Erscheinungsbild hatten auch die gehörlosen HJ-Formationen. Vgl. Büttner, Bann G, S. 85.
Die Eingliederung der körperbehinderten Jugendlichen in die HJ erfolgte bis zur endgültigen Auflösung
dieses Bannes im Allgemeinen ohne Uniform. Vgl. o. A., Körperbehinderte Jugendliche in der HJ, S. 160.
Diese Regelungen zeigen, welche unterschiedliche Stellung die einzelnen Behindertengruppen in der NSZeit gehabt haben müssen. Vgl. Kapitel V.
736 Vgl. Klee, Der blinde Fleck.
737 Vgl. Demmel, Nacht zum Licht, S. 224; Büttner, Bann G, S. 85.
738 Der „Bann G“ erhielt 200 RM monatlich und 1000 RM für die Durchführung eines Zeltlagers. Der „Bann
B“ hatte dafür 1500 RM erhalten. Vgl. BAB, R 36/2017, DGT, Z. Dr. F./B., NSDAP Reichsjugendführung,
Bannführer V 11 (Haushalt) an den DGT vom 19.7.1937, Betreff: Finanzielle Unterstützung des Bannes B
(Blinde) und des Bannes G (Gehörgeschädigte).
739 Vgl. BAB, DGT, R 36/2017, Finanzielle Unterstützung für Bann B (Blinde) und G (Gehörgeschädigte) der
Hitler-Jugend.
740 BAB, DGT, R 36/1811, Oberpräsident Provinzialverband aus Kiel an den DGT vom 1.8.1934, Betreff:
Rundschreiben vom 11.6.1934 Nr. III 2157/34.
741 Vgl. Büttner, Bann G, S. 75; Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 50.
742 Vgl. H. N., Blinde Hitlerjugend, in: Frankfurter Zeitung (Reichsausgabe), 22.12.1935, S. 652–653, zitiert in:
Schröder, Sehgeschädigte Menschen, S. 50.
119
auf Grund einer angenommenen, erblich bedingten Gehörlosigkeit gemacht.743 Auch blinde
Jugendliche, die als „erbkrank“ galten, nahmen offenbar an den Aktivitäten des „Bannes
B“ teil. „Gefolgschaftsführer“ Bögge behandelte 1937 dieses Thema in seinem Beitrag über
Gesundheitsführung und schrieb darüber:
„Es ist z. B. in den meisten Fällen nicht feststellbar, ob Erbkranke in die HJ Aufnahme
gefunden haben oder nicht, denn die Ergebnisse der amtsärztlichen Untersuchungen
dürfen nicht weiter bekannt gegeben werden.“744
Nach der persönlichen Ansicht von Bögge war die Mitgliedschaft von Kindern oder Jugendlichen mit einer erblich bedingten Erblindung nicht problematisch, da diese auf Grund des
GzVeN zwangssterilisiert werden müssten. In der Folge könnten sie keinen „erbkranken“
Nachwuchs mehr zeugen und würden daher für das „Volk“ keine „Gefahr“ mehr darstellen.745 Der Blindenoberlehrer plädierte daher für eine Mitgliedschaft von „Sterilisierten“
im „Bann B“. Diesbezüglich hatte Bögge entsprechende Anträge bei der Reichsjugendführung gestellt. 1937 gab es aber noch keinen endgültigen Beschluss: „Bisher habe ich nur
einen Zwischenbescheid erhalten, aus dem ich entnehme, daß meine Einstellung richtig ist,
so daß der Mitgliedschaft Sterilisierter nichts im Wege steht.“ 746 Bögge rechnete damit, dass
eine endgültige Entscheidung von der Reichsjugendführung nur nach Absprache mit dem
„Rassenpolitischen Amt“ erfolgen würde. Er hielt es sogar für nicht ausgeschlossen, dass
der „Führer“ sich den letzten Entscheid selbst vorbehalten würde, „weil es sich hier um eine
schwerwiegende Entscheidung handelt.“ 747
Da keine weiteren Quellen zu dieser Fragestellung existieren, kann nicht mit Gewissheit gesagt werden, wie im „Reichsbann B“ die Aufnahme von angenommenen „Erbkranken“ geregelt wurde. Bekannt ist nur, dass blinde Kinder und Jugendliche, die neben ihrer
Erblindung auch noch eine geistige Beeinträchtigung hatten, vom HJ-Dienst ausgeschlossen
waren.748 Resümierend kann daher festgestellt werden: Wer geistig dazu in der Lage war,
sollte trotz einer Erblindung oder vorliegenden Gehörlosigkeit eine Erziehung nach nationalsozialistischen Wert- und Normvorstellungen in der „Hitler-Jugend“ erhalten. Den
Widerspruch, dass dadurch „behinderte“ Jugendliche in die „gesunde, deutsche Staatsjugend“ aufgenommen wurden, schien die NS-Führung zu akzeptierten, vor dem Hintergrund, dass die Betätigung der blinden Jugendlichen im „Reichsbann B“ ihre körperlichen
Fähigkeiten steigern sollte und damit einen wichtigen Beitrag zur „Brauchbarmachung“
der blinden Menschen darstellte.
743
744
745
746
747
748
120
Vgl. Büttner, Bann G, S. 89.
Bögge, Gesundheitsführung, S. 1–2.
Vgl. Bögge, Gesundheitsführung, S. 1–2, hier S. 2.
Vgl. Bögge, Gesundheitsführung, S. 1–2, hier S. 2.
Vgl. Bögge, Gesundheitsführung, S. 1–2, hier S. 2.
Vgl. Klee, Der blinde Fleck.
6.Berufliche Möglichkeiten
6.1 Überblick über die Erwerbsmöglichkeiten blinder Menschen
Wie bereits erwähnt, war es das oberste Ziel des NS-Blindenwesens, blinde Menschen einer
Erwerbstätigkeit zuzuführen.749 In den 1930er Jahren waren die meisten der berufstätigen
blinden Männer und Frauen als HandwerkerInnen tätig gewesen. Die von ihnen produzierten Waren konnten allerdings kaum gegen die günstigeren Produkte aus industrieller Fertigung auf dem Markt bestehen.750 Der alleinige Verkauf ihrer Erzeugnisse sicherte
den blinden HandwerkerInnen daher selten den notwendigen Lebensunterhalt. Um blinde
Menschen unabhängig von öffentlicher und privater Unterstützung zu machen, sah es die
NS-Führung daher als notwendig an, neue Berufsmöglichkeiten zu schaffen. Als Berufe für
blinde Menschen mit besonders guten Zukunftsaussichten galt die Arbeit in Industriebetrieben, als TelefonistIn oder StenotypistIn.
Für die Umsetzung dieser Maßnahmen wurde auf die Erfahrungen, die nach dem
Ersten Weltkrieg in der Schaffung von Arbeitsplätzen für Kriegsblinde gemacht worden
waren, zurückgegriffen. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg fanden Kriegsblinde an neuen
Arbeitsplätzen in Industriebetrieben eine Beschäftigung.751 Auch kriegsblinde Akademiker, öffentliche Bedienstete und Büroangestellte konnten sich allmählich etablieren.
Sie übten damit eine wichtige Vorreiterrolle aus. Ihre beruflichen Leistungen wurden
in der Öffentlichkeit als gut bewertet. Dies erleichterte in der Folge auch die Anstellung von Zivilblinden.752 Viele der neuen Arbeitsplätze für blinde Menschen wurden
allerdings durch die Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg, die mit Inflation und
Massenarbeitslosigkeit verbunden war, wieder zunichte gemacht. Hinzu kam noch, dass
in Österreich 1922 von 309 rentenversorgten Kriegsblinden 223 Besitzer einer Trafik
waren.753 Blinde Kriegsopfer waren dadurch gut versorgt, was die Innovationsbereitschaft,
neue Anstellungsmöglichkeiten im Vergleich zu Deutschland zu finden, hemmte. Das
wirkte sich dann auch auf die Zivilblinden aus, die dadurch kaum von den gemachten
Erfahrungen mit kriegsblinden Industriearbeitern profitieren konnten. Auch das „Inv
alidenbeschäftigungsgesetz“ 754 von 1920 konnte an dieser Situation wenig ändern. Auf
Grund dieser Bedingungen waren in Österreich nur wenige blinde Menschen vor 1938
in Industriebetrieben tätig gewesen. In den Siemens-Halske-Werken in Wien arbeiteten
in den 1920er Jahren zehn Blinde.755 Einige wenige fanden eine Anstellung im Radiowerk
„Schrack“, der Metallwarenfabrik „Langfelder & Putzker“, dem Radiowerk „Leopolder &
Sohn“, der „Österreichischen Telefonfabrik A-G“, dem „Optischen Werk C. Reichert“ sowie
bei „Erricson Österreichische Elektrizitäts A-G“.756
749 Vgl. Kapitel II.2.1, II.3, II.6.
750 Vgl. u. a.: Rhode, Berufsfürsorge, S. 20–24, hier S. 21; Graf, Berufseignung, S. 51–57 [Prof. Dr. med. Graf
arbeitete am Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitspsychologie, Dortmund-Münster].
751 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 104–119 und S. 166–176.
752 Vgl. o. A., Die Berufsarbeit der Blinden in ihrer Bedeutung für die Volksgemeinschaft, S. 34–37, hier S. 35.
753 Vgl. o. A., 50 Jahre Verband der Kriegsblinden Österreichs 1919–1969, Wien [1969], S. 61.
754 Vgl. Kapitel II.2.2.3.
755 Vgl. Bürklen, Blinde Arbeiter, S. 2.
756 Vgl. Bürklen, Blinde Arbeiter, S. 3.
121
Auch wenn durch diese Entwicklung bedingt 1938 die meisten der erwerbstätigen
Zivilblinden in den klassischen Blindenhandwerksberufen arbeiteten, hatte die größte
Gruppe von ihnen im „arbeitsfähigen“ Alter überhaupt keine Anstellung. Aus Österreich
sind dafür keine Zahlen bekannt, aber es kann davon ausgegangen werden, dass die Situation
nicht besser war als in Deutschland: Der deutsche blinde Jurist Rudolf Kraemer ging 1931
davon aus, dass in Deutschland nur 27,8 Prozent der blinden Menschen einer Erwerbstätigkeit nachgingen.757 Erst ab 1937 kam es zu einer vermehrten Beschäftigung von blinden
Menschen in der Industrie und als Büroangestellte.758 Dies lag allerdings weniger an Maßnahmen des NS-Regimes, sondern an dem Arbeitskräftemangel im „Deutschen Reich“.
1938 fehlten rund 1,25 Millionen Arbeitskräfte in der gewerblichen Industrie.759 Durch den
Kriegsbeginn 1939 verschärfte sich diese Situation weiter und es kam zu einer bis dahin
unbekannten Knappheit an Arbeitskräften.760
Vor diesem Hintergrund intensivierte die NS-Verwaltung die berufliche Rehabilitation
der angenommenen rund 35.650 Zivilblinden im „Deutschen Reich“. Aus der Sicht des NSRegimes hinderliche Faktoren bei der Schaffung von Arbeitsplätzen für blinde Menschen
waren zudem weggefallen:
„Dabei ist immer zu bedenken, daß es sich ja bei der heutigen Wirtschaftslage zum
Glück nicht mehr darum handeln kann, daß ein Blinder einem Sehenden Arbeit wegnimmt, sondern, daß eine sehende Arbeitskraft dadurch frei wird für eine Tätigkeit,
die höhere Ansprüche an die Sinnestüchtigkeit stellt.“761
Aber auch wenn blinde Menschen zwischen 1938 und 1945 vermehrt in Industriebetrieben arbeiteten, die meisten berufstätigen Blinden dürften weiterhin als HandwerkerInnen
beschäftigt gewesen sein.762 Dies geht nach Pielasch und Jaedicke aus Berufsstatistiken dieser
Zeit hervor.763 Zu diesen zählen auch die offiziellen Angaben über die Berufe von blinden
Gästen in den RBV-Erholungsheimen.764 1939 waren von den 1.293 blinden BesucherInnen
dieser Unterkünfte 813 berufstätig gewesen. Rund 30 Prozent waren HandwerkerInnen
und 13 Prozent in der Industrie angestellt. In den Berufsstatistiken der Jahre 1940 bis 1942
werden HandwerkerInnen, IndustriearbeiterInnen und selbständige Gewerbetreibende nur
mehr in einer Kategorie zusammengefasst, so dass eine weitere Ausdifferenzierung daher
nicht möglich ist.765
Charakteristisch bei der Schaffung neuer Berufsmöglichkeiten für blinde Menschen in
der NS-Zeit war, dass persönliche Interessen nur eine untergeordnete Rolle spielten. Die
757 Insgesamt betrug die Erwerbstätigkeit der Bevölkerung damals 51,3 Prozent. Vgl. Rudolf Kraemer, Endergebnis der Reichsgebrechlichenzählung, in: Die Blindenwelt, o. Nr., Jg. 19 (1931), S. 291, zitiert in: Richter,
Blindheit und Eugenik, S. 36.
758 Vgl. Demmel, Nacht zum Licht, S. 193.
759 Vgl. Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 228.
760 Vgl. Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 232.
761 Graf, Berufseignung, S. 51–57, hier S. 56.
762 Vgl. weiterführend: Strehl, Schulische, berufliche und nachgehende Fürsorge, S. 26–43.
763 Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte, S. 162.
764 Vgl. Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 536–437.
765 Vgl. Kapitel II.7.
122
Belange der Allgemeinheit und volkswirtschaftliche Aspekte standen im Vordergrund.766
Zivilblinde sollten dementsprechend auch dafür Verständnis haben, dass sie kein Studium
absolvieren konnten, wenn die „volkswirtschaftliche Rentabilität“ einer solchen Ausbildung
als nicht gegeben beurteilt wurde.767 Die AkademikerInnenquote unter den Zivilblinden
war dementsprechend niedrig, vor allem im Vergleich zu den Kriegsblinden.768
Eine Sonderrolle bei den utilitaristisch orientierten Maßnahmen zur Schaffung von
Arbeitsplätzen nahmen blinde Frauen ein.769 Sie fanden noch schwerer Arbeit als blinde
Männer. Die Schaffung von Erwerbsmöglichkeiten für Frauen wurde daher als besonders
dringlich betrachtet. Als geeignet wurden Berufe angesehen, die ihrer „Weiblichkeit“ entsprachen. Sie sollten Strick- oder andere Handarbeiten übernehmen. Da die Entlohnung
von solchen Handarbeitsprodukten im Vergleich zum Aufwand gering war, wurde vor allem
ihr Einsatz als Maschinenstrickerinnen forciert. Die Herstellung von Wollsachen auf einer
Flachstrickmaschine war produktiver als reine Handarbeit.770
In den Blindenschulen erlernten blinde Mädchen die Haushaltsführung. Durch ihre Mithilfe in diesem Bereich sollte ein anderes sehendes Familienmitglied für die Ausübung eines
Berufes frei werden.771 Auch Bürotätigkeiten galten als geeignete Beschäftigungsmöglichkeit.
Unter den ersten sechs blinden Menschen, die in Wien die StenotypistInnen-Ausbildung
absolvierten, waren dementsprechend vier Frauen.772 Für den Einsatz in Industriebetrieben
fanden sich nach damaliger Auffassung Beschäftigungsmöglichkeiten für blinde Frauen
vor allem in der Ernährungs- und Textilindustrie.773 Eine eigene Organisation, der „Verein blinder Frauen Deutschlands“ 774, war für die so genannte Berufs- und Arbeitsfürsorge
der blinden Frauen zuständig. Dieser beschaffte auch blinden Frauen in der „Ostmark“
Arbeitsaufträge.775
6.2 Blinde HandwerkerInnen
Zu den klassischen Blindenhandwerksberufen zählten das Bürsten- und Besenmachen, die
Herstellung von Körben, das Flechten von Matten mit Hilfe eines einfachen Webrahmens
sowie das Stricken an Maschinen. Außerdem setzten blinde HandarbeiterInnen Federwäscheklammern oder Gummimatten zusammen. Blinde HandwerkerInnen waren entweder
selbständig oder in einer Werkstätte beschäftigt. Im Vergleich zu den industriegefertigten
Produkten waren die hergestellten „Blindenwaren“ allerdings viel zu teuer.776 Das „Blindhandwerk“ wurde, wie bereits erwähnt, zunehmend unrentabel.
766
767
768
769
770
771
772
773
774
775
776
Vgl. Demmel, Nacht zum Licht, S. 193; Erlwein, Sehgeschädigten, S. 56.
Vgl. o. A., Berufsarbeit, S. 34–37, hier S. 36.
Vgl. Demmel, Nacht zum Licht, S. 329.
Zur sozialen Stellung der blinden Frauen vgl. Kapitel II.10.
Vgl. Hoelters, Betätigungsmöglichkeiten, S. 71–75, hier S. 74–75.
Vgl. Hoelters, Betätigungsmöglichkeiten, S. 71–75, hier S. 71.
Vgl. Klebert, Prüfung blinder Stenotypisten, S. 270–271, hier S. 271.
Vgl. Hoelters, Betätigungsmöglichkeiten, S. 71–75, hier S. 73
Kapitel II.3.6, II.10.
Vgl. Fürstenberg, Blinden von Niederdonau, S. 287–289, hier S. 288.
Vgl. Claeßen, Die blinden Handwerker, S. 38–51, hier S. 38–41 [Claeßen war ein Kriegsblinder und als
Geschäftsführer des Reichsverbandes für das Blindenhandwerk tätig].
123
Trotzdem wurden auch nach Kriegsbeginn die meisten blinden SchülerInnen in den
Blindenschulen zu HandwerkerInnen ausgebildet. Das RM d. I. versuchte, aus den eingangs
geschilderten Gründen, mit einem Erlass im Jahr 1940 dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Von einer Ausbildung von blinden HandwerkerInnen sollte abgesehen werden.
Lehrlinge, die ihre Lehrzeit bereits begonnen hatten, aber noch nicht zu weit fortgeschritten
waren, wurden dazu angehalten, diese aufzugeben, wenn sie für einen anderen Beruf als
geeignet erschienen.777
Inwieweit diese Bestimmungen von den Blindenschulen umgesetzt wurden, kann auf
Grund fehlender Quellen nicht nachvollzogen werden. Ein Grund, warum die Bedeutung
der Handwerksberufe für blinde Menschen nicht zurückging, war paradoxerweise eine
Reihe von Maßnahmen des NS-Regimes zur Stützung des Blindenhandwerks. 1935 war
durch das Reichsarbeitsministerium (RAM) der „Reichsverband für das Blindenhandwerk“ (RBH) im Rahmen der Reichsgruppe Handwerk errichtet worden. Dieser hatte die
rechtliche Stellung eines Reichsinnungsverbandes. Alle Gewerbetreibende,778 die überwiegend blinde HandwerkerInnen beschäftigten, mussten diesem Verband angehören.779 Das
RAM und der Reichswirtschaftsminister hatten die Aufsicht über diese Organisation,780
die auch das gesetzlich geschützte „Blindenwarenzeichen“ 781 vergaben. Dieses sollte garantieren, dass ein damit ausgezeichnetes Produkt wirklich hauptsächlich von blinden oder
praktisch blinden Menschen gefertigt worden war. Es kam immer wieder vor, dass BetrügerInnen Produkte als „Blindenwaren“ ausgaben und sich an deren Erlös bereicherten.
Die Kennzeichnung mit dem vorgeschriebenen „Blindenwarenzeichen“ erschwerte diesen Missbrauch und sollte den Absatz dieser Produkte verbessern.782 Gesetzlich geregelt
wurde die Verwendung dieses Abzeichens durch die zweite Verordnung zur Ergänzung
der Regelungen für die Blindenwaren vom 6. April 1940 in der Gewerbeordnung. Diese
galt zunächst nicht in der „Ostmark“.783 Die NS-Regierung plante aber, die notwendigen gesetzlichen Bestimmungen zur Einführung des „Blindenwarenzeichens“ in den
„Alpen- und Donaureichsgauen“ noch zu erlassen. Das geht aus einem Rundschreiben
des RBH hervor. Diesem waren auch blinde HandwerkerInnen und Blindenwerkstätten
der „Ostmark“ 1938/39 angeschlossen worden. Sie mussten allerdings, bis das „Blindenwarenzeichen“ auch ihnen verliehen werden konnte, keine Mitgliedsbeiträge zahlen.784 Ob
überhaupt, und wenn ja, wann das „Blindenwarenzeichen“ in der „Ostmark“ eingeführt
wurde, ist nicht bekannt.
777 Vgl. BAB, DGT, R 36/1802, Nr. 153, Nachrichtendienst DGT vom 5.8.1940, Betreff: Nr. 690 Arbeitsmöglichkeiten für Blinde [RMdI, Runderlass vom 16.7.1940, RMBliV, S. 1508].
778 Dies konnten sowohl blinde HandwerkerInnen sein, die wiederum andere blinde Menschen beschäftigten, als auch sehende Gewerbetreibende, die eine Werkstätte für blinde ArbeiterInnen betrieben.
779 Vgl. Rhode, Berufsfürsorge, S.20–24, S. 23.
780 Vgl. BAB, DGT, R 36/1805, Reichsverband für das deutsche Blindenhandwerk Satzungen [1941].
781 D] RGBl., Teil I, Verordnung zur Durchführung des § 56a Abs. 2 der Gewerbeordnung vom 1. Oktober
1934, S. 868; [D] RGBl., Teil I, Nr. 64/1940, Zweite Verordnung zur Durchführung und Ergänzung des
§ 56a Abs. 2 der Gewerbeordnung für das Deutsche Reichs vom 6. April 1940, S. 623.
782 Das Zeichen besteht aus einer Sonne mit drei Strahlen, nach der zwei Hände greifen. Es ist noch heute
in Deutschland als gesetzlich geschütztes Symbol für Handwerksarbeiten von blinden Menschen in Gebrauch. Vgl. o. A., Über den Verband.
783 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Nr. 64/1940, S. 623.
784 Vgl. BAB, DGT, R 36/1805, Reichsverband für das deutsche Blindenhandwerk, Rundschreiben Nr. 5
1939/1940, S. 2.
124
Der RBH war aber auch in anderer Hinsicht von Bedeutung für blinde Hand­wer­ker­
In­nen der „Ostmark“. In den RBH-Rundschreiben wurden die Schutzbestimmungen für
das Blindenhandwerk in der „Ostmark“ publiziert. Den blinden HandwerkerInnen im
„Altreich“ wurde im Dezember 1938 per Erlass des Reichswirtschaftsministers verboten,
ihre Blindenwaren im „Land Österreich“ 785 zu verkaufen oder dorthin zu liefern.786 Diese
Regelung wurde in der Folge bis mindestens zum 30. Juni 1940 ausgedehnt.787
Im Februar 1940 wurde das deutsche Handwerksrecht in der „Ostmark“ eingeführt.788
Blinde HandwerkerInnen mussten sich nun in die Handwerksrolle eintragen lassen, als
Voraussetzung dafür, das Blindenhandwerk selbständig ausüben zu dürfen. Die Meisterprüfung, die dafür eigentlich die Voraussetzung war, wurde von den blinden HandwerkerInnen
aber nicht zwingend verlangt. Sie konnten auf Grund einer Ausnahmebewilligung in die
Handwerksrolle eingetragen werden.789
Mit Kriegsbeginn verbesserte sich die Auftragslage der blinden HandwerkerInnen,
vor allem durch Aufträge der Wehrmacht,790 wie Geschosskörbe, Bürsten oder Besen.791
Der Gewinn bei der Herstellung solcher Heeresbedarfsartikel war allerdings nicht sehr
groß, denn die Wehrmacht zahlte niedrige Stückpreise. Hinzu kam, dass es vor dem
Hintergrund der Kriegswirtschaft zunehmend schwieriger wurde, Rohmaterial zu
beschaffen. Auf der Tagung der LeiterInnen und LehrerInnen deutscher Blindenschulen 1940 wurde daher empfohlen, vermehrt „Jagd nach den Pflanzenarten der engeren
Heimat zu machen.“ 792 Die Werkstätten der Blindenschulen testeten die Verwendung
von Schilf und Wurzeln von heimischen Grasarten. Außerdem erließ die NS-Regierung
noch Kriegsauflagenprogramme für blinde HandwerkerInnen. Sie sollten Kohlenkörbe,
Glasballonkörbe und Kleineisenpackkörbe sowie auch Körbe für anderen Bedarf wie
z. B. Kartoffelkörbe produzieren. Für diese kriegswichtigen Produktionen wurde nach
Möglichkeit Rohmaterial zur Verfügung gestellt.793 Eisen hingegen, das die Blindenwerkstätten zum Beispiel für das Zusammensetzen von Wäscheklammern benötigten,
war kaum mehr beschaff bar.
785 BAB, DGT, R 36/1805, Reichsverband für das deutsche Blindenhandwerk, Rundschreiben Nr. 5 1939/1940,
S. 5 [GZ AZ III SW 29013/38, Erlass des Reichswirtschaftsministers im Einvernehmen mit dem Herrn
Reichskommissar für die Preisbildung vom 8.12.38].
786 Erlassen wurden diese Vorschriften im Zuge der Verordnung über einen Marktschutz für die österreichische Wirtschaft vom 27. September 1938 ([D] RGBl., Teil I, S. 1203). Vgl. BAB, R 36/1805, Reichsverband
für das deutsche Blindenhandwerk, Rundschreiben Nr. 5 (1938/39), S. 5 [GZ AZ III SW 29013/38, Erlass
des Reichswirtschaftsministers im Einvernehmen mit dem Herrn Reichskommissar für die Preisbildung
vom 8.12.38].
787 Der Akt ist nicht vollständig. Über eine Fortsetzung dieser Schutzbestimmungen ist daher nichts bekannt. Vgl. BAB, DGT, R 36/1805, Reichsverband für das deutsche Blindenhandwerk, Rundschreiben
Nr. 6 (1939).
788 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Einführung des Handwerkrechts in der Ostmark vom 24. Februar 1940, S. 420–422.
789 Vgl. Claeßen, Handwerker, S. 38–51, hier S. 3; BAB, DGT, R 36/1805, Reichsverband für das deutsche
Blindenhandwerk, Rundschreiben Nr. 8 (1940), S. 1.
790 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Nr. III, 2512/40,
Niederschrift über die erste Tagung der Arbeitsgemeinschaft am 25.10.1940 in Berlin, S. 32.
791 Vgl. Demmel, Nacht zum Licht, S. 194.
792 O. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 51.
793 Vgl. o. A., Nachrichten des Reichsverbandes für das Blindenhandwerk, S. 62–64, hier S. 63.
125
6.3 Beschäftigungsmöglichkeiten in der Industrie
Wie eingangs erwähnt, führten die Erfahrungen mit Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges vermehrt dazu, dass blinde Menschen vor allem in Deutschland in Industriebetrieben
beschäftigt wurden.794 In den 1920er Jahren arbeiteten rund 100 blinde Menschen in den
Siemens-Schuckert-Werken in Berlin.795 Die dort gemachten Erfahrungen verbreitete Paul
Perls, Fabrikdirektor des Siemens-Kleinbauwerkes, durch Vorträge und Broschüren über die
Landesgrenzen Deutschlands hinaus.796 Der Grundsatz bei der Adaptierung von Arbeitsplätzen für blinde ArbeiterInnen in Fabriken war zum Beispiel an Stanz- oder Bohrmaschinen
entsprechende Schutzvorrichtungen anzubringen.797 Alle sich drehenden und bewegenden
Teile sollten geschützt werden, damit bei einem ungewollten Betasten der Teile die blinde
Arbeiterin bzw. der blinde Arbeiter sich nicht verletzen konnte.798 Neben der Bedienung von
Maschinen wurde für blinde Menschen als Tätigkeit auch das Gebiet der Kontrolle angeführt. Durch ihr angenommenes gutes Tastempfinden erschienen sie dafür als geeignet.799
Die Tätigkeiten von blinden Menschen in Industriebetrieben waren hauptsächlich Arbeiten, die üblicherweise von weiblichen, sehenden Angestellten verrichtet wurden. Blinde
ArbeiterInnen wurden daher nach dem Frauentarif entlohnt. In einzelnen Fällen wurde
ein Stundenlohn ausbezahlt, meist jedoch erhielten sie ein leistungsbezogenes Arbeitsentgelt, den Akkordlohn.800 Da blinde Menschen häufig nicht so schnell arbeiten konnten wie
sehende ArbeiterInnen, verdienten sie meist deutlich weniger als ihre sehenden ArbeitskollegInnen.
Durch den kriegswirtschaftlich bedingten Arbeitskräftemangel kam es ab 1938 zu
einem Anstieg bei der Anstellung blinder Menschen in Industriebetrieben vor allem im
„Altreich“.801 Grund dafür war allerdings nicht nur der hohe Bedarf an Industriearbeitskräften. Blinde Menschen konnten in verhältnismäßig kurzer Zeit zu FabriksarbeiterInnen
ausgebildet werden, was als besonders „rentabel“ galt. Alle anderen Berufsausbildungen für
blinde Menschen erforderten einen wesentlich höheren Aufwand.802
Trotz des Arbeitskräftemangels erwies sich die Suche nach Arbeitsplätzen in der Industrie für blinde Menschen in der „Ostmark“ als schwierig. Walther Otto Fürstenberg, Leiter
des RBV-Gaubundes „Niederdonau“, berichtete von den Vorurteilen über die Arbeitsleistung
blinder Menschen und die damit verbundenen Schwierigkeiten bei der Vermittlung von
Arbeitsplätzen.803 Der Leiter des RBV-Gaubundes Kärnten, Rupert Molzbichler, schrieb
1944, dass er kaum blinde Menschen in die Industrie vermitteln konnte.804
794 Vgl. Kapitel II.6.1; Hoffmann, Kriegsblinde, S. 104–108.
795 Vgl. Claeßen, Die blinden Handwerker, S. 38–51, hier S. 50; Bürklen, Blinde Arbeiter, S. 1.
796 Vgl. Perls, Unfallverhütung; Paul Perls, Blindenbeschäftigung, Berlin 1929, zitiert in: Biwald, Helden und
Krüppeln, S. 1.
797 Vgl. Perls, Unfallverhütung, Abb. 26.
798 Vgl. Graf, Berufseignung, S. 51–57, hier S. 54–55.
799 Vgl. Graf, Berufseignung, S. 51–57, hier S. 55.
800 Vgl. Bürklen, Blinde Arbeiter, S. 11.
801 Vgl. o. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 47.
802 Vgl. Bürklen, Blinde Arbeiter, S. 5.
803 Vgl. Fürstenberg, Blinden von Niederdonau, S. 287–289, hier S. 287.
804 Als Grund dafür gab er an, dass es im Gau Kärnten nur Kleinindustrie im Holzfach gegeben hätte und
dementsprechend die Voraussetzungen für die Beschäftigung von blinden Menschen in der Industrie
nicht gegeben seien. Vgl. Molzbichler, Fünf Jahre, S. 195–197, hier S. 196.
126
6.4 Tätigkeiten in kriegswichtigen Unternehmen und der Wehrmacht
Eine insbesondere propagandistische Wirkung hatten Bemühungen in der NS-Zeit, Zivilblinde
in kriegswichtigen Unternehmen und Wehrmachtsbetrieben einzusetzen. Da blinde Menschen
nicht als Soldaten kämpfen konnten, wurde ihnen auf diese Weise durch die Propaganda das
Gefühl vermittelt, auch einen Beitrag zur „Verteidigung der Heimat“ zu leisten. Wie viele blinde
Menschen „Kriegsdienst“ leisteten, ist nicht bekannt, aber aus einzelnen Quellen lassen sich
verschiedene Einsätze dokumentieren. So berichtet der Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges
Johann H. von einem namentlich nicht genannten Zivilblinden, der vorübergehend im Heeresbekleidungsamt in Salzburg tätig war. Johann H. war dort auch beschäftigt, kündigte aber,
weil sein Arbeitsplatz durch das Zusammenrücken der Maschinen so eingeschränkt wurde, dass
er sich dauernd den Kopf an den Maschinen anstieß.805 Dieses Beispiel weist auch darauf hin,
dass es bei der Adaptierung von Arbeitsplätzen für blinde Menschen erhebliche Mängel gab.
Blinde Masseure fanden Anstellung in Reservelazaretten.806 Ab Sommer 1942 war auch
der blinde Johann Flach aus Riederbuch (Oberösterreich) als Masseur im Sanitätswesen der
Wehrmacht beschäftigt.807 Das ist bemerkenswert, denn in der Zwischenkriegszeit wurden
blinde Menschen in Österreich für diese Arbeit als nicht geeignet eingestuft. Es gab daher
vor dem „Anschluss“ auch keine Ausbildungsmöglichkeiten, erst nach Kriegsbeginn wurden
blinde Menschen in der „Ostmark“ zu Masseuren ausgebildet.808
Einige wenige Zivilblinde konnten direkt in der Wehrmacht, im Nachrichtendienst,
insbesondere als Funker, arbeiten. Einer der interviewten, blinden Zeitzeugen von Wolfgang
Drave, Herr F., berichtet, dass er nach einem halbjährigen Lehrgang am 1. Juli 1940 beim
OKW am Tirpitzufer als Funker eingestellt wurde, allerdings als Angestellter nicht als Militärperson. Noch sieben weitere blinde Männer absolvierten dieselbe Ausbildung.809 Außerdem berichtete der Direktor der Kieler Blindenschule, Kühn, auf der ersten Tagung der
„Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung“ des DGT am 25. Oktober
1940 davon, dass man 1938 damit begonnen hatte, fünf blinde Kieler im Nachrichtendienst
für den Einsatz an einer Küstenstation der Marine auszubilden. Im Sommer 1939 fand an
der U-Bootschule in Neustadt in Holstein ein Folgekurs mit weiteren Teilnehmern statt. Die
Anwesenden auf besagter Tagungen 1940 wurden bezugnehmend auf diese Beschäftigungsmöglichkeit um Geheimhaltung gebeten.810 Offenbar befürchtete man negative Reaktionen,
wenn die Beschäftigung von blinden Personen in der Wehrmacht publik wurde.
Ernsthaft wurde darüber hinaus versucht, blinde Menschen an Horchgeräten der Flak
einzusetzen.811 In Stuttgart812 wurden diese Versuche nach einem erfolglosen Test allerdings
805 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann H, H. an das HVA Wien vom 24.6.1943, Betreff: Arbeitseinstellung im Heeresbekleidungsamt.
806 Vgl. Fürstenberg, Blinden von Niederdonau, S. 287–289, hier S. 287.
807 O. A., Zur Chronik des Blindenwesens [1944], S. 240.
808 Vgl. Kapitel III.4.2, III.5.1, III.5.4.
809 Vgl. Drave, Blinde Menschen erzählen, S. 142–144.
810 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Nr. III, 2512/40, Niederschrift über die erste Tagung der Arbeitsgemeinschaft
für Blindenfürsorge und Blindenbildung des DGT am 25.10.1940, S. 24.
811 Vgl. Bögge, Aufgabe, S. 1–7, hier S. 4.
812 1856 wurde in Stuttgart die Stiftung „Nikolauspflege“ gegründet. Diese verfügte unter anderem auch über
eine Blindenschule. Noch heute existiert die Nikolausstiftung. Vgl. <www.nikolauspflege.at>.
127
wieder eingestellt.813 Außerdem soll es in Baden bei Wien Anfang des Krieges in einem Militärausbildungslager eine Ausbildung von blinden Männern zu „Horchern“ gegeben haben,
berichtet der von Drave interviewte blinde Funker Herr F. Offenbar wurde angenommen,
blinde Menschen könnten besser hören als Sehende und sie sollten daher lernen, durch ihr
Gehör näher kommende Flugzeuge zu orten. Auch dieses Experiment scheiterte laut den
Aussagen von Herrn F.: „Das waren wohl mehr Saufereiabende als alles andere.“814
6.5 TelefonistInnen und StenotypistInnen
Um die Berufe TelefonistIn815 und StenotypistIn nach dem „Anschluss“ auch in der „Ostmark“ zu etablieren, mussten dafür zunächst Ausbildungsmöglichkeiten geschaffen werden.
Obwohl es schon während des Ersten Weltkriegs Bestrebungen gegeben hatte, vor allem
Kriegsblinde zu Telefonisten auszubilden, hatte sich diese Berufsmöglichkeit in Österreich
nicht durchsetzen können.816 An der Wiener Blindenschule wurde 1938 daher in Zusammenarbeit mit der Firma „Siemens & Halske“ aus Berlin ein entsprechender Ausbildungslehrgang eingerichtet. Ingenieure der Firma „Siemens & Halske“ hatten ein so genanntes
„Blindentastzeichen“ entwickelt, das blinden Menschen die Bedienung einer Telefonanlage
ermöglichte.817 Nur von diesem Unternehmen konnten in der NS-Zeit diese Hilfsmittel für
die Adaptierung von Telefonzentralen hergestellt werden.818 Im Vergleich zu den üblichen
Vermittlungsplätzen mussten für die blinden BenutzerInnen optische Aufruf- und Überwachungszeichen durch die Tastzeichen ersetzt werden.819
Der Blindenlehrer der Wiener Blindenschule Karl Trapny820 nahm mit anderen Ver­tre­
terIn­nen aus Österreich im April 1939 an einem Lehrgang zur TelefonistInnenausbildung in
Berlin teil.821 Am 21. und 22. März 1941 fand in Nürnberg eine weitere Arbeitstagung statt,
bei der der Oberingenieur Friedrich Wilhelm Gust den Vortrag „Auswahl, Schulung und
praktischer Einsatz von geistig regsamen Blinden als Telephonisten in Nebenstellenanlagen“822
hielt. Im November 1942 kam es zu einer dritten Arbeitstagung in Berlin.823
1940 wurde an der Blindenschule in Wien für die zukünftige Ausbildung ein Schulungsgerät der Firma „Siemens & Halske“ angeschafft. Der Ingenieur Johannes Koczott
813 Vgl. Nikolauspflege, Rechenschaftsbericht 1939–1952, Stuttgart 1952, S. 4, zitiert in: Sauer, Situation blinder Jugendlicher, S. 60.
814 Vgl. Drave, Blinde Menschen erzählen, S. 144.
815 Die Schreibweise dieses Begriffes in der NS-Zeit war nicht einheitlich. Beide Varianten, „Telephonist“ und
„Telefonist“ kamen vor. Für die bessere Lesbarkeit wurde für diese Arbeit die heute gültige Schreibweise
gewählt.
816 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 109–111und S. 166.
817 Vgl. Trapny, Blindentelephonie, S. 10–13, hier S. 10–11.
818 Erst 1948 konnten auch in Österreich solche Tastzeichen von der Firma „Czeija & Nissl“ in Wien mit Genehmigung der Firma „Siemens & Halske“ hergestellt werden. Vgl. Trapny, Blindentelephonie, S. 10–13,
hier S. 12.
819 Vgl. Koczott, Blinde am Fernsprechvermittlungsplatz, S. 4–11, hier S. 4.
820 Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges wurde Trapny in das Kriegsblindenlazarett nach Wien versetzt, um
dort die Grundausbildung der betroffenen Soldaten durchzuführen. Vgl. Kapitel II.9, III.4.2.1.
821 Vgl. Trapny, Blindentelephonie, S. 10–13, hier S. 10.
822 Trapny, Blindentelephonie, S. 10–13, hier S. 10.
823 Vgl. Trapny, Blindentelephonie, S. 10–13, hier S. 10.
128
reiste zur Wartung dieser Anlage während des Krieges fünfmal nach Wien. Anfang 1941
begann dort der erste Lehrgang, an dem nur zwei blinde Menschen teilnahmen, da der Kurs
noch erprobt werden musste.824 Bis 1945 wurden sieben Lehrgänge abgehalten, insgesamt
33 blinde Männer und Frauen absolvierten nach Angaben von Trapny, die aus dem Jahr
1954 stammen, die Ausbildung.825 Dabei lernten sie nicht nur die technische Bedienung
der Telefonzentrale. Zu den notwendigen Fähigkeiten gehörte auch, die Bedienung einer
Schreibmaschine zu beherrschen, um Mitteilungen schnell und für Sehende lesbar notieren
zu können.826
AbsolventInnen der Ausbildung zum Betriebstelefonisten in Wien erhielten einen „Befähigungsnachweis“. Ein entsprechendes Zeugnis ist auch in den Akten über die Kriegsblindenfürsorge erhalten.827 Die Kurse wurden von Zivil- und Kriegsblinden belegt,828 wobei
vor allem durch die Zunahme der erblindeten Soldaten im Laufe des Krieges die Anzahl der
Zivilblinden in diesen Ausbildungslehrgängen immer mehr zurückgegangen sein dürfte.
Nur 15 der 33 AbsolventInnen fanden in den Jahren 1942 bis 1948 allerdings eine Anstellung im neu erlernten Beruf.829 Da nicht alle Telefonzentralen die technischen Voraussetzungen erfüllten, um für blinde TelefonistInnen adaptiert zu werden, und außerdem die
Häufigkeit der ein- und ausgehenden Telefonverbindungen nicht zu hoch sein durfte, gab
es nur wenige geeignete Arbeitsplätze.830 Hinzu kam, dass während des Krieges nicht genügend TechnikerInnen zur Verfügung standen, welche die technischen Hilfsmittel in den
Telefonzentralen installieren konnten.831 Gegen Ende des Krieges verloren zudem vier der
AusbildungsteilnehmerInnen ihren Arbeitsplatz wieder, da ihre Betriebe durch Bomben
zerstört worden waren. Sechs der AbsolventInnen konnten in einem anderen Beruf unterkommen.832 Zwölf ehemalige KursteilnehmerInnen fanden keine Anstellung. Der Aufwand,
der für die Einführung dieses Berufes in der „Ostmark“ betrieben wurde, erscheint angesichts dieser Einstellungsbilanz als groß.
Außerdem profitierten nur wenige Zivilblinde von dieser neuen Berufsmöglichkeit, da
die wenigen offenen Posten in erster Linie Kriegsblinden zur Verfügung standen. Nach
der Entlassung aus der Wehrmacht sollten möglichst alle ehemaligen erblindeten Soldaten
einen Beruf zugewiesen bekommen. Der Kriegsblinde Telefonist Johann G. aus dem Gau
„Tirol- Vorarlberg“ erwartete sich beispielsweise eine Anstellung bei der Gemeinde Feldkirch. Dort arbeitete in der Telefonzentrale allerdings der blinde Invalidenrentner Christian
N., der diesen Posten nun für den Kriegsgeschädigten räumen sollte.833 Durch Intervention
des Bürgermeisters konnte in diesem Fall der Zivilblinde seinen Arbeitsplatz behalten und
824 Vgl. Trapny, Blindentelephonie, S. 10–13, hier S. 11. Außer in Wien gab es keine weitere Ausbildungsstätte
für blinde TelefonistInnen in der „Ostmark“. Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge Franz S., GZ IV/1, Leiter des Versorgungsamtes Graz an das HVA Wien vom 23.6.1942, Betreff: Berufsberatung Franz S.
825 Vgl. Trapny, Blindentelephonie, S. 10–13, hier S. 11.
826 Vgl. [Strehl], Blinden in mittleren und höheren Berufen, S. 63–71, hier S. 65.
827 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Karl K., Befähigungsnachweis für blinde Betriebstelefonisten vom 16.2.1944.
828 Vgl. Kurz, Der Telephonist, in: Der Kriegsblinde, Nr. 6, Jg. 26 (1942), S. 79–82, hier S. 79–80.
829 Vgl. Trapny, Blindentelephonie, S. 10–13, hier S. 11.
830 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 7; Kurz, Der Telephonist, S. 79–82, hier S. 80–81.
831 Vgl. Kurz, Der Telephonist, S. 79–82, hier S. 81.
832 Vgl. Trapny, Blindentelephonie, S. 10–13, hier S. 11.
833 Vgl. Kapitel II.2.3.2.
129
Johann G. kam beim Landesgericht unter. In der Regel wurden aber Kriegsblinde bei der
Berufsfürsorge bevorzugt.834
Der zweite neue „Zukunftsberuf“ für blinde Menschen in der NS-Zeit war der als StenotypistIn. Die ein- bis zweijährige Ausbildung dazu konnte zunächst nur an den Handelsschulen für blinde Menschen in Marburg an der Lahn und Berlin absolviert werden.
Die Anforderungen waren dabei sehr hoch: Die blinden AbsolventInnen sollten eine Stenographiergeschwindigkeit von 150 Silben und eine Anschlagsgeschwindigkeit von 240
bis 300 Anschlägen in der Minute erreichen.835 Die Bedingungen während der Ausbildung
waren zudem teilweise brutal: Eine in der NS-Zeit zwangssterilisierte blinde Jugendliche
berichtete Gabriel Richter in einem Interview 1984, dass sie neben ihrer Berufsausbildung
zur Telefonistin und Stenotypistin jede freie Stunde in der anstaltseigenen Strickerei verbringen musste, um Handlangerdienste zu leisten:
„Wenn jemand einmal krank wurde, so ging er erst im letzten Moment zum Arzt. […]
Ich weiß sogar von einem Sterbefall. Das betreffende Mädchen sah furchtbar blaß aus
und fühlte sich nicht wohl. Es wurde geschlagen und beschuldigt, es habe sich mit
Mehl bestäubt. Wenige Tage später war das Mädchen tot.“836
Auch blinde Menschen aus der „Ostmark“ dürften an diesen Schulen in Berlin und
Marburg eine Ausbildung absolviert haben.837 Aber erst nach der Einrichtung eines entsprechenden Lehrganges in Wien konnten vermehrt Betroffene aus den „Alpen- und
Donaureichsgauen“ diesen Beruf erlernen. Am 16. Juli 1943 legten die ersten sechs AbsolventInnen vor der Handelskammer eine Prüfung ab. Unter ihnen waren vier Frauen, ein
Mann sowie eine Person, dessen Vorname in der TeilnehmerInnenliste nicht angegeben
wurde, weshalb das Geschlecht dieser Person nicht eruiert werden kann.838 Leider ist
nicht bekannt, wie viele der TeilnehmerInnen dann tatsächlich eine Anstellung fanden.
Der Leiter des RBV-Gaubundes „Niederdonau“ berichtet von einem Zivilblinden, der im
Landratsamt Neubistritz als Stenotypist tätig war. 839 Auch in Kärnten konnten blinde
Menschen als Stenotypisten arbeiten.840 Weitere Angaben zu den Berufschancen blinder
StenotypistInnen konnten nicht gefunden werden. Angesichts der späten Einführung
dieser Ausbildungsmöglichkeiten in Wien, die ersten AbsolventInnen hatten erst rund
zwei Jahre vor Kriegsende abgeschlossen, dürfte auch dieser „Zukunftsberuf “ der NS-Zeit
nicht viele blinde Menschen ernährt haben.
834 Vgl. ÖSTA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann G.
835 Vgl. [Strehl], Die Blinden in mittleren und höheren Berufen, S. 63–71, hier S. 65–66.
836 Richter, Blindheit und Eugenik, S. 294.
837 Der selbst blinde Lehrer u. a. für das Fach Geschichte am Sonderpädagogischen Zentrum für blinde und
sehbehinderte Kinder in Innsbruck, Klaus Guggenberger, teilte der Autorin in einem persönlichen Gespräch am 19.2.2009 in Innsbruck mit, dass er blinde Menschen aus Österreich kannte, die zwischen 1938
und 1945 die Einrichtung in Marburg an der Lahn besucht haben.
838 Vgl. Klebert, Prüfung blinder Stenotypisten, S. 270–271.
839 Vgl. Fürstenberg, Blinden von Niederdonau, S. 287–289, hier S. 287.
840 Vgl. Molzbichler, Fünf Jahre, S. 195–197, hier S. 196.
130
6.6 Blinde „GeistesarbeiterInnen“
Unter dem Begriff „blinde GeistesarbeiterInnen“ verstand man in der NS-Zeit all diejenigen,
die eine Universität, Hoch- oder höhere Fachschule besucht hatten.841 Wie bereits eingangs
erwähnt, bekamen nur wenige Zivilblinde die Möglichkeit, eine solche Ausbildung zu absolvieren. Zivilblinde AkademikerInnen fanden im Gegensatz zu den Kriegsblinden nur schwer
eine Anstellung.842 In erster Linie für die Kriegsblinden war daher auch die Etablierung
einer neuen Studienrichtung für blinde Menschen gedacht: die Rundfunkwissenschaften.
Dieses Vorhaben wurde mit Mitteln des Propagandaministeriums finanziert, allerdings mit
der Einschränkung, dass „bevorzugt“ Kriegsblinde zu diesem Studium zugelassen werden
sollten.843
Eine Übersicht über die Mitglieder des „Vereins blinder Intellektueller Österreichs“844
aus dem Jahr 1933 zeigt, wie schwer es schon in der Zwischenkriegszeit für die 39 Mitglieder
war, eine Vollbeschäftigung zu finden. 19 waren „Jugendblinde“, sechs Kriegsblinde und 14
späterblindete „Zivilpersonen“. Nur neun von ihnen waren vollbeschäftigt. Davon arbeiteten
sechs in der Blindenfürsorge als Obmänner oder Beamte. Nebenberuflich arbeiteten vier
als blinde Lehrkräfte an den Blindenanstalten. Sieben MusiklehrerInnen, vier SprachlehrerInnen, drei BlindenlehrerInnen und eine Kindergärtnerin waren arbeitssuchend. 35 der
39 Mitglieder lebten in Wien.845
In der NS-Zeit war man der Auffassung, dass der außerordentliche „Aufwand an Energie und Kosten“846, der durch eine höhere akademische Ausbildung verursacht würde, bei
gleichzeitiger schlechter Anstellungsmöglichkeit die Zulassung von blinden Menschen
zum Studium nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt sei.847 Die Möglichkeiten, einen höheren Schulabschluss zu erlangen, wurden daher eingeschränkt. Nur „voll gesunde, geistig
hochbegabte und charakterlich einwandfreie“848 blinde SchülerInnen sollten überhaupt eine
höhere Schullaufbahn einschlagen können. Schon 1936 war die „Blindenstudienanstalt“ in
Marburg an der Lahn nach einem Erlass des Reichserziehungsministers vom 14. Dezember
zur „geeignetsten höheren Schule für Blinde“ im „Deutschen Reich“ bestimmt worden.849 Nur
in Ausnahmefällen sollten blinde Kinder zunächst probeweise die Möglichkeit bekommen,
an anderen Schulen das „Abitur“ zu machen.850
Die Einrichtung in Marburg als „Hochschulbücherei, Studienanstalt und Beratungsstelle für blinde Studierende“ hatte darüber hinaus am 22. Juni 1936 vom Präsident der
„Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ den Auftrag zur nichtgewerbsmäßigen Arbeitsvermittlung und Berufsberatung für „blinde GeistesarbeiterInnen“
841
842
843
844
845
846
847
848
849
Vgl. o. A., Vermittlungsauftrag für Österreich, S. 336–337 [Punktschriftausgabe].
Zu den Möglichkeiten von Kriegsblinden, ein Studium zu absolvieren, vgl. Kapitel III.5.1, III.5.4.
Vgl. Strehl, Rundfunkwissenschaften und Blindenstudium, S. 30–32, hier S. 30; Kapitel III.5.1.
Vgl. Kapitel II.3.6.
Vgl. Güterbock, Verein blinder Intellektueller Österreichs, S. 376–378 [Punktschriftausgabe].
[Strehl], Die Blinden in mittleren und höheren Berufen, S. 63–71, hier S. 64.
Vgl. [Strehl], Die Blinden in mittleren und höheren Berufen, S. 63–71, hier S. 64.
Rhode, Berufsfürsorge, S. 20–24, hier S. 22.
Vgl. [Strehl], Die Blinden in mittleren und höheren Berufen, S. 63–71, hier S. 67; Strehl, Schulische, berufliche und nachgehende Fürsorge, S. 23.
850 Vgl. Rhode, Berufsfürsorge, S. 20–24, hier S. 22; [Strehl], Die Blinden in mittleren und höheren Berufen,
S. 63–71, hier S. 67.
131
erhalten.851 Am 27. August 1938 wurde dieser auch auf das Gebiet der „Ostmark“ ausgedehnt.852 Ein namentlich nicht genannter Vertreter der „Blindenstudienanstalt“ rief blinde
AkademikerInnen in der „Ostmark“ auf, sich schriftlich mit einer Stellenbewerbung zu
melden. Ende 1938 sollte dieser Vertreter der „Studienanstalt“ eine Reise von München über
Salzburg, Linz nach Wien, dann nach Graz, Klagenfurt und Innsbruck unternehmen, um
dort einen Vortrag zum Thema „Die blinden Geistesarbeiter und ihre besondere Einrichtung
in Marburg/Lahn“853 zu halten. Auch für die „Ostmark“ sollte also diese Einrichtung im
„Altreich“ zur wichtigsten Ausbildungsstätte für eine höhere Schullaufbahn werden.
Zivilblinde, welche die Matura absolviert hatten, mussten für die Zulassung zum
Studium einen halbjährigen „Sonderdienst in den Arbeitsbetrieben der Marburger
Blindenstudienanstalt“854 absolvieren. Diese Regelung war zwar für blinde Menschen vorübergehend ausgesetzt worden, trat aber ab 1. April 1940 wieder in Kraft. Nur zwei MaturantInnen leisteten 1940 diesen Dienst in den Arbeitsbetrieben der Marburger Anstalt ab. 855
Diejenigen blinden Menschen, die es trotz dieser Bedingungen schafften, ein Studium
zu beenden, galten in der „Ostmark“ als etwas Besonderes. Über ihre Leistungen wurde in
den damaligen Zeitschriften des Blindenwesens berichtet. 1939 schrieb der bereits erwähnte
blinde Wiener Leopold Mayer von seinem erfolgreichen Abschluss an der Wiener Lehrerbildungsanstalt.856 In der „Blindenwelt“ wurde der späterblindete Paul Thüringer gewürdigt, der am 6. Mai 1940 in Wien zum Doktor der Philosophie promovierte.857 Eine kurze
Meldung erschien, als Wilhelm Graßmück die Reifeprüfung für Gesang und Gitarre an der
„Reichshochschule für Musik“ in Wien im Juni 1944 absolvierte.858 Alle diese Fälle waren
allerdings Ausnahmen. 1944 gab es nach Angaben von Carl Strehl in „Deutschland“ nur
„rund ein halbes Hundert zivilblinde Studierende“.859 Die Fortführung ihres Studiums war
durch den „totalen Kriegseinsatz“860, die Zerstörung einiger Hochschulen und die geplante
Schließung von Fakultäten zu diesem Zeitpunkt ungewiss. Sie sollten darüber hinaus neben
ihrem Studium 18 bis 20 Stunden wöchentlich einer der folgenden kriegswichtigen Tätigkeiten nachgehen:
„Anfertigung von Tarnnetzen, Strickarbeiten, Sortieren von Nieten, Anfertigung von
Wundklammern, Knüpfen von Reißschnüren für Handgranaten, Flechten von Aluminiumbändern für die Rüstungsindustrie.“861
851
852
853
854
855
856
857
858
859
Vgl. o. A., Vermittlungsauftrag für Österreich, S. 336–337.
Vgl. o. A., Vermittlungsauftrag für Österreich, S. 336–337.
O. A., Vermittlungsauftrag für Österreich, S. 336–337.
Strehl, Geschäftsbericht [1940], S. 3.
Vgl. Strehl, Geschäftsbericht [1940], S. 3.
Vgl. Mayer, Lehrerbildungsanstalt, S. 171–178.
Vgl. Besser, Außerordentlicher Erfolg eines Blinden, S. 127–128, hier S. 128.
Vgl. o. A., Zur Chronik des Blindenwesens. Wien [1944], S. 163.
Vgl. Carl Strehl, in: Marburger Beiträge, Nr. 3 (1944), S. 71ff [Schwarzdruckausgabe] zitiert in: Malmanesh, Blinde, S. 84–86, hier S. 86.
860 Malmanesh, Blinde, S. 85–86, hier S. 84.
861 Carl Strehl, in: Marburger Beiträge, Nr. 3 (1944), S. 71ff [Schwarzdruckausgabe] zitiert in: Malmanesh,
Blinde, S. 84–86, hier S. 86.
132
6.7 Blinde MusikerInnen
Blinde Menschen hatten, nach der Auffassung vieler PädagogInnen, bedingt durch ihr
angeblich „feines“ Gehör ein besonderes „musikalisches Talent“. Sie wurden daher zu OrganistInnen, KlavierspielerInnen, SängerInnen oder MusiklehrerInnen ausgebildet.
Auch unter dem NS-Regime wurde der Auftritt von blinden MusikerInnen bei Konzerten als eine wichtige Erwerbstätigkeit angesehen. Der freie Verkauf von Eintrittskarten für diese Veranstaltungen von Haus zu Haus wurde aber nach der Einführung des
Sammlungsgesetzes862 1934 verboten. Die Konzerte wurden zu genehmigungspflichtigen
Veranstaltungen.863 Durch die erste Verordnung zur Durchführung des Reichskulturkammergesetzes vom 1. November 1933 mussten alle MusikerInnen in der Reichsmusikkammer
Mitglied sein, um eine Erlaubnis zum Auftritt zu erhalten.864 In der Reichsmusikkammer
wurde 1935 das „Blindenkonzertamt“ eingerichtet, dass die Durchführung von Auftritten
blinder MusikerInnen beaufsichtigte.865 Geregelt wurden diese Veranstaltungen durch die
„Richtlinien für die Genehmigung von Blindenkonzerten“866. Als „Blindenkonzerte“ galten
öffentliche Auftritte, bei denen eine oder mehrere blinde KünstlerInnen mitwirkten. Die
Unkosten durften 70 Prozent nicht überschreiten, damit den mitwirkenden blinden KünstlerInnen wenigstens 30 Prozent der Bruttoeinnahmen zufallen würden.867 Als Genehmigungsbehörden fungierten größtenteils die Innenministerien der einzelnen Reichsgaue.868
Am 23. Juni 1939 erhielt das „Blindenkonzertamt“ neue Satzungen, wodurch es von einem
Aufsichtsorgan zu einer neuen Einrichtung wurde, die für alle durch die blinden Künst­
lerIn­nen bedingten Sonderaufgaben der Reichsmusikkammer zuständig war.869
Nach dem „Anschluss“ wurde das „Blindenkonzertamt“ auch in der „Ostmark“ tätig. Die
ersten Konzerte konnten in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ ab April 1940 durchgeführt
werden. Die Gesamtzahl der Konzerte mit blinden KünstlerInnen im „Deutschen Reich“
stieg dadurch von 672 im Geschäftsjahr April 1939 bis März 1940 auf 1.003 Veranstaltung
1940/41. Rund 100 blinde KünstlerInnen waren daran insgesamt beteiligt. Im Geschäftsjahr
1943/44 konnte die Rekordzahl von 1.517 Veranstaltungen erreicht werden. Der Umsatz
betrug über 1,8 Millionen RM. Blinde MusikerInnen kamen so auf ein Jahresdurchschnittseinkommen von mehr als 8.300 RM.870 Sie gehörten damit zu den SpitzenverdienerInnen
unter den blinden Menschen. Dafür mussten sie aber ihre künstlerische Freiheit aufgeben,
862 Vgl. Kapitel II.3.7.
863 Vgl. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 151/09 Bü 314, 18: Vollzug des Sammlungsgesetzes vom 5. November
1934; II.3.3a, zitiert in: Schrenk, Rudolf Kraemer, S. 219.
864 Vgl. [D] RGBl., Teil 1, Erste Verordnung zur Durchführung des Reichkulturkammergesetzes vom 1. November 1933, S. 797–800.
865 Vgl. Brüggemann, Die blinden Musiker, S. 57–63, hier S. 60.
866 Runderlass des Reichs- und Preußischen Minister des Inneren vom 17.10.35 V W 6000 a/5.10–Ministerialblatt der inneren Verwaltung Nr. 43 v. 23.10.1935, S. 1291, zitiert in: Brüggemann, Die blinden Musiker,
S. 57–63, hier S. 61.
867 Vgl. Runderlass des Reichs- und Preußischen Minister des Inneren vom 17.10.35 V W 6000 a/5.10–Ministerialblatt der inneren Verwaltung Nr. 43 v. 23.10.1935, S. 1291, zitiert in: Brüggemann, Die blinden
Musiker, S. 57–63, hier S. 61.
868 Vgl. Schrenk, Rudolf Kraemer, S. 220.
869 Vgl. Stoeckel, Die Förderung blinder Musiker, S. 267–270, hier S. 267 [Stoeckel war Referent an der Reichsmusikkammer].
870 Vgl. Schrenk, Rudolf Kraemer, S. 221–222.
133
denn angesichts der umfangreichen Zensur durch die Reichskulturkammer konnten sie
wie andere KünstlerInnen unter der NS-Diktatur nicht über Art, Umfang, Häufigkeit und
Programm ihrer Auftritte selbst entscheiden.871
Mit der Gründung der Reichskulturkammer Ende 1933 begann auch die Ausgrenzung
von KünstlerInnen, die keinen „Ariernachweis“ vorweisen konnten. Am 12. November
1938, zwei Tage nach der „Kristallnacht“, wurde es Menschen, die nach den „Nürnberger
Rassengesetzen“ als Jüdinnen und Juden galten, generell verboten, Theater, Konzerte, Kinos
oder andere kulturelle Veranstaltungen zu besuchen.872
Das „Blindenkonzertamt“ wurde vom RBV verwaltet,873 der bis 1943 über eine „Notenbeschaffungszentrale“ in Berlin verfügte, die aus einem Übertragungsbüro mit Leihbücherei und Druckabteilung bestand.874 Im Sommer 1943 wurde diese Einrichtung schließlich
auch vom „Blindenkonzertamt“ übernommen.875 Darüber hinaus gab es beim RBV eine
Fachgruppe für blinde KlavierstimmerInnen, die am 16. und 17. Oktober 1941 in Wien
eine Tagung abhielt.876
Sehr schwierig war die Beschäftigungssituation von blinden MusikerlehrerInnen. Wenn
sie nicht an einem Musikinstitut oder einer Blindenschule beschäftigt waren, konnten sie
mit ihrem Verdienst kaum ihren Lebensunterhalt bestreiten.877 1939 gab es zudem Bestrebungen in der Reichsmusikkammer, blinden Menschen die Erteilung von Privatunterricht gänzlich zu verbieten. Ihre ausreichende fachliche Qualifikation wurde angezweifelt,
da sie die Notenschrift der sehenden SchülerInnen nicht lesen konnten und außerdem
deren richtige Körperhaltung durch „Abtasten“ und „Berührungen“ feststellen mussten.878
In der Abteilung Musikerziehung des „Reichsministeriums für Volksaufklärung“ wurde
über diese Frage beraten. Referent Goslich ging davon aus, dass zwischen 4.000 und 5.000
Blinde von der „Ausschaltung blinder Musikerzieher“ betroffen sein würden. „In moralischer
Hinsicht“879 befürwortete er aber den Antrag der Reichsmusikkammer. Trotzdem stimmte in
einem Schrei­ben vom 22. September 1939 das „Reichsministerium für Volksaufklärung“ aus
„grundsätzlichen Erwägungen“880 nicht zu, blinden Menschen die Erteilung von Musikunterricht zu verbieten.881 Blinde MusiklehrerInnen dürften also weiterhin Sehende unterrichtet
871 Vgl. Steinweis, Art, ideology and economics, p. 103.
872 Vgl. Steinweis, Art, ideology and economics, p. 115. [Zum Ausschluss von KünstlerInnen jüdischer Herkunft aus dem kulturellen Leben des „Deutschen Reiches“ vgl. weiterführend Steinweis, Art, ideology and
economics, insb. pp. 104–120.]
873 Vgl. Rhode, Berufsfürsorge, S. 20–24, hier S. 23.
874 Vgl. Brüggemann, Die blinden Musiker, S. 57–63, hier S. 62.
875 Vgl. Schrenk, Rudolf Kraemer, S. 222.
876 Vgl. Gersdorff, Tätigkeitsbericht [1941], S. 221–229, hier S. 225.
877 Vgl. Brüggemann, Die blinden Musiker, S. 57–63, hier S. 58.
878 Vgl. BAB, RM für Volksaufklärung, R 55/20589, AZ M 10300/22.7.39/8522/1, Präsident der Reichsmusikkammer an das RM für Volksaufklärung vom 22.7.1939, Betreff: Erteilung von Musikunterricht durch
Blinde.
879 BAB, RM für Volksaufklärung, R 55/20589, Entwurf, August 1939, Referent Dr. Goslich, Betreff: Ausschaltung blinder Musikerzieher.
880 Vgl. BAB, RM für Volksaufklärung, R 55/20589, AZ M 10300/22.7.39/8522/1, RM für Volksaufklärung,
Referent Dr. Goslich an Präsidenten der RMK vom 22.9.1939, Betreff: Schreiben vom 22.7.1939 – VII
65676/39 [Signatur Reichsmusikkammer].
881 Vgl. BAB, RM für Volksaufklärung, R 55/20589, AZ M 10300/22.7.39/8522/1, RM für Volksaufklärung,
Referent Dr. Goslich an Präsidenten der RMK vom 22.9.1939, Betreff: Schreiben vom 22.7.1939 – VII
65676/39 [Signatur Reichsmusikkammer].
134
haben. Durch den kriegsbedingten geringen Bedarf an Musikunterricht hatten sie aber wie
ihre sehenden KollegInnen kaum mehr Erwerbsmöglichkeiten.
Auch bei den blinden MusikerInnen kam es gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zu
Einschränkungen. Konzerte mussten durch kurzfristige Saalbeschlagnahmungen oder
Zerstörungen der Auftrittsorte abgesagt werden. Außerdem gab es Transportprobleme.
Blinde UnterhaltungsmusikerInnen traten praktisch nur mehr bei Wehrmachtsveranstaltungen oder in Rüstungsbetrieben auf. In der Nacht vom 29. auf den 30. Jänner 1944 wurde
das „Blindenkonzertamt“ in Berlin zerstört. Obwohl Konzerte mit blinden MusikerInnen
auch während des „totalen Kriegseinsatzes“ ab Herbst 1944 stattfinden sollten, war in der
Praxis die Durchführung kaum mehr möglich. Der Konzertbetrieb kam weitgehend zum
Erliegen.882
6.8 Resümee
In der NS-Zeit wurden zwar neue Berufsmöglichkeiten entwickelt und deren Ausbildung
gefördert: Eine größere Anzahl von Zivilblinden fand aber keine Anstellung, obwohl für
die Einrichtung neuer Ausbildungslehrgänge, wie das Beispiel für blinde Be­triebs­te­le­fo­
nistIn­nen zeigt, ein sehr hoher Aufwand betrieben wurde. Aus heutiger Sicht erscheint es
als paradox, dass für die Schaffung neuer Berufsmöglichkeiten sogar gegen das NS-Postulat
der „Produktivität“ verstoßen wurde, da Aufwand und Nutzen in keiner sinnvollen Relation standen. Anspruch und Wirklichkeit der NS-Propaganda über die Beschäftigungsmöglichkeiten für blinde Menschen gingen daher weit auseinander. Das erklärte Ziel der
„Vollbeschäftigung“ wurde in keiner Phase auch nur annähernd erreicht. Die berufliche
Situation verbesserte sich zwischen 1938 bis 1945 kaum. Vorbehalte gegenüber der „Leistungsfähigkeit“ von „behinderten“ ArbeiterInnen verstärkt durch die Propaganda gegen
„Minderwertige“ und die mangelnde Erfahrung mit blinden Arbeitskräften begünstigten
diese Entwicklung. Die begonnenen Ausbildungszweige zu TelefonistInnen, StenotypistInnen oder auch MasseurInnen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings ausgebaut,
und blinde Menschen konnten sich in der Zweiten Republik in diesen Berufen etablieren.
Heutzutage arbeitet beispielsweise ein Großteil der berufstätigen blinden Menschen als
TelefonistInnen.
882 Vgl. Schrenk, Rudolf Kraemer, S. 222–223.
135
7.„Erholungsfürsorge“
„Die Ruhe ist wohltuend. Was haben wir berufstätigen Blinden, die wir täglich im Straßenverkehr
so viel Nervenkraft brauchen, von einem belebten
Kurort, wo wir vielleicht noch nicht einmal so sehr
erwünscht sind?“883
Um ihre „Produktivität“ zu erhalten, wurden in der NS-Zeit insbesondere erwerbstätige
blinde Menschen dazu angehalten, „Gesundheitspflege“884 zu betreiben. Diesbezügliche Agitation betrieb unter anderem der RBV-Gesundheitsrat Carl Siering. „Gesundheit wurde mit
Leistungsfähigkeit gleichgesetzt.“885 Demnach gehörte die „körperliche Ertüchtigung“ zur
„Pflicht“ eines jeden blinden „Volksgenossen“. An den Blindenanstalten wurden Turnstunden eingeführt,886 außerhalb der Schulen gründeten sich Blindensportvereine und Sporteinrichtungen der DAF sollten von den blinden SportlerInnen genutzt werden.887
Die so genannte „Erholungsfürsorge“ war Teil der NS-Gesundheitspflege blinder Menschen. Schon in der Zwischenkriegszeit waren in Deutschland und Österreich von den
Selbsthilfeorganisationen Erholungsheime für blinde Menschen geschaffen worden. 1926
erwarb der „Verband der Blindenvereine Österreichs“ in St. Georgen am Reith ein Ein­kehr­
gast­haus und vergrößerte es durch einen Zubau. Ab 1. Juli 1927 konnten dort in zwei Zyklen
je etwa 30 blinde Menschen einen Urlaub verbringen.888 Nach dem „Anschluss“ ging das
Erholungsheim St. Georgen in den Besitz des RBV über, der 1938 über insgesamt sieben
solcher Einrichtungen verfügte.889
Die „Erholungsfürsorge“ des RBV orientierte sich an, wie es hieß, „biologischvölkischen“ 890 Gesichtspunkten. Die Plätze sollten dementsprechend hauptsächlich
„arbeitstauglichen“ 891 blinden Menschen zur Verfügung stehen. Dies spiegelt sich auch
in den offiziellen RBV-Statistiken zur „Erholungsfürsorge“ wider. Von den 1939 insgesamt 1.293 blinden Erholungssuchenden waren 813 berufstätig. In den folgenden Jahren
kamen immer weniger nichterwerbstätige Blinde in den RBV-Erholungsheimen unter.
1940 stellten sie noch einen Anteil von rund 20,5 Prozent. 1942 waren es nur mehr rund
11,7 Prozent.892 Auswirkungen hatten diese Regelungen auch auf den Frauenanteil unter
den blinden Gästen. Da die Arbeitslosigkeit unter ihnen höher war als unter den blinden
Männern, ging ihr Anteil von rund 44 Prozent im Jahr 1939 auf 39 Prozent 1942 zurück.
883
884
885
886
887
888
889
Friedrich, St. Georgen am Reith, S. 57–60, hier S. 60.
Siering, Gesundheitspflege, S. 131–137.
Jantzen, Sozialgeschichte, S. 149.
Vgl. Kapitel II.4.2.
Vgl. Siering, Gesundheitspflege, S. 131–137.
Vgl. o. A., Geschichtlicher Abriss unseres Hauses.
Blindenerholungsheime gab es in Wernigerode, Bad Oppelsdorf bei Zittau, auf dem Kniebis bei Freudenstadt im Schwarzwald, am Timmendorferstrand (Lübecker Bucht), Wertheim am Main, St. Georgen am
Reith und in Marquartstein in Südbayern.
890 Siering, Gesundheitspflege, S. 131–137, hier S. 134.
891 Siering, Gesundheitspflege, S. 131–137, hier S. 134.
892 Die Berufsstatistiken der Jahre 1939 bis 1942 sind im Anhang des Manuskriptes meiner Dissertation dargestellt. Vgl. Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 537–538.
136
Ab 1943 bis zum Kriegsende 1945 veröffentlichte der RBV keine Statistiken zur „Erholungsfürsorge“ mehr.893
Aus den Angaben des RBV geht nicht hervor, ob das Haus in St. Georgen 1938 geöffnet
war oder nicht. In die Auswertung des RBV wurde diese Einrichtung erst 1939 aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt verfügte die Einrichtung über 70 Betten.894 Pro Tag und
Person mussten drei RM gezahlt werden. Unter Umständen konnten berufstätige Blinde
allerdings einen kostenfreien Aufenthalt in den RBV-Erholungsheimen verbringen. An
deren Finanzierung waren verschiedene Stellen beteiligt: das Reichsversicherungsamt, die
Landesversicherungsanstalten, die Krankenkassen, die NSV, die Sozialämter der DAF, die
zuständigen Einrichtungen der öffentlichen und „freien“ Wohlfahrtspflege sowie der RBV.895
175 blinde Gäste kamen 1939 nach St. Georgen. Insgesamt zählte der RBV in diesem
Jahr 1.293 blinde Menschen in den RBV-Erholungsheimen. Der Kriegsbeginn unterbrach
den Betrieb allerdings. Viele Gäste reisten ab und Anmeldungen wurden zurückgezogen.896
Ab 1939 kamen nach St. Georgen nicht mehr nur blinde Gäste aus der „Ostmark“: Blinde
Menschen aus dem ganzen „Deutschen Reich“ konnten sich anmelden. Während 1940 die
Gesamtzahl der Aufenthalte von blinden Gästen in den RBV Erholungs- und Kurheimen
zurückging, konnte in St. Georgen eine leichte Steigerung verzeichnet werden. 206 blinde
Menschen (1939: 175) mit ihren sehenden Begleitpersonen, insgesamt 289 Personen, verbrachten 6.054 so genannte „Pflegetage“897 dort. Im ganzen „Deutschen Reich“ zählte der
RBV 1940 nur mehr 903 (1939: 1.293) blinde Gäste in den Erholungsheimen. Der RBV
erklärte diesen Rückgang offiziell damit, dass drei der insgesamt sechs RBV Einrichtungen
im „Altreich“ 1940 der Aufnahme von „Rückwanderern“ und „Umsiedlern“ gedient hätten.898
1941 war auch das Heim in St. Georgen davon betroffen. Bis Mitte April war es laut RBVAngaben ein „Umsiedlerlager“.899 Erst am 1. Juni wurde es wieder für blinde BesucherInnen
geöffnet. Dementsprechend kamen 1941 nur mehr 52 blinde Menschen dorthin.900
Im Jahr 1942 wurden die Richtlinien für die Aufnahme in den Erholungsheimen
geändert. Fast die Hälfte aller Plätze wurde blinden ArbeiterInnen, die in Rüstungs- oder
kriegswichtigen Betrieben tätig waren, kostenfrei zur Verfügung gestellt.901 Durch diese
Maßnahme sollte wohl eine Steigerung der Arbeitsleistung von blinden ArbeiterInnen in
kriegswichtigen Unternehmen erreicht werden.
Das Erholungsheim in St. Georgen war von diesen Regelungen nicht betroffen. In einem
Aufsatz über die Geschichte dieser Einrichtung heißt es, dort seien 1942 eine „chemische
Versuchsanstalt“ und „rumänische Umsiedler“ untergebracht worden.902 Die „Erholungsfürsorge“ des RBV wurde kriegsbedingt eingeschränkt. Die Aufenthaltsdauer für blinde
893
894
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897
898
899
Für diese Studie wurden daher die Statistiken der Jahre 1939 bis 1942 herangezogen.
Vgl. Siering, Gesundheitspflege, S. 131–137, hier S. 134.
Vgl. Siering, Gesundheitspflege, S. 131–137, hier S. 136.
Vgl. o. A., Unsere Kur- und Erholungsheime im Jahre 1939, S. 38.
Vgl. o. A., Unsere Kur- und Erholungsheime im Jahr 1940, S. 34.
Vgl. o. A., Unsere Kur- und Erholungsheime im Jahr 1940, S. 34.
O. A., Bestimmungen für den Besuch unserer Kur- und Erholungsheime im Jahre 1941, S. 35–36, hier
S. 35.
900 Vgl. o. A., Uebersicht über den Besuch unserer Heime im Jahre 1941, S. 58–61.
901 Vgl. Gersdorff, Bericht über die Arbeit des RBV [1942], S. 279–283, hier S. 280.
902 Vgl. o. A., Geschichtlicher Abriss unseres Hauses.
137
Menschen reduzierte sich 1943 von vier auf höchstens drei Wochen.903 1944 kam die „Erholungsfürsorge“ schließlich fast gänzlich zum Erliegen. Entweder waren die Einrichtungen
für andere Zwecke von der Wehrmacht beschlagnahmt oder sie wurden gegen Kriegsende
mit evakuierten blinden Menschen aus durch Luftangriffe gefährdeten Gebieten und mit
obdachlosen Betroffenen belegt.904 Auch in St. Georgen kamen 1944 evakuierte blinde Menschen mit ihren Familien unter.
Der Erholungsbetrieb im ursprünglichen Sinn konnte nach dem Ende des Krieges 1946
wieder eingeschränkt aufgenommen werden.905 Bis zum Sommer 2009 nutzte der ÖBSV
die Einrichtung in St. Georgen als Urlaubspension „Zur Waldquelle“ für blinde Gäste. Aus
finanziellen Gründen beschloss der ÖBSV 2009 den Betrieb einzustellen.
903 Vgl. o. A., Bestimmungen über den Besuch der Blindenerholungsheime 1943, S. 37–40, hier S. 37.
904 Vgl. Gersdorff, Blindenerholung 1944, S. 95–98, hier S. 96.
905 Vgl. o. A., Geschichtlicher Abriss unseres Hauses.
138
8.Blindheit und Eugenik
8.1 Einleitung
Inwieweit blinde Menschen in der „Ostmark“ durch das eugenische Programm des NSRegimes betroffen waren, sollte durch eine eigenständige wissenschaftliche Arbeit erforscht
werden. Gabriel Richter hat dies mit seiner 1986 publizierten Dissertation „Blindheit und
Eugenik“ für Deutschland getan.906 Auf Grund fehlender und für ihn nicht zugänglicher
Quellen konnte aber auch Richter seine Forschungsfragen teilweise nicht erschöpfend
beantworten.907 Im Folgenden wird dementsprechend ein Überblick zum derzeitigen
Erkenntnisstand über das Thema Blindheit und Eugenik in der „Ostmark“ gegeben. Als
Quellen wurden unter anderem die Akten von 14 Verfahren, die am Wiener Erbgesundheitsgericht wegen „erblicher Blindheit“ geführt wurden, herangezogen.908 Der Bestand im
WStLA umfasst 1.697 erstinstanzliche Verfahrensakten und 266 dazugehörige Beschwerdeverfahren.909
Unter dem von Francis Galton geprägten Begriff der Eugenik910 wurden Maßnahmen
verstanden, welche zur „langfristigen Verbesserung des Erbanlagenbestands des deutschen
Volkes durch Förderung der Fortpflanzung“ so genannter „Erbgesunder“ und der Verhinderung der Reproduktion „Erbkranker“ dienten.911 WissenschaftlerInnen setzten sich im
19. und 20. Jahrhundert mit den entsprechenden Ansichten auseinander.912
906 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik. Das GzVeN in Zusammenhang mit der Augenheilkunde im Nationalsozialismus hat der Leiter des ophthalmologischen Labors der Universitäts-Augenklinik Tübingen,
Jens Martin Rohrbach, in einer 2007 publizierten Studie behandelt. Seine Arbeit ist für die Beantwortung
medizinisch-historischer Fragen durchaus relevant, die Quellenangaben zu seinen Schilderungen insbesondere zum GzVeN sind allerdings mangelhaft. Auch stellt er in diesem Zusammenhang beispielsweise
die wissenschaftlich unhaltbare Vermutung auf, die Mehrzahl der AugenärztInnen hätten mit den Sterilisationen etwas Gutes tun wollen. Die Arbeit von Rohrbach muss dementsprechend kritisch beurteilt
werden und seine Aussagen wurden in dieser Studie nur nach einer ausführlichen Kritik herangezogen.
Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, insb. S. 131.
907 Das Thema Eugenik wurde auch in Bezug auf andere Behinderungsgruppen untersucht. Vgl. Antor, Bleidick, Recht auf Leben; Büttner, Der Bann G; Ryan, Schumacher, Deaf People in Hitler’s Europe; Fuchs,
„Körperbehinderte“; Biesold, Klagende Hände; Rudnik, Aussondern; Hamm, Zwangssterilisation und
„Euthanasie“; Poore, Disability in Twentieth Century, pp. 116–124.
908 Claudia Spring hat den Bestand des Wiener Erbgesundheitsgerichts für ihre Dissertation, die 2009 publiziert wurde, bearbeitet. Freundlicherweise gab sie die Aktenzahlen dieser 14 Verfahren wegen „erblicher
Blindheit“ bekannt, weshalb diese Unterlagen für diese Arbeit im WStLA eingesehen werden konnten.
Vgl. Spring, „Zwangssterilisationen in Wien 1940–1945. [Publikation: Spring, Zwischen Krieg und Euthanasie.]
909 Vgl. Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 10.
910 Es ist an dieser Stelle nicht möglich, alle relevanten Monographien und Sammelbände zum Thema Eugenik zu zitieren, deshalb wird auch auf die in folgenden Werken angegebene Literatur und Quellen verwiesen. Vgl. u. a. diese sowie die in diesem Kapitel an anderer Stelle zitierte Literatur: Baader, Hofer,
Mayer, Eugenik in Österreich; Bock, Zwangssterilisation; Gabriel, Neugebauer, Zwangssterilisierung zur
Ermordung; Horn, Malina, Medizin im Nationalsozialismus; Henke, Tödliche Medizin; Goldberger, NSGesundheitspolitik; Malina, Neugebauer, NS-Gesundheitswesen und -Medizin, S. 696–720.
911 Vgl. Schmitz-Berning, Vokabular, S. 212.
912 Zur Geschichte der Eugenik und der Rassenhygiene vgl. auch die dort angegebene Literatur u. a. Seidler,
Rassenhygiene und das völkische Menschenbild, S. 77–97; Spring, NS-Zwangssterilisation in der Heilund Pflegeanstalt Am Steinhof, S. 42–76, hier bes. S. 48–49; Malmanesh, Blinde, hier bes. S. 27–43; Hödl,
139
Das rassenhygienische Programm des NS-Regimes umfasste ein breites Spektrum. Es
beinhaltete Handlungen der so genannten „positiven“ Eugenik,913 Zwangsmaßnahmen gegen
„unerwünschte“ Bevölkerungsgruppen wie Zwangssterilisationen und Eheverbote sowie die
„Vernichtung unwerten Lebens“ und den Holocaust.914 Im Folgenden soll vor allem auf die
Bedeutung der Zwangssterilisationen, „Euthanasie“-Maßnahmen und Eheverbote für blinde
Menschen eingegangen werden. Darüber hinaus werden die Auswirkungen der Propaganda,
welche die Umsetzung der eugenischen Zwangsmaßnahmen begleitet haben, beschrieben.915
8.2 Zwangssterilisationen
8.2.1 Gesetzgebung
Menschen, die als „erbkrank“ galten, sollten im NS-Staat keine Kinder bekommen und
daher „unfruchtbar“ gemacht werden. Gesetzlich geregelt wurde dies durch das „Gesetz
zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN), das am 1. Jänner 1934 in Deutschland in Kraft trat. Zu den Diagnosen, die eine Zwangssterilisation indizierten, zählte
laut § 2, Ziffer 6 auch „erbliche Blindheit“.916 Die Verfahren wurden vor dem eigens dafür
geschaffenen Erbgesundheitsgericht geführt, das in Österreich bei den Landesgerichten
angesiedelt war. Verantwortlich für die Beschlüsse waren nach dem GzVeN zwei Ärzte,
ein beamteter und ein in der „Erbgesundheitslehre“ versierter Arzt. Unter dem Vorsitz
des Richters, der das Verfahren vorbereitete und für den formalen Ablauf verantwortlich
war, wurde festgestellt, ob die betroffenen Frauen und Männer als „erbkrank“ anzusehen waren oder nicht.917 Gegebenenfalls wurde eine „Unfruchtbarmachung“ angeordnet.
Dieser Eingriff konnte gegen den Willen der Betroffenen durchgeführt werden.918 Sich
einer gerichtlich angeordneten Zwangssterilisation zu entziehen, war Betroffenen theoretisch nur dann möglich, wenn sie sich auf eigene Kosten in eine geschlossene Anstalt919
913
914
915
916
917
918
919
140
Rassenhygiene zum Nationalsozialismus, S. 136–157; Löscher, Katholische Eugenik in Österreich; Gabriel, Neugebauer, Eugenik, Rassenhygiene und Euthanasie.
Dazu zählte die Förderung „erbgesunder“ Familien mit „erwünschter“ Nachkommenschaft. Das Spektrum der Maßnahmen reichte von Kinder-, Familien- und Ausbildungsbeihilfen über die staatlich subventionierte Bekämpfung der Kinderlosigkeit bis zur rassisch motivierten Ehevermittlung. Auch kinderreiche Familien, bei denen der Vater blind war, erhielten Förderungen. Vgl. Kapitel II.2.4.2; Goldberger,
„Erb- und Rassenpflege“ in Oberdonau, S. 345–366, hier S. 351–353.
Vgl. u. a. Schmitz-Berning, Vokabular, S. 212–213. Zum Begriff Holocaust vgl. Kapitel IV.1.1.
Vgl. dazu weiterführend: Makowski, Eugenik.
Weitere Diagnosen waren „angeborener Schwachsinn“, „Schizophrenie“, „erbliche Fallsucht“, „erblicher
Veitstanz“, „erbliche Taubheit“, „schwere erbliche körperliche Mißbildungen“ sowie „Alkoholismus“.
Vgl. Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, S. 56; zur Diagnose „erbliche
Blindheit“ vgl. Kapitel II.8.2.2.
Vgl. Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 55.
Dies bestimmte § 12 des GzVeN. Zitiert nach: Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken
Nachwuchses, S. 58; Bock, Zwangssterilisation, S. 254–298.
Ein Teil der Betroffenen, die für eine solche Unterbringung die finanziellen Mittel aufgebracht hatten,
wurden Opfer der Ermordung von 120.000 Anstaltsinsassen ab September 1939. Vgl. Bock, Zwangssterilisation, S. 264.
aufnehmen ließen.920 Diese Bestimmung hatte aber kaum praktische Relevanz.921 Die
Prozentzahlen lagen im Vergleich zu den durchgeführten Sterilisationen zwischen null
und zwei Prozent.922
Gemeinsam mit dem „Ehegesundheitsgesetz“ (EGG) sollte das GzVeN am 1. Jänner
1939 auch in der „Ostmark“ in Kraft treten:923 Da eine Novellierung des GzVeN beabsichtigt war und insbesondere über die Beurteilung der GzVeN-Diagnosen „Schwachsinn“ und
Epilepsie keine Einigung zwischen der Dienststelle des „Stellvertreters des Führers“ und
dem Reichsinnen und -justizministerium bestand, verzögerte sich die Einführung beider
Gesetze um ein Jahr.924 Daher traten das GzVeN und das EGG in der „Ostmark“ erst am
1. Jänner 1940 in Kraft.925
Zu diesem Zeitpunkt war ein Großteil der Zwangssterilisationen von blinden Menschen in Deutschland schon vollzogen worden. In Bayern waren zu Kriegsbeginn 81
Prozent der Zwangssterilisationen auf Grund der Diagnose „erbliche Blindheit“ bereits
erfolgt.926 Außerdem trat das GzVeN in der „Ostmark“ angesichts der Kriegsvorbereitungen in einer eingeschränkten Form in Kraft:927 Seit einer Verordnung vom 31. August
1939928 galt, dass Zwangssterilisationen nach dem GzVeN nur noch bei „besonders großer
Fortpflanzungsgefahr“929 vorgenommen werden sollten.
Nach einer Novelle vom Juni 1935930 war in das GzVeN auch der § 10 a aufgenommen
worden. Dieser legalisierte bei schwangeren Frauen, die zwangssterilisiert werden sollten,
eine Abtreibung nach eugenischer Indikation.931 Ausdrücklich nicht erlaubt war dieser
Eingriff allerdings, wenn die Frucht schon als lebensfähig galt. Die Schwangere oder ihre
920 Vgl. Ausführungsverordnung GzVeN Artikel 6 zu § 12 zitiert nach: Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, S. 65.
921 Richter, Blindheit und Eugenik, S. 177.
922 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 177; Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 244;
TLA, Reichsstatthalterei in Tirol und Vorarlberg, IIIa1-M-II/3-19/1942, Jahresbericht über die Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, zitiert in: Pöll, Geschichte des Gesundheitswesens, S. 63.
923 Vgl. Spring, NS-Zwangssterilisation in der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof, S. 41–76, hier S. 45.
924 Spring, NS-Zwangssterilisation in der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof, S. 41–76, hier S. 45. Zu den
Hintergründen dieser verzögerten Einführung vgl. außerdem ÖStA, AdR, 03, VG Rassenpflege 1939, Kt.
2417, GZ. 260.326/39, Protokoll einer Besprechung im RMI vom 23.8.1939, zitiert in: Spring, Antragsstellung trotz Kriegseinsatz, S. 181–199, hier S. 185; Spring, NS-Zwangssterilisation in der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof, S. 41–76, hier S. 45; Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–240, hier S. 235.
925 Weiterführende Quelle zur Einführung des GzVeN vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 155, Zl. 2354,
Einführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und des Ehegesundheitsgesetzes im
Lande Österreich.
926 Vgl Beckenbauer, Sterilisation in Bayern, S. 50–58, hier S. 56.
927 Vgl. Spring, NS-Zwangssterilisation in der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof, S. 41–76, hier S. 48.
928 Vgl. [D] RGBl., Teil 1, Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und des Ehegesundheitsgesetzes vom 31. August 1939, S. 1560–1561.
929 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 155, Zl. 2354, Kundmachung: Einführung des Gesetzes zur Verhütung
erbkranken Nachwuchses und des Gesetzes zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes in der
Ostmark mit 14. November 1939; GBlÖ, Nr. 1438/1939, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses
und Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit vom 14. November 1939 [Verordnung vom 31. August 1939
angehängt]; Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 85–86.
930 Vgl. [D], RGBl., Teil I, Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom
26. Juni 1935, S. 773.
931 Von den zehn Beschlüssen zur „Unfruchtbarmachung“ am Wiener Erbgesundheitsgericht auf Grund
der Diagnose „erbliche Blindheit“ waren zwei schwangere Frauen betroffen, bei denen im angenomme-
141
gesetzliche Vertreterin bzw. ihr gesetzlicher Vertreter sollten außerdem zu dem Abbruch
die „Einwilligung“ geben und das Leben oder die Gesundheit der werdenden Mutter durfte
nach den Buchstaben des Gesetzes nicht gefährdet werden. Die Umsetzung dieser Regelungen erfolgte aber vielfach nicht gesetzeskonform. Abtreibungen auf Grund eugenischer
Indikation wurden gegen den Willen der Schwangeren und nach dem sechsten Schwangerschaftsmonat durchgeführt.932
Anträge am Erbgesundheitsgericht konnten von verschiedener Seite eingebracht werden. Theoretisch war auch eine Selbstanzeige möglich. Am Wiener Erbgesundheitsgericht
wurden 37 Prozent, also mehr als ein Drittel aller Verfahren, auf Grund der Anträge von
Anstaltsdirektoren, vor allem von der Anstalt „Am Steinhof“, in Gang gebracht. 56 Prozent
erfolgten auf Betreiben der Amtsärzte des Gesundheitsamtes.933
Das GzVeN sah die Möglichkeit der Beschwerde gegen einen Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes vor. Seit der GzVeN-Novelle aus dem Jahr 1935934 betrug die Frist dafür
14  Tage. Gegen 16 Prozent aller Beschlüsse wurde beim Erbgesundheitsobergericht in Wien
als Revisionsinstanz eine Beschwerde eingebracht.935 Tatsächlich war es möglich, dass auf
Grund eines fristgerecht eingebrachten Einspruchs eine Zwangssterilisation nicht durchgeführt wurde, wenn Zweifel an der erblichen Bedingtheit der diagnostizierten Krankheit
vorlag. Claudia Spring schrieb dazu:
„Dies erfolgte jedoch nicht, um die Betroffenen von den lebenslangen Folgen des
Zwangseingriffs zu bewahren, sondern um zu gewährleisten, dass als erbgesund
geltende Menschen – im Sinne der pronatalistischen Bevölkerungspolitik des NSRegimes, das selbstbestimmte Sterilisationen und Abtreibungen kriminalisierte –
keineswegs an ihrer Fortpflanzung gehindert werden sollten.“936
8.2.2 Diagnose „erbliche Blindheit“
„Völlige Blindheit, das Fehlen jedes Lichtscheines,
ist nicht erforderlich.“937
In einigen der bisher veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeiten über blinde Menschen
unter dem NS-Regime wird davon ausgegangen, dass Personen, die wegen der Diagnose
932
933
934
935
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937
142
nen dritten und fünften Schwangerschaftsmonat eine Abtreibung vorgenommen wurde. Vgl. WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 16, AZ 2 XIII 146/43 und Kt. 14, AZ 2 XIII 188/42.
Vgl. Biesold, Klagende Hände, S. 45; Makowski, Eugenik, S. 150; Heitzer, Zwangssterilisation in Passau,
S. 273–275.
Vgl. Spring, Restitution der Fertilität, S. 367–392, hier S. 373.
Vgl. [D], RGBl., Teil I, Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom
26. Juni 1935, S. 773.
Vgl. Spring, Antragsstellung trotz Kriegseinsatz, S. 181–199, hier S. 191.
Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 129; Vgl. Spring, Restitution der Fertilität, S. 367–392, hier
S. 376–382.
Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, S. 107.
„erbliche Blindheit“ vor dem Erbgesundheitsgericht standen, tatsächlich blind waren.938
Gabriel Richter berechnete beispielsweise auf der Grundlage von ausgewerteten Verfahren, die wegen der Diagnose „erbliche Blindheit“ geführt worden waren, die tatsächliche
Anzahl von blinden Menschen, die zwangssterilisiert wurden.939 Dies ist allerdings eine
Fehleinschätzung. Nach dem GzVeN kam es auch zu Verfahren vor einem Erbgesundheitsgericht wegen der Diagnose „erbliche Blindheit“, obwohl keine völlige oder auch
nur praktische Blindheit vorlag.940 Die Annahme der Erblichkeit einer vorhandenen
Sehbehinderung war das ausschlaggebende Kriterium, nicht deren Ausmaß. Für eine
Zwangssterilisation kamen dementsprechend auch sehbehinderte Menschen in Frage.
Martin Bartels, Leiter der Städtischen Augenklinik Dortmund, schrieb dazu 1939 im
„Ratgeber für Blinde“:
„Andererseits will das Gesetz unter Blindheit nicht nur völlige, sondern auch praktische Blindheit verstanden wissen und überhaupt jede Herabsetzung des Sehvermögens, die so beträchtlich ist, daß sie die Leistungsfähigkeit des Erbkranken wesentlich
vermindert.“941
Die Zwangssterilisation von Menschen, die bei einer erblich bedingten Augenerkrankung
noch über einen Sehrest verfügten, war laut Arthur Gütt, Ernst Rüdin und Falk Ruttke sogar
besonders dringend. Ihrer Auffassung nach war bei sehbehinderten im Gegensatz zu blinden
Menschen die Gefahr der „Weiterverschleppung der Krankheit“ besonders groß, weil sie auf
Grund ihres Sehrestes „noch Ehepartner finden, während die Gefahr bei vollständig Blinden
nicht so groß“ sei.942 Es war ein „Hauptdogma“943 der NS-Zeit, Menschen zu sterilisieren,
die als leichtere Fälle galten.944 Opfer der NS-Sterilisationspolitik waren in erster Linie so
genannte „Fortpflanzungsfähige“ bzw. „Fortpflanzungsgefährliche“.
Ob bei einer diagnostizierten „erblichen Augenerkrankung“ eine Zwangssterilisation
anzuordnen war oder nicht, wurde in dem bereits zitierten Kommentar zum GzVeN von
Gütt, Rüdin und Ruttke festgelegt.945 Weiter ausgeführt wurden diese Indikationen im fünften Band des 1938 von Arthur Gütt herausgegebenen „Handbuch der Erbkrankheiten“.946
Dieses Werk gab nicht nur Auskunft über den damaligen wissenschaftlichen Forschungsstand, sondern auch über die als notwendig angesehenen eugenischen Maßnahmen.947
938 Vgl. u. a. Richter, Blindheit und Eugenik, insb. S. 147–151; Beckenbauer, Sterilisation in Bayern, S. 50–58;
Friedlander, Holocaust Studies and the Deaf Community, pp. 15–31.
939 Gabriel Richter kam zu dieser Fehleinschätzung, obwohl ihm bekannt war, dass unter die Diagnose „erbliche Blindheit“ auch Sehbehinderte und Menschen mit einem guten Sehrest fielen, die eine angenommene
erbliche Augenerkrankung hatten. Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 115–123; Kapitel II.8.2.3.
940 Vgl. u. a. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 234. Kapitel I.4.
941 Bartels, Hygiene, in: Meurer, Ratgeber, S. 1–15, hier S. 12.
942 Vgl. Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, S. 110.
943 Bock, Zwangssterilisierung, S. 308.
944 Vgl. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 234 und 238.
945 Vgl. Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, S.107–114.
946 Vgl. Gütt, Erbleiden.
947 Da es bis 1938 kein umfassendes Buch über die Erbleiden des Auges gab und die Erläuterungen zum
GzVeN nach Gütt, Rüdin und Ruttke nur oberflächlich Auskunft gaben, war die Unsicherheit in Deutschland sehr groß, nach welchen Indikationen eine Zwangssterilisation wegen „erblicher Blindheit“ angeordnet werden sollte. Für die Durchführung des GzVeN in der „Ostmark“ lag das Standardwerk mit Beiträgen
143
Ausschlaggebend für die Empfehlung für oder gegen eine Zwangssterilisation war die
Einschätzung, inwieweit eine „erblich bedingte Augenerkrankung“ die „Berufsfähigkeit“
der Betroffenen einschränkte. Nach Auffassung von Gütt, Rüdin und Ruttke konnten erblich bedingte Sehbehinderungen zu einer „schweren Berufsstörung“948 führen. Die Begründung, warum bei einer angenommenen „fleckigen Hornhauttrübung (Dystrophia corneae
maculosa)“949 eine Zwangssterilisation anzuordnen sei, lautete daher beispielsweise:
„Da die fleckige Hornhauttrübung schon in jüngeren Jahren das Sehen beeinträchtigt und im mittleren Lebensalter die Ausübung der meisten Berufe erschwert, wenn
nicht unmöglich macht, sind die Träger dieser Erbkrankheit als – ‚blind‘ im Sinne
des Gesetzes zu betrachten und unfruchtbar zu machen.“950
Es gab auch den umgekehrten Fall. Das heißt, Augenerkrankungen, die nach damaligem
Wissensstand als „erblich“ galten, die aber keine Indikation für eine Zwangssterilisation
oder ein Eheverbot darstellten, weil sie das Erwerbsleben der Betroffenen kaum beeinträchtigten.951 Als Beispiel kann hier das „Erbliche Augenzittern“952 (Nystagmus) genannt werden.
Die Sehschärfe beim hereditären Nystagmus wurde vom 1. Assistenten der Universitätsklinik für Augenkrankheiten in Berlin, Heinrich Harms, als „recht gut“953 eingeschätzt. Die
Berufsfähigkeit der Betroffenen sei daher nur „in bestimmter Richtung“ 954 eingeschränkt.
Dass die Bewertung einer Augenerkrankung nach ihren Auswirkungen auf die „Berufsfähigkeit“ unter Umständen sogar den Ausgang eines Verfahrens nach dem GzVeN beeinflussen konnte, wird durch die Arbeit von Gabriel Richter bestätigt. Unter den von Richter
ausgewerteten Verfahren befindet sich beispielsweise ein Mann, bei dem „Retinitis Pigmentosa“ diagnostiziert wurde. Diese fortschreitende Erkrankung der Netzhaut kann zur
Erblindung führen und galt in den meisten Ausprägungen als erblich.955 Obwohl in diesem
Fall eine familiäre Belastung bejaht wurde, kam es zu keiner angeordneten Zwangssterilisation, offenbar mit der Begründung, der betroffene sehbehinderte Mann sei „berufsfähig“.956
Jessika Hennig kommt auf Grund einer Auswertung von 439 Akten des Erbgesundheitsgerichtes Offenbach am Main (D) aus den Jahren 1934 bis 1944 zu dem Ergebnis, dass bei
948
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vieler bekannter Augenheilkundler schon vor. Dies könnte auch die Indikationen bei den Verfahren wegen „erblicher Blindheit“ beeinflusst haben und zu einer anderen Praxis als im „Altreich“ geführt haben.
Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 123.
Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, S. 112.
Bücklers, Erbliche Hornhauttrübungen, S. 74–96, hier S. 84.
Bücklers, Erbliche Hornhauttrübungen, S. 74–96, hier S. 84.
Vgl. Harms, Erbliches Augenzittern, S. 287–297, hier S. 296.
Harms, Erbliches Augenzittern, S. 287–297, hier S. 289.
Harms, Erbliches Augenzittern, S. 287–297, hier S. 289.
Harms, Erbliches Augenzittern, S. 287–297, hier S. 296.
Vgl. Kapitel II.1.2.2.
Richter, Blindheit und Eugenik, S. 148 [Mann Nr. 6 in Tabelle Nr. 15]. Jens Martin Rohrbach gibt in seiner
Arbeit den Fall eines 16-Jährigen aus Hamburg aus dem Jahr 1938 wieder, bei dem „Retinitis Pigmentosa“
diagnostiziert wurde, der aber nur Probleme mit der Dunkeladaption hatte und dementsprechend voll
„berufsfähig“ war. Das Erbgesundheitsgericht lehnte deshalb eine Zwangssterilisation ab. Auf Betreiben
des Amtsarztes hob das Erbgesundheitsobergericht diesen Beschluss allerdings seinen Angaben nach wieder auf und ordnete den Zwangseingriff an. Rohrbachs Quellenangaben dazu sind aber mangelhaft, weshalb dieses Beispiel nicht verifizierbar ist. Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 129.
den Diagnosen „erbliche Blindheit“ sowie „erbliche Taubheit“ und „schwere körperliche
Mißbildung“ das Gericht vorsichtiger mit seinen Beschlüssen war, Zweifel an der „Erblichkeit“ eher zuließ und auch die Sichtweise der Betroffenen berücksichtigte. Für diese
Beurteilung konnte sie allerdings nur drei Verfahren, die auf Grund der Antragsdiagnose
„erbliche Blindheit“ geführt wurden, heranziehen. Nur in einem Fall kam es dabei zur
Anordnung einer Zwangssterilisation.957
Welche diagnostizierten Augenerkrankungen tatsächlich zu einer Zwangssterilisierung
auf Grund der Diagnose „erbliche Blindheit“ in der NS-Zeit führten, kann auf Grund des
für diese Arbeit ausgewerteten Quellenmaterials nicht beantwortet werden. Gabriel Richter untersuchte für seine 1987 publizierte Studie lediglich eine regional beschränkte Auswertung von Indikationen für eine Zwangssterilisation auf Grund der GzVeN-Diagnose
„erbliche Blindheit“, die im Raum Nürnberg, Fürth und Erlangen (Mittelfranken) vom
„Institut für Humangenetik und Anthropologie“ in Erlangen und Nürnberg durchgeführt
worden war.958 Diese Daten stammen zudem aus den 1970er Jahren. Aktuellere regionale
Untersuchungen zu Zwangssterilisationen in Deutschland geben zu dieser Fragestellung
keine Auskunft, weil in diesen lediglich die Anzahl von GzVeN-Verfahren auf Grund der
Diagnose „erbliche Blindheit“ veröffentlicht wurde, nicht aber die angenommenen erblichen
Augenerkrankungen, die ein Verfahren indizierten.959
Nach den Angaben von Richter kam es in Mittelfranken zwischen 1935 und 1944 zu
Zwangssterilisationen von elf Männern und acht Frauen auf Grund der Diagnose „erbliche Blindheit“. Von den insgesamt 19 angeordneten Zwangssterilisierungen erfolgten
zwei auf Grund einer Starerkrankung. In sechs Fällen sah das Erbgesundheitsgericht eine
„Retinitis Pigmentosa“ als gegeben an und in vier Fällen erfolgte der Beschluss wegen einer
„Opticusatrophie“960. Die restlichen Zwangssterilisierungen wurden auf Grund anderer Diagnosen angeordnet und bei insgesamt fünf Fällen ist die genaue Indikation, die zur Feststellung der „erblichen Blindheit“ führte, nicht bekannt.961 Bei elf Männern und einer Frau
wurde die Sterilisation abgelehnt.962
Auf Grundlage dieser aufgearbeiteten Fälle aus dem Raum Mittelfranken kommt Richter zu dem Ergebnis, dass blinde Menschen auch in augenärztlich umstrittenen Fällen
zwangssterilisiert wurden.963 Wie bereits im ersten Kapitel über die Ursachen von erblich
bedingten Erblindungen ausgeführt wurde, war der wissenschaftliche Kenntnisstand über
957 Vgl. Hennig, Zwangssterilisation in Offenbach, S. 179.
958 Dafür wurde der Bestand der „Sippenakten“ Nr. 1 bis 30 443 bearbeitet. Vgl. Jobst Thürauf, Erhebungen
über die im Rahmen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (G. z. V. e. N.) vom 14.7.1933
in den Jahren 1934–1945 durchgeführten Sterilisationen im Raume Nürnberg-Fürth-Erlangen (Mittelfranken), dargestellt an den Akten des Gesundheitsamtes der Stadt Nürnberg. I. Beitrag, Diss. [Manuskript], Erlangen 1970, Harald Hoffmann, [Ders. Titel]. II. Beitrag, Diss. [Manuskript], Erlangen 1971,
Dieter Horn, [Ders. Titel]. III. Beitrag, Diss. [Manuskript], Erlangen 1972, Heidi Kreutzer, [Ders. Titel]. IV.
Beitrag, Diss. [Manuskript], Erlangen 1972, zitiert in: Richter, Eugenik und Blindheit, S. 147–151.
959 Nur Jessika Hennig ging in ihrer Studie weitergehend auf die Diagnose „erbliche Blindheit“ ein. Vgl. Hennig, Zwangssterilisation in Offenbach, S. 111–113 und S. 179–183. Vgl. Braß, Zwangssterilisationen und
„Euthanasie“ im Saarland, S. 90–91; Simon, Kriminalbiologie und Zwangssterilisation, S. 281–296.
960 Erkrankung der Sehnerven. Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 147–148.
961 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 147–148.
962 Richter konnte insgesamt 31 Verfahren auf Grund der GzVeN-Diagnose „erbliche Blindheit“ für seine
Auswertung heranziehen.
963 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 150.
145
die Erblichkeit von zahlreichen Erkrankungen aber vielfach noch sehr bescheiden. In diesem
Zusammenhang wurde insbesondere auf die aus heutiger Sicht häufig fälschlicherweise
angenommene Erblichkeit der Starerkrankungen hingewiesen.964 Die Indikationsstellung
für eine Zwangssterilisation muss schon auf Grund dieses Aspektes als willkürlich bezeichnet werden.
Für diese Arbeit konnten durch die Angaben von Claudia Spring die Verfahrensakten
von 14 Fällen auf Grund der angenommenen Diagnose „erbliche Blindheit“ aus dem Quellenbestand des Erbgesundheitsgerichts Wien eingesehen werden. In zehn Fällen endete das
Verfahren mit dem Beschluss zur Unfruchtbarmachung. Eine dieser Zwangssterilisierungen wurde wegen „angeborenen Schwachsinns“ in Verbindung mit „erblicher Blindheit“
beschlossen. Bei drei der insgesamt 14 Betroffenen endete das Verfahren mit der Feststellung,
dass keine „erblich bedingte Blindheit“ diagnostiziert werden konnte.965 Ein Verfahren
wurde ohne Beschluss für die Dauer des Krieges eingestellt. Acht Männer und sechs Frauen
waren betroffen.
Bei vier Zwangssterilisationen ist der operative Eingriff dokumentiert. In fünf Fällen
fehlen die Informationen dazu und ein Eingriff wurde auf Grund des „totalen Kriegs­ein­sat­
zes“ verschoben. Bei acht dieser 14 Fälle kann auf Grund von Hinweisen im vorhandenen
Quellenmaterial der Eindruck gewonnen werden, keine Blindheit oder praktische Blindheit,
sondern eine angenommene erblich bedingte Sehbehinderung habe das Verfahren indiziert.
Anna H. zum Beispiel war auf Grund einer „fleckigen Hornhauttrübung“966 (Dystrophia
cornea maculosa) sehbehindert. Wie bereits erwähnt, wurde auch diese Krankheit als „erblich“ eingestuft und eine negative Auswirkung auf die „Berufsfähigkeit“ angenommen, auch
wenn die Betroffene zum Zeitpunkt des Verfahrens noch über einen relativ guten Sehrest
verfügte. Anna H. war im dritten Monat schwanger. Am 7. Juli 1943 wurde bei ihr die
gerichtlich angeordnete Zwangssterilisation und Abtreibung nach eugenischer Indikation
vorgenommen.967 Bei Maria H.968 kam es zu einem Verfahren vor dem Erbgesundheitsgericht, obwohl sie nur eine Missbildung des rechten Auges hatte.969 Im März 1942 endete ihr
Verfahren mit dem Beschluss, dass keine „Erbkrankheit“ vorlag.970
Im Vergleich mit den von Gabriel Richter zitierten Verfahren fällt auf, dass in Wien
und im Raum Mittelfranken eine angenommene „Retinitis Pigmentosa“ zu der Indikation zählte, die am häufigsten zu einem Verfahren geführt hatte. In Wien erfolgten fünf
der 14 Verfahren auf Grund dieser angenommenen Augenerkrankung. Vier Verfahren
964 Vgl. Kapitel II.1.2.2; Hennig, Zwangssterilisation in Offenbach, S. 182; Rohrbach, Augenheilkunde im
Nationalsozialismus, S. 138.
965 Claudia Spring kommt zu dem Ergebnis, dass insgesamt 17 Prozent aller Verfahren damit endeten, dass
eine Zwangssterilisation abgelehnt wurde. In 72 Prozent der Fälle wurde eine Zwangssterilisation angeordnet und elf Prozent hatten einen anderen Verfahrensausgang. In 93 Prozent der ablehnenden Beschlüsse galten die Frauen und Männer vor dem Erbgesundheitsgericht als nicht oder nicht sicher „erbkrank“,
in sieben Prozent war die im GzVeN verankerte „besondere Fortpflanzungsgefahr“ nicht gegeben. Vgl.
Spring, Antragsstellung trotz Kriegseinsatz, S. 181–199, hier S. 189–190.
966 WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 16, AZ 2 XIII 146/43.
967 Vgl. WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 16, AZ 2 XIII 146/43.
968 Die beiden Frauen, die hier als Beispiel ausgewählt wurden, sind nicht verwandt und haben nur durch
Zufall bei ihren Nachnamen denselben Anfangsbuchstaben.
969 Personen, die nur auf einem Auge erblindet sind und auf dem anderen über einen guten Sehrest verfügen,
haben meist kaum Schwierigkeiten bei der Alltagsbewältigung.
970 Vgl. WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 5, AZ 1 XIII 180/42.
146
endeten mit einer Anordnung zur „Unfruchtbarmachung“, eines wurde für die Dauer des
Krieges eingestellt. Sechs der insgesamt 31 von Richter aufgearbeiteten Verfahren wurden
auf Grund einer angenommenen „Retinitis Pigmentosa“ geführt. In fünf Fällen ordnete
das Erbgesundheitsgericht eine Zwangssterilisierung an. Auf Grund der Tatsache, dass die
Anzahl der zur Auswertung vorliegenden Verfahrensakten so gering ist, begründet diese
Auffälligkeit keine generelle Aussage. Auch eine geschlechterspezifische Untersuchung der
Indikationen ist aus diesem Grund nicht möglich. Zu Klärung dieser Fragestellung sind
weitergehende wissenschaftliche Untersuchungen von Quellenmaterial, soweit vorhanden,
zur Zwangssterilisationen notwendig.
8.2.3 Ausmaß der Zwangssterilisationen
Auf Grund der im vorhergehenden Kapitel gemachten Aussagen über die Definition von
Blindheit nach dem GzVeN ist es nicht möglich, auf Basis der wegen der Diagnose „erbliche
Blindheit“ geführten Verfahren darauf zu schließen, wie viele blinde Menschen betroffen
waren. Wie bereits erwähnt, fielen unter diese Diagnose nicht nur blinde Menschen, sondern
auch sehbehinderte Personen, das heißt Menschen mit Sehrest. Im Folgenden kann daher
nur wiedergegeben werden, wie hoch der Anteil dieser Diagnose an der Gesamtzahl der
Verfahren war, und im Weiteren, wie viele Zwangssterilisationen auf Grund der GzVeNDiagnose „erbliche Blindheit“ angeordnet wurden.
Außerdem ist es allgemein schwer zu sagen, wie hoch die Anzahl von Zwangssterilisationen im „Deutschen Reich“ war. Hier können nur Schätzungen angegeben werden.
Gisela Bock nimmt an, dass in den elf Jahren, die das GzVeN wirksam war, rund 400.000
Menschen sterilisiert wurden.971 Für Österreich schätzt 1992 Wolfgang Neugebauer 6.000
durchgeführte Zwangssterilisierungen an Frauen und Männern.972 Claudia Spring sieht
diese Schätzung durch neuere Forschungsergebnisse973 bestätigt.974 Nach ihren Untersuchungen der Akten des Erbgesundheitsgerichtes Wien wurden 1.200 Zwangssterilisierungen angeordnet.975 Demnach standen in Wien zwischen 1940 und 1945 anteilsmäßig
weniger Menschen vor dem Erbgesundheitsgericht als im „Altreich“. In Wien entsprach
die Anzahl der Verfahren nach einer Berechnung von Spring 0,1 Prozent der damaligen
Bevölkerung.976 Gisela Bock errechnete für diesen Zeitraum einen Durchschnitt von einem
Prozent, also das Zehnfache.977 Für den Gau Tirol-Vorarlberg errechnete Stefan Lechner,
dass circa 0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung bei den Gesundheitsämtern angezeigt
wurden.978
971 Vgl. Bock, Zwangssterilisation, S. 8.
972 Vgl. Neugebauer, Zwangssterilisierungen und „Euthanasie“, S. 17–28, hier S. 19.
973 Vgl. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 243; Goldberger, NS-Gesundheitspolitik in
Linz, S. 799–906, hier S. 857; Laiding, Das Gesundheitswesen, S. 58–85, hier S. 85; Steiermärkisches Landesarchiv, Landesregierung, 200 II E 6/1944, zitiert in: Neugebauer, Zwangssterilisierung und „Euthanasie“, S. 17–28, hier S. 18.
974 Vgl. Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 54.
975 Vgl. Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 54.
976 Vgl. Spring, Antragsstellung trotz Kriegseinsatz, S. 181–199, hier S. 186.
977 Vgl. Bock, Zwangssterilisation, S. 232.
978 Vgl. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 238.
147
Zählungen und Hochrechnungen für das gesamte „Deutsche Reich“ ergaben, dass 95
Prozent aller Zwangssterilisationen auf Grund der psychiatrischen Diagnosen „Schwachsinn“, „Schizophrenie“, manisch-depressives „Irresein“ und Epilepsie erfolgten.979 In Wien
machte die Diagnose „Schwachsinn“ 42 Prozent der Beschlüsse aus, gefolgt von „Schizophrenie“ mit 26 Prozent und „Fallsucht“ mit 16 Prozent.980
Der Anteil der Diagnose „erbliche Blindheit“ an der Gesamtzahl der Verfahren war
dabei vergleichsweise niedrig, was charakteristisch für die Verfahren an Erbgesundheitsgerichten981 im gesamten „Deutschen Reich“ war, auch wenn die Häufigkeit der einzelnen
Diagnosen regional zum Teil stark variierte.982
In Wien sind nach den Erkenntnissen von Spring, wie bereits erwähnt, 14 Verfahren
wegen der GzVeN-Diagnose „erblicher Blindheit“983 durchgeführt worden. Das ergibt einen
Anteil von 0,8 Prozent an der Gesamtzahl der überlieferten Verfahren. In zehn Fällen wurde
eine Zwangssterilisation angeordnet.
Einer von Wolfgang Neugebauer zitierten Quelle aus dem Steiermärkischen Landesarchiv zufolge lag der Anteil der Diagnosen „erbliche Blindheit“ und „erbliche Taubheit“
an den Zwangssterilisationen dort bei 6,5 Prozent.984 Dabei dürften mehr Verfahren zur
Diagnose „erbliche Taubheit“ geführt worden sein. Nach Spring wurden wegen angenommener „erblicher Taubheit“ am Wiener Erbgesundheitsgericht etwas mehr Verfahren geführt
als wegen „erblicher Blindheit“.985 Am Erbgesundheitsgericht Offenbach waren zwischen
1934 und 1944 von insgesamt 395 Verfahren nur vier auf Grund einer angenommenen
„erblichen Blindheit“ indiziert. Das entsprach 0,76 Prozent der Antragsdiagnosen.986 Nach
einer Zusammenstellung von verschiedenen Erbgesundheitsgerichten in Deutschland987 von
Christoph Braß ergab sich ein Anteil der Diagnose „erbliche Blindheit“ an den Verfahren
von 0,5 Prozent in Göttingen, bis zu 3,3 Prozent in Marburg.988
Henry Friedlander gab in seinem Aufsatz über Gehörlose an, dass 0,6 Prozent aller
Zwangssterilisationen im Jahr 1934 auf Grund der GzVeN-Diagnose „erbliche Blindheit“
979 Vgl. Goldberger, „Erb- und Rassenpflege“ in Oberdonau, S. 345–366, hier S. 355–356. Lechner gibt in
diesem Zusammenhang 96 Prozent an. Vgl. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 234.
980 Vgl. Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 94; Spring, Restitution der Fertilität, S. 367–392, hier S. 376.
Die meisten Zwangssterilisationen wurden unter der Diagnose „Schwachsinn“ gefällt. Vgl. dazu u. a.
Bock, Zwangssterilisation, S. 311; Neugebauer, Zwangssterilisierung und „Euthanasie“, S. 17–28, hier S. 18;
Malmanesh, Blinde, S. 48; Rüscher, NS-„Euthanasie“ im Bregenzerwald, S. 122.
981 Mit den Erbgesundheitsgerichten in den annektierten und besetzten Gebieten gab es 1941/42 181 solcher
Gerichte. Vgl. Statistisches Jahrbuch, Jg. 59 (1941/42), S. 646, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S.  43.
982 Simon, Kriminalbiologie und Zwangssterilisation, S. 283.
983 Soweit das aus den vorliegenden Akten beurteilt werden kann, muss bei mindestens acht der vor dem
Erbgesundheitsgericht angezeigten Personen davon ausgegangen werden, dass sie nicht blind, sondern
sehbehindert waren. Vgl. Kapitel II.8.2.2.
984 Vgl. Landesregierung, 200 II E 6/1944, zitiert in: Neugebauer, Zwangssterilisierung und „Euthanasie“,
S. 17–28, hier S. 18.
985 Vgl. Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 235 [Diagramm EGG 17: 1833 genannte GzVeN-Diagnosen
in 1.695 Verfahren].
986 Vgl. Hennig, Zwangssterilisation in Offenbach, S. 111.
987 Diese gab es bis 1938 in Saar, Frankfurt, Hamburg, Köln, Marburg und Göttingen.
988 Vgl. Braß, Zwangssterilisation, S. 91. [Der Wert für Marburg an der Lahn muss dabei als Ausnahme bewertet werden, weil dort die größte Blindenanstalt im „Deutschen Reich“ angesiedelt war und dementsprechend viele SchülerInnen dieser Einrichtungen dem dortigen Erbgesundheitsgericht gemeldet worden
sein dürften.]
148
erfolgten.989 Insgesamt wurde in dieser Übersicht über die Durchführung des GzVeN aus
dem Jahr 1934 von 201 Zwangssterilisationen wegen „erblicher Blindheit“ ausgegangen.
126 Männer (0,8 Prozent) und 75 Frauen (0,5 Prozent) wurden auf Grund dieser Diagnose
sterilisiert.990 Achim Thom und Horst Spaar schätzen, dass etwa 0,5 Prozent der Sterilisationen infolge der Diagnose „erbliche Blindheit“ durchgeführt wurden.991
Gabriel Richter kommt durch eine von ihm erstellte Hochrechnung zu der näherungsweisen Angabe, dass in Deutschland ohne dem Saargebiet zwischen 2.400 und 2.800 Menschen wegen der Diagnose „erbliche Blindheit“ sterilisiert worden seinen.992 Bei einer angenommenen Gesamtzahl von 400.000 Zwangssterilisierungen im „Deutschen Reich“ ergibt
sich dadurch ein Anteil von 0,6 bis 0,7 Prozent.
In Hinblick auf die fragmentarische Quellenlage müssen alle diese Angaben als reine
Näherungswerte angesehen werden. Es kann aber daraus geschlossen werden, dass maximal
ein Prozent der angeordneten Zwangsterilisationen auf Grund der Diagnose „erbliche Blindheit“ erfolgt sind. Bei einer geschätzten Anzahl von 6.000 Zwangssterilisationen in Österreich würde das bedeuten, dass höchstens bei 60 Personen, die nach dem GzVeN als „erblich
blind“ galten, der Beschluss zur Zwangssterilisation gefällt wurde. Die Zahl könnte allerdings durchaus höher liegen.993 Gabriel Richter kam in Deutschland durch Aussagen Betroffener zu dem Ergebnis, Zwangssterilisationen seien auch bei Minderjährigen vorgenommen
worden. In dem schwer zugänglichen und fragmentarisch überlieferten Quellenmaterial
sind die Zwangssterilisationen von Minderjährigen allerdings nicht dokumentiert.994 Ob
diese Tatsache auch für die Zeit zwischen 1940 und 1945 für die „Ostmark“ galt, kann nicht
beantwortet werden. Hier war die Praxis der Verfahren an den Erbgesundheitsgerichten,
wie bereits erwähnt, unterschiedlich, auch bedingt durch den Kriegsausbruch und die späte,
eingeschränkte Einführung des GzVeN. Ein weiteres Problem bei der vollständigen Erfassung der Fälle gibt Stefan Lechner in seinem Aufsatz über Zwangssterilisationen im Gau
989 Der Anteil der GzVeN-Diagnose „erbliche Taubheit“ war dabei 1934 mit einem Prozent etwas höher. Vgl.
BA Koblenz (BAK), R 18/5585, Übersicht über die Durchführung des Gesetztes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, zitiert in: Friedlander, Holocaust Studies and the Deaf Community, pp. 15–31, hier
p. 22; Friedlander, The Origin of Nazi Genocide, pp. 28–29. Auch Friedlander geht davon aus, dass Personen, bei denen „erbliche Taubheit“ diagnostiziert worden war, tatsächlich gehörlos waren. Es ist aber
anzunehmen, dass für diese Indikation Ähnliches wie für die Diagnose „erbliche Blindheit“ galt. Vgl.
Hennig, Zwangssterilisation in Offenbach, S. 179–183.
990 Vgl. Friedlander, The Origin of the Nazi Genocide, p. 29.
991 Vgl. Achim Thom, Horst Spaar, Medizin im Faschismus, Berlin 1983, S. 180 ff, zitiert in: Sachße, Tennstedt,
Wohlfahrtsstaat, S. 174.
992 Fälschlicherweise geht Richter hierbei davon aus, dass es sich tatsächlich um blinde Menschen gehandelt
hat und nicht nur um Personen, die lediglich nach dem GzVeN als „erblich blind“ galten. Vgl. Richter,
Blindheit und Eugenik, S. 153–154; Kapitel II.8.2.2.
993 Im Rahmen meines Vortrages über die vorläufigen Forschungsergebnisse meiner Dissertationsarbeit auf
dem Zeitgeschichtetag 2008 wurde von mir gesagt, die Zahl der in der „Ostmark“ zwangssterilisierten
blinden Menschen sei auf unter 100 zu schätzen. Richtig ist die Annahme, dass es voraussichtlich nicht
mehr Beschlüsse zur „Unfruchtbarmachung“ infolge der Diagnose „erbliche Blindheit“ in Österreich gegeben hat und dementsprechend weniger als 100 blinde und sehbehinderte [sic!] Personen zwangssterilisiert wurden.
994 Richter tätigte diese Aussage im Rahmen einer niedergeschriebenen Diskussion zu seinem Vortrag mit
dem Titel „Eugenische Forderungen, die Praxis der NS-Rassenpolitik und die Haltung der Blindenorganisationen in der Öffentlichkeit“ auf dem bereits erwähnten Seminar im November 1989 in Berlin Wannsee.
Vgl. Blinde unterm Hakenkreuz, S. 140.
149
„Tirol-Vorarlberg“ an. Für die Jahre 1944 und 1945 konnte er beispielsweise keine Angaben
machen, weil die Verwaltungsarbeit kriegsbedingt stark eingeschränkt wurde und daher
über diesen Zeitraum nur spärlich Dokumente vorhanden sind.995
8.2.4 Durchführung
„Ich fahre freiwillig in kein Krankenhaus und lasse
mich höchstens mit Gewalt wegtragen.“996
Ein Verfahren vor dem Erbgesundheitsgericht sollte klären, ob eine Person nach den Bestimmungen des GzVeN als „erbkrank“ einzustufen war oder nicht. Damit die Diagnose „erbliche Blindheit“ gestellt werden konnte, bedurfte es häufig umfassender Untersuchungen.
In den Erläuterungen zum GzVeN heißt es sogar, dass in den meisten Fällen eine einfache
„klinische Diagnose“ nicht ausreichen würde, sondern erst durch „eine fachärztliche genaue
klinische Untersuchung“ in Verbindung mit einer „Untersuchung und Beobachtung der Blutsverwandten“ festgestellt werden könnte, ob eine vorliegende Sehbehinderung oder Blindheit
„erblich“ bedingt sei.997 Damit sollte ausgeschlossen werden, dass eine Augenerkrankung
durch äußere Ursachen, wie zum Beispiel eine Syphilis-Erkrankung 998, entstanden war.999
Auch in den Kriegsjahren wurden am Erbgesundheitsgericht Wien derartige Gutachten
erstellt. Die Zahl dieser nahm während des Krieges sogar noch zu. Spring vermutet, diese
Tatsache sei damit zu begründen, dass gerade in Zeiten des „totalen Krieges“ Menschen
ausführlich begutachtet werden sollten, um festzustellen, ob sie als „erbgesund“ oder „erbkrank“ galten. „Erbgesunde“ Menschen sollten keinesfalls unfruchtbar gemacht werden,
da dies laut der NS-Ideologie die „Volksgemeinschaft“ schädigen würde.1000 Auch bei zehn
der untersuchten 14 Verfahren am Erbgesundheitsgericht Wien kam es auf Grund weitergehender medizinischer Gutachten und Untersuchungen zu einer Entscheidung.1001 Bei
einem Fall wurde noch 1944 angeordnet, 15 Verwandte des betreffenden Mannes, bei dem
„Retinitis Pigmentosa“ vermutet wurde, nach Wien zur fachärztlichen Untersuchung zu
bringen. Die Umsetzung dieses Unterfangen gestaltete sich während des Krieges schwierig,
unter anderem deshalb, weil einige der betreffenden Familienmitglieder zur Wehrmacht
eingerückt waren. Von der Augenklinik in Wien wurde daher im November 1944 an das
Erbgesundheitsgericht gemeldet, dass es wegen der Kriegsverhältnisse unmöglich sei, diese
Untersuchungen durchzuführen. Das Verfahren wurde dann schließlich im Jänner 1945
für die Dauer des Krieges eingestellt.1002
Gutachter äußerten sich außerdem nicht nur über die angenommene Augenerkrankung, sondern beurteilten immer auch den „Geisteszustand“ der Betroffenen. Ein wichtiges
995 Vgl. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 243.
996 WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 21, AZ XIII 75/45. [Aussage des sehbehinderten Franz S.
in einer Sitzung des Erbgesundheitsgerichtes vom 18. Februar 1944 zu der geplanten Zwangssterilisation.]
997 Vgl. Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, S. 108.
998 Zu den verschiedenen möglichen Ursachen von Erblindungen vgl. Kapitel II.1.2.
999 Vgl. Gütt, Rüdin, Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, S. 108.
1000 Vgl. Spring, Antragsstellung trotz Kriegseinsatz, S. 181–199, hier S. 193.
1001 Vgl. Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 103.
1002 Vgl. WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 15, AZ 2 XIII 267/42.
150
Kriterium war dabei das Lesen und Schreiben. Im Fall von Franz S. wurde beispielsweise
in Wien nicht nur „erbliche Blindheit“ auf Grund beidseitigen angeborenen Stars, sondern
auch „Schwachsinn“ diagnostiziert. In der Begründung zur Entscheidung auf „Unfruchtbarmachung“ vom 22. Oktober 1942 hieß es, seine „mangelnde Sprachbildung“1003 und seine
schlechten schulischen Leistungen würden darauf hinweisen. „Auch beim Leseversuch
zeigt sich weitestgehende Unfähigkeit, die erfassten Buchstaben zu Silben und zu Worten
zusammenzufassen.“1004 Unberücksichtigt blieb dabei, inwieweit die angeborene Sehbehinderung von Franz S. dafür verantwortlich war, dass er kaum lesen und in der Schule dem
Unterricht nicht folgen konnte. Das Vorliegen von „angeborenem Schwachsinn“ galt aber
für den Vorsitzenden Richter Alfred Tomanetz als gesichert. Im amtsärztlichen Gutachten
vom 10. Februar 1942 wurde die Sehbehinderung nur als weitere „Teilerscheinung der schwer
degenerativen Erbanlage des Prob[anten]“1005 angesehen.
Stefan Lechner beschreibt in seinem 2002 publizierten Aufsatz den Fall einer 1920 geborenen Südtiroler Umsiedlerin, die 1941 wegen der Diagnose „erbliche Blindheit“ zwangssterilisiert werden sollte. Bei ihr war außer einer „Retinitis Pigmentosa“ auch „angeborener
Schwachsinn“ diagnostiziert worden. Am 14. November 1941 schrieb die Betreffende an
die „Reichskanzlei des Führers“ einen Brief, um die drohende Zwangssterilisation noch
abzuwenden. Darin beklagte sie sich auch über den bei ihr vorgenommenen Intelligenztest,
„der Fragen enthielte, die sie in der Schule überhaupt nicht gelernt habe.“1006 Mitunter, so
zeigt dieser Fall, stellten also die Verfahren auch die „geistige Vollwertigkeit“ der blinden
und sehbehinderten Menschen in Frage.
Auf Grund der Altersstruktur der 14 Betroffenen kann nicht davon ausgegangen werden,
dass unter ihnen SchülerInnen der „Blindenschule mit Heim“ in Wien waren. Unbestritten
aber ist, dass die Blindenschulen erbbiologische Informationen für die Erstellung einer
„Erbkartei“ weitergaben.1007
Eigentlich sollten die Verfahren am Erbgesundheitsgericht Wien im Oktober 1944 eingestellt werden. Das RM d. I. ordnete die Einstellung der Verfahren bis Kriegsende an.
Verzögerte Postzustellung, Bombenangriffe und -schäden, Mangel an Heizmaterial für
die Gerichtsräume und vor allem der kriegsbedingte Ärztemangel führten zu diesem Entschluss.1008 Bei einem für diese Arbeit untersuchten Fall wurde allerdings die Durchführung
einer beschlossenen Zwangssterilisierung auf Grund des „totalen Kriegseinsatzes“ erst mit
Beschluss vom Februar 1945 als nicht mehr erforderlich angesehen.1009
8.2.5 Medizinisch-psychische Aspekte
Zwangssterilisierungen wurden in der Regel durch chirurgische Eingriffe vorgenommen.
Nach dem Lehrbuch erfolgte diese Operation durch die Unterbindung oder Durchtrennung
1003 WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 13, AZ 2 XIII 96/42.
1004 WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 13, AZ 2 XIII 96/42.
1005 WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 13, AZ 2 XIII 96/42.
1006 Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 240.
1007 Vgl. Kapitel II.4.3.
1008 Vgl. Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 65.
1009 Vgl. WStLA, Erbgesundheitsgericht Wien, 2.3.15; Kt. 21, AZ XIII 75/45.
151
der Eileiter bei der Frau und des Samenleiters beim Mann.1010 Nach einer Änderung des
GzVeN vom 4. Februar 19361011 war bei Frauen auch die Methode der Strahlenbehandlung
durch Röntgen- oder Radiumbestrahlung zugelassen. Allerdings nur, wenn die betreffende
Frau über 38 Jahre alt war.1012
Über die Durchführung der Eingriffe sollte ein „Ärztlicher Bericht“ an das Erbgesundheitsgericht erfolgen. Diese sind nur teilweise in den Verfahrensakten am Wiener Erbgesundheitsgericht enthalten. In den Dokumenten der zehn angeordneten Zwangssterilisierungen wegen der Diagnose „erbliche Blindheit“ befinden sich nur in vier Fällen die
entsprechenden Formulare. Diese gaben Auskunft über Ort, Datum, Durchführung der
Operation und gegebenenfalls Komplikationen. Bei Frauen, bei denen nach dem vorangegangenen Beschluss zur Zwangssterilisation eine Abtreibung erfolgte, wurde der Schwangerschaftsabbruch ebenfalls beschrieben.1013
Unter den Folgen und Nebenwirkungen dieser Eingriffe mussten die Betroffenen oft
ein ganzes Leben leiden. Äußerlich blieb bei Männern nach dem Eingriff meist eine fünf
bis zehn Zentimeter lange Narbe in den Leisten zurück.1014 Bei Frauen musste für die Operation ein Bauchschnitt unter Vollnarkose vorgenommen werden.1015 Der Eingriff war bei
ihnen wesentlich schwerwiegender, dementsprechend war die Sterblichkeitsrate wesentlich
höher,1016 insbesondere dann, wenn gleichzeitig ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen
wurde.1017 Die durchschnittliche Todesrate lag in der „Ostmark“ bei 1,2 Prozent.1018
Bei drei Männern in Wien, bei denen auf Grund der Diagnose „erbliche Blindheit“ eine
Zwangssterilisation angeordnet wurde, ist der Bericht über den durchgeführten Eingriff im
Bestand des Wiener Erbgesundheitsgerichts erhalten. Daraus geht hervor, dass die Betroffenen vier bis fünf Tage nach der Operation das Krankenhaus wieder verlassen konnten.
Angaben über den Eingriff bei Frauen mit der GzVeN-Diagnose „erbliche Blindheit“ finden
sich nur in einem Fall. Die Betreffende konnte das Krankenhaus nach 14 Tagen wieder
verlassen, allerdings war bei ihr auch eine Abtreibung durchgeführt worden.
Vor allem in Interviews mit blinden und sehbehinderten Menschen, die von den NSZwangsmaßnahmen betroffenen waren, kommen die gravierenden, lebenslangen Folgen
dieser Eingriffe zum Ausdruck. In der Publikation von Gabriel Richter ist ein Interview
mit einer blinden Frau abgedruckt, die schon mit zwölf Jahren zwangssterilisiert worden
war. Dabei kam es zu Komplikationen. Sie musste sich noch zwei weiteren Eingriffen unterziehen und bekam im Alter von 15 Jahren die gesamte Gebärmutter samt Scheidenstumpf
entfernt.1019 Wolfgang Drave hat 28 blinde Frauen und Männer aus Deutschland befragt
1010 Vgl. Otmar Verschuer, Leitfaden der Rassenhygiene, Leipzig 1941, S. 122, zitiert in: Richter, Blindheit und
Eugenik, S. 88.
1011 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Zweites Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses
vom 4. Februar 1936, S. 119.
1012 Vgl. Goldberger, „Erb- und Rassenpflege“ in Oberdonau, S. 345–366, hier S. 362; Bartels, Hygiene, S. 1–15,
hier S. 10.
1013 Auf dem Formular befanden sich vorgedruckte Felder, in denen unter anderem die Länge und Besonderheiten der Frucht aufgeführt werden sollten.
1014 Vgl. Beckenbauer, Sterilisation in Bayern, in: Blinde unterm Hakenkreuz, S. 50–58, hier S. 54.
1015 Vgl. Bock, Zwangssterilisation, S. 374.
1016 Vgl. Bock, Zwangssterilisation, S. 372–389; Heitzer, Zwangssterilisation in Passau, S. 335.
1017 Vgl. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 242.
1018 Vgl. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 231.
1019 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 290–295.
152
und diese Interviews wissenschaftlich aufbereitet. Im Kapitel „Wir waren Menschen, die fürs
Vaterland nichts brachten“1020 fasste er die Aussagen der ZeitzeugInnen zur Zwangssterilisation und „Euthanasie“ zusammen. Es waren zwar nur zwei der GesprächspartnerInnen
selbst von einer Zwangssterilisation betroffen, trotzdem beschäftigte dieses Thema fast
alle der interviewten blinden Frauen und Männer.1021 Viele Betroffene wurden durch einen
vorgenommenen Zwangseingriff allerdings so traumatisiert, dass sie auch nach dem Ende
des Zweiten Weltkrieges nicht über die Zwangssterilisation reden konnten und sich keiner
Organisation von Sterilisationsopfern anschlossen.1022
In der NS-Diktion wurden Betroffene nach dem vorgenommenen Eingriff „Sterilisierte“1023
genannt. Für die nach dem GzVeN zwangssterilisierten Personen hatte diese Operation auch
gesellschaftliche Folgen. Ihre soziale Stellung war nicht geklärt. So gab es in der Führung
der „Hitler-Jugend“ Uneinigkeit darüber, ob sie in den „Bann B“ aufgenommen werden
konnten oder nicht.1024 Nicht geklärt war auch, ob sie zum Studium zugelassen werden
sollten. Der in Kapitel II.6.6 erwähnte Erlass des Reichserziehungsministeriums aus dem
Jahr 1936 legte für die „Blindenstudienanstalt“ in Marburg fest, dass blinde SchülerInnen,
die für ein Studium in Frage kamen, unter anderem nach gesundheitlichen Kriterien auszusuchen waren.1025 Demnach konnte als „erbkrank“ geltenden blinden Menschen, selbst
wenn sie zwangssterilisiert worden waren, ein angestrebtes Studium untersagt werden.
Malmenesh beschreibt in seiner Arbeit den Fall des blinden Schülers M., der auf Grund
einiger schriftlicher Eingaben im April 1944 dann doch zunächst als Gastschüler an der
„Blindenstudienanstalt“ aufgenommen wurde. Ob er seine Ausbildung fortsetzen durfte,
sollte durch ein Gutachten der Anstalt über seine Intelligenz geklärt werden. Bis zum Ende
der NS-Zeit konnte M. die Studienanstalt allerdings provisorisch besuchen.1026
8.2.6 Die Auswirkungen der Propaganda
Die bevölkerungspolitischen Maßnahmen der NS-Zeit wurden von einer breit angelegten Propagandakampagne begleitet. Die Darstellung kranker und behinderter Menschen
erfolgte in der Öffentlichkeit auf diskriminierende Weise.1027 Zahlreiche Medienbeiträge
diffamierten sie als „unbrauchbare“ Menschen, deren Versorgung dem Staat enorme Sum1020 Drave, Blinde Menschen erzählen, S. 127–158.
1021 Vgl. Drave, Blinde Menschen erzählen, S. 127. Eine Zusammenstellung mit signifikanten Aussagen von
zwangssterilisierten blinden Menschen gab Ludwig Beckenbauer in seinem Vortrag auf einem Seminar
im November 1989 in Berlin. Er hatte 1946 und Ende 1947 für den „Bayerischen Blindenbund“ Befragungen bei Betroffenen durchgeführt, um Zahlen und Argumente für beabsichtigte Entschädigungsverfahren
zusammenzutragen. Sie zeigen die Dimension der psychischen und körperlichen Auswirkungen. Vgl. Beckenbauer, Sterilisation in Bayern, S. 50–58, hier S. 56–57. [Abgedruckt in: Hoffmann, Blinde Menschen
in der Ostmark, S. 541.]
1022 Vgl. Diskussionsbeitrag von Klara Nowak in: Gespräch mit Zeitzeugen, in: Blinde unterm Hakenkreuz,
S. 59–87, hier S. 76; Beispiele aus Tirol vgl. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 236–246.
1023 Bögge, Fragen zur Gesundheitsführung, S. 1–2, hier S. 1.
1024 Vgl. Kapitel II.5.4.
1025 Vgl. Malmanesh, Blinde, S. 203–204.
1026 Vgl. Malmanesh, Blinde, S. 204–207.
1027 Vgl. Büttner, Bann G, S. 35. Zur Darstellung von Menschen mit einer Behinderung durch die NS-Propaganda vgl. weiterführend: Poore, Disability in Twentieth Century, pp. 99–116.
153
men kosten würde. Auch wenn geistig behinderte Menschen, EpileptikerInnen oder andere
an einer Psychose erkrankte Personen in diesem Zusammenhang zu den am häufigsten
diskreditierten Menschen mit einer Behinderung zählten, waren auch blinde Menschen
betroffen.1028 Der Reichsärzteführer Gerhard Wagner gab 1934 beispielsweise an, dass allein
die Versorgung der „Erbblinden“1029 jährlich fünf Millionen RM kosten würden.1030 Alle zur
Verfügung stehenden Medien und Kanäle wurden für diese Propagandatätigkeit genutzt.
Auch in Wien wurden die einschlägigen Propagandafilme wie „Opfer der Vergangenheit“,
„Sünden der Väter“, „Abseits vom Wege“ und „Erbkrank“ vor einem zahlreichem Publikum
gezeigt.1031
Diese intensive Propagandatätigkeit hatte gravierende Auswirkungen. Blinde Menschen
wurden wie alle anderen Personen mit einer Behinderung als „minderwertig“ abgestempelt.1032
Dies beeinflusste den Zusammenhalt unter blinden Menschen negativ. „Erbgesunde“
fingen an, sich von den „Erbkranken“ zu distanzieren.1033 Selbst Kriegsblinde und andere
Kriegsopfer wurden in der Öffentlichkeit mit dem Vorurteil konfrontiert, ihre Behinderung sei eine körperliche „Missbildung“, die sich vererben könne.1034 Die NS-Propaganda
versuchte dieser Entwicklung entgegenzuwirken, indem führende NS-Ras­sen­hy­gi­e­nikerIn­
nen öffentlich betonten, Kriegsopfer seien von dem GzVeN nicht betroffen.1035 Auch in der
NSKOV-Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ wurden solche Vorurteile richtig gestellt.1036
Dieses Beispiel zeigt, wie tief die Theorie der Erblichkeit von Behinderungen in allen
Bevölkerungsschichten verankert war. „Der Makel, erbkrank zu sein, befleckte selbst zu
diesem Zeitpunkt [1944] noch jeden Behinderten […].“1037
Der RBV versuchte über seine geschulten Funktionäre und eigene Broschüren, den
negativen Auswirkungen der Propaganda zur Rassenhygiene entgegenzuwirken, um so das
Image der Zivilblinden zu verbessern.1038
Aber nicht nur in der so genannten „externen“ Öffentlichkeitsarbeit, sondern auch in
den Medien für blinde Menschen wurde immer wieder deren „Leistungsfähigkeit“ betont.1039
Außerdem nutzte das NS-Regime die Zeitschriften für blinde Menschen dazu, eugenische Zwangsmaßnahmen als positiv darzustellen. Damit sollte die Akzeptanz von Zwangssterilisationen erhöht werden. Im RBV-„Ratgeber für Blinde“ schrieb der damalige Leiter
der städtischen Augenklinik Dortmund 1939 dementsprechend Folgendes:
1028 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 87.
1029 Gerhard Wagner, Rasse und Volksgesundheit. Rede, gehalten auf dem Parteikongreß 1934, in: Ziel und
Weg Nr. 4 (1934), S. 675–685, hier S. 679, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 142.
1030 Vgl. Gerhard Wagner, Rasse und Volksgesundheit. Rede, gehalten auf dem Parteikongreß 1934, in: Ziel
und Weg Nr. 4 (1934), S. 675–685, hier S. 679, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 142.
1031 Vgl. Spring, Zwangssterilisationen, S. 53.
1032 Vgl. Poore, Disability in Twentieth Century, p. 126.
1033 Vgl. Lorenschat, Sterilisation Behinderter, S. 96.
1034 Vgl. Kapitel III.3.5.
1035 Vgl. Poore, Disability in Twentieth Century, p. 68.
1036 Vgl. Schütz, Verletzungen sind niemals vererblich, S. 9–10.
1037 Richter, Blindheit und Eugenik, S. 140.
1038 Vgl. Kapitel II.6.1.
1039 Vgl. Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 7–8; Pfannenstiel, Rassen-, Erbgesundheitspflege und Bevölkerungspolitik, S. 13–20.
154
„Gerade weil die mit keinem weiteren Leide behafteten erbkranken Blinden geistig
und sittlich vollwertige Menschen sind, bedeutete die Unfruchtbarmachung für sie
ein Opfer […]. Umsomehr dürfen die erbkranken Blinden erwarten, daß ihre geistige
und sittliche Vollwertigkeit durch ihre Unfruchtbarmachung nicht irgendwie in Frage
gestellt wird.“1040
Die Eingriffe bei Zwangssterilisationen wurden in der Propaganda für das GzVeN grundsätzlich verharmlost. Besonders in an blinde Menschen gerichteten Beiträgen kam diese
Haltung zum Ausdruck. Der Eingriff wurde als „verhältnismäßig leicht“1041 dargestellt, die
Operation als komplikationslos beschrieben:1042
„Daß die Sterilisierung einen Eingriff darstelle, der lediglich die Befruchtungsmöglichkeit ausschaltet, nicht aber die Möglichkeit des Geschlechtsverkehrs, brauche ich
in diesem Kreise wohl nicht näher zu erörtern.“1043
Trotz der intensiven Propagandaarbeit zum GzVeN wehrten sich beispielsweise viele Männer
gegen den Eingriff, da sie annahmen, kastriert statt zwangssterilisiert zu werden.1044 Öffentliche Proteste gegen die Durchführung der Zwangssterilisationen von blinden Menschen
gab es kaum. Einzig der blinde Rechtsanwalt Rudolf Kraemer aus Deutschland kritisierte
mit seiner 1933 veröffentlichten „Kritik der Eugenik. Vom Standpunkt des Betroffenen“1045 die
rassenhygienischen Maßnahmen des NS-Regimes. Gisela Bock bezeichnete sein Werk als
„eine einsame Blüte in der Landschaft des vorherrschenden zeitgenössischen ‚Schrifttums‘.“1046
Die Gleichschaltung des Blindenwesens verhinderte hier wohl weitgehend jede weitere
öffentliche kritische Auseinandersetzung.1047
Die Reaktionen blinder Menschen auf die Einführung des GzVeN und die Propagandatätigkeit waren sehr unterschiedlich. Sie reichten von völliger Ablehnung über Tolerierung
bis zum Aufruf zur freiwilligen Sterilisation.1048 Angeblich gab es unter den so genannten
„Erbblinden“ einen besonders hohen Prozentsatz von Betroffenen, die sich freiwillig zur
Sterilisation meldeten.1049
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass blinde Menschen in einem Spannungsfeld zwischen „Brauchbarmachung“ und Diskriminierung, Gleichstellung und „Minderwertigkeit“, bedroht durch gesellschaftliche Isolation, Zwangssterilisationen und „Euthanasie“
lebten.
1040 Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 13.
1041 Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 10.
1042 Vgl. Bartels, Hygiene, S. 1–15, hier S. 10.
1043 Pfannenstiel, Rassen-, Erbgesundheitspflege und Bevölkerungspolitik, S. 13–20, hier S. 18.
1044 Vgl. Rost, Sterilisation und Euthanasie, S. 59–83 zitiert in: Spring, Zwangssterilisationen in Wien, S. 131;
Makowski, Eugenik, S. 184–185. Beispiele aus Tirol führt Stefan Lechner an. Vgl. Lechner, NS-Zwangssterilisationen, S. 231–250, hier S. 243–245.
1045 Kraemer, Kritik der Eugenik.
1046 Bock, Zwangssterilisation, S. 279. Zu Rudolf Kraemer vgl. Kapitel II.11.3.
1047 Vgl. Kapitel II.11.
1048 Vgl. Malmanesh, Blinde, S. 173.
1049 Vgl. Kühle, Lehrgang des Hauptamtes, Referat von Dr. Rudolf Schmidt, Freiburg, zitiert in: Makowski,
Eugenik, S. 199.
155
8.3 „Euthanasie“1050
„Bis heute hält sich die Legende, den Blinden sei im
‚Dritten Reich‘ nichts geschehen.“1051
Die „Verhinderung erbkranken Nachwuchses“ war nur eine der eugenischen Maßnahmen
des NS-Regimes. Zu Kriegsbeginn begann die Tötung von Menschen, die nach NS-Kriterien
keinen „Lebenswert“ hatten.1052 Wolfgang Neugebauer schätzt, dass die NS-„Euthanasie“ in
Österreich insgesamt mindestens 20.000 bis 25.000 Opfer gefordert hat.1053 Für das ganze
„Deutsche Reich“ lässt sich eine Zahl von bis zu 300.000 Menschen berechnen, die getötet
wurden.1054 Wie viele blinde Menschen darunter waren, ist bisher nicht systematisch untersucht worden. Im Folgenden wird geschildert, warum aber davon ausgegangen werden muss,
dass auch eine, allerdings unbekannte, Anzahl von blinden Kindern, Frauen und Männern
zu den Opfern der NS-„Euthanasie“ zählte.
Im ersten Halbjahr 1939 schuf der Beraterstab der Kanzlei des „Führers“ eine Organisation mit der Tarnbezeichnung „Reichssausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung
erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ 1055, um die so genannte Kinder-„Euthanasie“
vorzubereiten. Ein geheimer Runderlass vom 18. August 1939 verpflichtete alle Hebammen und ÄrztInnen, Kinder mit einer angeborenen Behinderung an die Gesundheitsämter zu melden. Zu den meldepflichtigen Handicaps zählten „Idiotie“ sowie „Mongolismus“, vor allem in Verbindung „mit Blindheit und Taubheit“, „Mikrocephalie“1056,
„Hydrocephalus“1057, „Mißbildungen jeder Art, besonders das Fehlen von Gliedmaßen,
schwere Spaltbildungen des Kopfes und der Wirbelsäule“ sowie Kinder mit „Lähmungen
einschließlich Littlescher Erkrankung“.1058 Blinde Kinder mit weiteren Beeinträchtigungen
gehörten demnach zu dem meldepflichtigen Personenkreis. Ausgefüllte Meldebögen
wurden an drei vom „Reichsausschuß“1059 beauftragte Gutachter weitergeleitet, die über
Leben oder Tod der Kinder entschieden. Rund 5.000 Kinder fielen dieser Mordaktion
zum Opfer.1060
1050 Bei den im Folgenden dargestellten Sachverhalten handelt es sich nicht um Euthanasie im eigentlichen
Sinn, das heißt um Hilfestellung oder Begleitung für Sterbende. In der NS-Zeit wurde unter diesem Begriff
die vorsätzliche Tötung von kranken und behinderten Menschen verstanden.
1051 Klee, Der blinde Fleck.
1052 Zur „Euthanasie“ in der NS-Zeit vgl. u. a. auch die dort angegebene Literatur: Kepplinger, Marckhgott,
Reese, Tötungsanstalt Hartheim; Horn, Medizin im Nationalsozialismus; Gabriel, Neugebauer, NS-Euthanasie in Wien; Gabriel, Neugebauer, Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung; Klee, „Euthanasie“
im NS-Staat; Friedlander, The Origins of Nazi Genocide; Wunder, Euthanasie in den letzten Kriegsjahren;
Weber, Bereuter, Hammerer, Nationalsozialismus im Bregenzerwald; Poore, Disabiltiy in Twentieth Century, pp. 120–124; Schmuhl, Patientenmorde, S. 295–328.
1053 Vgl. Neugebauer, Zwangssterilisierung und „Euthanasie“, S. 17–28, hier S. 23.
1054 Vgl. Evans, Zwangssterilisierung, Krankenmord und Judenvernichtung, S. 295–328, hier S. 316.
1055 Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 80.
1056 Konfiguration des Hirnschädels mit Verkleinerung des Schädelumfanges.
1057 So genannter Wasserkopf.
1058 Vgl. Runderlass des RM d. I., IvB 30388/39 – 1079 abgedruckt in: Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 80–81.
[Personen mit Littlescher Erkrankung sind unter dem Begriff Spastiker bekannt.]
1059 Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 80.
1060 Vgl. Neugebauer, Zwangssterilisierung und „Euthanasie“, S. 17–28, hier S. 22.
156
Kurze Zeit danach begann die Tötungsaktion „T 4“, bei der PatientInnen der psychiatrischen Anstalten im „Deutschen Reich“ in Tötungsanstalten1061 gebracht wurden. Betroffene
aus Anstalten in der „Ostmark“ kamen vor allem nach Hartheim.1062
Der Personenkreis, der für diese Mordaktion in Frage kommen sollte, wurde durch im
Oktober 1939 verschickte Meldebögen erfasst. Zu den anzugebenden Krankheiten zählte
Blindheit auch diesmal nicht.1063 Eine gesetzliche Regelung für diese Tötungsaktion gab
es nicht. Hitler lehnte diese aus politischen Gründen ab.1064 Im August 1941 befahl Hitler, die Vergasungen in den Tötungsanstalten einzustellen. Das in der Öffentlichkeit verbreitete Wissen um die Morde erschien dem NS-Regime als zu gefährlich. Trotzdem lief
die Ermordung angeblich „minderwertiger“ Menschen in den Kinderfachabteilungen1065
und für die Erwachsenen in verschiedenen Anstalten bis Kriegsende weiter.1066 Eine zentrale Anweisung für diese Mordaktionen dürfte nicht vorgelegen sein, weshalb sich der
Begriff „wilde Euthanasie“1067 dafür durchgesetzt hat. 1943/1944 kam es zu einer „erneuten
Intensivierung“1068 des Mordprogramms. „In den späten Phasen der ‚Euthanasie‘ weitete sich
der Kreis der Opfer zunehmend aus.“1069 Neben den psychisch Kranken kam es zur Tötung
von BewohnerInnen von Altersheimen, „Trinkerheilstätten“ und Asylen sowie körperlich
kranken Menschen. Betroffen waren ebenfalls die Gruppen der Kriegsversehrten und Ausländer, die zunächst aus „Gründen politischer Opportunität“1070 verschont geblieben waren.
Auch blinde Menschen, die nicht von ihren Angehörigen versorgt wurden und in Altersheimen oder anderen Anstalten untergebracht waren, sowie wiederum mehrfachbehinderte
Menschen und Kriegsblinde mit psychischen Beeinträchtigungen konnten in der letzten
Phase der NS-„Euthanasie“ zu Opfern geworden sein.1071
Zahlen darüber sind bisher allerdings nicht erarbeitet worden. Für einige WissenschaftlerInnen, die zur NS-„Euthanasie“ geforscht haben, scheint aber festzustehen, dass unter
1061 Im Deutschen Reich gab es zeitweilig sechs „Euthanasieanstalten“ in Brandenburg (Zuchthaus an der
Havel), Bernburg an der Saale, Schloß Grafeneck in Württemberg, Hadamar bei Limburg, Hartheim bei
Linz und Sonnenstein bei Pirna. Vgl. Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 135–165.
1062 Vgl. Neugebauer, Zwangssterilisierung und „Euthanasie“, S. 17–28, hier S. 23; Weiterführende Literatur
vgl. u. a. Kepplinger, Marckhgott, Reese, Tötungsanstalt Hartheim; Berührende Briefe und Dokumente
aus Hartheim sind kommentarlos abgedruckt in: Neuhauser, Pfaffenwimmer, Hartheim.
1063 Das geht aus dem Merkblatt, das mit dem Meldeblatt versendet wurde, hervor. Abgedruckt in: Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 91–93. Vgl. Kräuse-Schmitt, Ermordung geistig behinderter Menschen, S. 8–10,
hier S. 8; Michael Greve, Die organisierte Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ im Rahmen der „Aktion
T 4“. Dargestellt am Beispiel des Wirkens und der strafrechtlichen Verfolgung ausgewählter NS-Tötungsärzte, [= Reihe Geschichtswissenschaft, 43], S. 42, zitiert in: Thomas Rüscher, NS-„Euthansie“ im Bregenzerwald, S. 142–153, hier S. 143.
1064 Vgl. Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 101.
1065 Vgl. dazu weiterführend: Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 379–389.
1066 Vgl. u. a. Friedlander, Motive, S. 47–59, hier S. 57; Neugebauer, Zwangssterilisierung und „Euthanasie“,
S. 17–28, hier S. 23.
1067 Diesen Begriff prägte Viktor Brack, einer der Hauptverantwortlichen für die „Euthanasie“-Aktion in der
„Kanzlei des Führers“. Vgl. Götz Aly, Die „Aktion Brandt“ – Bombenkrieg, Bettenbedarf und „Euthanasie“, in: Götz Aly (Hrsg.), Aktion T4 1939–1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4,
Berlin 1987, S. 168 ff, zitiert in: Neugebauer, Zwangssterilisierung und „Euthanasie“, S. 17–28, hier S. 23.
1068 Insgesamt 15 Anstalten beteiligten sich daran, Hadamar, Großschweidnitz und Meseritz-Obrawalde galten dabei als besonderes „berüchtigt“. Vgl. Schmuhl, Patientenmorde, S. 295–328, hier S. 315.
1069 Schmuhl, Patientenmorde, S. 295–328, hier S. 315.
1070 Schmuhl, Patientenmorde, S. 295–328, hier S. 315.
1071 Vgl. Friedlander, The Origins of Nazi Genocide, p. XI; Schmuhl, Patientenmorde, S. 295–328, hier S. 315.
157
den Opfern blinde Menschen waren. Henry Friedlander zitiert in diesem Zusammenhang
beispielsweise den Psychiater Hermann Pfannmüller, der ab 1938 Direktor der Anstalt in
Eglfing-Haar (D) war. Im Zuge der Nürnberger Medizingerichtsprozesse berichtete Pfannmüller, dass Kinder auf Grund der Diagnose „angeborene Blindheit“ getötet wurden.1072
Die bereits erwähnte Tötung von Kindern, die neben ihrer Erblindung noch weitere Beeinträchtigungen hatten, gilt ebenfalls als wissenschaftlich erwiesen.1073 Nach der „Reichsgebrechlichen Zählung“ von 1926/27 in Deutschland hatten rund zehn Prozent der blinden
Menschen eine zusätzliche Behinderung.1074
Auch die für diese Studie interviewte Emma Leichter erinnert sich an eine blinde
Mitschülerin in Ursberg, wohin die SchülerInnen der Blindenschule Innsbruck 1944 evakuiert worden sind, die voraussichtlich getötet wurde. Die Mitschülerin Edeltraut hatte
einen Kopftumor und konnte auf Grund starker Kopfschmerzen häufig nicht am Unterricht teilnehmen. „Und einen schönen Tages ist halt die Edeltraut verschwunden“, erinnert sich Emma Leichter in dem Interview mit ihr vom 7. Juni 2010.1075 Ihrer Erinnerung
nach passierte das voraussichtlich 1944. Später konnte die 1930 geborene Südtirolerin ein
Gespräch von „Erzieherinnen“ mithören, die sich über die MitschülerInnen unterhielten.
Offiziell wurde lediglich verlautbart, Edeltraut sei „gestorben“. Die Erzieherinnen glaubten
aber offenbar, der Vater hätte Edeltraud „geopfert“, weil er sonst „irgendeine Stelle“ nicht
erhalten hätte.1076
Darüber hinaus gibt es weitere Berichte über getötete blinde Menschen, allerdings nicht
aus der „Ostmark“. 13 Insassen der Königsberger Blindenanstalt sollen laut Angaben von
Pielasch und Jaedicke in Teupitz ermordet worden sein.1077 Der ehemalige geschäftsführende
Vorstand des „Württembergischen Blindenvereins“ Otto Glänzel nennt 1948 außerdem
namentlich fünf blinde Menschen, die nach der Ausbombung der Frankfurter Blindenanstalt zunächst in einem Altersheim1078 in Weilmünster untergekommen waren. Sie wurden
von dort nach Hadamar abtransportiert.1079 Nach Angaben der in Hadamar eingerichteten
Gedenkstätte gab Ernst Klee zu diesen fünf Fällen folgende Auskunft: Sie seien 1944 mit
der Diagnose „Außer mit Blindheit mit keiner Krankheit behaftet“1080 dort getötet worden.
Die blinden Menschen wurden etwa zwei Wochen nach ihrer Einlieferung ermordet. Klee
erwähnt in seinem Aufsatz außerdem, dass sich in den Akten der Psychiatrie im fränkischen
Ansbach in den Eintragungen über verstorbene Kinder der Vermerk „blind“1081 befindet.
1072 Vg. U. S. Military Tribunal, Official Transcript of the Proceedings in Case 1, United States v. Karl Brandt
et al., 7304, zitiert in: Friedlander, Holocaust Studies, pp. 15–31, hier p. 25.
1073 Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 1971; A[lexander] Mitscherlich, F[red] Mielke,
Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frankfurt a. M. 1960, S. 210,
zitiert in: Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 341; Richter, Blindheit und Eugenik, S. 73;
Scheer, Jüdische Blinde, S. 14–15, hier S. 14 [Redaktion: Blinden- und Sehschwachenverband der DDR];
Demmel, Durch Nacht zum Licht, S. 212.
1074 Vgl. Kapitel II.1.1.
1075 Vgl. Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 12.
1076 Vgl. Interview mit Emma Leichter in ihrer Wohnung in Innsbruck am 7.6.2010, Transkription S. 12–13.
1077 Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 169.
1078 Die BewohnerInnen von Altenheimen wurden gegen Ende des Krieges häufiger in die „wilden“
„Euthanasie“-Maßnahmen“ einbezogen. Vgl. u. a. Aly, Medizin gegen Unbrauchbare, S. 9–74, hier S. 67.
1079 Vgl. Glänzel, Ermordung, S. 171.
1080 Klee, Der blinde Fleck.
1081 Klee, Der blinde Fleck.
158
Insgesamt dürfte aber im Vergleich zu Menschen mit einer geistigen Behinderung der
Anteil blinder Menschen ohne weitere Beeinträchtigung an den „Euthanasie“-Opfern gering
gewesen sein. Es kann angenommen werden, dass die Auffassung der NS-Führung, blinde
Menschen könnten einer Erwerbstätigkeit nachgehen, viele vor der Tötung bewahrte.1082
Ab 1941 war die Einschätzung der „Arbeitsfähigkeit“1083 das zentrale Auswahlkriterium
für die „Euthanasie“. Es sollten diejenigen getötet werden, die auch in den Anstalten keine
„produktive“1084 Arbeit leisten konnten.1085 Blinde, gehörlose und unter gewissen Einschränkungen auch Menschen mit einer körperlichen Behinderung galten primär als „arbeitsfähig“
und damit auch nicht unbedingt als „lebensunwert“.1086
Zu den im Rahmen der NS-„Euthanasie“ ermordeten Menschen zählen laut einer Schätzung von Wolfgang Neugebauer auch mindestens 500 Menschen mit einer Beeinträchtigung
jüdischer Herkunft aus der „Ostmark“.1087 Dieser Aspekt wird in Kapitel IV.6.2 erläutert.
8.4 Ehegesetzgebung
„Ich hab’ […] den öffentlichen Umgang mit dem
weiblichen Geschlecht vollkommen gemieden, weil
ich gesagt hab’, meine männliche Vollwertigkeit ist
mir lieber.“1088
Das Ehegesundheitsgesetz (EGG) trat in der „Ostmark“ gleichzeitig mit dem GzVeN in
Kraft.1089 Für blinde Menschen war dies aus zweierlei Hinsicht von besonderer Bedeutung.
Es verbot zum einen die Ehe zwischen als „erbkrank“ angesehenen blinden Menschen,
wenn nicht beide unfruchtbar oder zwangssterilisiert worden waren. Zum anderen war
die Verehelichung eines als „erbkrank“ geltenden blinden Menschen mit einer „gesunden“
Person nicht erlaubt, unabhängig davon, ob der oder die Betreffende unfruchtbar gemacht
worden war.1090
Kriegsbedingt wurde das EGG in der „Ostmark“ allerdings nicht vollzogen. Es sollte zu
keiner Anrufung des Erbgesundheitsgerichtes in „Ehegesundheitssachen“1091 kommen. Bei
einer Eheschließung sollte eine ärztliche Untersuchung, ob eine „Erbkrankheit“ vorlag, nur
bei Verdacht stattfinden, wenn auf Grund von Angaben aus der Vorgeschichte und nach
1082 Vgl. Hielscher, Blinde im Nationalsozialismus, S. 8.
1083 Schmuhl, Patientenmorde, S. 295–328, hier S. 315.
1084 Aly, Medizin gegen Unbrauchbare, S. 9–74, hier S. 29.
1085 Vgl. Aly, Medizin gegen Unbrauchbare, S. 9–74, hier S. 29.
1086 Zur „Euthanasie“ von gehörlosen und anderen Menschen mit einer Behinderung vgl. u. a.: Biesold, Klagende Hände, insb. S. 176; Runggatscher, Lebenssituation gehörloser Menschen, insb. S. 85; Büttner, Bann
G, insb. S. 23; Romey, „Euthanasie“ war Massenmord, S. 55–81; Klee, Von der Asylierung zum Mord,
S. 82–92.
1087 Vgl. Neugebauer, Juden als Opfer der NS-Euthanasie, S. 99–111, hier S. 111.
1088 Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 276. [Der Blinde Norbert Lorenz sagt dies in einem Gespräch mit Wolfgang Drave über sein Leben in der NS-Zeit.]
1089 Weiterführende Literatur zum Thema Ehe in der NS-Zeit vgl. u. a. Czarnowski, Das kontrollierte Paar.
1090 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 182.
1091 [D] RGBl., Teil 1, Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses
und des Ehegesundheitsgesetzes vom 31. August 1939, S. 1560–1561 [§ 7, Abs. 2].
159
Abgleich mit der „erbbiologischen Kartei“1092 oder sonstigen Quellen Anhaltspunkte für
ein Eheverbot vermutet wurden. Außerdem konnte der Standesbeamte ein so genanntes
„Ehetauglichkeitszeugnis“1093 verlangen.
Bevor das EGG in der „Ostmark“ am 1. Jänner 1940 in Kraft trat, kam es allerdings
durch die Einführung der Ehestandsdarlehen1094 zu einer Variante,1095 auf Paare Druck auszuüben, sich vor der Eheschließung einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen. Wegen
des wirtschaftlichen Interesses an der neuen finanziellen Eheförderung ließen sich allein von
April bis Dezember 1938 43.257 Personen in der gesamten „Ostmark“ untersuchen.1096 Dabei
sollte unter anderem festgestellt werden, ob bei den „EhestandsdarlehenswerberInnen“ eine
„erbliche Belastung“ vorlag. 688 BewerberInnen wurden nach dieser Untersuchung als nicht
„geeignet“ für die Ehe befunden. 199 von ihnen wurden als „erscheinungsbildlich gesund“1097
klassifiziert. Wegen negativ beurteilter Familienmitglieder wurde ihnen die „Eheeignung“
trotzdem nicht bescheinigt.1098 Bei einem Mann erfolgte dies auf Grund einer diagnostizierten „erblich bedingten Erblindung“ oder „Sehbehinderung“. Die meisten Ablehnungsgründe
waren „angeborener Schwachsinn“, „Schizophrenie“ und „erbliche Fallsucht.“1099 Größer war
die Zahl derer, denen wegen einer „eigenen“ Krankheit die „Eheeignung“ abgesprochen
wurden.1100 Bei insgesamt 489 Personen war dies der Fall. Bei vier Frauen und drei Männern
führte eine angenommene „erblich bedingte Erblindung“ oder eine „Sehbeeinträchtigung“
zu diesem Urteil.1101
Obwohl das EGG kriegsbedingt nicht mehr vollständig umgesetzt wurde, verhinderte es
auch in der „Ostmark“ die Verehelichung blinder Menschen, denn die Betroffenen belastete
das Wissen um das Eheverbot, hemmte sie in ihren persönlichen Kontakten und verstärkte
die Tendenz zur Absonderung.1102 Außerdem verstärkte diese Gesetzgebung die ablehnende
Haltung von blinden Menschen gegenüber NS-Maßnahmen.1103
Das RM d. I. versuchte dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Als ein brauchbarer Weg
schien dabei die Einrichtung einer staatlichen Ehevermittlung von Gesundheitsämtern für
als „erbkrank“ geltende Menschen. Der RM d. I. legte diesbezüglich in einem Runderlass
1092 Vgl. Kapitel II.4.3.
1093 [D] RGBl., Teil 1, Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses
und des Ehegesundheitsgesetzes vom 31. August 1939, S. 1560–1561 [§ 7, 1]; Gabriele Czarnowski, Eheeignung und Ehetauglichkeit. Körperbeschreibungen im administrativen Geschlecht positiver und negativer Rassenhygiene während des Nationalsozialismus, in: Baader, Hofer, Mayer, Eugenik in Österreich,
S. 312–344, hier S. 316.
1094 Vgl. weiterführend: Makowski, Eugenik, S. 244–245.
1095 Schon vor der NS-Zeit kam es in Österreich im Rahmen der Diskussion um die Umsetzung eugenischer
Maßnahmen zur Verwendung der Begriffe „Eheeignung“ und „Ehetauglichkeit“. Eine freiwillige Eheberatung in Wien und Graz war aber die einzige realisierte Maßnahme im Sinne einer eugenischen Ehepolitik.
Vgl. Czarnowski, Eheeignung, S. 312–344, hier S. 312–315.
1096 Vgl. M. vom Mezynski, Der Gesundheitszustand der Ehestandsdarlehenbewerben in der Ostmark vom
Jahre 1938, in: Reichsgesundheitsblatt 15, 1940, S. 101–105 [BAB, NS 5 VI 4906], zitiert in: Czarnowski,
Eheeignung, S. 312–344, hier S. 316. Die folgenden Zitate und Zahlen stammen aus diesem Bericht.
1097 Czarnowski, Eheeignung, S. 312–344, hier S. 333–335.
1098 Vgl. Czarnowski, Eheeignung, S. 312–344, hier S. 333–335.
1099 Czarnowski, Eheeignung, S. 312–344, hier S. 333–335.
1100 Vgl. Czarnowski, Eheeignung, S. 312–344, hier S. 333–335.
1101 Vgl. Czarnowski, Eheeignung, S. 312–344, hier S. 333–335.
1102 Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 154.
1103 Siering, Unfruchtbarmachung, S. 122–125.
160
vom 23. Jänner 1941 fest, dass zwei Vermittlungsstellen in Berlin und Dresden mit den
erforderlichen Mitteln ausgestattet werden sollten, um alle im „Deutschen Reich in Frage
kommenden Personen […] bei der Wahl eines passenden Lebensgefährten behilflich zu sein.“1104
Blinde Menschen nutzten dieses Angebot anfangs scheinbar nicht. Carl Siering begründet
dies damit, dass sie mit den Vermittlungsstellen zunächst nicht in Blindenschrift kommunizieren konnten. Das heißt, sie waren bei der Korrespondenz auf die Hilfe von Sehenden
angewiesen und hatten dementsprechend dabei keine Privatsphäre. Außerdem habe es bei
den meisten Frauen eine große Scheu und Zurückhaltung gegenüber einer Eheschließung
mit einem blinden Mann gegeben.1105 Ob auch Männer in Bezug auf die Heirat mit einer
blinden Frau Hemmungen hatten, wird von Siering nicht erwähnt.1106 Auf Bestreben des
RBV konnten ab 1942 blinde Menschen dann auch in Brailleschrift mit der „Reichsvermittlungsstelle beim Hauptgesundheitsamt“1107 korrespondieren. Inwieweit es sich hierbei um eine
eher propagandistische Maßnahme handelte oder ob wirklich Ehen für blinde Menschen
vermittelt wurden, kann auf Grund der für diese Arbeit ausgewerteten Quellen und der
Sekundärliteratur nicht festgestellt werden. Bekannt ist ebenfalls nicht, ob diese Stellen auch
Betroffene aus den „Alpen- und Donaureichsgauen“ betreuten. Die Ehegesetzgebung und
ihre Auswirkungen zeigen aber, wie stark das alltägliche Leben blinder Menschen durch
das NS-Regime eingeschränkt wurde.
1104 Gerl, staatliche Ehevermittlung, S. 63.
1105 Vgl. Siering, Achtung! Ehevermittlung, S. 29–31, hier S. 29–30.
1106 Vgl. Kapitel II.10.
1107 Siering, Achtung! Ehevermittlung, S. 29–31, hier S. 29–30.
161
9.Die Auswirkungen des Krieges
„Wie stark verunsichert mußten blinde Menschen
sein, wenn die Bomben das Haus in eine Ruine verwandelten und der Luftschutzkeller nur noch über
Schuttberge verlassen werden konnte […].“1108
Der Alltag blinder Menschen zwischen 1939 und 1945 war geprägt von den Auswirkungen des Krieges und des NS-Herrschaftssystems. Bereits in den vorangegangenen Kapiteln
wurde dies deutlich. Anhand einiger exemplarischer Beispiele sollen die Rahmenbedingungen, unter denen blinde Menschen in der „Ostmark“ lebten, veranschaulicht werden. Auf
Grund fehlender AugenzeugInnenberichte und Aufzeichnungen von Betroffenen können
ihre Lebensumstände allerdings nicht im Detail geschildert werden.
Die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges stellten die Einrichtung des NS-Blindenwesens vor viele Herausforderungen. Dazu zählte beispielsweise die Unterbringung blinder
Menschen, die durch die Luftangriffe ihre Unterkünfte verloren hatten, und derjenigen aus
besonders gefährdeten Gebieten. Luftangriffe, Zerstörungen, Evakuierung und Flucht lösten
darüber hinaus besonders bei den blinden Kindern Angst, Unsicherheit und Verzweiflung
aus.1109 Ein geregelter Schulbetrieb konnte nicht mehr geführt werden. Grund dafür war
unter anderem ein wachsender LehrerInnenmangel an den Blindenschulen. Ein Teil des
Lehrpersonals war zur Wehrmacht eingezogen worden. Einige von ihnen leisteten ihren
Wehrdienst in den Reservelazaretten für Kriegsblinde ab.1110
Der Unterricht in den Blindenschulen konnte auch wegen der Luftangriffe, die zu Unterrichtsausfällen führten, nicht mehr regelmäßig abgehalten werden.1111 Hatten SchülerInnen
eine Nacht in einem Schutzkeller verbringen müssen, begann der Unterricht am folgenden
Tag später, die Stunden wurden gekürzt oder die Schulstunden entfielen vollständig.1112
Einige Einrichtungen mussten auf Grund der anhaltenden Luftangriffe ihren Schulbetrieb gänzlich einstellen. Die blinden SchülerInnen der Innsbrucker Blindenschule, die
direkt neben den Bahngleisen im Stadtteil Saggen untergebracht war, wurden beispielsweise
zusammen mit den blinden Kindern der Blindenschule München nach Ursberg (Bayern)
evakuiert.1113
Einige der Einrichtungen des Blindenwesens wurden während des Krieges vollständig
zerstört. Dazu zählte die Wiener Blindenschule, die im April 1945 beschädigt wurde.1114
Zerstört wurden auch der RBV-Sitz in der Rotensterngasse1115 sowie viele Betriebe, die
1108 Demmel, Durch Nacht zum Licht, S. 253.
1109 Vgl. Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 141.
1110 Vgl. Kapitel III.4.1, III.4.2.
1111 Weiterführende Literatur zu den Luftangriffen in Österreich vgl. Siegfried Beer, Stefan Karner (Hrsg.),
Der Krieg aus der Luft. Kärnten und Steiermark 1941–1945, Graz 1992; Franz Josef Fetz, Der Luftkrieg
über Österreich im Zweiten Weltkrieg, Dipl. [Manuskript], Innsbruck 1985.
1112 Vgl. Drave, Blinde Menschen erzählen ihr Leben, S. 73.
1113 Vgl. Kapitel II.4.5.3.
1114 Vgl. Kapitel II.4.5.1.
1115 Die Geschäftsstelle des RBV in Berlin wurde bereits 1943 nach Wernigerode verlegt. Vgl. Gersdorff, Bericht [1942], S. 279–283, hier S. 279; Kapitel II.3.4.1.
162
blinde Menschen beschäftigten.1116 Über den Zerstörungsgrad der anderen Institutionen
konnte nichts in Erfahrung gebracht werden. Unbekannt ist ebenfalls, wie viele Zivilblinde
obdachlos wurden. Einige von ihnen sowie Betroffene aus besonders gefährdeten Gebieten
kamen 1944 im RBV-Erholungsheim in St. Georgen am Reith unter.1117
Viele blinde Menschen erlebten die Luft- und Bodenkämpfe in den Städten. Unter der
Bevölkerung in Wien wurden daher Übersichtstafeln über die durch Luftangriffe besonders
gefährdeten Orte verteilt. Die Wiener Blindenschule produzierte diese Karten in Reliefdruck, um damit diese Informationen blinden Menschen zugänglich zu machen.1118 Die
Krater, Schutthaufen und Gebäudeteile auf den Straßen nach den Bombenangriffen machten
es blinden Menschen allerdings fast unmöglich, sich auch in ihnen ursprünglich vertrauten
Stadtteilen zurechtzufinden.1119
Aber nicht nur die Kampfhandlungen hatten Auswirkungen auf das Leben der blinden
Menschen. Bereits ab 1940 konnten sie in Punktschrift nicht mehr mit Betroffenen aus
anderen Ländern kommunizieren: Blindenschriftsendungen ins Ausland wurden gänzlich
verboten.1120 Auch das Ausleihen von Punktschriftwerken in den dafür vorgesehenen Büchereien war nur mehr eingeschränkt möglich. Büchersendungen innerhalb des „Deutschen
Reiches“ wurden beschränkt bzw. konnten teilweise gar nicht verschickt werden. Eine der
größten Verleihbibliotheken war die „Deutsche Zentralbücherei für Blinde“ (DZB)1121 in
Leipzig, die blinde Menschen im ganzen „Deutschen Reich“ mit Literatur in Punktschrift
versorgte. 1942 verfügte sie über 3.400 verschiedene Werke.1122 Durch das Verbot von Autoren wie Heinrich Heine oder Thomas Mann und der gleichzeitigen Aufnahme von Werken,
die der NS-Ideologie entsprachen, hatte sich die Auswahl der zur Verfügung stehenden
Blindenschriftbücher bereits vor Beginn des Krieges stark verändert.1123 Im Dezember 1943
wurde die DZB bei einem Luftangriff schwer getroffen.1124
Auch in Österreich gab es 1938 zwei Blindenbüchereien, eine davon war eine Einrichtung für blinde Jüdinnen und Juden. Diese „Jüdische Blindenbibliothek“, die in der Unteren Augartenstraße in Wien untergebracht war, bestand erst seit 1935. 1938 wurde der
Trägerverein aus dem Vereinsregister gelöscht und die Bibliothek ging in den Besitz des
1116 Vgl. ÖBSV, Protokoll der konstituierenden Versammlung des Österreichischen Blindenverbandes vom
9.3.1946, S. 2.
1117 Vgl. Gersdorff, Blindenerholung 1944, S. 95–98, hier S. 96; Kapitel II.7.
1118 Vgl. o. A., Zur Chronik des Blindenwesens. Wien [1944], S. 240.
1119 Vgl. Demmel, Durch Nacht zum Licht, S. 253.
1120 Gleichzeitig waren generell die Versendung von Ansichtspostkarten, aufgeklebten Fotos, Kreuzwort- und
anderen Rätseln und der Gebrauch von Geheim- und Kurzschriften verboten worden. Vgl. Gerl, Verbotener Nachrichtenverkehr, S. 106.
1121 Zur Geschichte dieser Einrichtung vgl. Schiller, 100 Jahre DZB.
1122 Vgl. Schiller, 100 Jahre DZB, S. 74.
1123 Vgl. Schiller, 100 Jahre DZB, S. 74. Helmut Schiller nennt an dieser Stelle keine Beispiele. In einem Verzeichnis der Süddeutschen Blindenbücherei über „Nationalsozialistisches Schrifttum“ in Punktschrift
sind aber beispielsweise mehrere Werke von Joseph Goebbels, Hermann Göring, Adolf Hitler oder Al­
fred Rosenberg aufgelistet. Vgl. Nationalsozialistisches Schrifttum der Süddeutschen Blindenbücherei der
Blindenanstalt Nürnberg [AIDOS].
1124 Viele der Blindenschriftbücher blieben erhalten, weil sie zu diesem Zeitpunkt ausgeliehen waren. Die blinden LeserInnen wurden daraufhin dazu aufgefordert, ausgeliehene Werke zunächst zu behalten und dann
ab 1. August 1944 an ein Ausweichquartier in Döbeln in Sachsen zu senden. Vgl. o. A., Auf- und Ausbau
der Deutschen Kriegsblinden-Bücherei, S. 70; Schiller, 100 Jahre DZB, S. 72–75.
163
„Israelitischen Blindeninstituts“ auf der Hohen Warte über.1125 Diese Institution dürfte
für den weiteren Betrieb einer Bibliothek kaum die notwendigen Mittel gehabt haben.1126
Die zweite Einrichtung war die „Zentralbibliothek für Blinde in Österreich“ im 9. Wiener
Gemeindebezirk. Der Bestand war allerdings zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ nicht sehr
umfangreich, da sie noch im Aufbau begriffen war. Ab 1939 gehörte sie dem RBV.1127 Es
ist nicht überliefert, ob der Bestand zwischen 1938 und 1945 erweitert wurde und ob diese
Einrichtung weiterhin für Ausleihen geöffnet war.
Geprägt war das Leben blinder Menschen außerdem durch die schlechte Versorgungslage mit Lebensmitteln und Gegenständen des alltäglichen Bedarfs, die schon zu Beginn des
Krieges rationiert wurden. Berufstätige blinde Menschen konnten aber unter Umständen
ebenso wie Kriegsblinde zusätzliche Bezugsscheine für bestimmte Waren erhalten. Die
„Reichsstelle für industrielle Fettversorgung“ sah etwa ab 1941 vor, dass blinde Menschen,
die für die Ausübung ihres Berufes die Punktschrift lesen mussten, zusätzlich ein Stück
„Einheitsseife“ pro Monat erhalten sollten, damit sie ihre Finger sauber halten konnten.1128
Die gleiche Menge sollten auch die HalterInnen von Führhunden bekommen. Den Vorschlag
des RBV, zusätzliche Seifenerzeugnisse für das Waschen von Führhunden zur Verfügung
zu stellen, lehnte das zuständige Ministerium allerdings ab.1129
Gleichgestellt wurden die berufstätigen Zivilblinden 1941 mit den Kriegsblinden in
Bezug auf die Zuteilung von Regenmänteln und Handschuhen. Nach Ansicht der Behörden
hatten insbesondere BesitzerInnen von Führhunden, die ihren Vierbeiner jeden Tag ausführen mussten, daran einen erhöhten Bedarf. Das Reichswirtschaftsministerium erweiterte
daher 1941 den Kreis der Bezugsberechtigten in Ergänzung des Erlasses vom 14. November
1940.1130 Diese Regelungen betrafen nur die ArbeitnehmerInnen unter den blinden Menschen. Die größte Gruppe der Zivilblinden war aber arbeitslos oder aus Altersgründen nicht
mehr in der Lage, einer Erwerbsbeschäftigung nachzugehen.
In den letzten Kriegsmonaten dürfte die Arbeit der Blindenorganisationen fast gänzlich
zum Erliegen gekommen sein. Einige blinde Menschen rechneten nicht mehr mit einem Sieg
von NS-Deutschland und begannen Pläne für die Zeit nach dem erwarteten Kriegsende.
Schon im Herbst 1944 trafen sie sich zu diesem Zweck in einem Wiener Lokal in der Linken Wienzeile. Die anwesenden blinden Menschen konstituierten sich zur provisorischen
Leitung des „Österreichischen Blindenverbandes“ und wählten Jakob Wald zu ihrem ersten
Vorsitzenden.1131
1125 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 570, P 21, Verein Jüdische Blindenbibliothek, Untere Augartenstrasse
Nr. 35; WStLA, Ma. Abt. 119, A 32, Zl. 1857/35, Jüdische Blindenbibliothek; Kapitel IV.5.5.1.
1126 Vgl. Kapitel IV.5.5.1.
1127 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 21, Zentralbibliothek für Blinde in Österreich.
1128 Vgl. Gerl, Seifenzuteilung, S. 184–185.
1129 Vgl. Gerl, Seifenzuteilung, S. 184–185.
1130 Vgl. o. A., Zuteilung von Regenmänteln und Handschuhen, S. 6–7. [Erlass: II Text 25520/40, Runderlass
Nr. 669/40 BWU.]
1131 Vgl. ÖBSV, Protokoll der konstituierenden Versammlung des Österreichischen Blindenverbandes vom
9.3.1946, S. 1–2; Zu Jakob Wald vgl. Kapitel II.11.2, IV.4, IV.7.
164
10.Die Situation blinder Frauen unter dem NS-Regime
Die Situation von blinden Frauen und Mädchen im NS-Staat wurde bisher nicht untersucht.
1992 veröffentlichte Ulrike Heitkamp zwar einen Aufsatz zu blinden Frauen im 19. und
20. Jahrhundert, die NS-Zeit behandelte sie aber darin mit der Begründung nicht, dass das
Thema zu komplex für einen Aufsatz sei.1132 Auch die für diese Studie herangezogenen Quellen geben nur wenig Auskunft über die Lebensumstände blinder Frauen. Darüber hinaus
gibt es bisher kaum Forschungsarbeiten über behinderte Frauen unter dem NS-Regime.1133
Eine tiefergehende Aufarbeitung dieses Themas wäre daher notwendig, im Folgenden wird
lediglich ein Einblick in die Lebensbedingungen blinder Frauen und Mädchen während
der NS-Zeit gegeben.
Weibliche Blinde hatten in der NS-Zeit wesentlich schlechtere Ausbildungs- und Berufschancen als blinde Männer.1134 Die benachteiligte Behandlung blinder Frauen aus dem
19. und Anfang des 20. Jahrhunderts setzte sich demnach fort. Blinde Frauen, die nicht
von ihren Familien versorgt wurden, fanden häufig keine Erwerbsarbeit und waren auf
andere Einkünfte angewiesen.1135 Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden im Zuge
karitativer Bewegungen spezielle „Mädchenheime“1136 zur Unterbringung blinder Frauen
gegründet. Schon zur Jahrhundertwende versuchten die Heimleitungen, die Arbeitsleistungen blinder Frauen zu fördern, damit sie zum Erhalt der Heime beitragen konnten.1137
Nach dem Ersten Weltkrieg konnten viele solcher Einrichtungen für blinde Frauen wegen
Finanzierungsschwierigkeiten nicht mehr aufrechterhalten werden. Die meisten blinden
Frauen in Österreich kamen daher nicht in gesonderten Unterkünften, sondern in den bestehenden Einrichtungen für blinde Menschen unter. 1938 scheint es nur mehr zwei spezifische
Einrichtungen für blinde Frauen gegeben zu haben. Eine war das „Mädchenblindenheim
Providentia“ in Wien, das in erster Linie blinde Frauen und Mädchen jüdischer Herkunft
aus dem „Israelitischen Blindeninstitut“ aufnahm, die nach Beendigung ihrer Ausbildung
keine Unterkunft und keinen Arbeitsplatz finden konnten.1138 In Kapitel IV.5.5 wird auf
diese Unterkunft und den Trägerverein noch weiter eingegangen.
Die andere Einrichtung war 1938 das „Mädchenblindenheim Elisabethinum“ in
Melk. Diese konfessionelle Institution wurde unmittelbar nach dem „Anschluss“ mit der
Begründung geschlossen, eine Weiterführung sei unrentabel. Nach Angaben der NSDAPOrtsgruppe Melk war das Gebäude auf die Unterbringung von 26 Personen ausgelegt, es
beherbergte 1938 allerdings nur 13 blinde Frauen. Diese sollten in der Blindenanstalt Linz
unterkommen und das Haus in Melk dem Wehrbezirkskommando überstellt werden.1139
1132 Vgl. Heitkamp, Situation blinder Frauen, S. 89–189.
1133 Vgl. dazu die Aufsätze in folgendem Sammelband: Burger, Du mußt Dich halt behaupten.
1134 Vgl. Sauer, Situation blinder Jugendlicher, S. 53.
1135 Vgl. Crzellitzer, Blindenwesen, S. 163–171, hier S. 168.
1136 Dieser Begriff muss in Anführungsstriche gesetzt werden, da, wie im Folgenden noch erläutert wird, in
diesen Anstalten nicht nur junge blinde Frauen, sondern auch ältere untergebracht waren.
1137 Vgl. Heitkamp, Situation blinder Frauen, S. 89–189, S. 118.
1138 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 6720/22, Providentia Mädchenblindenheim und Verein zur Fürsorge
blinder Frauen.
1139 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 20, NSDAP Ortsgruppe Melk an Herrn Pg. Schroeder beim Stillhaltekommissar Hoffmann vom 5.6.1938, Betreff: Mädchen-Blindenheim „Elisabethinum“.
Ob die blinden Frauen tatsächlich in Linz unterkamen bzw. über ihr weiteres Schicksal geben die für diese
165
Gegen diese Pläne wehrten sich die HeimbewohnerInnen und richteten im Juni 1938 einen
diesbezüglichen Hilferuf an den Generalbevollmächtigten für das Fürsorgewesen:
„IN UNSERER HÖCHSTEN NOT RUFEN 13. BL. MÄDCHEN UM HILFE UND
RETTUNG! MAN WILL UNS AUS UNSEREM HEIM TREIBEN, IN WELCHEM
DIE MEISTEN SCHON ÜBER 30 JAHRE IHR LEBEN ZUBRINGEN. AM 8. JUNI
ÜBERNIMMT DIE GEMEINDE MELK UNSER HEIM, […] WIR BITTEN UNS IN
UNSEREN ALTEN JAHREN, UNSER OHNEHIN TRAURIGES LEBEN, NICHT
NOCH SCHWERER ZU MACHEN. […] HEIL HITLER!“1140
Die Petition änderte allerdings nichts an den Plänen der NS-Behörden: Die Leitung der
Einrichtung übernahm der Melker Rechtsanwalt Wilhelm Kreft. 1939 wurde das Heim
aufgelöst und ging in den Besitz des RBV über.1141
Dieses Beispiel zeigt einen weiteren wichtigen Aspekt der Situation blinder Frauen. Die
Einrichtung sowie die Unterkunft in Wien wurde „Mädchenheim“ genannt und auch die
blinden Bewohnerinnen aus Melk bezeichneten sich in ihrem Hilferuf selbst so, obwohl sie
eher ein fortgeschrittenes Alter hatten. Im damaligen Sprachgebrauch galten blinde Frauen
häufig ihr Leben lang als „Mädchen“. Das hing mit dem Frauenbild dieser Zeit zusammen,
das geprägt war von der Reduzierung der Frau auf ihre Aufgaben als Gattin, Hausfrau
und Mutter. Blinden Frauen wurden diese Rollen von Seiten der BlindenlehrerInnenschaft
und der Gesellschaft nicht zugetraut.1142 Diese Diskriminierung von blinden und anderen
Frauen mit Beeinträchtigungen setzte sich auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
fort. Ernst Klee meinte 1980: „Behinderte Frauen sind doppelt behindert, als Frau und als
Behinderte. Eine behinderte Frau wird als Frau kaum wahrgenommen, ist als Partner[in]
abgeschrieben.“1143 Diese Situation beeinflusste die Selbstsicht der Betroffenen, sie bezeichneten sich deshalb ihr Leben lang als „blinde Mädchen“.1144
Männern, deren Erblindung als nicht erblich galt, wurde die Rolle als Ehemann und
Familienvater dagegen sehr wohl zugetraut. In der Durchführungsverordnung zur Gewährung von Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien vom 20. Dezember 1938 wurden die
Frauen blinder Männer besonders berücksichtigt.1145 Für blinde Mütter gab es eine derartige
Sonderregelung nicht. Auch in einem Artikel des RBV-Gesundheitsbeirates Carl Siering
über staatliche Ehevermittlung geht dieser nur auf die Schwierigkeiten blinder Männer ein,
eine sehende Frau zu finden. Den umgekehrten Fall behandelt er gar nicht.1146
Studie eingesehenen Quellen keine Auskunft. Unter Umständen befinden sich weitere Dokumente darüber im Oberösterreichischen Landesarchiv.
1140 ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 20, Heim/Melk an den bevollmächtigten General für
das Fürsorgewesen Herrn Kuszi vom 3.6.1938 [Brief in gestanzter, tastbarer Normalschrift mit ausschließlich Großbuchstaben], Betreff: Hilferuf.
1141 Der RBV bekam dabei die Auflage, wenn die Wehrmacht das Grundstück erwerben würde, den Erlös der
Stadtgemeinde Melk als Darlehen für die Errichtung von Offizierswohnungen zur Verfügung zu stellen.
Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 20, Aktenschlussblatt vom 27.11.1939.
1142 Vgl. Heitkamp, Situation blinder Frauen, S. 89–189, hier S. 121.
1143 Klee, Behindert, S. 186.
1144 Zur Identitätsbildung und -entwicklung von Frauen mit Behinderung vgl. Meier Rey, Identitätsbildung
und Identitätsentwicklung.
1145 Vgl. Kapitel II.2.4.2.
1146 Vgl. Siering, Achtung! Ehevermittlung, S. 29–31
166
In Bezug auf die Ehe von blinden Frauen gab es offenbar immer noch die Auffassung
aus dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, sehende Männer könnten für sie höchstens Mitleid empfinden. Einer Verbindung auf dieser Basis, aber auch mit einem blinden
Partner, wurden laut Heitkamp geringe Zukunftschancen eingeräumt, beeinflusst von der
Überzeugung, blinde Frauen könnten keine eigenen Kinder erziehen.1147 Die Ehe eines blinden, „erbgesunden“ Mannes mit einer sehenden Frau galt dagegen als wünschenswert.1148
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen sich blinde Frauen in Deutschland gegen
diese Benachteiligungen zu wehren und schlossen sich zusammen. Sie wollten sich von der
Bezeichnung „Mädchen“ distanzieren und verstanden sich als „Frauenbewegung unter den
Blinden“1149. 1912 wurde der „Verein der blinden Frauen und Mädchen“ gegründet, allerdings
erst durch eine Satzungsänderung 1925 verschwand der Name „Mädchen“ aus dem Titel
und die Organisation wurde in „Verein blinder Frauen Deutschlands e. V.“ umbenannt.1150
Einen Zusammenschluss blinder Frauen nach deutschem Vorbild gab es in Österreich
nicht. Einzig der Frauenwohltätigkeitsverein „Providentia“ engagierte sich ab 1925 dezidiert für blinde Frauen und Mädchen jüdischer Herkunft.1151 Ihrem Aufbau nach war diese
Organisation allerdings ein Blindenfürsorgeverein, da der Verein von sehenden Personen
geleitet wurde.
Statutenänderungen der Wiener Blindenorganisationen nach dem Ersten Weltkrieg
zeigen aber, dass auch österreichische blinde Frauen auf eine stärkere Vertretung durch die
Selbsthilfeorganisationen drängten. Der Blindenunterstützungsverein „Die Purkersdorfer“
führte 1920 in § 2 ausdrücklich die Bezeichnung „männliche und weibliche“ Blinde ein.1152
Von einer Gleichstellung der Frauen konnte aber keine Rede sein. Frauen wurden durch
§ 10 dezidiert davon ausgeschlossen, die Funktion des Vorsitzenden und Stellvertreters zu
übernehmen.1153 Auch der „Blindenverein Typhlos“1154 in Wien nahm bei einer Satzungsänderung 1924 den Zusatz auf, dass wirkliche Mitglieder blinde Menschen „ohne Unterschied
des Geschlechts“1155 werden konnten. Trotzdem waren blinde Frauen nur selten in den Vereinsleitungen der Selbsthilfegruppen. In einem Schreiben der Polizeidirektion Wien vom
März 1938 wurden die Vorstände von sechs Blindenvereinen aufgelistet. Demnach gab es
in den Vereinsgremien nur zwei Frauen: Theresa Albert war beim Blindenunterstützungsverein „Die Purkersdorfer“ zweite Schriftführerin und Anna Jurkovics Kassierin bei der
1147 Vgl. Heitkamp, Situation blinder Frauen, S. 89–189, S. 109.
1148 Vgl. Heitkamp, Situation blinder Frauen, S. 89–189, S. 109.
1149 H[ildegard] Mittelsten-Scheid, Die Frauenbewegung unter den Blinden, in: Der Blindenfreund, Jg. 46
(1926), S. 287–292, zitiert in: Heitkamp, Die Situation blinder Frauen, S. 89–189, hier S. 122.
1150 Vgl. Heitkamp, Die Situation blinder Frauen, S. 89–189, hier S. 142–145.
1151 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 6720/22, Providentia Mädchenblindenheim und Verein zur Fürsorge
blinder Frauen.
1152 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 8453/25, Blindenunterstützungsverein „Die Purkersdorfer“, Statuten
[1920].
1153 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 8453/25, Blindenunterstützungsverein „Die Purkersdorfer“, Statuten
[1920].
1154 Der 1923 gegründete Verein trug zunächst den Namen „Blindenwerkstätte Typhlos“ und wollte vor allem
Arbeitsplätze schaffen. 1924 wurde der Name dann zunächst in „Blindenverein Typhlos“ geändert. Im
selben Jahr kam es zu einer weiteren Statutenänderung und die Organisation benannte sich in „Bund der
später Erblindeten Österreichs“ um. Der Verein gehörte zu dem Zusammenschluss „Verband der Blindenvereine Österreichs“. Vgl. Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 531.
1155 WStLA, M. Abt. 119, Zl. 8290/23, Blindenwerkstätte „Typhlos“, Bund der später Erblindeten.
167
„Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten“. Bei diesem Verein handelt es sich um eine
Neugründung des bereits erwähnten ehemaligen „Blindenvereins Typhlos“, der sich 1924
in „Bund der später Erblindeten Österreichs“ umbenannt hatte.1156 Ob der hohe Männeranteil unter den FunktionärInnen auch die Geschlechterdifferenz in der Mitgliedergruppe
selbst widerspiegelte, kann nicht gesagt werden, da nicht bekannt ist, wie hoch der Anteil
weiblicher Mitglieder gegenüber Männern in diesen Vereinen war. Eine Untersuchung von
anderen Vereinen für behinderte Menschen aus dieser Zeit könnte klären, ob diese Unterrepräsentation von blinden Frauen damaligen gesellschaftlichen Tendenzen entsprach.
Die geringe Beteiligung blinder Frauen in den Vereinsleitungen setzte sich jedenfalls in
der NS-Zeit fort. In den überlieferten Informationen über die Vorstände der „Gaubünde“
des RBV findet sich keine einzige Frau. Auch nach dem Ende des Krieges wurde bei der
ersten konstituierenden Versammlung des „Österreichischen Blinden- und SehbehindertenVerbandes“ am 9. März 1946 keine Frau in den Vorstand dieser neuen Organisation gewählt
oder für einen solchen Posten vorgeschlagen.1157
Eine weitere Ursache für die schlechteren Lebensbedingungen blinder Frauen in der NSZeit war die negative Bewertung ihrer „Leistungsfähigkeit“ im Erwerbsleben. Vor allem in
den traditionellen Blindenhandwerksberufen sowie in der Industrie galt diese im Vergleich
zu der von blinden Männern als geringer.1158 Es gab sogar die Meinung, dass die Tätigkeiten in der Industrie oder in anderen Berufen außerhalb der Familie oder der Heime und
Anstalten die Fähigkeiten der blinden Frauen übersteigen würden.1159 Das ist auch eine
Erklärung für das schlechte Abschneiden der blinden Frauen 1938 in einer Berufsstatistik
aus Deutschland, der zufolge 2.346 blinde Menschen eine Anstellung hatten. Davon waren
nur 332 Frauen (14 Prozent).1160 Nach den Ergebnissen der „Reichsgebrechlichenzählung“
von 1926/27 überwog dagegen der Anteil von Männern an der Gesamtzahl blinder Menschen nur mit 57,72 Prozent gegenüber 42,28 Prozent Frauen.1161
Angesichts der schlechten Bedingungen für blinde Frauen auf dem Arbeitsmarkt bezogen utilitaristisch orientierte Maßnahmen des NS-Regimes im Blindenwesen zwischen 1938
und 1945 verstärkt blinde Frauen mit ein. Da sie nach Auffassung der NS-Machthaber nicht
in der Lage waren, „gesunde Nachkommen“ zu bekommen und zu versorgen, sollte ihre
Arbeitsleistung entsprechend gefördert werden:
„Es muß gelingen, den Willen des Führers, der jede, auch die kleinste Arbeitskraft,
dem Dienste der Allgemeinheit nutzbar gemacht sehen will, auch für die blinde Frau
zu verwirklichen.“1162
Von blinden Frauen wurde zu diesem Zweck ein besonders harter Einsatz gefordert:
„Blind sein heißt kämpfen. Dieses Wort gilt in besonderer Weise für die blinde Frau ist
1156 Vgl. ÖStA, AdR, Polizeidirektion Wien, Vereinsbüro 15, 2768, Zl. A. B. 97, Bundespolizeidirektion Wien
an das Ministerium für Finanzen vom 23.3.1938, Betreff: Blindenvereine, Wertlotterie.
1157 Vgl. ÖBSV, Protokoll der konstituierenden Versammlung des Österreichischen Blindenverbandes vom
9.3.1946.
1158 Vgl. Hoelters, Betätigungsmöglichkeiten und Berufe für weibliche Blinde, S. 71–75.
1159 Vgl. o. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 71.
1160 Vgl. o. A., Arbeitstagung der Leiter und Lehrer, S. 71.
1161 Vgl. Kapitel II.1.1.
1162 Hoelters, Betätigungsmöglichkeiten und Berufe für weibliche Blinde, S. 71–75, hier S. 75.
168
doch für sie der Existenzkampf unvergleichlich viel schwerer als für den nichtsehenden
Mann.“1163
Die Schaffung von Arbeitsplätzen insbesondere für blinde Frauen sollte vom „Verein
blinder Frauen Deutschlands e. V.“ reichsweit übernommen werden. Ende 1938 hatte dieser
rund 800 Mitglieder und gab sechsmal im Jahr die Zeitschrift „Die Frauenwelt“ heraus. Der
Verein arbeitete bereits seit den 1920er Jahre eng mit dem RBV zusammen und war diesem
1938 als selbständiger Verein angeschlossen.1164 Außerdem erscheint diese Organisation als
einziger Verein für behinderte Frauen in einem Organigramm der „NS-Frauenschaft“ und
des „Deutschen Frauenwerkes.“1165 Die Organisation „Blinde Frauen Deutschlands“ war
dabei dem Mütterdienst untergeordnet, der die Aufgabe hatte, Frauen bei einer „gesunden
Familiengründung“ und „Familienführung“ zu unterstützten.1166 Zu diesem Zweck wurden
auch Lehrgänge in Haushaltsführung angeboten.1167 In der NS-Zeit war es ein dezidiertes
Ziel, blinde Frauen vermehrt in der Hausarbeit zu schulen. Auch die Blindenschulen wurden
dazu aufgefordert.1168 Sie sollten dadurch entweder sehende Familienmitglieder ersetzen,
damit diese für andere Erwerbstätigkeiten zur Verfügung standen, oder eine Anstellung
in diesem Bereich finden.1169
Auf Grund eines Berichts von Walther Otto Fürstenberg, dem Leiter des RBV Gaubundes „Niederdonau“, ist bekannt, dass der „Verein blinder Frauen Deutschlands e. V.“ auch
blinde Frauen aus dem Gau „Niederdonau“ beschäftigte.1170
Wie im Kapitel über die Berufsmöglichkeiten bereits ausgeführt wurde, sollten für
blinde Frauen Erwerbsmöglichkeiten geschaffen werden, die ihrer „Weiblichkeit“ entsprachen.1171 Viele blinde HandarbeiterInnen arbeiteten an Flach- und Rundstrickmaschinen
und produzierten Kleidungsstücke. Im Krieg stieg der Bedarf an diesen ArbeiterInnen, da
die Wehrmacht entsprechende Aufträge erteilte. Als besonders geeignet galten für blinde
Frauen ebenfalls die Tätigkeiten im Büro. Sie wurden daher in diesem Bereich verstärkt
ausgebildet. Unter den sechs AbsolventInnen des ersten StenotypistInnenkurses in den
„Alpen- und Donaureichsgauen“ waren vier Frauen.1172
Berufsstatistiken aus der NS-Zeit, die Auskunft darüber geben könnten, wie viele blinde
Frauen erwerbstätig waren, sind nicht überliefert. Es ist daher nicht überprüfbar, ob sich
durch die Aufträge der Wehrmacht die Beschäftigungssituation blinder Frauen tatsächlich
änderte: An der insgesamt benachteiligten Stellung weiblicher Blinder, die sich in allen
Lebensbereichen widerspiegelte, dürfte sich wenig geändert haben.
1163 Hoelters, Betätigungsmöglichkeiten und Berufe für weibliche Blinde, S. 71–75, hier S. 71.
1164 Vgl. o. A., Verein der blinden Frauen Deutschlands e. V., S. 145–146, hier S. 145.
1165 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 270; Heitkamp, Die Situation blinder Frauen, S. 89–
189, hier S. 144; Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 542.
1166 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 269.
1167 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 269.
1168 Vgl. Hoelters, Betätigungsmöglichkeiten und Berufe für weibliche Blinde, S. 71–75, hier S. 71–72.
1169 Vgl. Gersdorff, Bericht über die Arbeit [1942], S. 279–283.
1170 Vgl. Fürstenberg, Die Blinden von Niederdonau, S. 287–289, hier S. 288.
1171 Vgl. Kapitel II.6.1.
1172 Bei einer Person in der Liste der AbsolventInnen fehlt die Angabe des Vornamens. Es könnten dementsprechend auch fünf blinde Frauen diesen Kurs absolviert haben. Vgl. Klebert, Prüfung blinder Stenotypisten, S. 270–271.
169
11.Zivilblinde als AkteurInnen des NS-Regimes
11.1 Die wissenschaftliche Diskussion um blinde, gehörlose und
körperlich behinderte „TäterInnen“
Bevor in den folgenden Kapiteln die Haltung blinder Menschen zur nationalsozialistischen
Ideologie und dem NS-Regime aufgezeigt wird, soll der Forschungsstand zu dieser Fragestellung wiedergegeben werden. In der öffentlichen Darstellung galten Menschen mit einer
Behinderung bis in die 1990er Jahre weitgehend ausschließlich als Opfer1173 des Na­tio­
nal­so­zia­lis­mus. In einigen neueren Forschungsarbeiten konnte aber aufgezeigt werden,
dass sich auch Menschen mit einer körperlichen Behinderung, Gehörlose und Blinde in
den jeweiligen NS-Selbsthilfeorganisationen „Reichsbund der Körperbehinderten“ (RBK),
„Reichsverband der Gehörlosen Deutschlands“ (REGEDE) sowie im RBV betätigten, freiwillig zu Mitgliedern in der NSDAP und SA wurden und öffentlich ihre Loyalität zum
NS-Regime äußerten.1174 Dementsprechend hatten sie unter dem NS-Regime nicht nur eine
passive Opferrolle inne, sondern waren auch AkteurInnen. Die Tatsache, dass Menschen
mit einer Behinderung AnhängerInnen oder GegnerInnen des Nationalsozialismus waren,
wurde bisher allerdings nur in Ansätzen wissenschaftlich untersucht.1175 In diesem Zusammenhang ging die Wissenschaft insbesondere der Frage nach, ob einige der betreffenden
behinderten Menschen als „TäterInnen“ eingestuft werden müssten.
Petra Fuchs stellte 2001 in diesem Zusammenhang fest, dass körperbehinderte Menschen
die Teilhabe am nationalsozialistischen System gesucht haben.1176 Sie hält den Begriff der
„Täterschaft“1177 aber auf Grund der von Ungleichheit, Stigmatisierung und Diskriminierung
geprägten gesellschaftlichen Stellung körperbehinderter Menschen unter dem NS-Regime
für nicht anwendbar. Die FunktionärInnen und Mitglieder des „Reichsbundes der Körperbehinderten“ hätten außerdem nur einen sehr eingeschränkten Einflussbereich gehabt. Die
Ausübung von Macht war auf andere Betroffene sowie teilweise auf die Eltern von Kindern
mit einer körperlichen Beeinträchtigung beschränkt. Für die teilweise demonstrativ pronationalsozialistische Haltung einiger körperlich behinderter Personen habe es ihrer Meinung
nach allerdings auch keine Veranlassung gegeben.1178
Jochen Muhs wies 1996 darauf hin, dass eine durchaus beachtliche Anzahl gehörloser
Menschen AnhängerInnen der NS-Ideologie waren.1179 Er berichtete über gehörlose Men1173 Zur Problematisierung des „Opfer“-Begriffes und seiner unterschiedlichen Verwendung im NS-Regime
und in der Nachkriegszeit vgl. u. a. Botz, Opfer/Täter-Diskurse.
1174 Vgl. u. a. Büttner, Der Bann G; Fuchs, „Körperbehinderte“; Biesold, Klagende Hände; Malmanesh, Blinden; Richter, Blindheit und Eugenik; Ryan, Schumacher, Deaf people; Blinde unterm Hakenkreuz; Poore,
Disability in Twentieth Century, pp. 125–134; Klee, Der blinde Fleck.
1175 Vgl. Büttner, Bann G, S. 17.
1176 Vgl. Fuchs, „Körperbehinderte“, S. 13.
1177 Fuchs, „Körperbehinderte“, S. 228.
1178 Vgl. Fuchs, „Körperbehinderte“, S. 228.
1179 Vgl. Jochen Muhs, Followers and Outcasts. Berlin’s Deaf Community under National Socialism (1933–
1945), in: Renate Fischer, Thomas Vollaber (Ed.), Collage. Works on international Deaf History, [= International Studies on Sign Language and Communication of the Deaf, Vol. 33], Hamburg 1996, pp. 195–204,
hier p. 204, zitiert in: Büttner, Der Bann G, S. 17.
170
schen in der SA, in der „Hitler-Jugend“ und in der NSDAP. Muhs resümierte in einem 2002
herausgegebenen Sammelband über gehörlose Menschen in der NS-Zeit, dass es unter ihnen
sowohl „Opfer“ als auch „TäterInnen“ gab.1180
Malin Büttner geht in seiner 2005 publizierten Arbeit über den „Bann G“ für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche in der „Hitler-Jugend“ außerdem auf den sensiblen
Hintergrund ein, vor dem diese Diskussion geführt wurde: „Die Debatte um Aspekte der
Mittäterschaft behinderter Menschen während des ‚Dritten Reiches‘ ist vor allem durch Scheu
und Vorsicht von allen Seiten gekennzeichnet.“1181 Lange Zeit galten nach dem GzVeN zwangssterilisierte Menschen zudem rechtlich nicht als Opfer der NS-Zeit. Österreich und Deutschland zeigten erst spät eine entsprechende Wiedergutmachungsgeste.1182 2007 schildert Lothar
Scharf in seiner im Eigenverlag erschienen Studie die Beteiligung von gehörlosen Menschen
in NS-Organisationen vor allem in Bezug auf die in der „Gehörlosen-Presse“1183 verbreiteten antisemitischen Hetzkampagnen.1184 Scharf beschränkt sich dabei auf die Darstellung
von Gegebenheiten und unterlässt eine Bewertung der von ihm aufgezeigten aktiven Rolle
gehörloser Menschen unter der NS-Diktatur.
Ebenfalls 2007 thematisiert die US-amerikanische Germanistin Carol Poore in ihrer
kulturgeschichtlichen Studie „Disability in Twentieth Century German Culture“ die Beteiligung von Menschen mit einer Behinderung am NS-Regime in einem Kapitel mit dem
Titel „Collaborators or Self-Advocates?“.1185 Darin beschreibt sie die Aktivitäten blinder,
gehörloser und körperbehinderter Menschen in NS-Organisationen. Zu einem generellen
Urteil kommt sie allerdings nicht, weil aus ihrer Sicht das alltägliche Leben von gehörlosen,
körperlich beeinträchtigten sowie blinden Menschen noch nicht ausreichend erforscht sei,
um beispielsweise deren persönliche Einstellung gegenüber den NS-Vereinen RBV, REGEDE
und RBK zu kennen.1186
Die Rolle blinder Menschen in Deutschland zwischen 1933 bis 1945 wurde seit dem Ende
des Zweiten Weltkrieges von verschiedenen Seiten her beleuchtet. Dass es unter blinden
Menschen NationalsozialistInnen gab, wurde erstmals 1948 in der „Ostzone“ Deutschlands
thematisiert. Dort hatte eine neue Selbsthilfegruppe blinder Menschen ihre Arbeit aufgenommen und brachte die Zeitschrift „Die Gegenwart“ heraus. Darin gab es die Rubrik „Der
Nazispiegel“. Dieser stellte sich die Aufgabe, das deutsche Blindenwesen von ehemaligen,
aktiven Nationalsozialisten zu „reinigen“.1187 Bereits in der vierten Doppelheftnummer im
Jahr 1948 wurde der „Nazispiegel“ allerdings wieder eingestellt mit Hinweis auf den SMADBefehl vom 10. März 1948, mit dem die Entnazifizierung der „Ostzone“ für beendet erklärt
worden war.1188 Von einer wirklichen Aufklärung über die Aktivitäten blinder Menschen
1180 Vgl. Muhs, Deaf People as Eyewtnesses, pp. 78–97, hier p. 95.
1181 Büttner, Der Bann G, S. 17.
1182 Erst im Juli 2005 erklärte sich die Republik Österreich bereit, neben anderen bis dato nicht anerkannten
Opfergruppen Zwangssterilisation explizit als „Schädigung in erheblichem Ausmaß“ zu bewerten. Vgl. u.
a. [Ö] BGBl., Nr. 86/2005, Anerkennungsgesetz 2005, Artikel 2, 2. § 1, Abs. 2 lit. j; Spring, Restitution der
Fertilität, S. 367–392; Spring, Zwangssterilisationen in Wien, insb. S. 45 und S. 218.
1183 Scharf, Gehörlose Juden, S. 41.
1184 Vgl. Scharf, Gehörlose Juden, S. 31–52.
1185 Vgl. Poore, Disability in Twentieth Century, pp. 125–134.
1186 Vgl. Poore, Disability in Twentieth Century, p. 125.
1187 Bartsch, Vorbemerkungen, S. 41–42, hier S. 41.
1188 Vgl. o. A., Der Nazispiegel eingestellt, S. 170–171, hier S. 170.
171
im NS-Regime kann aber bei diesen Schriftstücken keine Rede sein. In erster Linie wurden
blinde Menschen, die im westlichen Teil Deutschlands lebten, als NationalsozialistInnen
diffamiert.
Der selbst blinde Autor Max Schöffler, der in der NS-Zeit als Mitglied der KPD verfolgt
worden war,1189 interpretierte die politische Haltung von blinden Menschen, die An­hän­
gerIn­nen des NS-Regimes waren, in seinem 1956 publizierten Buch „Der Blinde im Leben
des Volkes“ als „geistige Umnachtung“.1190
Der erste Wissenschaftler, der blinden Menschen eine aktive Rolle insbesondere bei der
Durchführung des GzVeN zuordnete, war der Historiker und Mediziner Gabriel Richter
mit seiner 1986 publizierten Dissertation „Blindheit und Eugenik“.1191 Wie bereits in Kapitel
II.8.2.6 erwähnt, gab es beispielsweise Aufrufe von blinden Menschen zu freiwilligen Sterilisationen und in den NS-Selbsthilfeorganisationen setzten blinde Menschen radikal die
NS-Ideologie um.1192 In einem Aufsatz kritisiert Richter 1989 dementsprechend, dass sich
blinde Menschen nach 1945 ihr „Mitläufertum“ und ihre zum Teil erfolgte „Mittäterschaft“
nie eingestanden hätten.1193 Als Sehender wurde er für seine Forschungsarbeit von einigen
blinden Personen angegriffen.1194 Sie sahen seinen Vorwurf als ungerechtfertigt an. Der
blinde Hans-Eugen Schulze empfand Richters Aussagen als „Kränkung aller Blinden“.1195
Die unterschiedlichen Haltungen in Deutschland in dieser Diskussion kommen auch im
Rahmen der abgedruckten Beiträge und Diskussionen des Seminars zum Thema „Blinde
unterm Hakenkreuz“1196 in Berlin-Wannsee 1989 zum Ausdruck.
Bei der 2002 veröffentlichten Dissertation von Mohammed Reza Malmanesh über die
„Blindenstudienanstalt“ in Marburg an der Lahn wird die Fragestellung nach einer eventuellen MittäterInnenschaft blinder Menschen nur am Rande thematisiert. Ausführlich
behandelte Malmanesh aber die Haltung des Direktors Carl Strehl1197 und die Rolle blinder
Menschen und des VdBA bei Aufrufen zur freiwilligen Sterilisation nach dem GzVeN.1198
In Österreich wurde die Frage einer aktiven Rolle blinder Menschen in der Zeit von
1938 bis 1945 wissenschaftlich bisher nicht aufgearbeitet. Nur der Wiener Historiker und
ehemalige Mitarbeiter des DÖW Herbert Exenberger erwähnte in seinem Vortrag über die
Verfolgung blinder Menschen jüdischer Herkunft in Wien 1999, dass auch „verblendete
Blinde“1199 Mitglieder der SA waren. Exenberger zitierte darin aus einer Festschrift zum
50-jährigen Bestehen der „Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen“ aus dem
Jahr 1985.1200
1189 Vgl. Kapitel II.11.3.
1190 Vgl. Schöffler, Blinde im Leben des Volkes, S. 178.
1191 Richter, Blindheit und Eugenik.
1192 Vgl. Kapitel II.3.4, II.11.2.
1193 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik. Zwischen Widerstand und Integration, S. 16–34, hier S. 16.
1194 Vgl. Büttner, Der Bann G, S. 17.
1195 Schulze, Wir Blinden und das Dritte Reich, S. 57–60, hier S. 57. [Abgedruckt ebenfalls in: Blinde unterm
Hakenkreuz, S. 35–45.]
1196 Blinde unterm Hakenkreuz.
1197 Vgl. Malmanesh, Blinde, insb. S. 80–91.
1198 Vgl. Malmanesh, Blinde, insb. S. 176–181.
1199 Exenberger, Jüdische Blinde in Wien.
1200 Vgl. o. A., Mitten im Lebensstrom, S. 16–19, hier S. 17.
172
11.2Blinde AkteurInnen
In einem Aufsatz von Karl Satzenhofer aus dem Jahr 1939 über die Neuorganisation des
RBV werden fast alle genannten RBV-Funktionäre als Parteigenossen bezeichnet.1201 Bereits
vor dem „Anschluss“ scheint es eine regelrechte NS-Blindenbewegung gegeben zu haben.
Deren Vorsitzender war Walther Otto Fürstenberg, der spätere Leiter des RBV-Gaubundes
„Niederdonau“.1202 Auch weitere RBV-Funktionäre wurden von Satzenhofer als „verdiente
Nationalsozialisten“1203 bezeichnet. Den Stellvertreter des RBV-Vorsitzenden Gersdorff in
der „Ostmark“, den Klaviervirtuosen Otto Binder, titulierte er als „Vorkämpfer für den
Nat.-Sozialismus“.1204 Leiter des RBV-Gaubundes Wien war Gustav Adolf Besser. Der
blinde Musiklehrer gehörte ebenfalls der NSDAP an und zählte angeblich zu den „ersten
Kämpfern“1205 zur Verbreitung des Nationalsozialismus in Österreich. Besser war Leiter der
1926 gegründeten „Interessengemeinschaft für blinde Musiker und Klavierstimmer“. Diese
Organisation führte mit Genehmigung der Behörden bereits 1937 den „Arierparagraphen“
ein.1206 Dieses Beispiel belegt, dass unter den blinden Menschen Antisemitismus verbreitet
war. Außerdem fällt auf, dass viele der von Karl Satzenhofer in seinem Aufsatz genannten
leitenden Funktionäre des RBV „Ostmark“ Musiker waren. Diese Interessengemeinschaft
könnte daher durchaus als Auffangbecken für illegale NSDAPler und Anhänger der NSBewegung unter blinden Menschen in der Zeit ihres Verbotes zwischen 1933 und 1938
gedient haben.
Außer den genannten späteren RBV-Funktionären gab es noch weitere blinde Menschen,
die sich schon vor 1938 der NSDAP anschlossen. In einem Schreiben an den Stillhaltekommissar Albert Hoffman verwies zum Beispiel Hans Klug als Obmann der „Hilfsgemeinschaft
der später Erblindeten Österreichs“ auf seine seit dem 18. Juni 1933 aufrechte Mitgliedschaft
in der NSDAP Ortsgruppe 1/3, Breitensee Wien XIII.1207 Das Datum seines Beitritts zur
NSDAP ist dabei bemerkenswert: Angeblich trat der 67-Jährige dieser Organisation, einen
Tag bevor die NSDAP verboten wurde, bei. In der NS-Terminologie galten die Jahre bis
1938 als „Verbotszeit“, da jegliche Betätigung für die NSDAP untersagt worden war.1208 1945,
durch eines der ersten Gesetze der provisorischen Staatsregierung, das „Verbotsgesetz“ vom
8. Mai 1945, wurde die Zugehörigkeit zur NSDAP in der „Verbotszeit“, die in dieser Zeit
terroristische Anschläge verübte, nachträglich als Hochverrat geahndet.1209
1201 Nur Georg Briedl, der den Vorsitz des RBV-Gaubundes „Oberdonau“ übernahm, Josef Schwaiger als Vorsitzender der Salzburger Gaugruppe sowie Ernst Neubacher, der den RBV-Gaubund „Tirol-Vorarlberg“
leitete, waren laut Satzenhofer keine Mitglieder der NSDAP. Vgl. Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160–
162.
1202 Vgl. Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160–162.
1203 Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160–162.
1204 Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160–162.
1205 Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160–162.
1206 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer, Bescheid M. Abt. 2/4019/37 vom 15.7.1937, Betreff: Umbildung wird nicht untersagt.
1207 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 24, Bund der später Erblindeten Österreichs.
1208 Vgl. [Ö] BGBl., Nr. 240/1933, Verordnung der Bundesregierung vom 19. Juni 1933 auf Grund des Gesetzes vom 24. Juni 1917 (Kriegswirtschaftliches Ermächtigungsgesetz), womit der nationalsozialistischen
deutschen Arbeiterpartei und dem Steirischen Heimatschutz jede Betätigung in Österreich verboten wird,
zitiert in: Garscha, Nationalsozialisten in Österreich 1933–1938, S. 100–120, hier S. 100.
1209 Vgl. Garscha, Nationalsozialisten in Österreich 1933–1938, S. 100–120, hier S. 115.
173
Blinde Menschen wurden demnach zu einer Zeit zu NSDAP-Mitgliedern, in der ihnen
dies in ihrem alltäglichen und beruflichen Leben nicht nur wenige Vorteile einbrachte,
sondern ihnen dafür sogar Strafverfolgung drohte. Die Beteiligung blinder Menschen in der
NSDAP schon vor 1938 ist aber nicht nur vor dem Hintergrund der Terroraktivitäten der
illegalen NSDAP bemerkenswert. „Volksgenossen“, die für den Dienst in der Wehrmacht als
untauglich galten, sollten eigentlich nur dann in die NSDAP aufgenommen werden, wenn sie
nicht „mit schweren körperlichen und geistigen Gebrechen behaftet“1210 waren. Laut den Vorgaben im Organisationshandbuch der NSDAP war ein Antrag vor allem dann abzulehnen,
wenn dieser von einer Person gestellt wurde, die nach dem GzVeN als „erbkrank“ galt.1211
Trotzdem wurden blinde Menschen in die NSDAP aufgenommen. Es kann als gesichert angenommen werden, dass es blinde Menschen gab, die sich aus eigenem Antrieb
für die nationalsozialistische Idee begeistert haben.1212 Darüber hinaus gab es nach dem
„Anschluss“ offenbar noch eine weitere Möglichkeit, wie blinde Menschen in Österreich
zu Mitgliedern der NSDAP wurden. Sie wurden durch ihre Teilnahme am „Reichsbann B“
der „Hitler-Jugend“, automatisch in die NSDAP aufgenommen. Auskunft darüber geben
die Vereinsakten der „Interessengemeinschaft blinder Arbeiter“1213, die 1935 gegründet, aber
1938 aus dem Vereinsregister gelöscht und in den RBV eingegliedert wurde. Nach Ende des
Krieges beantragten der ehemalige Leiter Erwin Horacek gemeinsam mit Maria Köhrer,
Therese Riha, Leopold Urbans und Karl Phillip beim Wiener Magistrat, die 1938 erfolgte
Löschung ihrer Gruppierung aus dem Vereinsregister rückgängig zu machen. Dabei kam
es automatisch zu einer Überprüfung der AntragsstellerInnen auf ihre Mitgliedschaft in
der NSDAP.1214 Einer der Beteiligten, Karl Phillip, wurde dabei von der Gemeinde Wien als
NSDAP-Mitglied von Juni 1944 bis April 1945 ausgewiesen, nur seine Mitgliedsnummer war
nicht bekannt. Phillip gab in einer Stellungnahme dazu an, dass er von der „Hitler-Jugend“
automatisch als Mitglied der NSDAP überstellt worden war.1215 Erst nachdem ein erneuter
Antrag auf Reorganisation des Vereines ohne Karl Phillip als Mitglied des provisorischen
Vereinsvorstandes gestellt wurde, trat mit Bescheid vom 3. Oktober 1945 die Löschung des
Vereines aus dem Jahre 1938 wieder außer Kraft.1216
1210 Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 6b.
1211 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 6c.
1212 Auch von gehörlosen Menschen aus Deutschland ist bekannt, dass sie ab 1933 öffentlich ihre Unterstützung und Sympathie für Adolf Hitler zeigten. Vgl. Muhs, Deaf People als Eyewitnesses, pp. 78–97, hier
pp. 82–83.
1213 WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 6299/35, Interessengemeinschaft blinder Arbeiter; ÖStA, AdR, Stiko Wien,
AC 31, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 22, Interessengemeinschaft blinder Arbeiter.
1214 Auch von anderen Vereinen ist bekannt, dass sie sich nach dem Ende des Krieges um eine Reorganisation
bemühten. Einsehbar sind diese Akten allerdings nur dann, wenn die betreffenden Organisationen im Laufe
der Nachkriegszeit ihre Tätigkeit wieder einstellten. Die „Interessengemeinschaft blinder Arbeiter“ löste sich
bereits 1948 wieder auf. Von bestehenden Vereinen, wie dem ÖBSV und der „Hilfsgemeinschaft“, können diese
Unterlagen im Archiv der Vereinspolizei nur mit Genehmigung des Vereinsvorstandes eingesehen werden.
Von diesen beiden Selbsthilfeorganisationen konnten für diese Arbeit dementsprechend nur die Quellen begutachtet werden, die der jeweilige Vorstand zur Einsicht freigab. Eine vollständige Einsicht des Aktenmaterials
erfolgte daher nicht. Daher konnten keine weiteren Beispiele für blinde Menschen gefunden werden, die als
ehemalige NSDAP-Mitglieder nach 1945 wieder im Blindenwesen tätig sein wollten. Vgl. Kapitel V.
1215 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 6299/35, Interessengemeinschaft blinder Arbeiter, Fortl. Nr. 2177 Gemeinde Wien, Meldeblatt zur Registrierung der Nationalsozialisten vom 19.7.1945, Betreff: Phillip Karl.
1216 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 6299/35, Interessengemeinschaft blinder Arbeiter, M. Abt. VII/2
3981/45, Bescheid vom 3.10.1945, Betreff: Außerkrafttreten der Löschung.
174
Auch wenn blinde Menschen Mitglied der NSDAP waren, vollständig integriert in diese
Organisation waren sie sicherlich nicht. Ein Schreiben des NSDAP-Gaus Wien Kreis III aus
dem Jahr 1943 an alle Kreishauptamtsleiter weist darauf hin. Anlässlich eines Appells zum
Besuch des „Reichsorganisationsleiters“ Robert Ley am 6. Juni 1943 wurde darin Folgendes
festgehalten: „Körperbehinderte politische Leiter sind grundsätzlich in die Marschblocks nicht
einzuteilen und können daher an dieser Kundgebung nicht teilnehmen.“1217 Es ist anzunehmen, dass auch zivilblinde NSDAP-Mitglieder von einigen Veranstaltungen ausgeschlossen
wurden.
Das Gleiche dürfte für zivilblinde Menschen gegolten haben, die sich der SA angeschlossen hatten. Einige blinde Männer in SA-Uniform sollen dabei gewesen sein, als der Vorsitzende der 1935 gegründeten „Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten“ Jakob Wald1218 1938
gezwungen wurde, das Vereinsbüro zu verlassen.1219 Wald hatte sich zwar taufen lassen, galt
aber nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ als Jude.1220 Beschrieben ist diese Situation in
der Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der „Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten“.
Namentlich erwähnt wurden die beteiligten blinden Menschen darin allerdings nicht. Bis
zur Löschung der „Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten“ aus dem Vereinsregister und
der Eingliederung des restlichen Vermögens in den RBV im November 19381221 wurde
so der Stellvertreter Walds, Hans Klug, der bereits erwähnte NSDAP-Mann, zu seinem
Nachfolger. 1222
Jakob Wald gehörte zu den aktivsten blinden Männern im österreichischen Blindenwesen der 1920er und 1930er Jahre. Der 1887 geborene Sohn eines Rechtsanwaltes aus
Galizien war während seines Studiums nach einem Unfall vollständig erblindet. 1924 hatte
er zusammen mit anderen blinden Menschen den „Bund der später Erblindeten“ gegründet und 1935 die „Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten“.1223 Das Beispiel Jakob Wald
zeigt, was für das österreichische Blindenselbsthilfewesen in der Zeit bis zum „Anschluss“
charakteristisch war: Blinde Menschen, die sich zum Judentum bekannten oder nach den
1217 Bezirksmuseum Landstraße, NSDAP-Gau Wien Kreis III, Rundschreiben Nr. 12/43 an alle Kreishauptamtsleiter, Ortsgruppenleiter und Amtsleiter des Kreises III vom 2.6.1943, Betreff: Besuch Reichsorganisationsleiter Ley in Wien.
1218 Vgl. ÖStA, AdR, Polizeidirektion Wien, Vereinsbüro 15, 2768, Zl. A. B. 97, Bundespolizeidirektion Wien
an das Ministerium für Finanzen vom 23.3.1938, Betreff: Blindenvereine, Wertlotterie.
1219 O. A., Mitten im Lebensstrom, S. 16–19, hier S. 17.
1220 Bachleitner, Vogel, Jakob Wald, S. 32–33, hier S. 32.
1221 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 9, Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten Österr.
1222 Jakob Wald war bis 1934 Obmann des „Bundes der später Erblindeten“. Aus dieser Funktion wurde er
allerdings 1934 enthoben. Jakob Wald beteiligte sich daraufhin 1935 an der Gründung der „Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten“ und wurde auf der konstituierenden Generalsversammlung einstimmig
zum Obmann gewählt. Hans Klug fungierte als 1. Obmannstellvertreter. Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC
31, Kt. 367, Zl. 22/F, Sg. 24, Bund der später Erblindeten Österreichs; Hilfsgemeinschaft, Verhandlungsabschrift der konstituierenden Generalversammlung des Vereines „Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten Österreichs“ vom 20.8.1935. Zu Jakob Wald vgl. IV.3.2.
1223 1938 tauchte Wald unter. Die näheren Umstände sind nicht bekannt. Die ebenfalls blinde Frau von Wald
galt als „Arierin“. Seine Tochter Inge musste die Schule mit 13 Jahren beenden, da sie als „Mischling ersten
Grades“ galt. Wald und seine Familie überlebten den Krieg. 1945 arbeitete er mit an der Neuorganisation
des Blindenwesens und wurde auch zum stellvertretenden Obmann des ÖBSV, bevor er die Reorganisation des „Hilfsgemeinschaft der später Erblindete“ mit initiierte. Er verstarb am 9. September 1952. Vgl.
Bachleitner, Vogel, Jakob Wald, S. 32–33.
175
„Nürnberger Rassengesetzen“ ab 1938 als Jüdinnen oder Juden galten, arbeiteten eng mit
den anderen FunktionärInnen zusammen.
Für zivilblinde Jüdinnen und Juden gab es seit 1911 zwar eine eigene Organisation,
den „Hilfsverein der jüdischen Blinden“.1224 Gemeinsam mit vier weiteren Blindenselbsthilfeorganisationen bildete der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ 1924 den „Verband
der Blindenvereine Österreichs“. Außerdem hatte der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“
zusammen mit den VertreterInnen von anderen Einrichtungen und Organisationen des
Blindenwesens einen Sitz in der von der Gemeinde Wien 1924 gegründeten Blindenfürsorgestelle. Als weitere jüdische Einrichtung war dort auch das „Israelitische Blindeninstitut“
vertreten. An diesen Sitzungen nahm ebenfalls der spätere Autor der RBV-Zeitschrift „Die
Blindenwelt“, Karl Satzenhofer, in seiner Funktion als „Obmann des Ersten Österreichischen Blindenvereins“ teil.1225 Außerdem gründete er gemeinsam mit dem jüdischen blinden
Juristen David Schapira1226 und dem Kriegsblinden F. Guggi im Herbst 1930 den „Verein
blinder Intellektueller Österreichs“.1227 Nach dem „Anschluss“ verschwieg Satzenhofer in
einem Aufsatz über das Blindenselbsthilfewesen in Österreich zwischen 1934 und 1938
allerdings diese Zusammenarbeit.1228
Als nach dem „Anschluss“ die Blindenvereine gelöscht wurden und nur der RBV „Ostmark“, der den „Arierparagraphen“ in seine Statuten aufgenommen hatte, tätig sein durfte,
endete diese Gemeinschaftsarbeit praktisch über Nacht. Langjährige Vereinsfunktionäre
wie Jakob Wald wurden von ihren Ämtern enthoben und die Mitglieder jüdischer Herkunft
ausgeschlossen.1229 Viele blinde Menschen, die nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ als
Jüdinnen und Juden galten,1230 mussten fliehen oder wurden getötet. Gegen die Verfolgung ihrer ehemaligen jüdischen VereinskollegInnen scheinen die Zivilblinden keinen
Widerstand geleistet zu haben, der RBV „Ostmark“ versuchte sogar die wichtigste jüdische Einrichtung für blinde Menschen in Wien in seinen Besitz zu bekommen. Dies war
das „Israelitische Blindeninstitut“ auf der Hohen Warte, welches ab November 1938 von
der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) als „Alters- und Siechenheim mit Blindenabteilung genutzt wurde.1231 Franz Hartl, kommissarischer Geschäftsführer und Leiter der RBV
Landesgruppe „Ostmark“, stellte den undatierten Antrag, dieses Gebäude im 19. Wiener
1224 Vgl. Kapitel IV.5.2.1; WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 3257/20, Hilfsverein der jüdischen Blinden; ÖStA,
AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden. Die jüdischen Kriegsblinden hatten keine eigene Organisation, sondern waren im „Verband der Kriegsblinden“ Österreichs
integriert. Dieser wurde von Hans Hirsch, einem Kriegsblinden jüdischer Herkunft, geleitet. Vgl. Kapitel
IV.3.3.4, IV.7.
1225 WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 8290/23, Blindenwerkstätte „Typhlos“, Bund der später Erblindeten, Abschrift Blinden-Unterstützungsverein die „Purkersdorfer“ in Wien an die Vaterländische Front z. Hd.
Bundesleiter Stellv. Hauptmann Reichl vom 5.4.1934, Betreff: Verhältnisse im roten Blindenverband.
1226 David Schapira war Kriegsblinder des Ersten Weltkrieges und überlebte den Holocaust. Vgl. Kapitel
IV.3.3.3, IV.6.4.3, IV.7.
1227 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 75; Hoffmann, Kriegsblinde, S. 176.
1228 Vgl. Satzenhofer, Blindenselbsthilfewesen, S. 127–130, hier S. 127.
1229 Dies führte zu einem Anstieg der Mitgliederzahlen des „Hilfsvereines der jüdischen Blinden“, der seine Tätigkeit fortsetzen durfte, allerdings gravierend von den NS-Repressalien betroffen war. Vgl. Kapitel
IV.5.2.1.
1230 Vgl. Kapitel IV.4. Zu den bekanntesten blinden Menschen, denen eine Flucht aus der „Ostmark“ gelang,
zählt heute Robert Vogel. Vgl. Vogel, Zwischen hell und dunkel, S. 47–81.
1231 Vgl. Kapitel IV.5.3.
176
Gemeindebezirk mit dem damaligen Vereinssitz der Zivilblinden in der Rotensterngasse
(Wien II) zu tauschen. Hartl legitimierte sein Anliegen damit, dass das Gebäude auf der
Hohen Warte geräumiger sei und außerdem noch in einem ausgesprochen „arischen“1232
Viertel liegen würde. In einem nichtautorisierten handschriftlichen Vermerk auf diesem
Schreiben wurde das Ansuchen allerdings abgelehnt, mit der Begründung, dass im „Israelitischen Blindeninstitut“ „auch andere Körpergeschädigte“1233 untergebracht seien und daher
eine Räumung erst in einem Jahr möglich sei.1234
Der RBV war also aktiv an Repressalien gegen blinde Menschen jüdischer Herkunft
beteiligt. Die blinden Funktionäre und Mitglieder unterstützten mit ihrem Engagement
und ihren Beiträgen aktiv das NS-Regime und trugen damit zur Machtübernahme und
-erhaltung der NS-Bewegung bei.
11.3Blinde Menschen im Widerstand
Durch die Intensität der Repressionen von politischen GegnerInnen war es sehr schwer,
Widerstand gegen das NS-Regime zu leisten. Vor allem blinde Menschen, die in wirtschaftlich desolaten Verhältnissen und in einer gesellschaftlichen Außenseiterposition lebten,
hatten kaum Möglichkeiten, sich gegen die NS-Machthaber zur Wehr zu setzen.1235
Dementsprechend gibt es kaum Berichte über blinde Menschen im Widerstand. Die
wenigen bekannten Persönlichkeiten müssen als Ausnahmeerscheinungen gelten. Zu diesen
zählt beispielsweise der blinde Franzose Jacques Lusseyran, der 17-jährig innerhalb der
Résistance-Bewegung nach der Besetzung Frankreichs eine Organisation von Jugendlichen
gründete, die gegen die deutsche Besatzungsmacht kämpfte. Lusseyran und seine Gruppe
wurden 1943 verhaftet. Der blinde Franzose erlebte das Ende des Zweiten Weltkrieges im
KZ Buchenwald.1236
Eine Beteiligung blinder Menschen am organisierten Widerstand in Österreich ist nicht
bekannt, kann aber nicht ausgeschlossen werden. Zu den Formen des Protestes in Österreich zählte auch der nicht organisierte Widerstand von Einzelnen. Dieser zeigte sich unter
anderem durch passive Resistenz, Nonkonformismus, soziales Protestverhalten oder auch
regimefeindliche Äußerungen.1237 Letztere wurden nach dem „Heimtückegesetz“ geahndet
und spiegelten bis zu einem gewissen Grad die Stimmung der Bevölkerung wider, weil sie
in den meisten Fällen ein spontaner Ausdruck der Enttäuschung, der Erbitterung und des
Hasses auf das NS-Regime waren.1238 Dass auch blinde Menschen sich an dieser Form des
Widerstands beteiligten, belegt ein Gerichtsakt, der im DÖW archiviert ist. Darin finden
sich Unterlagen zu Siegfried S., der wahrscheinlich auf Grund einer Syphilis-Erkrankung
fortschreitend erblindete. Laut dieser Quelle galt er außerdem als „Psychopath“, der „geistig
1232 ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 558, Mappe B 9, Undatierte Bericht von Franz Hartl. Vgl. Kapitel
II.3.4.2, IV.5.3.2.
1233 ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 558, Mappe B 9, Undatierte Bericht von Franz Hartl. Vgl. Kapitel
II.3.4.2, IV.5.3.2.
1234 Vgl. Kapitel IV.5.3.
1235 Vgl. weiterführend: Karner, Duffek, Widerstand in Österreich.
1236 Vgl. Lusseyran, Das wiedergefundene Licht, S. 135.
1237 Vgl. auch die dort angegebene Literatur: Neugebauer, Widerstand und Opposition, S. 187–212, hier S. 205.
1238 Vgl. Neugebauer, Widerstand und Opposition, S. 187–212, hier S. 205.
177
und körperlich allmählich“ verfallen würde.1239 Der aus Brixlegg (Tirol) stammende S. soll
am 16. November 1942 gesagt haben: „Der Hitler, der Hund, gehört umgebracht, der Hitler,
den soll der Teufel holen.“1240 Diese Aussage tätigte der damals 42-Jährige angeblich, als er
in einem Geschäft vergeblich versuchte Tabakwaren zu erhalten. Zwei Frauen sagten gegen
ihn aus. Wegen „heimtückischer Äußerungen gegen die Person des Führers“1241 wurde er zu
acht Monaten Gefängnis verurteilt. Das Strafmaß konnte bis zu fünf Jahre betragen. Mildernd bewertet wurde bei dem Urteil gegen S. unter anderem sein Gesundheitszustand. Seit
1942 war er so weit erblindet, dass er angeblich bei jedem Schritt geführt werden musste.
Im Laufe des Verfahrens hatte S. keine Chance, einer Verurteilung zu entgehen, obwohl
er die Aussage bestritt und auch eine Entlastungszeugin benannte. Diese wurde allerdings
nicht angehört. Außerdem erstattete der Gendarmerieposten Brixlegg am 17. November
1942 einen Bericht an den Oberstaatsanwalt beim Landesgericht Innsbruck, in dem S. als
„Untermensch“1242 beschrieben wurde. „Einflußreiche Persönlichkeiten“ und die „Allgemeinheit“ würden sich für eine dauernde „Verwahrung“ aussprechen.1243 Dieses Beispiel zeigt,
welche gravierenden Folgen ein an das NS-Regime unangepasstes Verhalten haben konnte.
Durch die propagandistisch-ideologische Durchdringung der Bevölkerung war zudem die
Gefahr der Denunziation groß.
Auch aus Deutschland gibt es dementsprechend nur wenige Berichte über blinde Menschen, die Widerstand leisteten.1244 Der bekannteste ist der blinde Jurist Rudolf Kraemer,
der im Februar 1933 seine Schrift „Kritik der Eugenik“1245 veröffentlichte und sich damit als
einziger blinder Mensch öffentlich gegen die Zwangssterilisierung aussprach.1246 Die freiwillige Sterilisation aus eugenischer Indikation lehnte allerdings auch Kraemer nicht ab.1247
1934 untersagte ihm die NSV seine Arbeit als Rechtsberater. Kraemer fand aber trotzdem
eine andere Anstellung und wurde ab 1941 zum Geschäftsführer der Konzertgemeinschaft
blinder Künstler aus Südwestdeutschland. Er starb am 30. Juli 1945 an einem Herzinfarkt.
Dem Widerstand zugeordnet wird ebenfalls der blinde Max Schöffler (8.12.1902–
1.1.1964). Schöffler schloss sich 1920 der KPD an und engagierte sich in den folgenden
Jahren für die Rechte blinder ArbeiterInnen. 1931 ging er von Leipzig nach Bayern, um dort
als Geschäftsführer des „Bayerischen Blindenbundes“ zu arbeiten. Auf einer Generalversammlung dieser Organisation wurde er am 10. März 1933 von der SA verhaftet.1248 Als der
1239 Vgl. DÖW, Archivalie 11567, K MS 2/43 10/43, Sondergericht beim Landesgericht Innsbruck, Urteil gegen
Siegfried S. vom 1.2.1943.
1240 DÖW, Archivalie 11567, K MS 2/43 10/43, Sondergericht beim Landesgericht Innsbruck, Urteil gegen Siegfried S. vom 1.2.1943.
1241 DÖW, Archivalie 11567, K MS 2/43 10/43, Sondergericht beim Landesgericht Innsbruck, Urteil gegen Siegfried S. vom 1.2.1943.
1242 DÖW, Archivalie 11567, Tgb. Nr. 478, Gendarmerie-Posten Brixlegg an den Oberstaatsanwalt beim Landesgericht Innsbruck vom 17.11.1942, Betreff: Siegfried S.
1243 Vgl. DÖW, Archivalie 11567, Tgb. Nr. 478, Gendarmerie-Posten Brixlegg an den Oberstaatsanwalt beim
Landesgericht Innsbruck vom 17.11.1942, Betreff: Siegfried S.
1244 Vgl. Blinde unterm Hakenkreuz, S. 149–187.
1245 Kraemer, Kritik der Eugenik.
1246 Vgl. Kapitel II.8.2.6; Bock, Zwangssterilisation, S. 279. Weiterführende Literatur zu Rudolf Kraemer: Martin Jaedicke, Dr. Dr. Rudolf Kraemer, S. 149–152; Schrenk, Kraemer; Poore, Disability in Twentieth Century, pp.135–138.
1247 Vgl. Lorenschat, Sterilisation Behinderter, S. 93.
1248 Vgl. Beckenbauer, Sterilisation in Bayern, S. 50–58, hier S. 52.
178
Vorstand dagegen protestierte, wurde der Bund unter Zwangsverwaltung und Polizeiaufsicht gestellt.1249 Erst 1939 erhielt der Verein die RBV-Satzungen und setzte unter Aufsicht
der NSV seine Tätigkeit fort.1250 Max Schöffler wurde bis 1945 noch fünfmal verhaftet und
1941/42 für 15 Monate in Bautzen inhaftiert.1251
Das Beispiel des „Bayerischen Blindenbundes“ zeigt, dass für politisch anders denkende
Menschen im NS-Staat kein Platz war. Die Vorgehensweise in diesem Fall dürfte auch in
Österreich bekannt gewesen sein und das Verhalten blinder Menschen, sich dem NS-Regime
anzupassen, beeinflusst haben.
11.4 Resümee: Die gesellschaftliche Stellung blinder Menschen
und ihre Haltung zum Nationalsozialismus
Blinde Menschen lebten unter dem NS-Regime in einem sehr großen Spannungsfeld: Auf
der einen Seite wurden sie durch die NS-Propaganda als „Minderwertige“ stigmatisiert.1252
Gleichzeitig stellte das NS-Regime blinden Menschen durch die Beteiligung in den NSOrganisationen RBV, NSDAP, SA sowie im „Reichsbann B“ der „Hitler-Jugend“ eine gewisse
gesellschaftliche Integration in Aussicht. Einige blinde Menschen erwarteten sich daher eine
soziale Besserstellung im Vergleich zu der Zeit vor dem „Anschluss“.1253
Zu dieser Entwicklung kam, dass die Zivilblinden praktisch von den Kriegsblinden
vorgelebt bekamen, dass auch blinde Menschen durchaus einen höheren Status sozialer
Integration erreichen konnten. Die Kriegsblinden waren durch ihre Rentenansprüche und
ihre bessere berufliche Situation, rund zwei Drittel aller Kriegsblinden hatten beispielsweise
durch eine an sie vergebene Tabaktrafik ein zusätzliches Einkommen,1254 wirtschaftlich
wesentlich besser gestellt.1255
Ab 1938 kam es dann nach Fuchs zu einer „völligen Umkehrung des Begriffes der
Selbsthilfe“.1256 In der nationalsozialistischen Gesellschaft nahm nun die Gemeinschaft gegenüber dem Individuum eine absolute Vorrangeinstellung ein. Demnach wurde die Selbsthilfe
1249 Vgl. Jaedicke, Max Schöffler, S. 152–157; Beckenbauer, Sterilisation in Bayern, S. 50–58, hier S. 52.
1250 Vgl. Beckenbauer, Sterilisation in Bayern, S. 50–58, hier S. 52–53.
1251 Vgl. Jaedicke, Wer erinnert sich noch an Max Schöffler, S. 8–9, hier S. 8. [Nach 1945 wurde Schöffler Direktor der Deutschen Zentralbibliothek für Blinde in Leipzig Vgl. Kapitel II.9.] Der 1897 in Dassow (D)
geborene Ernst Puchmüller erlebte ebenfalls als inhaftierter Kommunist das Kriegsende. Puchmüller war
im Dezember 1936 wegen seiner Aktivitäten in der KPD zu neun Jahren und sechs Monaten Zuchthaus
verurteilt worden. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung 1935 konnte er allerdings noch sehen. Erst die Bedingungen der Haft sollen ein bereits vorhandenes Augenleiden so verschlimmert haben, dass er vollständig
erblindete. Puchmüller lebte nach Ende des Krieges in der späteren DDR. Sein Todesdatum ist nicht bekannt. In den 1960er Jahren veröffentlichte er seine Memoiren „Mit beiden Augen“, die unter dem DDRRegime zweimal aufgelegt wurde. In diesem Buch stellt er seine Lebensgeschichte als Paradegeschichte
eines kommunistischen „Arbeiterfunktionärs“ dar. Die von ihm in diesem Buch gemachten Angaben sind
tendenziös und in Zweifel zu ziehen. Vgl. Puchmüller, Mit beiden Augen.
1252 Vgl. Kapitel II.8.1, II.8.2.6.
1253 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 187.
1254 Vgl. Mit Stand vom 31. Dezember 1922 hatten rund 77 Prozent aller Kriegsblinden eine eigene Tabaktrafik. Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 170.
1255 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 209–213.
1256 Fuchs, „Körperbehinderte“, S. 179.
179
zur moralischen „Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der Volksgemeinschaft“.1257 Die
na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Ideologie räumte damit den nach ihren Wertmaßstäben „leistungsbereiten und -fähigen“, „geistig normalen“ und „erbgesunden“ Menschen mit einer Behinderung,
wie blinden, gehörlosen und körperbehinderten Menschen, auf die diese Attribute zutrafen,
auch ein „vorläufiges Lebensrecht“ ein.1258 Maßnahmen des NS-Regimes zur Steigerung der
Berufsmöglichkeiten gaben den Betroffenen Aussicht auf ein eigenes Einkommen.1259 Das
Versprechen der NS-Propaganda in den zensierten Medien des Blindenwesens, „erbgesunde“
blinde Menschen, die keine weitere Behinderung hatten, zu „vollwertigen Mitgliedern der
Volksgemeinschaft“ zu machen, führte bei einigen Betroffenen zu einer gewissen Dankbarkeit gegenüber dem Nationalsozialismus, der ihnen trotz ihres Status als „Mindersinnige“
eine eingeschränkte, gesellschaftliche Integration anbot.1260 Eingeschränkt deshalb, weil sie
zeitlich begrenzt war, da sie von der Beurteilung der „Brauchbarkeit“ blinder Menschen
abhing. Vor diesem Hintergrund muss die Haltung blinder Menschen zum Nationalsozialismus beurteilt werden.1261
Durch die in diesem Kapitel aufgezeigte aktive Rolle vieler blinder Menschen im NS-System – insbesondere die Funktionäre des RBV unterstützten beispielsweise die Durchführung
von Zwangssterilisationen – trugen blinde Menschen damit auch eine Mitverantwortung
an NS-Verbrechen. Auf Grund dieser Aktivitäten könnten sie durchaus als TäterInnen oder
MittäterInnen bezeichnet werden, allerdings ist dies, abgesehen davon, dass wesentliche
Quellen zu diesem Thema fehlen, auch eine ethisch-moralisch zu beurteilende Frage.
Auf der anderen Seite steht fest, dass es blinde Menschen gab, die durch den NS-Staat zu
Opfern wurden. In diesem Zusammenhang müssen beispielsweise die diffamierende Propaganda gegen „Minderwertige“, eugenische Zwangsmaßnahmen, die „Euthanasie“ sowie
die Diskriminierung blinder Menschen, die keiner Arbeit nachgehen konnten, durch das
NS-Fürsorgesystem genannt werden. Blinde Menschen, die auf Grund ihres Alters berufsunfähig oder mehrfachbehindert waren, zählte das NS-Regime zu den „Ballastexistenzen“.
Dementsprechend war ihr Lebensunterhalt nicht gesichert. Sie konnten auch nicht den
Mitgliedsbeitrag für den RBV aufbringen und waren daher vom NS-Blindenvereinswesen
ausgeschlossen.
Ein besonders schweres Schicksal traf diejenigen blinden Menschen, die nach den
„Nürnberger Rassengesetzen“ ab 1938 in der „Ostmark“ als Jüdinnen und Juden galten.
Von denjenigen Kriegs- oder Zivilblinden jüdischer Herkunft, die nicht fliehen konnten,
überlebten nur wenige das NS-Regime.1262
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam es, wie eingangs bereits erwähnt, zu keiner
Aufarbeitung der Rolle blinder Menschen als Opfer und AkteurInnen des NS-Regimes.
Dies muss vor dem Hintergrund beurteilt werden, dass es auch im österreichischen Blindenselbsthilfewesen nach 1945 personelle Kontinuitäten zur NS-Zeit gab. Auf der konstituierenden Versammlung des „Österreichischen Blindenverbandes“ am 9. März 1946
1257 Fuchs, „Körperbehinderte“, S. 179.
1258 Vgl. Fuchs, „Körperbehinderte“, S. 141.
1259 Vgl. Kapitel II.6.
1260 Zu dieser Einschätzung kommt Hermann Haarman in Bezug auf die Gehörlosen in seinem Vorwort zu
der Arbeit von Martin Büttner. Vgl. Büttner, Der Bann G, S. 7–8, hier S. 8.
1261 Vgl. weiterführend: Demmel, Durch Nacht zum Licht, S. 228.
1262 Vgl. Kapitel IV.7.
180
wurde beispielsweise besagter Karl Phillip zum fünften Vorstandsmitglied gewählt.1263
Phillip galt, wie bereits erwähnt, als Mitglied der NSDAP.1264 An einer in Salzburg am
26. August 1946 stattgefundenen Vorbesprechung der „Obmänner und Vertreter der Blindenvereine von Kärnten, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol und Vorarlberg“ zur
bevorstehenden „Länderkonferenz“ des „Österreichischen Blindenverbandes“ in Wien waren
von sieben anwesenden blinden Männer drei ehemalige Vorsitzende von RBV-Gaubünden
gewesen.1265 Demnach übernahmen Ernst Neubacher in Tirol und Vorarlberg1266, Georg
Briedl in Oberösterreich und Josef Schwaiger in Salzburg auch nach Ende des Zweiten
Weltkrieges weiterhin Funktionen in Blindenverbänden. Diese drei waren 1939 allerdings
die einzigen Funktionsträger im RBV gewesen, die von Karl Satzenhofer in seinem Beitrag
in den „Marburger Beiträgen“ nicht als „Parteigenossen“ bezeichnet wurden.1267 Da die
Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht dezidiert Teil der wissenschaftlichen
Fragestellung dieser Arbeit ist, soll an dieser Stelle nur exemplarisch auf diese Gegebenheit
hingewiesen werden. Eine eigene Untersuchung sollte klären, in welchem Ausmaß Funktionäre von NS-Blindenorganisationen auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder
im Blindenwesen tätig waren.
1263 Vgl. ÖBSV, Protokoll der konstituierenden Versammlung des Österreichischen Blindenverbandes vom
9.3.1946
1264 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 6299/35, Interessengemeinschaft blinder Arbeiter, Fortl. Nr. 2177 Gemeinde Wien, Meldeblatt zur Registrierung der Nationalsozialisten vom 19.7.1945, Betreff: Phillip Karl;
Kapitel II.11.2.
1265 Vgl. ÖBSV, Abschrift, Protokoll über die in Salzburg, Landesblindenheim, stattfindende Vorbesprechung
der Obmänner und Vertreter der Blindenvereine von Kärnten, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol
und Vorarlberg zur Länderkonferenz in Wien vom 26.8.1946.
1266 In Vorarlberg gab es nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst keine eigene Blindenselbsthilfegruppe, sondern nur eine gemeinsame Organisation mit Tirol. Erst im November 1949 kam es zur Gründung einer
eigenständigen Landesgruppe des ÖBSV in Vorarlberg. Vgl. Österreichischer Blinden- und Sehbehinderten-Verband, 60 Jahre ÖBSV, S. 24–25.
1267 Vgl. Satzenhofer, Neuorganisation, S. 160–162
181
III. Kriegsblinde
1.Ausmaß, Ursachen und medizinische Aspekte
von Kriegsblindheit
1.1 Ausmaß
Der Anteil der Augenverletzungen auf Grund von Kampfhandlungen in den Kriegen des 20.
Jahrhunderts ist im Vergleich zum Jahrhundert davor stark gestiegen. Vor allem die Weiterentwicklung der Waffentechnik und der Einsatz von Granaten waren dafür verantwortlich.1268
Die Steigerung der Splitterwirkung von Bomben und Granaten sowie die „vermehrte Feuerdichte der modernen Kriegswaffen“1269 führten zu einer Zunahme von Augenverletzungen.1270
Auf Grund der lückenhaften Überlieferung zum Sanitätswesen der Wehrmacht und dem
Fehlen eines Kriegssanitätsberichts1271 können keine exakten Werte für den Zweiten Weltkrieg
eruiert werden. Daten über das Ausmaß von Augenverletzungen im Zweiten Weltkrieg sind
allerdings von einem Nebenschauplatz, dem griechisch-italienischen Krieg von 1940 bis 1941,
erhalten.1272 Der Oberarzt der Universitäts-Augenklinik Athen, J. Fronimopoulos, gibt in
einem 1943 publizierten Aufsatz an, dass der Anteil der Augenverletzungen an der Gesamtzahl
der Kriegsverletzungen in dieser kriegerischen Auseinandersetzung auf griechischer Seite 9,9
Prozent betrug. Dabei handelte es sich nach seinen Angaben allerdings nur um einen groben
Annäherungswert, da nicht alle zur Bestimmung dieses Wertes notwendigen Unterlagen
vorgelegen hätten.1273 Wie viele dieser verwundeten Soldaten dauerhaft erblindeten, ist nicht
bekannt. Da nicht jede Augenverletzung zu einer völligen oder teilweisen Erblindung führte,
geben solche Zahlen nur bedingt Auskunft über die Anzahl von Kriegserblindungen.
Die Anzahl von Augenverletzungen an der Gesamtzahl von Verwundungen ist immer
auch abhängig von den spezifischen Gegebenheiten der Kriegsschauplätze und der Kampfführung. In einem Stellungskrieg, bei dem sich die Soldaten in Schützengräben gegenüberstehen, z. B. an der West- und Isonzofront im Ersten Weltkrieg, ist die Gefahr, im
oberen Körperbereich, im Gesicht oder an den Augen verletzt zu werden, sehr hoch. Auch
die Bodenbeschaffenheit spielt eine Rolle. Kämpfe auf staubigen, steinigen und sandigen
Böden führen meist zu einer hohen Anzahl von Augenverletzungen.1274
1268 Vgl. Wong, See, Ang, Eye Injuries, pp. 433–459, hier p. 435. [Download über Verlagsportal www.sciencedirect.com]; Uhthoff, persönliche Erfahrungen, S. 3; Hoffmann, Kriegsblinde, S. 31; J. Fronimopoulos,
Augenärztliche Erfahrungen, S. 542–550, hier S. 549.
1269 Fronimopoulos, Augenärztliche Erfahrungen, S. 542–550, hier S. 549.
1270 Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 173. Vgl. zu dieser Publikation auch die Ausführungen in der ersten Fußnote von Kapitel II.8.1.
1271 Vgl. Roth, Vorwort, S. 7–8.
1272 Vgl. Fronimopoulos, Augenärztliche Erfahrungen, S. 542–550, hier S. 549; Rohrbach, Augenheilkunde im
Nationalsozialismus, S. 173.
1273 Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 173.
1274 Bei der Operation „Desert Strom“ der USA im Irak und in Kuwait 1991 hatten die Augenverletzungen einen Anteil von 13 Prozent an allen Verwundungen. Zurückgeführt wird dies auf die Kampfbedingungen
in der Wüstenlandschaft. Vgl. Wong, See, Ang, Eye Injuries, pp. 433–459, hier pp. 435–436.
183
Nach dem Ersten Weltkrieg mussten in Österreich so viele Kriegsblinde versorgt werden
wie noch nie zuvor.1275 Am 1. Dezember 1938 lebten nach einer Angabe des „Ministeriums
für Wirtschaft und Arbeit“ in Österreich noch 336 ehemalige Soldaten, die zusätzlich zu
ihrer Invalidenrente den Blindenzuschuss erhielten.1276 Die NS-Behörden gingen daher 1939
von rund 300 Kriegsblinden aus, für die nach dem „Anschluss“ die nationalsozialistische
Kriegsopferversorgung zuständig war.1277 In Deutschland lebten zu diesem Zeitpunkt noch
rund 3.000 Kriegsblinde des Ersten Weltkriegs.1278
Am 1. September 1939 griff NS-Deutschland Polen an, der Zweite Weltkrieg begann.
Er sollte 512 Tage länger dauern als der Erste Weltkrieg. Nach Angaben von Otto Jähnl
erblindete schon kurz nach Kriegsbeginn, am 15. September 1939, Othmar Topil als erster
Österreicher im Zweiten Weltkrieg. Der 1917 geborene Wiener verlor als Soldat der Wehrmacht im Angriffskrieg gegen Polen sein Augenlicht.1279 Noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erlitt allerdings ein Tiroler schwere Augenverletzungen, auf Grund derer er
spätestens ab 1941 versorgungsrechtlich als Schwerkriegsgeschädigter anerkannt wurde.1280
Das SA-Mitglied Erhard W. hatte sich bei Böllerschüssen zur Verkündung der Ergebnisse
der Volksabstimmung im Kreis Reutte im April 1938 derart verletzt, dass er erblindete.1281
Das SA-Mitglied hatte sich schon in der so genannten „Verbotszeit“ für die NSDAP betätigt und galt zwischen 1938 und 1945 als „alter Kämpfer für den Nationalsozialismus“. Im
Zuge der terroristischen Aktivitäten der „illegalen NSDAP“ zwischen 1933 und 1938 hatten
einige Parteimitglieder und Angehörige von der NSDAP angeschlossenen paramilitärischen
Formationen dauerhafte körperliche Beeinträchtigungen erlitten. Sie sollten die gleichen
Vergünstigungen wie Kriegsopfer erhalten.1282 Ab 1938 war für ihre Versorgung dementsprechend die NSKOV zuständig.1283 Die gesetzliche Grundlage für ihre Versorgungsansprüche
bildete das „Gesetz über die Versorgung der Kämpfer für die nationale Erhebung“, das
am 1. Oktober 1938 in der „Ostmark“ in Kraft trat und die Versorgung von Mitgliedern
1275 Zu den Kriegserblindungen und deren Versorgung vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 25–28.
1276 Vgl. ÖSTA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 56, eingelegt in: Zl. 1944, GZ. 551.087/Abt.1/1938, Versorgung der
Kriegsopfer, Ministerium für Wirtschaft und Arbeit an den Reichskommissar für die Wiedervereinigung
Österreichs vom 19.7.1938, Betreff: Versorgung der österreichischen Kriegsopfer.
1277 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/18, GZ VW II 8/39 9164, RM d. I. an den Reichskommissar für die Wiedervereinigung vom 26.4.1939, Betreff: Antrag der Deutschen Kriegsblindenstiftung
auf Ausdehnung der Genehmigung zur schriftlichen Geldspendensammlung auf das Land Österreich.
1278 Vgl. BAB, Reichsverkehrsministerium, R 5/3048, Auszug 194. Sitzung der ständigen Tarifkommission der
Deutschen Eisenbahnverwaltung in München vom 6., 7., 8.12.1938, S. 141.
1279 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 114.
1280 In seinem Akt im ÖStA ist eine entsprechende Bescheinigung für die vergünstigte Nutzung der Eisenbahn enthalten. Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten
betreffend Soziale Fürsorge Erhard W.
1281 Vgl. Kapitel III.1.2.4; ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten
betreffend Soziale Fürsorge Erhard W.
1282 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Zl. 2150, 2. Teil a Tabakregie, NSKOV Gauamtsleiter an Joseph Bürckel
vom 2.12.1939, Betreff: Tabakgeschäfts-Lizenzen für Witwen nach „Gehenkten“.
1283 In Deutschland war die NSKOV auch für die Versorgung der NSDAP-Mitglieder aus der Zeit vor der
Machtübertragung an Hitler zuständig. Außerdem wurde für diese am 27. Februar 1934 das „Gesetz über
die Versorgung der Kämpfer für die nationale Erhebung“ erlassen. Vgl. Diehl, Disabled Veterans in the
Third Reich, pp. 705–736, hier p. 716 [=JSTOR, <http://www.jstor.org/stable/1879949>, Download am
12.1.2009].
184
der NSDAP und der ihr angeschlossenen paramilitärischen Formationen regelte, die sich
vor dem 11. April 1938 für die NS-Bewegung betätigt hatten und sich dabei irreversible
Verwundungen zugezogen hatten.1284 Dementsprechend führten die versorgungsrechtlichen Bestimmungen1285 zwischen 1938 und 1945 dazu, dass Erblindungen, die mit einem
Kriegseinsatz nicht in Verbindung standen, trotzdem als Kriegserblindungen eingestuft
wurden. Deren Anzahl dürfte allerdings sehr gering gewesen sein. Genaue Angaben dazu
ließen sich nicht eruieren. Außer Erhard W. ließ sich aus den eingesehenen Quellen im
ÖStA kein weiterer Fall eruieren.
Auch darüber, wie viele Menschen im eigentlichen Sinn, das heißt durch die unmittelbaren Auswirkungen der Kampfhandlungen, insgesamt bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges
erblindeten, liegen nur Schätzungen vor. Otto Jähnl ging von rund 1.000 neu erblindeten
Menschen aus, die nach Kriegsende in Österreich lebten. Dazu kamen noch rund 200 Überlebende aus dem Ersten Weltkrieg.1286 Nach einer in der von der „Zentralorganisation der
Kriegsopferverbände Österreichs“ herausgegebenen Zeitschrift „Österreichs Kriegsopfer“
veröffentlichten Kriegsblindenstatistik bezogen mit Stichtag 1. Juli 1949 aber nur 736 der insgesamt 168.974 Kriegsinvaliden eine Blindenzulage.1287 Der Kriegsblindenverband gab 1979 eine
Zahl von 900 im Zweiten Weltkrieg erblindeten Personen an.1288 Auf Grund dieser Angaben
muss von rund 800 bis 1.000 im Zweiten Weltkrieg erblindeten Personen ausgegangen werden.
Auch für Deutschland liegen keine verlässlichen Daten vor. Im Gebiet der späteren Bundesrepublik Deutschland und der DDR lebten 1945 nach Schätzung von Martin Jaedicke
rund 8.000 im Krieg erblindete Personen.1289 Max Schöffler ging von einer höheren Zahl
aus. Er schätzte die Anzahl von Kriegsblinden in seinem 1955 publizierten Buch auf etwa
8.500.1290 Amtliche Zahlen konnte er für diese Berechnung nur aus Westdeutschland heranziehen. Dort wurden 6.225 Kriegsblinde mit Stichtag 1. Jänner 1955 gezählt. 4.935 davon
erblindeten im Zweiten Weltkrieg und 1.690 waren Betroffene aus dem Ersten Weltkrieg.
Insgesamt machten sie damit etwa 18,52 Prozent an der Gesamtzahl aller blinden Menschen
aus.1291 Der im Krieg erblindete Willi Finck, der 2005 eine Arbeit über Kriegsblinde in der
DDR publizierte, gab an, dass 2.356 Kriegsblinde nach Kriegsende in der sowjetischen
Besatzungszone lebten.1292
Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg erblindeten im Zweiten Weltkrieg nicht nur Militärangehörige, sondern auch Zivilpersonen, darunter Kinder und Frauen, vor allem durch
den so genannten „Luftkrieg“. Das jüngste Mitglied des 1946 neu gegründeten österreichischen Kriegsblindenverbandes war dementsprechend erst drei Jahre alt. Das Kleinkind erlitt
schwerste Verletzungen, als eine Bombe das Haus der Familie traf.1293 Bedauerlicherweise
ist der Anteil von ZivilistInnen an der Gesamtzahl der Kriegsblinden auf Grund der mangelhaften Quellenlage derzeit nicht eruierbar.
1284 Vgl. Kapitel III.2.1.
1285 Vgl. Kapitel III.2.
1286 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 187–188.
1287 Vgl. o. A., Kriegsopferstatistik, S. 10.
1288 Vgl. Poisel, Festansprache, S. 19–23, hier S. 21.
1289 Vgl. Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 334.
1290 Vgl. Schöffler, Blinde im Leben des Volkes, S. 76.
1291 Vgl. Schöffler, Blinde im Leben des Volkes, S. 76.
1292 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 34.
1293 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 117–118.
185
Folglich kann hier auch nicht dargestellt werden, wie sich die Kriegsblinden nach
Geschlecht, Alter etc. aufteilten.1294 Im ÖStA sind lediglich die Akten von 252 Kriegsblinden
erhalten,1295 die zwischen 1938 und 1945 in die Zuständigkeit des Hauptversorgungsamtes
(HVA) „Ostmark“ fielen. 158 davon erblindeten im Zweiten Weltkrieg, 91 waren Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges und bei drei Betroffenen sind die Akten so unvollständig,
dass keine Zuordnung möglich war. Verwertbare statistische Angaben können aus diesem
Datenmaterial kaum erhoben werden. Unter anderem auch deshalb, weil nicht feststellbar
ist, nach welchem System diese Akten in den insgesamt fünf Kartons überliefert sind. So
fällt auf, dass sich unter dem auswertbaren Quellenmaterial nur eine erblindete Zivilperson befindet, die zudem als Sonderfall gewertet werden muss,1296 alle anderen stammten
von erblindeten Soldaten. Es ist daher anzunehmen, dass im Zweiten Weltkrieg erblindete
Zivilpersonen getrennt erfasst wurden. Soweit dazu Angaben gemacht wurden, sind in
diesem Bestand im ÖStA auch kaum Personen vermerkt, die in den letzten Kriegsmonaten
verwundet wurden. Nur einer der dort vermerkten Soldaten erblindete nach einer Verwundung aus dem Jahr 1945.1297 Dabei müsste eigentlich, folgt man den Angaben des Reichswirtschaftsministeriums, gerade zu dieser Zeit die Zahl der Kriegserblindungen besonders
hoch gewesen sein. Denn in den letzten zwei Kriegsjahren 1944/45, als sich die Wehrmacht
auf dem Rückzug befand, war die Anzahl der Toten und Verwundeten größer als in den
vorangegangenen Kriegsjahren zusammen.1298 Im Reichswirtschaftsministerium ging man
daher im November 1944 davon aus, dass monatlich im ganzen „Deutschen Reich“ etwa
150 Soldaten erblindeten.1299
Was das Alter der erblindeten Militärpersonen betrifft, nahm Otto Jähnl an, dass sie
eher jung waren. Der Historiker schrieb dazu lapidar: „Es traf meist junge, zum Teil hastig
ausgebildete Soldaten signifikant höher als ‚erfahrene Haudegen‘.“1300
Aber nicht nur zu den Kriegsblinden, auch zu den Kriegsopfern insgesamt gibt es bis
dato keine einheitlichen Zahlen. Nach Gregory Weeks hatten 1945 7.500 zivile Opfer der
Bombenangriffe in Österreich Anspruch auf eine Rentenversorgung.1301 Eine amtliche Statistik aus dem Jahre 1955 gibt 24.300 ZivilistInnen aus dem österreichischen Staatsgebiet
an, die durch Luftangriffe, Kampfhandlungen und deren Auswirkungen umgekommen
1294 Zu dem Thema im und durch den Krieg erblindete Frauen vgl. Kapitel III.9.
1295 Auch wenn alle dort registrierten Kriegsopfer als „Kriegsblinde“ tituliert wurden, waren nicht alle vollblind. Von den insgesamt 252 registrierten Personen ist bei 65 das Ausmaß der Augenverletzung nicht
feststellbar. 159 müssen als vollblind oder praktisch blind gelten. Bei 27 scheint auf Grund des vorhandenen Aktenmaterials eine Sehbehinderung vorgelegen zu haben. Eine Person galt als nur „leicht“ sehbehindert.
1296 Dabei handelt es sich um die kriegsblinde Frau Maria T. Vgl. Kapitel III.9.
1297 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge von S. [Vorname nicht registriert, Akt unvollständig].
1298 Vgl. Guth, Sanitätsdienst der Wehrmacht, S. 11–24, hier S. 20.
1299 Vgl. BAB, Reichswirtschaftsministerium, Abteilung 2, R 3101/11890, RTK III A 9 d, Reichsbeauftragte
für Tabak und Kaffee an die Gruppenarbeitsgemeinschaft Tabak und Tabakwaren in der Reichsgruppe
Handel vom 2.11.1944, Betreff: Sonderversorgung der Kriegsblinden mit Tabak.
1300 Jähnl, Kriegsblinden, S. 117.
1301 ÖStA, AdR, Group 03, Carton 89, Kriegsbeschädigte 1947, I-13.000, Document II AV-120.005 11/45, Vorläufige Maßnahmen zur Entschädigung der Kriegsopfer (Staatsamt für Soziale Verwaltung), sheet 2, zitiert in: Weeks, Fifty Years of Pain, pp. 229–250, hier p. 232.
186
waren. Dazu kamen noch 170.800 getötete Soldaten und 76.200 Vermisste.1302 Etwa 170.000
Kriegsversehrte wurden laut Karl Ernst am Ende des Krieges gezählt.1303 Im Dezember 1949
lebten nach denselben Angaben insgesamt 510.474 versorgungsberechtigte Kriegsversehrte,
Witwen, Waisen und Eltern in Österreich.1304 Der Oberösterreichische Kriegsopferverband
gab 1949 an, dass 116.313 Soldaten mit einer Behinderung Renten bezogen.1305
1.2 Wie wurden Kriegserblindungen verursacht?
1.2.1 Militärische Aspekte
Nach dem Angriff von NS-Deutschland auf Polen am 1. September 1939 wurde Polen
innerhalb von zweieinhalb Wochen eingenommen und zwischen Deutschland und der
Sowjetunion nach dem Hitler-Stalin-Pakt aufgeteilt. In der folgenden Phase der so genannten „Blitzkriege“1306 konnte die Wehrmacht rasch Dänemark, Norwegen, Niederlande, Belgien und Frankreich besetzen. Am 6. April 1941 kapitulierte nach elf Tagen die königliche
Armee Jugoslawiens. Am 22. Juni 1941 griff das „Deutsche Reich“, unterstützt von Italien,
Rumänien, Ungarn und der Slowakei, die Sowjetunion an. Im November 1942 eröffneten
US-amerikanische und britische Truppen eine zweite Front in Nordafrika, im Sommer
1943 eroberten sie Sizilien. Als Wende des Krieges wird aber Stalingrad bezeichnet, wo die
deutsche 6. Armee am 2. Februar 1943 kapitulierte.1307
Der Zweite Weltkrieg wurde größtenteils als Bewegungskrieg geführt. Im Gegensatz
zum Stellungskrieg zeichnet sich dieser durch schnelle, raumgreifende Operationen aus.
Dies wirkte sich negativ auf die Sanitätsversorgung1308 der deutschen Landstreitkräfte aus,
die von Anfang an mangelhaft war.1309
Ab März 1941 gab es erste Luftangriffe in Kärnten und der Steiermark.1310 Am 13. August
1943 begannen die Bombardements der alliierten Luftstreitkräfte mit einem Angriff auf
Wiener Neustadt. Der „Luftkrieg“ führte zu schweren Verletzungen und Verlusten unter der
1302 Vgl. Zöllner, Geschichte Österreichs, S. 554. Die gleiche Angabe macht auch Hubert Fischer. Vgl. Grazer
Garnisonsmuseum, Ehem. K. u. K. Inf. Rgt. 47, zitiert in: Fischer, Der deutsche Sanitätsdienst [Band 5],
S. 3804.
1303 Vgl. Ernst, 50 Jahre Kriegsopferversorgung, S. 225–320, hier S. 236.
1304 Vgl. Ernst, 50 Jahre Kriegsopferversorgung, S. 225–320, hier S. 230. Laut der bereits zitierten Statistik,
die von der Zentralorganisation der Kriegsopfer Österreichs veröffentlicht wurde, betrug diese Zahl mit
Stichtag vom 1. Juli 1949 510.655 Personen. Vgl. o. A., Kriegsopferstatistik, S. 10.
1305 Vgl. Weeks, Fifty Years of Pain, pp. 229–250, hier p. 232.
1306 Schmitz-Berning, Vokabular, S. 104–105.
1307 Weiterführende Literatur zum Krieg gegen die Sowjetunion: Karner, Schöpfer, Der Krieg gegen die Sowjetunion. Zur Militärgeschichte des Zweiten Weltkrieges vgl. u. a. Militärgeschichtliches Forschungsamt
Deutschland, Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg [10 Bände]; Dear, Foot, The Oxford companion to World War II. Zur Überblicksdarstellung des Zweiten Weltkriegs vgl. Dornik, Österreich 1914 bis
2004, S. 37–65, hier S. 51.
1308 Zur Militärmedizin des Zweiten Weltkrieges vgl. u. a. die angegebene Literatur in folgendem Aufsatz:
Eckart, Neumann, Einleitung, S. 9–15.
1309 Vgl. Kapitel III.1.4.
1310 Vgl. Beer, Karner, Krieg aus der Luft, S. 40.
187
Zivilbevölkerung. Im Zuge der Befreiung von der NS-Diktatur im Frühjahr 1945 durch
die alliierten Truppen kam es bei Bodenkämpfen zu weiteren Opfern unter der Zivilbevölkerung.
1.2.2 Explosions- und Schussverletzungen
„[…] Splitter der explodierten Granate trafen mich
im Gesicht, am Hals und an der aufgestützten Hand.
Ich wurde auf die andere Seite des Erdlochs geworfen
und kam direkt auf dem Kameraden Kirchner zu
liegen, der offenbar noch schwerer getroffen worden
war.“1311
Die häufigsten Ursachen für Kriegserblindungen1312 im 20. Jahrhundert waren Verletzungen
durch Splitter von Explosionsgeschossen. 50 bis 80 Prozent der Augenverletzungen wurden
nach Angaben einer Studie aus dem Jahr 1997 von MitarbeiterInnen des „Singapore National Eye Center“ und einem Major der „Singapore Armed Forces“ durch diese Munition
verursacht.1313 In 15 bis 25 Prozent der Fälle waren beide Augen betroffen.1314
Ursache
Keine Angaben
II. WK
Prozent
I. WK
Prozent
Gesamt
24
15,19
70
76,92
1
0,63
3
3,30
4
Granatsplitter
55
34,81
3
3,30
58
Minen
17
Schrapnellgeschoss
94
16
10,13
1
1,10
Explosiv-/Infranteriegeschoss
7
4,43
0
0,00
7
Bombensplitter
7
4,43
0
0,00
7
Schussverletzungen
13
8,23
6
6,59
19
Verwundung
18
11,39
1
1,10
19
3
1,90
0
0,00
3
Sehnervenentzündung
Geschlechtskrankheit
1
0,63
0
0,00
1
Krankheit
7
4,43
2
2,20
9
Sonstige
6
3,80
5
5,49
11
158
100,00
91
100,00
249
Abb. 09: Auswertung der Ursachen von Kriegserblindungen in den Akten des HVA „Ostmark“.
1311 Lindmayr, Erfülltes Leben; S. 199.
1312 Vgl. Zu den Ursachen von Kriegserblindungen im Ersten Weltkrieg vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 33.
1313 Vgl. Wong, See, Ang, Eye Injuries, pp. 433–459.
1314 Vgl. S. Duje-Elder (Ed.), War injuries. System of Ophthalmology, [=CV Mosby, Vol. 14], St. Louis 1972,
pp. 1015–1017, zitiert in: Wong, See, Ang, Eye Injuries, pp. 433–459, hier p. 433.
188
Eine Auswertung von 249 für diese Fragestellung verwertbaren Akten von Kriegsblinden
im ÖStA zeigt,1315 dass Explosivgeschosse 54,43 Prozent der dort registrierten Augenverletzungen des Zweiten Weltkrieges verursachten. Zusammen mit den Schussverletzungen
machten diese 62,66 Prozent aus. Doch dürfte der Anteil wesentlich höher gewesen sein,
da in rund 16 Prozent der Fälle die Ursache der Erblindung nicht angegeben wurde und
bei rund 18 Kriegsblinden (11,39 Prozent) in den Akten im ÖStA lediglich die Angabe
„Verwundung“1316 stand.
Wie bereits erwähnt, sind diese Daten nicht repräsentativ, aber die Angaben in den
Versorgungsakten der Kriegsblinden geben Aufschluss über die vielen verschiedenen Munitionsarten, die den betreffenden Soldaten die schweren Verwundungen zugefügt hatten:
Handgranaten, Panzergranaten, Infanteriegeschosse, Minen, Bombensplitter, Fliegerbombensprengstücke sowie die Explosion einer Flakgranate wurden genannt. Welche verschiedenen Geschossarten zu Augenverletzungen führten, geht auch aus dem bereits zitierten
Bericht des griechischen Augenarztes Fronimopoulos aus dem Jahr 1943 hervor.1317 Diese
Studie stellte fest, dass der Hauptanteil der Augenverletzungen im griechisch-italienischen
Krieg 1940–1941 auf griechischer Seite auf die Splitterwirkung von Granatwerfergeschossen
zurückzuführen war. Deren Anteil betrug rund 58 Prozent aller Augenverletzungen.1318
Eine Studie von dem Marineoberstabsarzt Hans Schlichting der Universitäts-Augenklinik
Königsberg aus dem Jahr 1941, also aus der Anfangsphase des Krieges gegen die Sowjetunion, bestätigt den hohen Anteil von Verwundungen durch Granaten.1319 Diese auf den
Zeitraum vom 22. Juni bis 22. Dezember 1941 beschränkte Untersuchung erfasste an den
Augen verletzte Soldaten der Wehrmacht aus dem Raum „Petersburg bis etwa Tula“.1320 Für
Schlichting überraschend war, dass 17,5 Prozent dieser Verwundungen durch Gewehrgeschosse verursacht worden waren.1321 Diese Verletzungen waren allerdings nicht unbedingt
von Munitionsteilen, die ins Auge eingedrungen waren, hervorgerufen worden, sondern
vor allem durch den „Splitterregen“1322, der entstand, wenn die Gewehrgeschosse auf den
Boden aufschlugen.1323 Diese Tatsache ist ein Charakteristikum von Augenverletzungen in
kriegerischen Auseinandersetzungen. Häufig reichte schon die Druckwelle von Detonationen aus, den Betroffenen dauerhafte Verletzungen zuzuführen. Einige der Verwundeten
erblindeten sogar, obwohl nicht ihre Augen direkt betroffenen waren, sondern Splitter der
1315 Vgl. Kapitel III.1.1.
1316 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1–5.
1317 Vgl. Fronimopoulos, Augenärztliche Erfahrung, S. 542–545, hier S. 545.
1318 Die Aufteilung auf die verschiedenen Waffenarten war Folgendermaßen: Artilleriegranaten (10,6 Prozent), Handgranaten (12,20 Prozent), Fliegerbomben (5 Prozent) und andere Ursachen (13,98 Prozent).
Fronimopoulos betont allerdings, dass es sich dabei um Näherungswerte handelt, da nicht alle notwendigen Statistiken vorhanden waren und die Angaben von verschiedenen AugenärztInnen über diese
kriegerischen Auseinandersetzungen stark differierten. Vgl. Fronimopoulos, Augenärztliche Erfahrung,
S. 542–545, hier S. 544–545.
1319 Bei den Waffen bzw. der Munition, die Verletzungen der Augen herbeigeführt haben, handelte es sich, abgesehen von einigen Ausnahmen, um Granaten, Minen, Gewehrgeschosse, Handgranaten, Bomben und
Zünder mit folgenden Verhältniszahlen: 100:36:33:13:4:3. Vgl. Schlichting, Fremdkörper bei Kriegsverletzungen.
1320 Schlichting, Fremdkörper bei Kriegsverletzungen, S. 16.
1321 Vgl. Schlichting, Fremdkörper bei Kriegsverletzungen, S. 17.
1322 Schlichting, Fremdkörper bei Kriegsverletzungen, S. 17.
1323 Vgl. Schlichting, Fremdkörper bei Kriegsverletzungen, S. 17.
189
Geschosse das Gehirn verletzten. Dies konnte unter anderem eine so genannte „Seelenblindheit“ hervorrufen. Der heutige Fachterminus dafür lautet „visuelle Agnosie“1324. Bei
einer Verletzung im Bereich des Okzipitallappens1325 kommt es bei den Verwundeten trotz
normaler Sehleistung zu Störungen des Erkennens.1326 Bei dem Kriegsblinden Anton G. aus
Ebensee am Traunsee führte beispielsweise eine Granatsplitterverletzung zu einer solchen
Schädigung des Sehzentrums in der Gehirnrinde.1327 „Seelenblindheit“ konnte auch durch
Schussverletzungen hervorgerufen werden. Allerdings führten weit häufiger so genannte
„Orbitalschüsse“ zu beidseitigen Erblindungen. Gemeint war damit ein Durchschuss des
Kopfes. Diese Art der Verwundung war bereits im Ersten Weltkrieg sowie durch Selbstmordversuche bekannt.1328 Im Akt von August A. wurde zum Beispiel vermerkt, dass nach
einer solchen Schussverletzung seine beiden Augen „ausgeronnen“1329 seien.
1.2.3 Infektionskrankheiten
Einige der Erblindungen von Soldaten standen nicht unmittelbar in Zusammenhang mit den
direkten Kampfhandlungen. Zu weiteren Erblindungsursachen zählten etwa Geschlechtskrankheiten.1330 Insbesondere eine Tripper-Erkrankung konnte zu einer so genannten
„gonorrhöischen Augenentzündung“ führen. Diese wurde ausgelöst, wenn die Erreger der
Krankheit durch Hände oder Wäschestücke direkt in die Augen gelangten. Diese Infektion
konnte zu einer dauerhaften Hornhautschädigung führen. In den überlieferten Akten des
HVA „Ostmark“ ist ein solcher Fall registriert. Der Obergefreite Robert A. wurde im Jänner
1942 im Lazarett Kontop (Sowjetunion) wegen einer Geschlechtskrankheit mit Neosalvan
behandelt. Trotzdem kam es bei ihm zu einer dauerhaften Schädigung der Augen.1331 Seine
Erblindung wurde als „Wehrdienstbeschädigung“1332 anerkannt.
Mit Kriegsbeginn begann die Zahl geschlechtskranker Angehöriger der Wehrmacht
sowie in der Bevölkerung zu steigen. 1939 gab es in Feldheer und Ersatzheer 7.637 Neuerkrankungen. 1943 belief sich diese Zahl auf 65.367.1333 Den Höchststand von an Tripper
und Syphilis erkrankten Soldaten, gemessen an der Iststärke der Wehrmacht, gab es aber
im zweiten Kriegsjahr. Die Zahl der Geschlechtserkrankungen erreichte 1,58 Prozent.1334
1324 Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, S. 29.
1325 Hinterster Teil des Großhirns.
1326 Vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, S. 29.
1327 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Anton G.
1328 Vgl. Uhthoff, persönliche Erfahrungen, S. 34
1329 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale
Fürsorge August A.
1330 Vgl. Kapitel II.1.2.1.
1331 Zur Diagnose und Behandlung der Geschlechtskrankheiten „Tripper“ und Syphilis vgl.: Mai, Geschlechtskrankheiten, insb. S. 52–73.
1332 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt.1, Akten betreffend Soziale
Fürsorge Robert A. Zu den Besonderheiten bei den Versorgungsansprüchen von Kriegsblinden, deren
Erblindung nicht in unmittelbaren Zusammenhang mit dem Kampfeinsatz stand vgl. Kapitel III.1.2.4.
1333 Vgl. Mai, Geschlechtskrankheiten, S. 51. Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 544.
1334 Vgl. Hans Müller, Vorläufiger Sanitätsbericht des deutschen Heeres (1939–1943), Manuskript ohne Datum, S. 10, zitiert in: Neumann, Heeressanitätsinspektion, S. 240.
190
Alexander Neumann begründete dies mit der Beendigung der Kampfhandlungen in Frankreich, die dazu geführt haben soll, dass die Soldaten über mehr Freizeit verfügten.1335 Wie
häufig eine Geschlechtserkrankung zu irreversiblen Augenschädigungen führte, ist bisher
allerdings nicht untersucht worden.
Eine weitere Infektionskrankheit, die unter Umständen zu einer Erblindung führen konnte,
ist das Trachom. Bei der Abheilung dieser Virusinfektion der Augen kann es zur Narbenbildung kommen. Im Endstadium ist eine Erblindung durch ein Übergreifen der Infektion auf
die Hornhaut möglich.1336 Im Ersten Weltkrieg hatte es noch so viele trachomkranke Soldaten
gegeben, dass sie zu eigenen Bataillonen zusammengefasst wurden.1337 Durch gezielte Maßnahmen gegen eine weitere Verbreitung dieser Krankheit nach dem Ende des Ersten Weltkrieges
konnte die Trachom-Endemie weitgehend eingedämmt werden. 1939 wurden noch vereinzelt
„Trachomherde“ in Österreich festgestellt, aber deren Bedeutung für die Verursachung von
Erblindungen war gering.1338 Auch in der Wehrmacht gab es im Zweiten Weltkrieg kaum mehr
Trachominfektionen. Laut einer Untersuchung von 4.000 augenkranken Soldaten im Mai 1943
im Nordteil der Ostfront hatten lediglich drei eine Trachomerkrankung.1339 Im selben Abschnitt
fand man unter 400 Zivilpersonen 15 Trachomkranke,1340 dennoch schätzten die „Beratenden
Fachärzte“1341 auf der 3. Arbeitstagung Ost im Mai 1943 die Gefahr von Übertragungen durch mit
dem Trachomerreger infizierte Zivilpersonen als gering ein, weil diese Krankheit nur durch das
unmittelbare Hereinbringen von infektiösem Sekret in den Bindehautsack übertragen wurde.1342
Im Ersten Weltkrieg geschah dies beispielsweise noch viel häufiger, weil zehn bis zwölf Soldaten
das gleiche Handtuch benutzten.1343 Im Zweiten Weltkrieg wurde versucht, solche Ansteckungsquellen auszuschalten. Anfang der 1940er war es außerdem gelungen, Trachomerkrankungen
mit Sulfonamiden, wie z. B. Albucid,1344 wirkungsvoll zu behandeln.1345
Auf Grund von Übertragungen durch Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, heimkehrende
Soldaten von der Ostfront und Flüchtlinge, insbesondere aus den Ostgebieten des „Deutschen
1335 Vgl. Neumann, Heeressanitätsinspektion, S. 241.
1336 Vgl. Kapitel II.1.2.
1337 Die erkrankten Militärpersonen wurden zwar behandelt, aber weiterhin vor allem in den staubfreien
Kampfgebieten im Gebirge eingesetzt. Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 43–44.
1338 Vgl. Kapitel II.1.2.
1339 Vgl. Valentin, Krankenbataillone, S. 9.
1340 Ob es sich bei diesen Zivilpersonen um Augenkranke oder gesunde Personen gehandelt hat, wurde von
Valentin nicht angegeben.
1341 Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden, wie im Ersten Weltkrieg, viele Mitglieder des „Wissenschaftlichen Senats“ als „Beratende Ärzte“ tätig. Sie unterrichteten den Armeearzt über wichtige Beobachtungen
und Erfahrungen aus ihrem Fachgebiet und unterstützten die Sanitätsoffiziere. Es gab auch „Beratende
Ophthalmologen“. Vgl. Fischer, Der deutsche Sanitätsdienst [Band 4], S. 3316–3327.
1342 Vgl. Valentin, Krankenbataillone, S. 9.
1343 Vgl. Valentin, Krankenbataillone, S. 9.
1344 Albucid gehört zur Gruppe der Sulfonamide, deren antibakterielle Wirkung 1935 von dem deutschen
Chemiker Gerhard Domagk entdeckt wurde. Das Sulfonamid Prontosil wurde im Zweiten Weltkrieg von
NS-Deutschland zur Behandlung von Wundinfektionen eingesetzt. Ab 1940 wurde der Einsatz von Sulfonamiden wie Albucid, Eubasin oder Salosept als erste Chemotherapeutika in Tablettenform bei Tra­chom­
er­k ran­kun­gen evaluiert. Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 157.
1345 Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 157; o. A., Zur Chronik des Blindenwesens.
Wien, in: Die Blindenwelt, Nr. 10, Jg. 29 (1941), S. 269. Zu den Fortschritten bei der Behandlung von Trachomerkrankungen trug unter anderem der Wiener Augenarzt Karl David Lindner, 1928–1953 Vorstand
der II. Wiener-Augenklinik, bei. Vgl. Scholtz, Julius-Hirschberg-Gesellschaft tagte in Salzburg; o. A., Zur
Chronik des Blindenwesens. Wien, in: Die Blindenwelt, Nr. 10, Jg. 29 (1941), S. 269.
191
Reiches“, dürfte es nach Einschätzung des Ophthalmologen Jens Martin Rohrbach in der letzten
Phase des Krieges allerdings zu einem Ansteigen von Trachomerkrankungen gekommen sein.1346
Trotzdem waren auch seiner Meinung nach die Folgen für das Gesundheitswesen insgesamt
gering, das heißt, es kam nur in seltenen Fällen zu dauerhaften Schädigungen der Augen.1347
1.2.4 Außergewöhnliche Ursachen für Kriegserblindungen
Zu den außergewöhnlichen Erblindungsursachen zählten Fälle, bei denen die Betroffenen
erst Jahre nach dem Krieg erblindeten. Melanie Abraham interviewte für ihre Arbeit über
historische und gegenwärtige Aspekte des Phänomens „Kriegsblindheit“ einen Zeitzeugen,
der erst im Sommer 1948 vollständig erblindet war. Herr C. erlitt im Krieg eine schwere
Verwundung durch eine Fliegerbombe in Kassel, die als dauerhafte Schädigung eine Erblindung des linken Auges zur Folge hatte. Im Sommer 1948 begann sich dann die Netzhaut
des rechten Auges abzulösen. Die behandelnden ÄrztInnen vermuteten, dass dafür die
Gehirnerschütterung verantwortlich war, die Herr C. im Zuge seiner Kriegsverletzung
erlitten hatte. Herr C. war daher im Unterschied zu den meisten anderen Kriegsblinden
erst in einem schleichenden Prozess erblindet.1348 Bei dieser Art der Erblindung hatten die
Betroffenen häufig Schwierigkeiten, dass ihre Erblindung als Kriegserblindung von den
zuständigen Versorgungsbehörden anerkannt wurde.
Zu diesen Sonderfällen muss auch der bereits genannte Erhard W. gezählt werden, der
sich bei Böllerschüssen anlässlich der Bekanntgabe des Ergebnisses der „Volksabstimmung“
1938 so schwer verletzte, dass er in der Folge erblindete.1349
Ebenso sind Fälle von Soldaten dokumentiert, die außerhalb ihres direkten Kriegseinsatzes erblindeten. Zu diesen zählte der Tiroler Fridolin L., der bei einem Autounfall im
Rahmen seines Militärdienstes am 25. März 1940 in Landeck schwere Gesichtsverletzungen
erlitt. Dabei verlor er das linke Auge und auf Grund einer bereits vorhandenen Hornhautschädigung auf dem rechtem Auge galt er als „praktisch blind“.1350
1.2.5 Kriegserblindungen in der Zivilbevölkerung
In der NS-Propaganda wurden im und durch den Krieg erblindete ZivilistInnen „durch
Feindeinwirkung erblindete Volksgenossen“1351 genannt. Als Haupterblindungsursache
1346 Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 157.
1347 Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 157.
1348 Vgl. Abraham, Historische und gegenwärtige Aspekte.
1349 Vgl. Kapitel III.1.1.
1350 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Fridolin L., Niederschrift über die Berufsberatung vom 16.9.1941. Das Versorgungsamt
Innsbruck gewährte ihm allerdings zunächst nicht die Höchstrente für Kriegsblinde, weil sie davon ausgingen, dass er seinen Zustand als schlimmer darstellte, als er war. Erst 1943 erhielt er die für Kriegsblinde
üblichen Rentenzahlungen mit Blindenzulage.
1351 BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, NSKOV Fachabt. Erblindeter
Krieger an den Herrn Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda vom 19.5.1941, Betreff: Rundfunkempfangsgeräte für Kriegsblinde des jetzigen Einsatzes.
192
können die Auswirkungen des „Luftkrieges“ sowie Verletzungen durch „Fundmunition“1352
angenommen werden.1353 Die Luftkriegsanstrengungen im Zweiten Weltkrieg erreichten
ein großes Ausmaß. Allein die „US Air Force“ flog auf dem europäischen Kriegsschauplatz
zwischen 1942 und 1945 insgesamt 2.310.465 Einsätze und warf dabei 1.463.423 Tonnen
Bomben ab.1354 Rund 20.000 ÖsterreicherInnen fielen diesen Angriffen zum Opfer.1355 Mindestens 7.500 Zivilpersonen erlitten dauerhafte körperliche Beeinträchtigungen.1356 Wie
hoch die Zahl der Erblindungen in der Bevölkerung war, ist aber nicht bekannt.1357 Haupt­
er­blin­dungs­ur­sa­che unter der Zivilbevölkerung waren Verletzungen durch Bombensplitter und versprengte Trümmerteile. Vereinzelt führten Unfälle bei den Aufräumarbeiten
der zerstörten Gebäude zu Erblindungen. Viele Verwundungen erfolgten außerdem durch
von den Streitmächten deponierte oder zurückgelassene Munition sowie sonstige Kampfmittel. Bei landwirtschaftlichen Arbeiten oder durch das Hantieren mit aufgefundenen
Sprengkörpern kam es immer wieder zu Explosionen. Vor allem Kinder und Jugendliche
erlitten durch gefundene Munition schwerste Verletzungen, die häufig verbunden waren
mit dem dauerhaften Verlust von Gliedmaßen, insbesondere die Hände und Arme waren
davon betroffen.1358 Nach den Angaben des Kriegsblinden Bernhard Lindmayr wurden
auf diese Weise erblindete Kinder nach Kriegsende in Österreich umgangssprachlich
„Sprengkapselbuben“1359 genannt:
„Ich habe ein paar gekannt, der eine ist durch Bomben erblindet, mit fünf oder sechs
Jahren, der andere, der ist am Schulweg erblindet, da haben sie einen Drehbleistift
gefunden. Und den hebt sein Freund auf. […] Drückt auf den Knopf und […] [sagt]
der geht ja gar nicht. Dieser Adolf K. sagt, gib her, das gibt’s doch gar nicht. Lass mich
probieren. Und er drückt drauf. Das reißt ihm einige Finger weg. Verletzt ihn schwer
an Bauch und Brust und beide Augen kaputt.“1360
Für die Zeit des Zweiten Weltkrieges existieren keine genauen Zahlen über die erblindeten
Zivilpersonen, weil es offenbar Probleme bei der Erfassung der Betroffenen gab. Während
die erblindeten Soldaten über den Sanitätsdienst der Wehrmacht direkt von der Kriegsopferversorgung registriert wurden, musste bei den Zivilpersonen die Meldung über die
ÄrztInnen und Angestellten der öffentlichen und privaten Krankenanstalten erfolgen. Die
vor allem gegen Ende des Krieges völlig überlasteten Einrichtungen kamen dieser Aufgabe
allerdings nicht immer nach. Nach Angaben in der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ startete
Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti daher im „Deutschen Ärzteblatt“ im Mai 1944
1352 Finck, Geschichte der Kurfürsorge, S. 74.
1353 Vgl. Ernst, 50 Jahre Kriegsopferversorgung, S. 225–320, hier S. 228.
1354 Vgl. Beer, Karner, Krieg aus der Luft, S. 338.
1355 Vgl. Beer, Karner, Krieg aus der Luft, S. 337.
1356 Vgl. Kapitel III.1.1. Nach Angaben von Hubert Fischer 1984 forderte der Luftkrieg in Deutschland 600.000
Tote und 620.000 Verletzte. Vgl. Fischer, Der deutsche Sanitätsdienst [Band 3], S. 1886.
1357 Vgl. Kapitel III.9.
1358 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 33; Finck, Geschichte der Kurfürsorge, S. 74; Ernst, 50 Jahre
Kriegsopferversorgung, S. 225–320, hier S. 228–229.
1359 Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am 15.9.2006, Transkription S. 16.
1360 Lindmayr erwähnte nicht, woher dieser Drehbleistift kam. Vgl. Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am 15.9.2006, Transkription S. 16.
193
einen Aufruf, alle durch „Fliegerangriffe erblindeten Personen“1361 bei der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ zu melden.1362
Schwierigkeiten bereitete gegen Ende des Zweiten Weltkrieges auch die ärztliche Versorgung der Zivilbevölkerung. Zivil- und Militärlazarette wurden durch Bombentreffer
zerstört, die Bettennot verschärfte sich ständig. Eine notwendige stationäre Krankenbehandlung war in vielen Fällen nicht mehr durchführbar. Die Strom-, Wasser- und Gasversorgung
fiel nach Luftangriffen häufig aus.1363 Unter diesen Umständen konnten schwerwiegende
Kopf- und Augenverletzungen nicht mehr adäquat versorgt werden.
1.3 Kriegsverletzungen und psychische Erkrankungen
zusätzlich zur Blindheit
„Es ist erschütternd. Man will nicht weiterleben.
Man stellt sich Zeitziele. Wenn mir, [sic!] ich erinnere mich genau, wenn ich bis Weihnachten nicht
mehr sehe, dann beende ich mein Leben selbst.“1364
Eine Erblindung ändert das Leben der Betroffenen schlagartig. Hans Schmalfuß, Schriftleiter der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“, zählte zu den Folgen einer Kriegserblindung
eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit, „Erschwerung der geistigen
Ernährung“1365, Verzicht auf optische Wahrnehmung, Verminderung der beruflichen Möglichkeiten, wirtschaftliche Nachteile, Verteuerung der Lebenserhaltungskosten durch das
Angewiesensein auf Hilfsmittel und Isolierung von sehenden Menschen sowie Minderwertigkeitsgefühle.1366 Viele der Kriegsblinden hatten neben ihrer irreversiblen Augenverletzung noch weitere, zum Teil schwerwiegende, dauerhafte körperliche Beeinträchtigungen. Willi Finck gibt an, dass 58 Prozent der deutschen Kriegsblinden mehrfachbehindert
waren.1367 In den Akten zur Versorgung der Kriegsblinden des HVA „Ostmark“ wurde
bei rund einem Drittel, das waren 58 Betroffene, weitere dauerhafte körperliche Beeinträchtigungen vermerkt.1368 Sie reichten vom Verlust einiger Finger und Zehen bis zur
Amputation ganzer Gliedmaßen. Einigen Kriegsblinden mussten mehrere Körperteile
operativ entfernt werden. Die Detonation von Explosionsgeschossen fügte den Kriegsopfern häufig dauerhafte Hörschäden zu, die auch zur völligen Gehörlosigkeit führen
konnten. Die Beschreibung der multiplen körperlichen Schädigungen, wie zum Beispiel
im Fall des erst 20-jährigen Kriegsblinden Stefan M., konnte mitunter lang ausfallen. Der
Unteroffizier verlor beide Augen, den rechten Oberarm bis zum Schultergelenk, mehrere
1361 O. A., Erblindete des Luftkrieges, S. 79.
1362 Vgl. o. A., Erblindete des Luftkrieges, S. 79.
1363 Vgl. Fischer, Der deutsche Sanitätsdienst [Band 3], S. 1883–1884.
1364 Interview mit Berhard Lindmayr vom 15.9.2006, Transkription S. 6.
1365 Schmalfuß, Reichsarbeitstagung der NSKOV, S. 195–99, hier S. 196.
1366 Vgl. Schmalfuß, Reichsarbeitstagung der NSKOV, S. 195–199, hier S. 196.
1367 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 27.
1368 Die Anerkennung einer zusätzlichen körperlichen Einschränkung zur Blindheit war vor allem von fürsorgerechtlicher Bedeutung. Nach dem WFVG erhielten BezieherInnen einer AVU-Rente eine erhöhte
Blindenzulage. Vgl. Kapitel III.2.3.
194
Zähne, verletzte sich am linken Handrücken, erlitt eine beidseitige Innenohrschädigung,
eine Verengung der Nasenhöhle und litt an Gelenksbeschwerden.1369
Die mannigfaltigen Folgen der Verletzungen waren schon durch die Behandlungen
der Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges1370 bekannt und wurden in der Zeitschrift „Der
Kriegsblinde“ auch thematisiert. Der Berliner Arzt Johannes Scherler nannte in einem 1938
veröffentlichten Beitrag über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Kriegsblinden
Amputationsbeschwerden, Knochendefekte, Schlafstörungen sowie Verletzungen des
Gesichtes, die beispielsweise dazu führen konnten, dass die Nasenatmung eingeschränkt
war.1371 Anfang 1944 berichtete ein nicht näher genannter Autor über erblindete Soldaten
in den Lazaretten:
„Für Kameraden in der Zahnklinik, die außer dem Verlust des Augenlichts oft noch
schwere Kieferverletzungen aufweisen, beginnt ein neuer Lebensabschnitt in dem
Augenblick, in dem sie die erste Zigarette zwischen die Zähne bekommen.“1372
Als häufigste gesundheitliche Beeinträchtigung hoben die Autoren solcher Aufsätze in der
NSKOV-Propagandaschrift „Der Kriegsblinde“ allerdings die Schlaflosigkeit hervor.1373
Bei Kriegsblinden, denen beide Augen entfernt werden mussten, sollte der Verlust des
Lichteinflusses dafür verantwortlich sein.1374 Dass gerade die Störungen der Nachtruhe
von der Zeitschrift der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“1375 so betont wurden,
stand wohl auch damit in Zusammenhang, dass das Image des Kriegsblinden als „Held
der Nation“ nicht durch die Beschreibung ihrer anderen, zum Teil schwerwiegenden körperlichen Behinderungen beeinträchtigt werden sollte.1376 Diese Intention verfolgte wohl
auch der abgedruckte Vortrag eines im „Blindensammellazarett“ in Wien arbeitenden
Arztes über die Versorgung der Kriegsblinden aus dem Jahr 1942 in einem Sonderabdruck. Der Autor Franz Schubert hebt darin hervor, dass die jungen erblindeten Soldaten
„in verhältnismäßiger kurzer Zeit fröhlich und heitere Menschen“1377 wurden. Nur „hin
und wieder“ könne ein „Blinder die Einstellung zu seiner Erblindung längere Zeit nicht
finden […]; mit der Zeit wird er aber doch auch von der heiteren Stimmung der anderen
mitfortgerissen […].“1378
1369 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Stefan M.
1370 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 121–127.
1371 Vgl. Scherler, Ursache der Schlafstörungen, S. 254–256, hier S. 255.
1372 E., An Kameradenbetten in Lazaretten, S. 1–2, hier S. 2.
1373 Vgl. Ludwig, Stand der erwerbs- und berufstätigen Kriegsblinden, S. 199–202, hier S. 201; Scherler, Ursache der Schlafstörungen, S. 254–256, hier S. 255; o. A., Blinde Volksgenossen, die schlecht schlafen,
S. 85–86.
1374 Auch der kriegsblinde Autor Bernhard Lindmayr nimmt diese Ursache als Grund für seine Schlafstörungen an. Vgl. Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 219.
1375 Die NSKOV-Fachabteilung hieß bis 1940 „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ und wurde ab 1941 als
„Fachabteilung erblindeter Krieger“ weitergeführt. Vgl. Kapitel III.3.3.
1376 Vgl. Kapitel III.3.5.1, III.3.5.2.
1377 Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 1–2.
1378 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 2.
195
Dass viele der Betroffenen schwerwiegende physische und psychische Beeinträchtigungen hatten, blieb in diesen Berichten weitgehend unerwähnt.1379 Der Verlust von Fingern
oder Händen wirkte sich bei den Erblindeten aber besonders fatal auf ihr späteres Leben
aus: Sie konnten das Lesen der Blindenschrift nicht oder nur sehr schwer erlernen. Für
diejenigen unter ihnen, die beide Hände verloren, hatte sich bereits seit dem Ersten Weltkrieg der Begriff „Ohnhänder“ etabliert.1380 Otto Jähnl berichtet in seiner Arbeit von einem
„kriegstaubblinden Ohnhänder“.1381 Mit diesen mehrfachen Behinderungen war er nicht
allein: Zusammen mit vierzehn anderen, auf die gleiche Weise beeinträchtigten Kriegsopfern
aus Deutschland, verbrachte Franz Hirmann nach Kriegsende jährlich einen Aufenthalt in
einem Rehabilitationszentrum in Bad Berleburg (D).1382
Von den 661 Mitgliedern des Kriegsblindenverbandes im Jahr 1969 waren 14 beide
Hände amputiert worden.1383 Mit Stichtag 1. Jänner 1993 hatten von den noch 360 Angehörigen des Kriegsblindenverbandes 50 im Krieg einen Fuß oder eine Hand verloren und
neun beide Hände.1384
Nach einer Auflistung über die Gesamtzahl der Kriegsblinden in der DDR aus dem
Jahr 1961 hatten rund 30 Prozent von ihnen folgende zusätzliche Beeinträchtigungen: 262
(11,9 Prozent) waren hörgeschädigt, 203 (9,2 Prozent) „gehirngeschädigt“, 39 (1,8 Prozent)
„Ohnhänder“, 75 (3,4 Prozent) armamputiert und 61 (2,7 Prozent) beinamputiert.1385
Viele der Kriegsopfer hatten Narben am ganzen Körper. Diese waren unter anderem durch
Granatsplitter verursacht worden. Diese Munitionsteile konnten häufig nicht entfernt werden
und verblieben im Körper. Bernhard Lindmayr gab 2006 an, noch 105 solcher Geschossteile
von der Größe eines Hirsekorns bis hin zu einem Maiskorn im Körper zu haben.1386 Die meisten dieser Splitter waren abgekapselt und verursachten keine Beschwerden. Sie konnten aber
unter Umständen durch den Körper wandern oder sich entzünden. Die Betroffenen mussten
diese dann oft noch Jahre nach der Kriegsverletzung operativ entfernen lassen.
Schwer in Mitleidenschaft gezogen waren aber nicht nur die Körper der Kriegsopfer.
Infolge ihrer Behinderung litten sie an „Minderwertigkeitskomplexen“.1387 Im Augenblick
der Verletzung verhinderte zwar meist ein Schock die Wahrnehmung über die Tragweite
der Verletzung.1388 Der Moment, in dem die Betroffenen allerdings realisierten, dass sie
wahrscheinlich für immer blind bleiben würden, löste bei vielen eine schwere Depression
aus.1389 In einer englischen Studie aus dem Jahr 1946 werden die Gedanken von erblindeten,
britischen Soldaten folgendermaßen zusammengefasst:
1379 Zu den sozialen Problemindikatoren nach Kriegen vgl. Bieber, Die Hypothek des Krieges, S. 35–156. Zur
Versorgung und Behandlung von „Kriegsneurotikern“ vgl. Blaßneck, Militärpsychiatrie im Nationalsozialismus.
1380 Der bekannteste „Ohnhänder“ unter den Kriegsblinden war Hans Hirsch. Vgl. Kapitel IV.3.3.4, IV.7.
1381 Jähnl, Kriegsblinden, S. 130.
1382 Dort fanden Lehrgänge für diese Betroffenen statt. Vgl. Nachrichten des Verbandes der Kriegsblinden
Österreichs, Jg. XIIL., Nr. 6/7, (1973) S. 10, zitiert in: Jähnl, Kriegsblinden, S. 130.
1383 Vgl. o. A., Fünfzig Jahre Schicksalsgemeinschaft der österreichischen Kriegsblinden, S. 7–20, hier S. 15.
1384 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 131.
1385 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 75.
1386 Vgl. Interview mit Bernhard Lindmayr am 15.9.2006, Transkription S. 1.
1387 Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 80. [Schanzer war selbst Kriegsversehrter.]
1388 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 112; Abraham, Historische und gegenwärtige Aspekte, S. 54;
1389 Vgl. das Eingangszitat zu diesem Kapitel von Bernhard Lindmayr; Wittkower, Davenport, The war blinded, pp. 121–137, hier p. 127.
196
„They believe that they will be a burden of their families, incapable of looking after
themselves, of carrying on with their old trade or even of earning a living. If they are
married, they wonder how their wives will take it – will she think the same of me? If
they are single, they believe that no girl will care for them.“1390
Teilweise kam es bei den Kriegsopfern durch Verletzungen des Gehirnes oder die traumatischen Kriegsereignisse zu noch schwerwiegenderen psychischen Beeinträchtigungen.1391
So zeigten rund 15 Prozent der englischen Kriegsblinden des Zweiten Weltkrieges, die in
der Rehabilitationseinrichtung St. Dunstan untergebracht waren, gravierendere Ver­hal­
tens­auf­fäl­lig­kei­ten, die von einer aggressiven Psychose bis zu Schizophrenie reichten.1392
Auch in den Akten der Kriegsblinden des HVA „Ostmark“ sind solche psychischen Folgeschäden vermerkt. Versorgungsrechtlich waren sie damals deshalb relevant, weil sie die
„Arbeitsfähigkeit“ der Kriegsinvaliden beeinträchtigten.1393 Der 1924 geborene Josef B.
musste so laut einer Mitteilung in seinen Fürsorgeakten wegen seines „Nervenzustandes“1394
seiner Grundausbildung im Reservelazarett Wien fernbleiben. Josef B. hatte im September
1943 einen Schädelbruch erlitten und gab an, häufig an Kopfschmerzen zu leiden. Im
Februar 1945 sollte der 20-Jährige seine berufliche Rehabilitation fortsetzen. Im März
1945 wurde auch eine erneute „Berufsberatung“ durchgeführt. In dem Bericht hieß es
dazu, dass B. „offenbar zu Depressionszuständen“1395 neigen würde. Trotzdem wollte Ferdinand Ehmann, der Gebietsleiter der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ für
die „Alpen- und Do­nau­reichs­gaue“, dass B. an einer Schulung zum Betriebstelefonisten
teilnahm. Er sollte dann in einer Arbeitsstelle mit geringerer Beanspruchung eingesetzt
werden.1396
Die Folgen von Hirnverletzungen waren bei einigen Betroffenen allerdings so schwer,
dass sie als „arbeitsunfähig“ galten und nach der Entlassung aus der Wehrmacht dauerhafter
Pflege bedurften.1397 Zu diesen schwer beeinträchtigten Kriegsblinden zählte beispielsweise
Gustav Atteneder. Auf Grund seiner Hirnverletzungen lebte er nach Kriegsende in der
geschlossenen Anstalt „Am Steinhof“. Seine Ehefrau nahm ihn im Februar 1957 gegen
Revers mit nach Hause. Am 5. September 1957 wurde Frau Atteneder, Mutter von drei
Kindern, von ihrem Mann aus nicht näher bekannten Gründen erschossen.1398 Für diese
1390 Wittkower, Davenport, The war blinded, pp. 121–137, hier p. 122.
1391 Zu den so genannten „Kriegsneurosen“ und der Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg vgl. Komo, Militärpsychiatrie in den Weltkriegen.
1392 Vgl. Wittkower, Davenport, The war blinded, pp. 121–137, hier p. 127.
1393 Vgl. Kapitel III.3.5.1, III.4.2. sowie weiterführend Webers, Die Beschäftigung von Kriegsblinden, S. 90–92.
1394 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale
Fürsorge Josef B.; HVA Wien, Bericht über die Berufsberatung Kriegsblinder im Reservelazarett IXa Wien
vom 7.3.1943.
1395 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale
Fürsorge Josef B.; HVA Wien, Bericht über die Berufsberatung Kriegsblinder im Reservelazarett IXa Wien
vom 7.3.1943.
1396 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Josef B.; HVA Wien, Bericht über die Berufsberatung Kriegsblinder im Reservelazarett IXa
Wien vom 7.3.1943.
1397 Vgl. Kapitel III.10.3.
1398 Vgl. Nachrichten des Verbands der Kriegsblinden Österreichs, Nr. 10, Jg. XXVI (1957), S. 107 zitiert in:
Jähnl, Kriegsblinden, S. 125.
197
Tat kam er in Untersuchungshaft, wurde in eine geschlossene Einrichtung eingewiesen
und entmündigt.1399
1.4 Die Sanitätsversorgung der erblindeten Soldaten
Die Sanitätsversorgung der deutschen Landstreitkräfte war von Beginn des Zweiten Weltkrieges an mangelhaft. Dies hing unter anderem mit dem „Blitzkrieg“ zusammen: Die
zurückliegenden Sanitätseinheiten hatten erhebliche Schwierigkeiten, den Anschluss zu
den sich schnell bewegenden Fronteinheiten zu halten.1400
Generell erfolgte der Rücktransport von verwundeten oder erkrankten Soldaten über
folgende Stationen: Vom so genannten „Verwundetennest“ über den Truppen- zum Hauptverbandsplatz, von dort über das Feld- und Kriegslazarett schließlich zum Reservelazarett1401
in die Heimat.1402 Die erste ärztliche Hilfe erhielt ein Verwundeter durch den Truppenarzt
auf dem Truppenverbandsplatz seines Bataillons oder seiner Abteilung.1403 Viele der Augenverletzten wurden dort das erste Mal operiert, und wenn die medizinische Indikation dazu
bestand, wurden ein oder beide Augen entfernt.1404 In den Feldlazaretten war allerdings nur
eine Notfallversorgung möglich, da für die operativen Eingriffe nur in geringem Umfang
augenärztliches Operationsbesteck zur Verfügung stand, etwa ein Ophthalmoskop, eine
batteriebetriebene Taschenlampe und Sehprobentafeln.1405
Vor allem zu Kriegsbeginn war die Behandlung Augenverletzter in der Wehrmacht
unzureichend. In Frontnähe gab es kaum fachärztliche Abteilungen. Dabei war aber für die
Genesung einer Augenverletzung die Zeit, die bis zur medizinischen Versorgung verging,
von entscheidender Bedeutung.1406 Je schneller eine entsprechend fachärztliche Behandlung
erfolgte, um so eher bestand die Chance einer Heilung ohne irreversible Schädigung. Aber
erst die von der Front weiter entfernten Kriegslazarette waren auf umfassendere ophthalmologische Operationen eingerichtet.1407 In den Augenabteilungen Warschau der Lazarettbasis
Ost kamen aber bis zum September 1942 rund 36 Prozent der Augenverletzten mit einer
Verzögerung von 7,7 Tagen unversorgt an. Bei Fällen, die bereits im Vorfeld behandelt
werden konnten, dauerte es im Schnitt 16,6 Tage. Bei 26 bis 33 Prozent aller Fälle musste
eine chirurgische Nachversorgung erfolgen. Diese Eingriffe bestanden zu 56 Prozent in der
1399 Vgl. Nachrichten des Verbands der Kriegsblinden Österreichs, Nr. 11, Jg. XXVI. (1957), S. 120, zitiert in:
Jähnl, Kriegsblinden, S.125–128.
1400 Vgl. Eckart, Krankheit und Verwundung im Kessel, S. 69–91, hier S. 70.
1401 Vgl. Kapitel III.4.1, III.4.2.
1402 Vgl. Guth, Sanitätsdienst der Wehrmacht, S. 11–24, hier S. 12.
1403 Vgl. Fischer, Notchirurgie, S. 47–76, hier S. 48.
1404 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Alexander S.; Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am
15.9.2006, Transkription S. 2.
1405 Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 174.
1406 Vgl. Wong, Seet, Ang, Eye injuries, pp. 433–459, hier p. 433; F. Ring, Zur Geschichte der Militärmedizin
in Deutschland, Berlin 1962, S. 313, zitiert in: Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 336;
Fronimopoulos, Augenärztliche Erfahrungen, S. 542–550, hier S. 549.
1407 Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 175.
198
Entfernung der Augäpfel.1408 Bis zum Beginn der Rückzugsbewegungen der Wehrmacht
1943 konnte die Versorgung von Augenverwundungen allerdings verbessert werden.1409
Wohl auch, um auf die Dringlichkeit ihrer Behandlung hinzuweisen, bekamen an den
Augen oder am Kopf verletzte Soldaten auf den „Verwundetenbegleitzetteln“, die den Betroffenen von der Erstversorgung bis zum Heimatlazarett mitgegeben wurden, den Eintrag:
„Spezialfall Auge“.1410 Die augenärztliche Versorgung der Soldaten bekam demnach erst im
Verlauf des Zweiten Weltkrieges im Sanitätsdienst der Wehrmacht eine vergleichsweise
hohe Bedeutung.1411
Die operativ-taktische Vorgehensweise der Wehrmacht erschwerte allerdings die Versorgung der Verwundeten. Es kam an der Ostfront zu Einschließungen von ganzen „Armeen“
und zu so genannten „wandernden Kesseln“.1412 Stalingrad war einer der wenigen starren
„Kessel“. Dies führte wiederum zu Problemen bei der Sanitätsversorgung, die auf längerfristige
Einkesselungen sowie umfangreiche Rückzugsbewegungen nicht eingerichtet war. Gekennzeichnet war die unzureichende medizinische Versorgung unter anderem durch zu geringe
Transportkapazitäten. Sanitätsmaterialien konnten nicht in die Hauptkampfzone gebracht
werden, weil der Großteil der Transportmittel für die Heranführung neuer Verbände und
den Munitionstransport benötigt wurde. Gleichzeitig konnten Verwundete nicht mehr in
angemessener Zeit und in angemessenem Umfang in rückwärtige Lazarette gebracht werden.
Aus den „Kesseln“ zum Beispiel war ein Abtransport nur mehr mit Flugzeugen möglich, in
denen die Anzahl der Liegeplätze stark beschränkt war. Nur wenige Schwerverletzte konnten mit Sanitätsflugzeugen ausgeflogen werden.1413 Gesichts- und Hirnverletzungen, die im
Überlebensfall oft zum Verlust eines Auges oder beider Augen führten, zählten unter diesen
Umständen zu den Verwundungen mit dem höchsten Sterblichkeitsrisiko.1414
In den überlieferten Akten des HVA „Ostmark“ befinden sich die Dokumente von zwei
Soldaten, die in Stalingrad schwer verwundet wurden, aber überlebten. Der Obergefreite
Wenzel L. aus Dresden verletzte sich, einen Tag bevor sich der „Kessel von Stalingrad“
schloss, am 21. November 1942, durch eine Handgranate. Dabei verlor er nicht nur seine
Augen, sondern auch seinen linken Unterarm. Er überlebte und kam zur Rehabilitation
1943 nach Wien.1415 Leopold W. aus dem Kreis Rohrbach (Oberösterreich) erblindete rund
drei Wochen vor der endgültigen Niederlage in Stalingrad durch eine Mine. Neben seiner
Augenverletzung hatte er noch Erfrierungen an mehreren Fingern. Auch er wurde noch
vor der Kapitulation in Stalingrad am 2. Februar 1943 ausgeflogen und kam nach Wien in
das dortige Reservelazarett für Kriegsblinde.1416
1408 Vgl. F. Ring, Zur Geschichte der Militärmedizin in Deutschland, Berlin 1962, S. 313, zitiert in: Jaedicke,
Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 335.
1409 Vgl. Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 336.
1410 Vgl. Scholz, Divisionsarzt einer Panzerdivision, S. 77–100, hier S. 94.
1411 Vgl. Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, S. 175.
1412 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 111.
1413 Vgl. Eckart, Krankheit und Verwundung, S. 69–91, hier S. 70–71.
1414 Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 166; Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 334.
1415 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 5, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Wenzel L.
1416 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Leopold W.
199
In den letzten Kriegsmonaten wurde die Infrastruktur des Sanitätswesens im „Deutschen Reich“ und in den noch besetzten Gebieten schließlich immer ineffizienter.1417 Vor
allem für die schwerverletzten Soldaten, die in den letzten Wochen des Krieges verwundet
wurden, hatte dies negative Folgen. Obwohl sie nach ihren Augenoperationen zur Steigerung
der Heilungsprognose Ruhe benötigten, mussten sie mit den anderen Verwundeten den
Rückzug antreten oder wurden auf Grund mangelnder Transportmöglichkeiten zurückgelassen.
Der Wiener Walter Malasek war gegen Ende 1944 in Debiza (Polen) schwer an den
Augen und am Kiefer verwundet worden. Außerdem musste ihm ein Arm amputiert
werden. Mit einem Flugzeug war er vom Hauptverbandsplatz nach Krakau gekommen,
wo sein linkes Auge entfernt wurde. Das andere konnte allerdings noch operiert werden und nach dem Eingriff erkannte er durch die Augenklappe einen Lichtschein. Zwei
Tage nach der Operation wurde das Lazarett auf Grund der herannahenden sowjetischen Truppen nach Görden bei Brandenburg verlegt. Durch den Transport entstand
ein Bluterguss in seinem linken Auge: Malasek verlor in der Folge auch auf dieser Seite
sein Sehvermögen.1418
Bernhard Lindmayr wurde am 24. April 1945 schwer verwundet. Er befand sich in einem
Lazarett in Tabor, das nur wenige Tage nach seiner Einlieferung evakuiert werden sollte.
Der Stabsarzt erklärte den Schwerverletzten allerdings für nicht transportfähig, da für die
Beförderung nur ein Güterzug ohne entsprechende Sanitätseinrichtungen mit Strohsäcken
auf dem Boden zur Verfügung stehen würde. Aus Angst vor Repressalien durch die gegnerischen Truppen und mit Hilfe eines anderen Soldaten konnte er aber dann doch seine
Mitnahme erreichen.1419 Die mangelhafte Sanitätsversorgung führte demnach zu weiteren
Erblindungen, die bei einer schnelleren und besseren medizinischen Versorgung unter
Umständen vermeidbar gewesen wären.
1.5 Resümee
In diesem Kapitel konnte veranschaulicht werden, wie mannigfaltig die Ursachen von
Kriegserblindungen im Zweiten Weltkrieg waren. Besonders tragisch für die Betroffenen war, dass ihre Blindheit häufig nicht die einzige Beeinträchtigung war, die sie durch
eine Kriegsverletzung erlitten hatten. Die zusätzlichen körperlichen und seelischen Schäden erschwerten eine „Rückkehr“ in ihr gewohntes alltägliches Leben nach Beendigung
der Rekonvaleszenz. Durch den zusätzlichen Verlust von Fingern, Armen oder anderen
Körperteilen konnten einige Kriegsblinde nicht auf die Hilfsmittel zurückgreifen, die
blinden Menschen ansonsten den Alltag erleichterten. Beinamputierte, die sich nur mit
Hilfe von Krücken fortbewegen konnten, waren nicht in der Lage, einen Blindenstock zu
verwenden. Ihre Gesichter waren teilweise vernarbt und entstellt, was ihr Selbstvertrauen
zusätzlich beeinträchtigte und Minderwertigkeitskomplexe verstärkte. Viele Kriegsblinde
hatten daher Schwierigkeiten, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Viele suchten
1417 Vgl. Guth, Sanitätsdienst der Wehrmacht, S. 11–24, hier S. 20.
1418 [Malasek], Vom Waffenrock zum Blindenstock, S. 1–57, hier S. 15–17 [Bibliothek BBI].
1419 Vgl. Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 202–203.
200
folglich mehr Kontakt zu anderen Kriegsblinden, die für ihre physische und psychische
Verfassung mehr Verständnis aufbringen konnten, als zu Menschen, die nicht das gleiche
Schicksal erlebt hatten und deren Umgang mit Kriegsblinden auch von Mitleidsgefühlen
bestimmt war.1420
1420 An dieser Stelle wird weiterführend auf die persönlichen Berichte vieler Kriegsblinder in dem 2000 veröffentlichten Jahrbuch des „Bund der Kriegsblinden Deutschlands e. V.“ verwiesen. Vgl. Bund der Kriegsblinden Deutschlands e. V. (Hrsg.), Kriegsblinden Jahrbuch 2000, Bonn 2000 [Selbstverlag].
201
2.Gesetzliche Grundlagen und Versorgung der Kriegsblinden
2.1 Überblick: Gesetzeslage und die Grundsätze
der nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung
Die Kriegsopfer des Ersten Weltkrieges wurden in Österreich nach den Bestimmungen des
seit dem 1. Juni 1919 gültigen „Invalidenentschädigungsgesetzes“ (IEG) versorgt, das bis
1938 fünfzehnmal novelliert wurde.1421 Die Kriegsblinden zählten zu den Kriegsversehrten
mit den höchsten versorgungsrechtlichen Ansprüchen des Ersten Weltkrieges.1422 Trotzdem verschlechterte sich auch ihre ökonomische Situation durch die Weltwirtschaftskrise,
unter anderem durch die damit einhergehende Geldentwertung. Mehr als die Hälfte aller
Kriegsblinden besaß eine Trafik, 1929 hatten 223 von 309 rentenversorgten Kriegsblinden
eine solche Verkaufsstelle.1423
Durch den „Anschluss“ 1938 sollten sich die gesetzlichen Grundlagen ändern und die
Bestimmungen des „Deutschen Reiches“ eingeführt werden. Aus organisatorischen Gründen blieb die österreichische Kriegsopferversorgungsgesetzgebung zunächst allerdings
bestehen. Der Reichsarbeitsminister verfügte aber per Erlass vom 1. April 1938, allen IEGRentenempfängern eine außerordentliche Zuwendung auszuzahlen,1424 in der Höhe der
sonst nur im Dezember fälligen Zulagen.1425 Zudem wurden den Betroffenen unmittelbar
nach dem „Anschluss“ weitere Sondermittel in Aussicht gestellt.1426 In den Publikationsorganen für Kriegsblinde wurde das NS-Regime als eine Regierung dargestellt, die großes Verständnis für die Bedürfnisse der Kriegsopfer zeigen würde. Die Kriegsblinden und
andere Kriegsopfer sollten dahingehend beeinflusst werden, dass sie zu AnhängerInnen
der NS-Regimes wurden.1427
Anstelle des „Invalidenentschädigungsgesetzes“ (IEG) trat am 1. Oktober 1938 das
„Reichsversorgungsgesetz“ (RVG) zunächst teilweise in Kraft.1428
1421 Vgl. Hasiba, Kriegsopferversorgung seit 1945, S. 21–32, hier S. 21. Zur Versorgung der Kriegsblinden und
anderen Kriegsopfer des Ersten Weltkrieges vgl. u. a. auch die dort angegebene Literatur: Hoffmann,
Kriegsblinde; Cohen, Disabled Veterans; Kienitz, Beschädigte Helden.
1422 Mit der VII. Novelle des IEG vom 7. Juli 1922 bekamen die Kriegsblinden einen Rentenzuschuss ausbezahlt, der höher war als für allen anderen als „hilflos“ eingestuften Kriegsversehrten. Vgl. [Ö] StGBl.,
Nr. 439/1922, Bundesgesetz zur Abänderung und Ergänzung des Invalidenentschädigungsgesetzes [VII.
Novelle des IEG], § 15.2; [Ö] StGBl., Nr. 256/1924, Bundesgesetz zur Abänderung und Ergänzung des
Invalidenentschädigungsgesetzes vom 18. Juli 1924 [VIII. Novelle des IEG]; Hoffmann, Kriegsblinde,
S. 143–144.
1423 Vgl. o. A. Die gesetzlichen Grundlagen der Trafikverleihungen an Kriegsblinde, S. 60–63, hier S. 61. Vgl.
Kapitel III.5.5.
1424 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 56, Zl. 1944, Ministerium für soziale Verwaltung an alle Landesinvalidenämter vom 6.4.1938, Betreff: Einmalige Zuwendung an die Rentenempfänger.
1425 Vgl. Ehmann, Einführung des Reichsversorgungsgesetzes, S. 313–317, hier S. 313.
1426 Vgl. Ehmann, Einführung des Reichsversorgungsgesetzes, S. 313–317, hier S. 313; o. A., Hilfe für Österreichs Kriegsopfer, S. 156.
1427 Vgl. Diehl, Disabled Veterans, pp. 705–736, hier pp. 705–706.
1428 Dieses Gesetz galt für die Kriegsgeschädigten und Kriegshinterbliebenen des Ersten Weltkrieges und Personen, die im Zuge einer militärischen Dienstleistung vor dem 14. März 1938 einen Versorgungsanspruch
nach dem IEG erworben hatten. Vgl. GBlÖ, Nr. 450/1938, Verordnung über die Einführung von Versorgungsgesetzen vom 24. September 1938.
202
Für die Angehörigen der so genannten „neuen deutschen Wehrmacht“ wurde das „Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsgesetz“ (WFVG) am 26. August 1938 erlassen.1429 Mit
geringen Abweichungen galt das WFVG auch für die Versorgung der im Reichsarbeitsdienst erblindeten „Arbeitsmänner“.1430 Die im WFVG enthaltenen versorgungsrechtlichen
Bestimmungen waren ursprünglich auf die „üblichen Schadensfälle eines Militärdienstes“1431
ausgerichtet und im Falle eines Krieges nicht ausreichend.1432 Auf Grund der Kriegsvorbereitungen wurde daher als Erweiterung der Bestimmungen des WFVG das „Einsatzfürsorge- und -versorgungsgesetz“ (EWFVG) am 6. Juli 1939 verkündet.1433 Für ZivilistInnen,
die durch die Kampfhandlungen des Zweiten Weltkrieges „Schäden an Leib oder Leben“
erlitten hatten, galt die „Verordnung über die Entschädigung von Personenschäden“ (Personenschädenverordnung) vom 1. September 1939.1434 Diese Verordnung war damit am Tag
des deutschen Überfalles auf Polen erlassen worden und trat rückwirkend mit 26. August
1939 im „Deutschen Reich“ in Kraft. Dies ist damit ein weiteres Indiz dafür, dass dieser
Krieg von langer Hand vorbereitet worden war. Für die Betroffenen galten die §§ 66 bis 135
des WFVG, die die Versorgungsansprüche von Kriegsgeschädigten und deren Angehörigen
regelten.1435
Relevant für die Integration der Kriegsopfer in die Arbeitswelt war das bereits in Zusammenhang mit den Zivilblinden ausführlich vorgestellte „Invalidenbeschäftigungsgesetz“.1436
Es blieb bis 1945 in Kraft, wurde aber 1940 weitgehend an die Bestimmungen des deutschen
„Gesetzes zur Beschäftigung Schwerbeschädigter“ angepasst.
Die nationalsozialistische Kriegsopferversorgung basierte offiziell auf folgenden Grundsätzen: Der Anspruch der Soldaten auf Versorgung entstand aus einer Dienstleistung für
die „Volksgemeinschaft“.1437 Ausmaß und Höhe der versorgungsrechtlichen Ansprüche
sollten sich gemäß der NS-Ideologie daran orientieren, welche „Leistungen“ und „Opfer“
die Betroffenen erbracht hatten.1438
Kriegsblinde nahmen aber in dem komplexen fürsorgerechtlichen Konstrukt der NSZeit eine Sonderstellung ein. Gesetzlich manifestiert wurde dies beispielsweise durch die
Verordnung über die Fürsorge für Kriegsblinde und „hirnverletzte“ Kriegsgeschädigte vom
28. Juni 1940.1439
1429 Vgl. GBlÖ, Nr. 411/1938, Fürsorge- und Versorgungsgesetz für die ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht und ihre Hinterbliebenen (WFVG) vom 26. August 1938.
1430 Vgl. Schwendy, Versorgung und Fürsorge, S. 105–109, hier S. 108; Hoffmann, Blinde Menschen in der
„Ostmark“, S. 85–87.
1431 Hasiba, Kriegsopferversorgung, S. 21–32, hier S. 22.
1432 Vgl. Diehl, The Thanks of the Fatherland, p. 43.
1433 Vgl. GBlÖ, Nr. 879/1939, Fürsorge- und Versorgungsgesetz für die ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht bei besonderem Einsatz und ihre Hinterbliebenen – Einsatzfürsorge- und -versorgungsgesetz
(EWFVG) vom 6. Juli 1939.
1434 Vgl. GBlÖ, Nr. 1201/1939, Verordnung über die Entschädigung von Personenschäden (Personenschädenverordnung) vom 1. September 1939.
1435 Vgl. Kapitel III.9.
1436 Vgl. Kapitel II.2.2.3.
1437 Vgl. Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 185.
1438 Vgl. o. A., Rückschau und Ausblick, in: Der Kriegsblinde, Nr. 1, Jg. 18 (1934), S. 6.
1439 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Fürsorge für Kriegsblinde und hirnverletzte Kriegsbeschädigte
vom 28. Juni 1940, S. 937.
203
In den Bestimmungen des WFVG stand der Gedanke der Rehabilitation und In­te­
gra­ti­on in die Arbeitswelt vor dem der Rentenversorgung.1440 Hauptziel des NS-Regimes
war es, dass möglichst alle Betroffenen einem Beruf nachgingen.1441 Während erblindete
Soldaten nach dem IEG als „Hilfslose“ und nach dem RVG als „erwerbsunfähig“1442 eingestuft wurden,1443 galten sie nach der Einschätzung der zuständigen Beamten der na­tio­
nal­so­zia­lis­ti­schen Kriegsopferversorgung als „arbeitsverwendungsfähig“1444. Das WFVG
sollte das nationalsozialistische Leistungsprinzip umsetzen. Renten bekamen durch die
NS-Propaganda ein negatives Image. Anton Schanzer, ein selbst Kriegsversehrter Dissertant
der Wirtschaftswissenschaften schrieb ihnen 1944 beispielsweise eine „lähmende Wirkung
auf den Lebens- und Arbeitswillen“1445 zu.
Die im Folgenden beschriebenen Versorgungsansprüche und -leistungen für Kriegsblinde waren auch von propagandistischem Kalkül indiziert: Kriegserblindete zogen nach
ihrer Entlassung aus der Wehrmacht große Aufmerksamkeit in der Bevölkerung auf sich,
da der Verlust des Sehvermögens als eine der schlimmsten Formen einer Behinderung galt.
Kriegsblinde sollten sich daher in ihrem Umfeld nach dem geleisteten Militärdienst über
ihre Versorgungsleistungen möglichst positiv äußern:
„Denn ist erst einmal ein Kriegsversehrter unzufrieden, so zieht das die Mißstimmung
seiner Angehörigen und Bekannten nach sich, die in ihm ein bedauernswertes Wesen
sehen, dem geholfen werden muß.“1446
Das NS-Regime befürchtete einen Stimmungsumschwung seiner AnhängerInnenschaft,
wenn die Kriegsversehrten nicht, wie propagandistisch versprochen, bestmöglich versorgt
gewesen wären. Dies hätte nach Meinung von beispielsweise Schanzer die „Geschlossenheit
des Volksbewußtseins“1447 beeinträchtigt.
2.2 „Reichsversorgungsgesetz“ (RVG)
Die Kriegsopfer des Ersten Weltkrieges in Deutschland wurden nach den Bestimmungen
des RVG versorgt. Das Gesetz war im Mai 1920 erlassen worden.1448 Rund ein Jahr nach der
1440 Vgl. Schwendy, Fürsorge und Versorgung, S. 90–100, hier S. 90; Diehl, The Thanks of the Fatherland, p. 50.
1441 Vgl. o. A., Gauleiter der Ostmark vor Kriegsblinden, in: Der Kriegsblinde, Nr. 3, Jg. 23 (1939), S. 73–74.
1442 Vgl. Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 270–271.
1443 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 142.
1444 BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Hauptfürsorgestelle
für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Tagesordnung und Niederschrift über die Tagung am 10.
und 11.11.1942, Betreff: Erblindete Soldaten, S. 6; Kapitel III.2.3.
1445 Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 65.
1446 Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 61.
1447 Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 53.
1448 Viele Kriegsopfer empfanden die Bestimmungen des RVG als unzureichend, auch wenn die Höhe der zugebilligten Renten durchaus höher war, als in anderen Ländern wie England oder Frankreich. James Diehl
ging daher davon aus, dass nicht nur durch die Weltwirtschaftkrise bedingte Rentenkürzungen, sondern
auch andere Gründe dafür verantwortlich waren, dass dieses Gesetz von einigen Betroffenen negativ beurteilt wurde: „[…] it failed to meet the psychological needs of German war victims.“ Vgl. Diehl, Disabled
Veterans, pp. 705–736, hier p. 718; Cohen, Disabled Veterans, insb. pp. 4–6.
204
Machtübertragung an Hitler am 30. Jänner 1933 erfuhr das RVG eine seiner wichtigsten
Änderungen unter dem NS-Regime: 1934 wurde eine Frontzulage für Kriegsgeschädigte,
die am Kampfplatz verwundet worden waren, eingeführt.1449
Am 24. September 1938 wurde das RVG mit einigen Einschränkungen in der „Ostmark“
verkündet und das IEG außer Kraft gesetzt.1450 Die Verordnung galt ab 1. Oktober 1938.
Allerdings richteten sich Art, Umfang, Gewährung und Durchführung der so genannten
„Heilbehandlung“1451 sowie die Bezahlung der fachlichen und ärztlichen Leistungen weiterhin nach den Vorschriften des IEG.1452 Die Aufhebung der österreichischen Versorgungsgesetzgebung für Kriegsgeschädigte und die Einführung der Regelungen des „Altreiches“ sollte
demnach erst schrittweise erfolgen. Was sich ab 1. Oktober 1938 aber sofort änderte, waren
die Renten der Kriegsversehrten. Für einige der Betroffenen bedeutete dies eine Erhöhung
ihrer Bezüge. Es sollte zu keiner Schlechterstellung kommen, da keine niedrigeren Renten
als nach dem IEG ausbezahlt wurden.1453
Nach den Bestimmungen des RVG in der Fassung, die am 1. Oktober 1938 in der „Ostmark“ in Kraft trat, erhielten Kriegsblinde die Vollrente.1454 Diese bestand aus einer „Grundrente“, der „Schwerbeschädigtenzulage“, einer „Ausgleichszulage“ und gegebenenfalls einem
Zuschuss für Kinder bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres.1455 Die Frontzulage wurde
in der „Ostmark“ zunächst nicht eingeführt.1456 Dies geschah erst mit einer „Verordnung
über die Versorgung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen“ vom 28. Februar
1939.1457
Auf Grund einer Änderung des RVG vom 31. März 1939 wurde das RVG in einer neuen
Fassung am 1. April 1939 in der „Ostmark“ verkündet. Dem Wortlaut dieser Gesetzesänderung entsprechend erhielten Kriegsblinde „stets die Rente eines Erwerbsunfähigen“.1458
Kriegsblinden stand im Regelfall die höchste Pflegezulage zu.1459 Kriegsblinde betraf dabei
insbesondere die Abänderung des § 62 des RVG. Dieser regelte das Ruhen der Versorgungsansprüche, wenn sie nach dem RVG Versorgungsberechtigte einer Beschäftigung
im öffentlichen Dienst nachgingen. Für als „erwerbsunfähig“ eingestufte Kriegsversehrte
und die Empfänger einer Pflegezulage – beides traf auf die Kriegsblinden zu – galt diese
Vorschrift nicht. Ihre Rentenbezüge wurden also nicht reduziert, wenn sie wieder einer
Erwerbstätigkeit nachgingen.1460 Diese Regelung war ein Anreiz für die schwergeschädigten
Kriegsopfer, wieder einer Tätigkeit nachzugehen.
1449 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Gesetz über die Änderung auf dem Gebiete der Reichsversorgung vom 3. Juli 1934,
S. 541–544; Vgl. Diehl, Disabled Veterans, pp. 705–736, hier pp. 720–721.
1450 Vgl. GBlÖ, Nr. 450/1938, § 5a. [Das IEG trat laut dieser Verordnung dezidiert außer Kraft, obwohl einige
Vorschriften, wie beispielsweise zur „Heilbehandlung“, weiterhin gültig bleiben sollten.]
1451 GBlÖ, Nr. 450/1938, § 2.3.
1452 Vgl. GBlÖ, Nr. 450/1938, § 2.3.
1453 Vgl. Ehmann, Einführung des Reichsversorgungsgesetzes, S. 313–316, hier S. 314.
1454 Vgl. GBlÖ, Nr. 450/1938, RVG, § 29.
1455 Vgl. GBlÖ, Nr. 450/1938, RVG, §§ 29, 30.
1456 Vgl. GBlÖ, Nr. 450/1938, RVG, §§ 29, 30.
1457 Mit dieser Verordnung traten einige Bestimmungen des „Gesetzes über die Änderung auf dem Gebiete der
Reichsversorgung“ vom 3. Juli 1934 in Österreich in Kraft. Vgl. GBlÖ, Nr. 374/1939, Verordnung über die
Versorgung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen vom 28. Februar 1939.
1458 GBlÖ, Nr. 459/1939, Neue Fassung des Reichsversorgungsgesetzes vom 1. April 1939, § 27,4.
1459 Vgl. GBlÖ, Nr. 459/1939, Neue Fassung des Reichsversorgungsgesetzes vom 1. April 1939, § 31,1.
1460 Vgl. GBlÖ, Nr. 459/1939, § 62,4.
205
Im Vergleich mit dem IEG bekamen nach dem RVG verheiratete Kriegsgeschädigte,
deren Erwerbsunfähigkeit als 50 Prozent und höher beurteilt worden war, eine Frauenzulage.1461 Höher als nach den Sätzen des IEG fiel die Kinderzulage aus. Allerdings endete die
Auszahlung nicht wie im IEG vorgesehen nach Vollendung des 18. Lebensjahres,1462 sondern
bereits nach Beendigung des 16. Lebensjahres.1463
Die Höhe der Bezüge nach dem RVG richtete sich auch nach dem Wohnort der Betroffenen.1464 Aus einer Vergleichstabelle der Reichsversorgung, gültig ab 1. November 1938, geht
allerdings hervor, dass diese Ortszulagen in der „Ostmark“ je nach Grad der „Minderung
der Erwerbsfähigkeit“ meist deutlich niedriger waren als im „Altreich“.1465
Für die Kriegsblinden von Bedeutung waren auch die Bestimmungen des RVG zur
„Heilbehandlung“. Diese umfasste die ärztliche Behandlung, Versorgung mit Medikamenten, Gewährung von Kuren in einer Heilanstalt,1466 Ausstattung mit Hilfsmitteln
sowie den Anspruch auf Instandhaltung und Ersatz Letzterer. Das galt auch für Führhunde. Für den Unterhalt der Hunde erhielten deren Besitzer jährlich zwischen 180
und 240 RM. Die Höhe war davon abhängig, unter welche Ortsklasse die Betroffenen
fielen.1467
Die Kriegsversehrten, die nach dem RVG versorgt wurden, hatten darüber hinaus
Anspruch auf „soziale Fürsorge“1468. Darunter waren in erster Linie Maßnahmen zu verstehen, die den Kriegsversehrten in die Berufswelt integrieren sollten. Kriegsblinde konnten
demnach eine unentgeltliche Ausbildung oder Umschulung für den beruflichen Wiedereinstieg absolvieren. In der „Ostmark“ wurde dieser Paragraph nach dem „Anschluss“
insbesondere für Kriegsblinde des Ersten Weltkriegs relevant, die Besitzer einer Tabaktrafik waren. Da ihre Geschäfte nicht mehr ausreichenden Gewinn abwarfen, wurden sie zu
Bürstenbindern umgeschult, um neben ihrem Trafikgeschäft eine weitere Einnahmequelle
zu haben.1469
Für die Kriegsblinden und „Hirnverletzten“ wurde außerdem in § 22 b des RVG explizit
festgelegt, dass die Hauptfürsorgestellen der Kriegsgeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge für ihre Versorgung zuständig waren.1470
1461 Vgl. GBlÖ, Nr. 459/1939, § 29; Ehmann, Einführung des Reichsversorgungsgesetzes, S. 313–317, hier
S. 314.
1462 Vgl. [Ö] StGlB., Nr. 245/1919, Gesetz über die staatliche Entschädigung der Kriegsinvaliden, -witwen und
-waisen (Invalidenentschädigungsgesetz) vom 25. April 1919, § 15,1.
1463 Vgl. GBlÖ, Nr. 459/1939, § 30,1.
1464 Vgl. GBlÖ, Nr. 459/1939, § 31a; § 51.
1465 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 56, Zl. 1944, Vergleichstabelle in der Reichsversorgung gültig ab
1. November 1938.
1466 Vgl. Kapitel III.6.
1467 Vgl. GBlÖ, Nr. 459/1939, § 7.
1468 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale
Fürsorge Franz L., Reg. Inspektor Graz Sachgebiet Fürsorge an Herrn L., o. Datum, Betreff: Soziale Fürsorge für Kriegsbeschädigte.
1469 Vgl. Kapitel III.5.2.1. Auf eine weitere Sonderstellung von Kriegsblinden, die im Zusammenhang mit der
Zuständigkeit der Versorgungsämter steht, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Vgl. Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark, S. 270–271.
1470 Vgl. GBlÖ, Nr. 459/1939, § 22.
206
2.3 „Wehrmachtsfürsorge- und Wehrmachtsversorgungsgesetz“ (WFVG)
und das „Einsatzfürsorge- und Einsatzversorgungsgesetz“ (EWFVG)
Wie einleitend bereits erwähnt, basierte die nationalsozialistische Kriegsopferversorgung
auf zwei Systemen, dem RVG und dem WFVG.1471 Dies manifestierte sich zunächst unter
anderem dadurch, dass das RVG unter der Verwaltung des RAM stand und für die Umsetzung des WFVG und des EWFVG das Kriegsministerium zuständig war. Unmittelbar nach
Ausbruch des Krieges am 8. September 1939 bekam allerdings das OKW die Oberaufsicht
über die Durchführung beider Gesetze.1472 Mit einem Erlass Hitlers über die Wehrmachtsfürsorge und -versorgung vom 11. Oktober 1943 wurde dieser Entschluss wieder rückgängig gemacht: Die Zuständigkeit für alle ehemaligen Soldaten der „alten Wehrmacht“
und deren Hinterbliebenen sowie für die Nichtberufssoldaten der „neuen Wehrmacht“
samt Hinterbliebenen ging an den RAM. Das OKW behielt aber die Verantwortlichkeit
für die Fürsorge und Versorgung der Berufssoldaten der „neuen Wehrmacht“ inklusive
deren Hinterbliebenen. 1473
Während sich das RVG noch an die Gesetzgebung der Zwischenkriegszeit anlehnte,
entsprach das WFVG1474 folgenden nationalsozialistischen Grundsätzen: Bezugspunkt
war nicht mehr der Geschädigte als Mitglied der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft, sondern der Soldat mit seinen militärischen Leistungen und seinen Verletzungen. Dementsprechend wurde die am Grad der Erwerbsfähigkeit bemessene Grundrente abgelöst
durch das Versehrtengeld, das sich zunächst in drei, später in vier Stufen an der Art der
Verletzung und nicht an deren Auswirkungen auf die Reintegration in einen Zivilberuf
orientierte.1475 Wer eine Wehrdienstbeschädigung nach dem WFVG erlitten hatte, bekam
unabhängig von jedem anderen Einkommen, mit Ausnahme von Beamtenbezügen, das
Versehrtengeld für die Dauer der körperlichen Beeinträchtigung ausbezahlt.1476 Kriegsblinde erhielten die höchste Stufe. Das Versehrtengeld sollte als eine Art „Ehrensold“1477
verstanden werden.
In den Durchführungsbestimmungen zum WFVG wurde eine Kriegserblindung definiert: „Blind ist, wer nichts oder nur so wenig sieht, daß er sich in einer Umwelt, die ihm nicht
ganz vertraut ist, allein nicht zurecht finden [sic!] kann.“1478 Als praktisch erblindet1479 galten
diejenigen Menschen, die sich zwar noch in einer ihnen bekannten Umgebung zurechtfinden
1471 Vgl. Diehl, Disabled Veterans, pp. 705–736, hier p. 733.
1472 Vgl. Diehl, Disabled Veterans, pp. 705–736, hier p. 733; [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Reichsversorgungsverwaltung vom 8. September 1939, S. 1742.
1473 Vgl. [D] RBGl., Teil I, Erlaß des Führers über die Wehrmachtsfürsorge und -versorgung vom 11. Oktober
1943, S. 569.
1474 Vgl. GBlÖ., Nr. 411/1938.
1475 Vgl. GBlÖ., Nr. 411/1938, § 84; Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 187.
1476 Vgl. Schwendy, Fürsorge und Versorgung, S. 90–101, hier S. 93.
1477 Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 187.
1478 [D] RBGl., Teil I, Durchführungsbestimmungen zum WFVG vom 29. September 1938, S. 1293–1308, Erläuterungen zu § 93.1.
1479 Die Grenzen zu einer Sehbehinderung lagen bei einem Fünfzigstel bis einem Fünfundzwanzigstel der
normalen Sehschärfe. Darunter wurde das Sehvermögen verstanden, das unter Verwendung einer Brille
erreicht werden konnte. Vgl. [D] RBGl., Teil I, Durchführungsbestimmungen zum WFVG vom 29. September 1938, S. 1293–1308, Erläuterungen zu § 93.1.; Schwendy, Fürsorge und Versorgung, S. 90–100, hier
S. 91; Kapitel I.1.4.
207
konnten, aber „trotz gewöhnlicher Hilfsmittel so wenig“ sahen, „daß der Rest an Sehvermögen
wirtschaftlich nicht mehr verwendbar“ war.1480
Nicht bekannt ist, wie eine praktische Erblindung diagnostiziert wurde. Eine Einstufung
als blind oder praktisch blind war aber von fürsorgerechtlicher Relevanz: Nach dem WFVG
§ 77 zählten zur „Heilfürsorge“1481 nicht nur die Krankenpflege, die körperliche Rehabilitation
und Kuraufenthalte,1482 wenn diese bei Kriegsblinden die „Arbeitsverwendungsfähigkeit“1483
verbessern konnten, sondern auch die Ausstattung mit Körperersatzstücken.1484 Für die
Kriegsblinden kamen hierbei unter anderem künstliche Augen, Hilfsmittel und Führhunde
in Frage.1485 Die Durchführungsbestimmungen legten fest, dass bei „praktischer Blindheit“
ein Führhund „nicht immer erforderlich“ sei.1486 Betroffene, die keinen Führhund verwenden konnten, hatten die Möglichkeit, Beihilfen für „besondere Unkosten“1487 gewährt zu
bekommen. Was darunter zu verstehen war, wurde in den Durchführungsbestimmungen
allerdings nicht näher ausgeführt.1488
Kriegsblinde, die einen Führhund besaßen, bekamen für diesen Unterhalt bezahlt, dessen Höhe sich an Ortsklassen orientierte. Außerdem sollten sie Winterhandschuhe erhalten.
Allen Kriegsblinden stand darüber hinaus die Ausstattung mit Regenmänteln, Blindenuhren
und Verkehrsschutz-Blindenabzeichen zu.1489 Die Zuteilung war genau geregelt, so wurde
vom OKW für die Regenmäntel zum Beispiel eine „Mindesttragzeit“1490 festgelegt.
Beim WFVG stand der „Gedanke der Fürsorge und Arbeitsbeschaffung“1491 vor dem der
Rentenversorgung. Für Kriegsblinde und „Hirnverletzte“1492 galten hierbei Sonderbestimmungen. Die erblindeten Soldaten sollten eine berufliche Umschulung oder Ausbildung
erhalten, um wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können. Diese konnte bis zu
einem Jahr und in besonderen Fällen auf Genehmigung durch das OKW auch länger dauern.1493 Für die Dauer dieser Ausbildung hatten die Betroffenen nach § 87 Anspruch auf
eine Übergangsunterstützung.1494
Eine Rente für Arbeitsverwendungsunfähige (AVU-Rente) bekamen Kriegsblinde
bis 1940 nur dann, wenn sie auf Grund ihrer Behinderung eine Berufsausbildung nicht
1480 Vgl. Schwendy, Fürsorge und Versorgung, S. 90–100, hier S. 91.
1481 GBlÖ, Nr. 411/1938, § 76.
1482 Vgl. Kapitel III.6; GBlÖ, Nr. 411/1938, § 76.
1483 RBGl., Teil I, Durchführungsbestimmungen zum WFVG vom 29. September 1938, S. 1293–1308, Erläuterungen zu § 77,1.
1484 Vgl. RBGl., Teil I, Durchführungsbestimmungen zum WFVG vom 29. September 1938, S. 1293–1308,
Erläuterungen zu § 77,1.
1485 Vgl. RBGl., Teil I, Durchführungsbestimmungen zum WFVG vom 29. September 1938, S. 1293–1308,
Erläuterungen zu § 77,1. Zu den Hilfsmitteln für Kriegsblinde vgl. auch Kapitel III.4.3.
1486 Vgl. RBGl., Teil I, Durchführungsbestimmungen zum WFVG vom 29. September 1938, S. 1293–1308,
Erläuterungen zu § 77,2.
1487 GBlÖ, Nr. 411/1938, § 77,4.
1488 Vgl. GBlÖ, Nr. 411/1938, § 77,4.
1489 Vgl. [D] RBGl., Teil I, Durchführungsbestimmungen zum Fürsorge- und Versorgungsgesetz WFVG vom
29. September 1938, S. 1293–1308, Erläuterungen zu § 77,1.
1490 GBlÖ, Nr. 411/1938, § 77,3.
1491 Schwendy, Fürsorge und Versorgung, S. 90–101, hier S. 90.
1492 Vgl. Kapitel III.1.3, [D] RBGl., Teil I, Durchführungsbestimmungen WFVG vom 29. September 1938,
S. 1293–1308, Erläuterungen zu § 86.
1493 Vgl. GBlÖ, Nr. 411/1938, § 86,1.
1494 Vgl. GBlÖ, Nr. 411/1938, § 87.
208
fortsetzen, ihrer bisherigen oder einer anderen Arbeit nicht nachgehen und auch nicht
an einer Umschulung teilnehmen konnten.1495 Hier zeigt sich der charakteristische Zug
der nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung: Durch die NS-Propaganda wurde die
Illusion geschaffen, Kriegsblinde seien „Ehrenbürger der Nation“1496 und würden entsprechend versorgt werden.1497 Die eben beschriebene Bestimmung bedeutete aber zunächst
eine deutliche Schlechterstellung der Kriegsblinden im Vergleich zu den nach dem RVG
versorgungsberechtigten Kriegsblinden: Ihnen stand generell eine Vollrente zu, unabhängig
davon, ob sie arbeiteten oder nicht.1498
Das OKW revidierte allerdings diesen WFVG-Passus am 27. November 1940 mit Wirkung vom 1. Dezember 1940, wahrscheinlich weil öffentliche Proteste von Kriegsblinden
befürchtet wurden. Demnach bekamen alle „wehrdienst- und einsatzbeschädigten Blinden
die AVU-Rente des WFVG […] stets […] neben jedem anderen Einkommen“.1499 Damit hatten
die Kriegsblinden die höchsten Versorgungsansprüche. Andere Kriegsversehrte bekamen
diese Rente nur, wenn ihnen eine Arbeitsverwendungsunfähigkeit bescheinigt wurde.1500
Die Höhe der AVU-Rente wurde nach dem Familienstand, Wohnort, der früheren beruflichen Tätigkeit sowie dem Dienstgrad bemessen. Die Differenzierung von Versorgungsleistungen nach dem militärischen Rang der Versehrten bedeutete nach Einschätzung von
Sachße und Tennstedt einen „Rückschritt zu den Grundsätzen der Militärversorgung von
vor 1918“.1501 Erblindete Soldaten des Zweiten Weltkrieges wurden auf Grund der Schwere
ihrer Verwundung, und um ihnen höhere Rentenauszahlungen zu ermöglichen, meist zu
Unteroffizieren oder Feldwebeln befördert.1502
Zur AVU-Rente wurde „hilflosen Wehrdienstbeschädigten“1503 eine Pflegezulage ausbezahlt. Für Kriegsblinde galt dies allerdings nicht: Für sie war im WFVG eine eigene
„Blindenzulage“1504 vorgesehen. 1938 betrug diese 100 RM monatlich. Wurde eine weitere
körperliche Behinderung als „Wehrdienstbeschädigung“ anerkannt, erhielten die Betroffenen
eine erhöhte „Blindenzulage“ von 125 RM monatlich.1505 Die Pflegezulage für andere als
„hilflos“ eingestufte Kriegsgeschädigte betrug zu diesem Zeitpunkt nur 50 RM monatlich.
Eine erhöhte Pflegezulage, die ebenfalls bis zu 125 RM ausmachen konnte, bekamen alle
nicht blinden Schwerkriegsgeschädigten nur dann zugebilligt, wenn sie dauerhafte Krankenpflege benötigten oder bei „Siechtum“.1506 Mit der Schaffung einer eigenen „Blindenzulage“
sollte außerdem sichergestellt werden, dass die Kriegsblinden diese ein Leben lang beziehen
1495 Vgl. Schwendy, Fürsorge und Versorgung, S. 90–101, hier S. 95.
1496 Schmalfuß, Mit vereinten Kräften, S. 73–79, hier S. 75.
1497 Vgl. Diehl, The Thanks of the Fatherland, p. 46.
1498 Vgl. Kapitel III.2.2.
1499 OKW 30a/a 12 W Vers (I), 5215/40 vom 27.11.1940, Betreff: AVU-Rente für Blinde, zitiert in: Gottfried
Schwendy, Einige Änderungen in der Fürsorge und Versorgung der erblindeten Krieger der Deutschen
Wehrmacht, in: Marburger Beiträge, Nr. 4, Jg. 11 (1940), S. 102–105, hier S. 105; Schanzer, Rückführung
und Einsatz, S. 106.
1500 Vgl. Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 105.
1501 Sachße, Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 187.
1502 Dadurch wurden nicht nur ihre Renten höher berechnet, sondern sie erhielten während ihres Aufenthaltes
in einem Reservelazarett eine höhere Kriegsbesoldung. Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 9.
1503 GBlÖ, Nr. 411/1938, § 93.
1504 GBlÖ, Nr. 411/1938, § 93.
1505 Vgl. GBlÖ, Nr. 411/1938, § 93.
1506 GBlÖ, Nr. 411/1938, § 92.
209
konnten: Die Pflegezulage wurde dagegen nur ausbezahlt, bis die „völlige Hilflosigkeit“ der
Betroffenen überwunden war.1507
Wie bereits eingangs erwähnt, basierte die Versorgung von im Zweiten Weltkrieg aus
dem Wehrdienst entlassenen Soldaten nicht nur auf dem WFVG, sondern auch auf dem
EWFVG, das rückwirkend mit dem 1. Oktober 1938 in Kraft trat, allerdings erst am 6. Juli
1939 bekannt gemacht wurde.1508 Für eine „Beschädigung bei besonderem Einsatz“1509, das
bedeutete in erster Linie im Kampfgebiet, erhielten die Betroffenen neben dem Versehrtengeld nach § 7 noch eine Versehrtenzulage.1510 Kriegsblinde hatten hierbei wiederum
Anspruch auf die höchste Stufe.
Das EWFVG brachte nach Meinung von Gottfried Schwendy außerdem eine besondere
Vergünstigung für Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges: Der Regierungsrat aus Breslau ging
davon aus, dass sie während des Zweiten Weltkrieges als „Abhorcher von feindlichen Flugzeugen“ in die Wehrmacht wieder eingestellt würden, „wie dies in Italien vorgesehen“ sei.1511
Nach den §§ 24 und 30 des EWFVG hätten sie in diesem Fall weiterhin ihre vollen Bezüge
nach dem RVG erhalten. Wie bereits ausgeführt,1512 erwies es sich allerdings als unmöglich,
blinde Menschen zur Ortung von Flugzeugen einzusetzen. Nur im Nachrichtenwesen oder
als Dolmetscher ergab sich in wenigen Einzelfällen eine Anstellung von Nichtsehenden in
der Wehrmacht.1513
Am 20. August 1940 erließ das NS-Regime ein Gesetz zur Änderung und Ergänzung
des EWFVG.1514 Der Personenkreis der Versorgungsberechtigten wurde erweitert. Demnach
wurden „Wehrdienstbeschädigungen“ anerkannt, die auf Unfälle und Umstände zurückführten, die sich aus den „eigentümlichen“ Verhältnissen im Krieg ergaben.1515 Nach der
Einschätzung von Gottfried Schwendy konnten so auch körperliche Beeinträchtigungen,
die Folge einer Infektionskrankheit waren, anerkannt werden.1516 Dementsprechend dürften
nach dieser Erweiterung des EWFVG auch Soldaten, die infolge einer Geschlechtskrankheit erblindeten, als Kriegsblinde versorgt worden sein.1517 Dies war nicht von Anfang an
im WFVG vorgesehen: Nach § 67, der die Versorgung von durch Körperschäden ohne
Wehrdienstbeschädigungen „dienstunfähig“ gewordenen Soldaten regelte, hatten Betroffene,
die wegen einer Geschlechtskrankheit von der Wehrmacht nicht mehr eingesetzt werden
konnten, keinen Anspruch auf eine Versorgung als „Wehrdienstbeschädigte“.1518
1507 Vgl. Schwendy, Fürsorge und Versorgung, S. 90–101, hier S. 97.
1508 Vgl. GBlÖ, Nr. 879/1939.
1509 GBlÖ, Nr. 879/1939, § 7.
1510 Vgl. GBlÖ, Nr. 879/1939, § 7.
1511 Vgl. Schwendy, Fürsorge und Versorgung, S. 90–101, hier S. 99.
1512 Vgl. Kapitel II.5.3, II.6.4.
1513 Vgl. Kapitel II.6.4, III.5.1, III.8.
1514 Vgl. [D], RGBl., Teil I, Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Einsatzfürsorge- und -versorgungsgesetzes vom 20. August 1940, S. 1166–1167.
1515 Vgl. D], RGBl., Teil I, Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Einsatzfürsorge- und -versorgungsgesetzes vom 20. August 1940, S. 1166–1167, 1. ad § 2 Abs. 2.
1516 Vgl. Schwendy, Änderungen in der Fürsorge, S. 102–105, hier S. 103.
1517 Vgl. Kapitel III.1.2.3.
1518 Vgl. GBlÖ, Nr. 411/1938, § 67. Auf Grund der Änderung dieser Bestimmung durch das EWFVG wurde
daher der 1942 infolge einer Geschlechtskrankheit erblindete Robert A. vom HVA „Ostmark“ als Kriegsblinder versorgt. Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt.1, Akten
betreffend Soziale Fürsorge Robert A.
210
1941 kam es zu einer weiteren Änderung der nationalsozialistischen Kriegsopfergesetzgebung. Ehemalige Angehörige der Wehrmacht, die nach dem RVG oder dem
WFVG versorgungsberechtigt waren, erhielten nach Vollendung des 55. Lebensjahres
eine Alterszulage ausgezahlt, wenn auf Grund ihrer Kriegsverletzung ihre Erwerbsfähigkeit um mindestens 30 von Hundert gemindert war oder sie nach § 84 des WFVG
eine Versehrtenzulage unabhängig von jedem anderen Einkommen ausbezahlt bekamen.1519 Diese Regelung galt dem Wortlaut des Gesetzes entsprechend nicht für die
zivilen Kriegsopfer des Zweiten Weltkriegs und führte damit zu einer Schlechterstellung
dieser Gruppe.
2.4 Besondere Verordnungen und Bestimmungen für erblindete Soldaten
Das NS-Regime und das OKW erließen darüber hinaus weitere Bestimmungen, um die
Versorgung der erblindeten Soldaten im Vergleich zu anderen Kriegsversehrten günstiger
zu regeln. Die „Wehrmachtsfürsorge und -versorgungsbestimmungen“ vom 15. Dezember
1939 erläuterten die „Betreuung“ von „versehrten Wehrdienst- und Einsatzbeschädigten“.1520
Für erblindete Soldaten sollte dabei nach einem besonderen Merkblatt verfahren werden.1521
Die Behandlung der erblindeten Soldaten wurde den Chefärzten zur „besonderen Pflicht“1522
gemacht. Ihre Aufgabe war es, dem zuständigen Wehrmachtsfürsorgeoffizier einen erblindeten Soldaten sofort zu melden. Dieser setzte sich dann in der „Ostmark“ mit den zuständigen Versorgungsämtern in Verbindung und verständigte die NSKOV „Fachabteilung
erblindeter Krieger“.1523
Sobald die schwer verwundeten Soldaten transportfähig waren, begann die Verlegung
in ein Reservelazarett, das auf die Berufsausbildung von erblindeten Soldaten spezialisiert
war.1524
Die Versorgung der Kriegsblinden war nach Ansicht des OKW im Vergleich zu anderen Kriegsversehrten besonders dringlich zu behandeln. Die Schreiben des Reservelazarettes Wien zum Beispiel an das zuständige HVA wurden daher mit einem roten Stempel
„Sonderfall Kriegsblinder!“ versehen. Das sollte offenbar auf die Priorität der Schreiben
hinweisen.
1519 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Gewährung einer Alterszulage für Wehrdienstbeschädigte
vom 20. April 1940, S. 210. Eine weitere Novellierung gab es am 26. September 1942. Vgl. [D] RBGl., Teil
I, Verordnung zur Änderung der Verordnung über die Gewährung einer Alterszulage für Wehrdienstbeschädigte vom 26. September 1942, S. 562.
1520 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Betreuung der versehrten Wehrdienst- und Einsatzbeschädigten,
S. 161–162.
1521 Oberkommando der Wehrmacht, Merkblatt. Ärztliche Fürsorge für erblindete Soldaten, S. 164–165, hier
S. 164.
1522 Oberkommando der Wehrmacht, Merkblatt. Ärztliche Fürsorge für erblindete Soldaten, S. 164–165, hier
S. 164.
1523 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Merkblatt. Ärztliche Fürsorge für erblindete Soldaten, S. 164–165,
hier S. 164, Kapitel III.4.2.1.
1524 Vgl. Kapitel III.4.1, III.4.2.
211
Abb. 10: Stempel Sonderfall
Kriegsblinder.
Mit einer Verordnung des RAM und des Reichsministers des Inneren vom 28. Juni 1940
wurde die „Fürsorge“ für Kriegsblinde und „hirnverletzte“ Kriegsgeschädigte zentralisiert.1525
Es wurde festgelegt, dass die gesamte „öffentliche Fürsorge“, unter der die „Behebung von
Notständen“ verstanden wurde, für diese Kriegsgeschädigten im „Altreich“ von den Landesfürsorgeverbänden (Hauptfürsorgestellen) durchzuführen waren. Bisher waren die Bezirksfürsorgeverbände dafür zuständig gewesen. Dadurch hatten sich regionale Unterschiede in
der Betreuung ergeben. Hinter dieser Sonderregelung stand die Auffassung des NS-Regimes,
dass infolge „der Schwere und Eigenart ihres Opfers“ die Kriegsblinden und „hirnverletzten“
Kriegsgeschädigten zu einer „fürsorgerechtlich vordringlich zu betreuenden Gruppe“ zählten
und daher Anrecht auf eine einheitliche, verbesserte Versorgung hatten.1526 Auf Grund der
geänderten Zuständigkeit in der „Ostmark“ blieben in den „Alpen- und Donaureichsgauen“
allerdings die Versorgungsämter für alle sozialrechtlichen Belange der Kriegsblinden und
„hirnverletzten“ Kriegsgeschädigten zuständig.1527
Anspruch auf Unterstützung durch die Versorgungsämter in der „Ostmark“ hatten
auch die Familienmitglieder von bedürftigen Kriegsblinden. Allerdings war es nach Auffassung des NS-Regimes nicht legitim, wenn die Hauptfürsorgestellen dabei die Kosten für
Angehörige mit einer Behinderung übernahmen.1528 „Geisteskranke, Idioten, Epileptiker,
Taubstumme, Blinde und Krüppel“1529, die in Anstalten untergebracht waren, oder Familienmitglieder, die unter die Verordnung zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten vom
1. Dezember 1938 fielen, waren ausdrücklich ausgenommen.1530
Im Laufe des Zweiten Weltkrieges nahm die Zahl erblindeter Soldaten und anderer
Kriegsgeschädigter ständig zu. Das OKW erweiterte daher 1942 die 1939 erlassenen Richtlinien mit den Fürsorge- und Versorgungsbestimmungen.1531 Diese Entwicklung wird im
Kapitel III.4 über die Rehabilitation der Kriegsblinden erläutert.
1525 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Fürsorge für Kriegsblinde und hirnverletzte Kriegsbeschädigte
vom 28. Juni 1940, S. 937; Rhode, Fürsorge für Kriegsblinde, S. 115–118, hier S. 117.
1526 Diese Verordnung betraf neben den „hirnverletzten“ Kriegsgeschädigten alle blinden und praktisch blinden Menschen, die nach der NS-Gesetzgebung als Kriegsblinde galten. Vgl. Rhode, Fürsorge für Kriegsblinde, S. 115–188, hier S. 116–117.
1527 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Fürsorge für Kriegsblinde und hirnverletzte Kriegsbeschädigte
vom 28. Juni 1940, S. 937, § 4.
1528 Vgl. Rhode, Fürsorge für Kriegsblinde, S. 115–118, hier S. 116.
1529 [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Fürsorge für Kriegsblinde und hirnverletzte Kriegsbeschädigte
vom 28. Juni 1940, S. 937, § 2.
1530 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Fürsorge für Kriegsblinde und hirnverletzte Kriegsbeschädigte
vom 28. Juni 1940, S. 937, § 2.
1531 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht (Hrsg.), 91. Richtlinien für die ärztliche und Berufsbetreuung,
S. 77–80. [BAB, DGT, R 36, Zl. 1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung].
212
2.5 Vergünstigungen für Kriegsblinde
2.5.1 Steuergesetzgebung
Kriegsblinde erhielten die gleichen Vergünstigungen, etwa eine Befreiung von Rundfunkgebühren, wie Zivilblinde.1532 Da diese und andere Regelungen, wie beispielsweise auch
die Bestimmungen der Post für Blindenschriftsendungen, schon im Kapitel II.2.4 über die
Zivilblinden ausführlich behandelt wurden, wird an dieser Stelle nur darauf hingewiesen.
Für Kriegsblinde galten in Bezug auf die Lohnsteuergesetzgebung die gleichen Regelungen wie für andere „schwerbeschädigte“ Kriegsversehrte.1533 Nach § 26 war auf Antrag
an das Finanzamt bei erwerbstätigen ArbeitnehmerInnen ein bestimmter Betrag des Einkommens steuerfrei, wenn wegen einer Kriegs- oder Dienstbeschädigung ein Anspruch
auf Versorgung nach dem RVG und Versehrtengeld nach dem WFVG oder dem Reichsarbeitsdienstversorgungsgesetz bestand.1534 BezieherInnen einer „Pflegezulage“, „Blindenzulage“ oder einer erhöhten „Verstümmelungszulage“ bekamen dabei die höchstmöglichen
monatlichen Freibeträge.1535
Kriegsblinde Unternehmer waren darüber hinaus wie die Zivilblinden von der Umsatzsteuer befreit, wenn sie nicht mehr als zwei ArbeitnehmerInnen beschäftigten und die
Voraussetzungen der Steuerfreiheit durch eine Bescheinigung des Bezirksfürsorgeverbandes
nachweisen konnten.1536 Nach dem Gewerbesteuergesetz gab es keine besonderen Bestimmungen zur Befreiung für die Kriegsblinden.1537
Zu den Aufgaben der nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung gehörte auch die
Schaffung von Eigenheimen.1538 Anstelle einer gewährten Rente konnten Kriegsblinde zu
diesem Zweck Kapitalabfindungen erhalten. Dieses Vorhaben wurde durch eine entsprechende Steuergesetzgebung unterstützt. Kriegsgeschädigte und deren Hinterbliebene erhielten beim Kauf von Grundstücken, Wohnungen und Häusern steuerliche Vergünstigungen, die beispielsweise zu einer Verringerung der Grundsteuer und der Einkommensteuer
führten.1539
2.5.2 Ermäßigungen im öffentlichen Verkehr und bei kulturellen Veranstaltungen
Kriegsblinde konnten wie andere Schwergeschädigte zu vergünstigten Preisen mit der
„Deutschen Reichsbahn“ fahren. Dafür bekamen sie eine Bestätigung zur Benützung der
zweiten Klasse mit einem Fahrausweis der dritten Klasse. Während die Bestimmungen des
„Altreiches“ über die Fahrpreisermäßigungen für berufstätige Zivilblinde erst am 1. Jänner
1532 Vgl. Kapitel II.2.4; o. A., Nachprüfung von Rundfunkgebührenbefreiung bei Kriegsblinden, S. 26.
1533 Vgl. Kapitel II.2.4.1.
1534 Vgl. GBlÖ, Nr. 1446/1939, Lohnsteuerdurchführungsbestimmungen 1939 vom 10. März 1939, § 26.
1535 Vgl. Schumacher, Steuerliches, S. 107–110, hier S. 108.
1536 Vgl. Kapitel II.2.4.1; Schumacher, Steuerliches, S. 107–110, hier S. 110.
1537 Vgl. Schumacher, Steuerliches, S. 107–110, hier S. 110.
1538 Vgl. Kapitel III.3.1, III.3.2.
1539 Vgl. Weiske, IV. Siedlungswesen, S. 202–203, hier S. 203.
213
1939 in der „Ostmark“ eingeführt wurden,1540 sollten die Bestimmungen für Kriegsgeschädigte und die „Opfer der nationalen Erhebung“ am 15. Juni 1938 in der „Ostmark“ in Kraft
treten.1541
Die für die Inanspruchnahme der Vergünstigungen für Kriegsgeschädigte erforderlichen
Bescheinigungen wurden in der „Ostmark“ von den Versorgungsämtern ausgestellt. Diese
vergaben auch Ausweise zur Benützung des Zugabteils für Schwerkriegsgeschädigte.1542
Kriegsblinde konnten außerdem kostenlos einen sehenden Begleiter bzw. eine sehende
Begleiterin und/oder einen Führhund mitnehmen. Dafür benötigten sie allerdings eine
dritte Bescheinigung, die von der Eisenbahnverwaltung erteilt wurde.1543
Ab 1. April 1944 trat eine neue gesetzliche Bestimmung, welche Vergünstigungen im
öffentlichen Personenverkehr „reichseinheitlich“ regelte, in Kraft.1544 Kriegsblinde und
andere schwer Kriegsgeschädigte hatten gegen Vorzeigen eines amtlichen Ausweises
Anspruch auf eine unentgeltliche Beförderung in Straßenbahnlinien, im Ortslinienverkehr
mit Kraftomnibussen sowie mit den S-Bahnen in Berlin und Hamburg. Das galt auch für
eine Begleitperson und Führhunde.
Als gültige Bescheinigung für die Inanspruchnahme dieser und anderer Vergünstigungen galt ein ab 1. März 1944 ausgegebener neuer „Schwerkriegsbeschädigtenausw
eis“.1545 Diesen gab es in drei verschiedenen Farben, gelb, grau und orange, je nach den
zuerkannten Vergünstigungen.1546 Kriegsblinde erhielten den Ausweis C in oranger Farbe.
Darauf war der volle Umfang der Ermäßigungen, die diesen Schwerkriegsgeschädigten
zustanden, aufgelistet: Sie erhielten neben der unentgeltlichen Beförderung in öffentlichen Verkehrsmitteln Eintrittspreisermäßigungen bei kulturellen Veranstaltungen, eine
bevorzugte Abfertigung vor Amtsstellen sowie die Benutzung der zweiten Wagenklasse
mit einem Fahrausweis der dritten Klasse bei Eisenbahnfahrten.1547 Begleitpersonen von
Kriegsgeschädigten, die auf ständige Unterstützung angewiesen waren, wozu auch die
Kriegsblinden zählten, hatten zudem einen Anspruch auf verbilligte Karten beim Besuch
einer kulturellen Veranstaltung.
2.5.3 Die Verteilung von Rundfunkgeräten
Die Ausstattung der Kriegsblinden mit Rundfunkgeräten durch das „Reichsministerium
für Volksaufklärung und Propaganda“ war Teil der NS-Agitation. Im Folgenden wird ausführlich darauf eingegangen, weil dieses Beispiel zeigt, mit welchem großen Aufwand und
propagandistischen Kalkül Kriegsblinde behandelt wurden.
1540 Vgl. Kapitel II.2.4.3.
1541 Aus der Quelle geht nicht hervor, ob die Umsetzung tatsächlich zu diesem Datum erfolgte. Vgl. o. A.,
Fahrpreisermäßigungen in Österreich, S. 232.
1542 Vgl. o. A., Schwerkriegsbeschädigte auf der Reise, S. 23.
1543 Vgl. o. A., Verlängerung der Gültigkeitsdauer der Ausweise zur Erlangung von Fahrpreisvergünstigungen
für Kriegsbeschädigte, S. 13–14, hier S. 13.
1544 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Verordnung über Vergünstigungen für Kriegsbeschädigte im öffentlichen Personenverkehr vom 23. Dezember 1943, S. 5–6. [Ausgegeben am 8. Januar 1943.]
1545 O. A., Neuer Schwerkriegsbeschädigtenausweis, S. 26–27, hier S. 27.
1546 Vgl. o. A., Neuer Schwerkriegsbeschädigtenausweis, S. 26–27, hier S. 27.
1547 Vgl. o. A., Neuer Schwerkriegsbeschädigtenausweis, S. 26–27, hier S. 27.
214
Nach damaliger Auffassung waren Rundfunkgeräte von besonderer Bedeutung für die
Kriegsblinden:
„[…] es ersetzt ihm das verlorene Augenlicht zum Teil und läßt ihn vor allem lebendig
teilnehmen an den Geschehnissen unserer großen Zeit, für deren Gestaltung er wohl
mit das größte Opfer gebracht hat.“1548
Die Vergabe von Geräten an Kriegsblinde begann nach einem Besuch des „Reichsministers
für Volksaufklärung und Propaganda“, Joseph Goebbels, am 3. September 1940 im Berliner
Sammellazarett für erblindete Soldaten. Goebbels schenkte zunächst ausschließlich den
Betroffenen dort 60 Rundfunkapparate.1549 Am 5. September wurden die Empfangsgeräte
ausgeliefert. Trotzdem hielt der ausführende Regierungsrat Schaefer die Geräte im letzten
Moment zurück: Vereinbarungsgemäß waren 60 „Deutsche Kleinempfänger“1550 geliefert
worden. Zehn der Kriegsblinden in dem Reservelazarett hatten allerdings bereits Apparate
durch eine Spende eines namentlich nicht genannten Berliner Rechtsanwaltes bekommen.
Dies waren Radios des Typs „Körting Gross Super“1551, also größere und hochwertigere
Geräte als die vom „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ vorgesehenen. Der mit der Angelegenheit beauftragte Regierungsrat schlussfolgerte daher, dass
es für Goebbels „nicht tragbar“1552 sei, die kleineren Apparate zu verteilen. Das „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ besorgte daher größere Rundfunkempfänger für die Kriegsblinden, um den Erfolg der Kampagne für die NS-Propaganda
nicht zu schmälern.
Die Aktion sollte die Sympathiewerte Joseph Goebbels in der Bevölkerung verbessern.
Die Verteilung der Geräte wurde daher stets dem persönlichen Engagement Goebbels zugeschrieben.1553
1548 BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, AZ F/LU, NSKOV Fachabt.
erblindeter Krieger an den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda vom 12.5.1941, Betreff:
Rundfunkempfangsgeräte für Kriegsblinde des jetzigen Einsatzes.
1549 Vgl. BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Rfk 3635, Ministerbüro
Oberstaatsanwalt Spieler an Leiter Rundfunk vom 4.9.1940, Betreff: Rundfunkgeräte für Kriegsblinde.
1550 BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Rfk 3635, Abteilung Rundfunk an Oberstaatsanwalt Spieler, Ministerbüro vom 5.9.1940, Betreff: Beschaffung von Rundfunkgeräten
für 60 Kriegsblinde; BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Ministerbüro Oberstaatsanwalt Spieler an Abteilung Rundfunk vom 10.9.1940, Betreff: Schreiben vom 5.9.1940.
1551 BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Rfk 3635, Abteilung Rundfunk an Oberstaatsanwalt Spieler, Ministerbüro vom 5.9.1940, Betreff: Beschaffung von Rundfunkgeräten
für 60 Kriegsblinde; BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Ministerbüro Oberstaatsanwalt Spieler an Abteilung Rundfunk vom 10.9.1940, Betreff: Schreiben vom 5.9.1940.
1552 BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Rfk 3635, Abteilung Rundfunk an Oberstaatsanwalt Spieler, Ministerbüro vom 5.9.1940, Betreff: Beschaffung von Rundfunkgeräten
für 60 Kriegsblinde; BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Ministerbüro Oberstaatsanwalt Spieler an Abteilung Rundfunk vom 10.9.1940, Betreff: Schreiben vom 5.9.1940.
1553 Vgl. BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Rfk. 3635/16.4.41 Re 1/1,
Referent Gonefeld an NSKOV Fachabt. erblindeter Krieger vom 22.7.1941, Betreff: Rundfunkgeräte für
kriegsblinde Soldaten und durch Feindeinwirkung erblindete Volksgenossen; BAB, Reichsministerium
für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, AZ F/LU, NSKOV Fachabt. erblindeter Krieger an den
Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda vom 12.5.1941, Betreff: Rundfunkempfangsgeräte
für Kriegsblinde des jetzigen Einsatzes.
215
Die anfänglich auf das Berliner Reservelazarett beschränkte Aktion wurde in der
Folge auf alle Kriegsblinden des „Deutschen Reiches“ sowie auf die Gruppe der durch
beispielsweise Luftangriffe oder herumliegende Munition erblindeten ZivilistInnen1554
ausgedehnt. Damit auch diejenigen Kriegsblinden, die bereits aus der Wehrmacht entlassen worden waren, ein Gerät erhielten, erfolgte die Vergabe der Geräte über die NSKOV
„Fachabteilung erblindeter Krieger“.1555 Damit hatten Kriegsblinde einen Sonderstatus,
denn zur Versorgung von Wehrmachtsangehörigen mit Radios gab es bereits die „Dr.
Goebbels-Rundfunkspende“.1556 Für diese Aktion war eine Abteilung in der NSDAP-Reichsleitung, Hauptamt Rundfunk, zuständig.1557 Mit den Agenden der Kriegsblinden betraute
das „Reichsministerium für Propaganda und Volksaufklärung“ diese Stelle allerdings
dezidiert nicht, weil die zuständigen NS-Beamten der Auffassung waren, nur die NSKOV
„Fachabteilung erblindeter Krieger“ könne die Übergabe auf solch besondere Art und Weise
gestalten, dass bei den Kriegsblinden der Eindruck „der kameradschaftlichen Fürsorge des
Ministers für seine Person“1558 entstand.
Noch ein weiter Aspekt bei der Vergabe von Rundfunkgeräten an Kriegsblinde ist
bemerkenswert: In Einzelfällen gingen die ausführenden Stellen auf die psychische Verfassung der Kriegsblinden ein. Der im Krieg erblindete Unteroffizier Hans Jürgen S. erhielt
beispielsweise ein gesondertes Schreiben beim Erhalt seines Rundfunkempfängers, in dem
nicht der „Ausdruck ‚kriegsblinde‘ [sic!] […] in Erscheinung treten“ durfte.1559 Hans-Jürgen
S. hatte nach seiner Kriegserblindung an der Ostfront seine dauerhafte Behinderung noch
nicht akzeptiert und hoffte auf eine Besserung seines Sehvermögens. Woher das zuständige
„Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ diese Informationen hatte, ist
nicht bekannt.1560 Am 16. Jänner 1942 erhielt Hans-Jürgen S. schließlich ein Telefunkengerät des „Typs 975“1561, allerdings trat im dazugehörigen Schreiben nicht die zuständige
NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ auf, sondern die Reichsdienststelle Berlin
der NSKOV. Die Anschrift entsprach aber der des „Adolf-Hitler Kriegsblindenhauses“
1554 Vgl. Kapitel III.1.2.5.
1555 Vgl. BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Rfk. 3635/164.41 Re 1/1,
Oberregierungsrat Müller an die Wirtschaftsstelle der deutschen Rundfunkindustrie vom 13.6.1941, Betreff: Beschaffung von Rundfunkgeräten für Kriegsblinde.
1556 BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, NSDAP Reichsleitung, Preispropagandaleitung, Hauptamt Rundfunk an den Herrn Reichspropagandaleiter, vom 2.10.1941, Betreff:
Rundfunkgeräte für kriegsblinde Soldaten und durch Feindeinwirkung erblindete Volksgenossen.
1557 Vgl. BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, NSDAP Reichsleitung,
Preispropagandaleitung, Hauptamt Rundfunk an den Herrn Reichspropagandaleiter, vom 2.10.1941, Betreff: Rundfunkgeräte für kriegsblinde Soldaten und durch Feindeinwirkung erblindete Volksgenossen.
1558 BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Leiter Rundfunk an das Ministeramt im Haus vom 4.10.1941, Betreff: Stellungnahme zum Schreiben der Reichspropagandaleitung,
Hauptamt Rundfunk vom 2.10.1941.
1559 Vgl. BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Leiter Rundfunk an
Rundfunkwirtschaftsreferat, z. Hd. Oberregierungsrat Müller, vom 5.1.1942, Betreff: Rundfunkgerät für
einen Kriegsblinden.
1560 Vgl. BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Leiter Rundfunk an
Rundfunkwirtschaftsreferat, z. Hd. Oberregierungsrat Müller, vom 5.1.1942, Betreff: Rundfunkgerät für
einen Kriegsblinden.
1561 BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Leiter Rundfunk an Rundfunkwirtschaftsreferat, z. Hd. Oberregierungsrat Müller, vom 5.1.1942, Betreff: Rundfunkgerät für einen
Kriegsblinden.
216
ohne selbiges zu nennen.1562 Auch der Text des Standardschreibens wurde entsprechend
abgeändert.1563
Diese individuelle Behandlung von Kriegsblinden dürfte im Laufe des Krieges organisatorisch nicht mehr bewältigbar gewesen sein. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion
am 22. Juni 1941 erhöhte sich die Anzahl der Kriegserblindungen stark.1564 Die zuständige
NSKOV „Fachabteilung erblindete Krieger“ konnte spätestens Ende 1943 nicht mehr allen
Kriegsblinden Rundfunkgeräte übergeben. Bis zu diesem Zeitpunkt waren dem NSKOV
1.712 Rundfunkempfänger vom Propagandaministerium zur Vergabe an Kriegsblinde geliefert worden.1565 Weitere 1.000 Apparate höherer Qualität wurden Anfang 1944 benötigt.1566
Das war unter den damaligen Umständen eine enorme Menge, da laut Aussage der Wirtschaftsgruppe Elektroindustrie im Reichswirtschaftsministerium überhaupt lediglich 2.000
bis 3.000 solcher hochwertigen Geräte monatlich zur Verfügung standen.1567
Wie die Verteilung von Rundfunkgeräten bis zum Kriegsende bewerkstelligt wurde, ist
aus den hier zitierten Akten im BAB nicht ersichtlich. Die zu dieser Thematik vom „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ überlieferten Dokumente enden Anfang
1942 und die letzten Schreiben des Reichswirtschaftsministeriums zu dieser Angelegenheit
stammen aus den ersten beiden Monaten des Jahres 1944.
2.6 Weitere Versorgungsansprüche und Beispiele
Eine Überprüfung der Umsetzung der geschilderten fürsorgerechtlichen Ansprüche von
Kriegsblinden anhand der überlieferten Akten des HVA „Ostmark“ kann auf Grund der
unvollständigen Überlieferung dieser nicht erfolgen. Aus den Dokumenten geht aber der
Umfang der staatlichen Versorgungsleistungen hervor. Das HVA „Ostmark“, ab Sommer
1942 wurde die Stelle umbenannt in HVA „Wien“, koordinierte die Umsetzung der nationalsozialistischen Versorgungsgesetze für die Kriegsblinden. Für die Umsetzung waren die
jeweiligen Versorgungsämter zuständig. Hauptaufgabe war die berufliche Integration der
Kriegsblinden sowie die Feststellung und Abwicklung der Rentenzahlungen. Dies umfasste
1562 Vgl. Kapitel III.3.3.
1563 BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, Rfk. 3635/16.4.41 Re 1/1, Referent Gonefeld an NSKOV Fachabteilung erblindeter Krieger vom 22.7.1941, Betreff: Rundfunkgeräte für
kriegsblinde Soldaten und durch Feindeinwirkung erblindete Volksgenossen; BAB, Reichsministerium
für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, AZ F/L, NSKOV Reichsdienststelle Berlin [NSKOV
Fachabteilung erblindeter Krieger] an Unteroffizier Hans Jürgen S. vom 16.1.1942, Betreff: Zuteilung
Rundfunkgerät.
1564 Vgl. BAB, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, R 55/20680, AZ F/L, NSKOV Fachabteilung erblindeter Krieger an den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, z. Hd. Oberregierungsrat Müller vom 25.11.1941, Betreff: Rundfunkgeräte für Kriegsblinde.
1565 Vgl. BAB, Reichswirtschaftsministerium, R 3101/11652, Rfk/W 3635/1.2.43 W. R. I 1/1, Reichministerium für Volksaufklärung und Propaganda an das Reichswirtschaftsministerium vom 14.12.1943, Betreff:
Rundfunkgeräte für kriegsblinde Soldaten und durch Feindeinwirkung erblindete Volksgenossen.
1566 Vgl. BAB, Reichswirtschaftsministerium, R 3101/11652, Nr. II 2/8 – 462/43, Reichswirtschaftsminister an
Wirtschaftsgruppe Elektroindustrie vom 11.1.1944, Betreff: Rundfunkgeräte für kriegsblinde Soldaten
und durch Feindeinwirkung erblindete Volksgenossen.
1567 Vgl. BAB, Reichswirtschaftsministerium R 3101/11652, II 2/“–393/44, Reichswirtschaftsminister an Wirtschaftsgruppe Elektroindustrie vom 9.2.1944, Betreff: Rundfunkgeräte für Kriegsblinde.
217
zum Beispiel auch, dass die Kriegsblinden Hilfsmittel, die sie für ihre berufliche Tätigkeit
benötigten, wie zum Beispiel Schreibmaschinen oder Werkzeuge für Handwerker, erhielten.1568
Sobald ein erblindeter Soldat aus der „Ostmark“ in einem Reservelazarett unterkam,
wurde dies an das HVA in Wien gemeldet und die zuständigen Stellen über die zu erwartenden Versorgungsansprüche informiert. Die Betroffenen erhielten bis zu ihrer endgültigen
Entlassung aus der Wehrmacht eine Übergangsunterstützung.
Nach ihrer Entlassung aus der Wehrmacht sollten die Kriegsblinden in ihr ziviles
Leben zurückkehren und nach Wunsch des OKW möglichst bald ihre Uniform ablegen.1569
Kriegsblinde hatten daher Anspruch auf eine „Einkleidungshilfe“.1570 Da es kriegsbedingt zu
Versorgungsengpässen bei fast allen Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs kam, war
es den zuständigen Versorgungsämtern allerdings nicht immer möglich, die benötigten
Kleidungsstücke zu besorgen.1571
Aus überlieferten Anträgen und Bewilligungsschreiben in den Akten des HVA in Wien
geht darüber hinaus hervor, dass die Kriegsblinden für die Anschaffung notwendiger Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs, wie beispielsweise Möbel für die Gründung eines neuen
Hausstandes, einmalige, nicht rückzahlbare Unterstützungen ausbezahlt bekamen. Bei dem
Kriegsblinden Julius B. waren dies 1943 beispielsweise 1.000 RM.1572
Die zuständigen NS-Behörden waren außerdem dafür verantwortlich, den Kriegsblinden
gegebenenfalls geeignete Wohnungen zu beschaffen. Wie in den folgenden Kapiteln noch
ausgeführt wird, war dies durch die kriegsbedingte Wohnungsnot fallweise sehr schwierig.1573
Weiters zeigen die Dokumente des HVA in Wien, dass Kriegsblinde besondere Bezugsscheine für Kaffee und Rauchwaren erhielten.1574 Noch im Oktober 1944 wurde dieser Versorgungsanspruch vom Reichswirtschaftsministerium bestätigt. Kriegsblinde sollten weiterhin monatlich 70 Zigaretten, 18 Zigarren und 20 Gramm Rauchtabak über den NSKOV
erhalten, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Versorgungslage vom zuständigen Referenten
bereits als „verschärft“1575 bezeichnet wurde.1576
1568 Vgl. Kapitel III.5.
1569 Vgl. z. B. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend
Soziale Fürsorge Stefan M.
1570 BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Hauptfürsorgestelle
für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Tagesordnung und Niederschrift über die Tagung am 10.
und 11.11.1942 in Berlin, Betreff: Erblindete Soldaten, S. 6.
1571 Der am 8. März 1914 geborene Kärntner erblindete zu einem unbekannten Zeitpunkt auf Grund einer Minenexplosion in der Sowjetunion. Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Friedrich K.
1572 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Julius B.
1573 Vgl. Kapitel III.5.4, III.7.
1574 Vgl. Kapitel III.3.3.
1575 Vgl. BAB, Reichswirtschaftsministerium, R 3101/11890, RTK III A 9 d, Reichsbeauftragte für Tabak und
Kaffee an die Gruppenarbeitsgemeinschaft Tabak und Tabakwaren in der Reichsgruppe Handel vom
11.10.1944, Betreff. Tabakwarenzuteilung für Kriegsblinde.
1576 Vgl. BAB, Reichswirtschaftsministerium, R 3101/11890, RTK III A 9 d, Reichsbeauftragte für Tabak und
Kaffee an die Gruppenarbeitsgemeinschaft Tabak und Tabakwaren in der Reichsgruppe Handel vom
11.10.1944, Betreff. Tabakwarenzuteilung für Kriegsblinde.
218
Durch die hier geschilderten Beispiele und die vorangegangene Darstellung der Versorgungsansprüche von Kriegsblinden sollte veranschaulicht werden, dass die Versorgung
dieser Kriegsgeschädigten einen besonders hohen Stellenwert hatte. Die getroffenen Sonderregelungen für Kriegsblinde dienten aber in erster Linie ihrer beruflichen Integration:
Am Ende der Rekonvaleszenz wurde den Kriegsblinden ein Beruf zugewiesen, den sie auch
ausüben sollten, selbst wenn ihre körperliche Verfassung dies nur schwer zuließ.1577
1577 Vgl. Kapitel III.4.2, III.4.4, III.5.1, III.5.4, III.5.6.
219
3.Die Organisation der Kriegsblinden
3.1 Die Vereinigungen von Kriegsblinden bis 1938
Nach Ende des Ersten Weltkrieges gründeten erblindete ehemalige Soldaten in Wien im
Mai 1919 eine eigene Selbsthilfegruppe, den „Kriegsblindenverband“. Damit waren die
Kriegsblinden zu diesem Zeitpunkt die einzige Gruppe von Kriegsopfern, die sich zu
einem eigenen Verband zusammengeschlossen hatten.1578 Dieser Kriegsblindenverband
blieb bis 1934 bestehen. 1932 kam es allerdings zu einer Abspaltung. Einige Kriegsblinde
verließen den Kriegsblindenverband und schlossen sich zum „Bund der österreichischen Kriegsblinden“1579 als Sektion des christlich-sozialen Reichsbundes für Kriegsopfer
zusammen.1580 Im autoritären „Ständestaat“ wurde der „Kriegsblindenverband“1581 und
der „Bund der österreichischen Kriegsblinden“ 1934 in den „Österreichischen Kriegsopferverband“ und in weiterer Folge 1936 durch das „Kriegsopferverbandsgesetz“1582 dem
staatlich gelenkten „Einheitsverband der Kriegsopfer Österreichs“1583 eingegliedert.1584
In Deutschland hatte bis 1933 der 1916 gegründete „Bund erblindeter Krieger“ als
unabhängige Kriegsblindenorganisation bestanden. 1921 zählte der Bund 2.521 Mitglieder. Insgesamt gingen die Behörden damals von 2.547 Kriegsblinden aus, die Organisationsquote des „Bundes erblindeter Krieger“ betrug demnach 99 Prozent.1585 1933 wurde
diese Vereinigung zunächst zur „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“1586 in der „Nationalsozialistischen Kriegsopferorganisation e. V.“ (NSKOV). In dieser Abteilung wurden
nach dem „Anschluss“ auch die Kriegsblinden der „Ostmark“ organisiert. Ferdinand
Ehmann übernahm 1938 die Leitung der Landesgruppe „Ostmark“ der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“. Ehmann hatte im Ersten Weltkrieg sein Augenlicht und
1578 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 159.
1579 Im Register des WStLA gibt es einen Akt zu diesem Verein. Eine Bestellung dieser Unterlagen ist allerdings fehlgeschlagen, da der Akt nicht gefunden werden konnte. Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl.
6678/32, Bund der österreichischen Kriegsblinden.
1580 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 79; Hoffmann, Kriegsblinde, S. 164.
1581 Der Historiker Otto Jähnl nannte sein Kapitel über den Zeitraum von 1934 bis 1945, in dem der Kriegsblindenverband nicht als eigenständige Organisation bestanden hat, „Intermezzo“. Auch wenn der
„Kriegsblindenverband“ vereinsrechtlich in dieser Zeit tatsächlich nicht bestand, gab es aber sehr wohl
personelle Kontinuitäten, wie das im Folgenden geschilderte Beispiel von Ferdinand Ehmann aufzeigen
wird. Die Kriegsblindenorganisation von 1934 bis 1945 war allerdings nicht Teil Jähnls wissenschaftlicher
Fragestellung. Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 109.
1582 Vgl. [Ö] BGBl., Nr. 79/1936, Bundesgesetz betreffend die Amtsdauer der Organe der Vereine der Kriegsinvaliden und Kriegshinterbliebenen (Kriegsopferverbandsgesetz) vom 12. März 1936.
1583 Karrer, Geschichte der Kriegsopferorganisation, S. 37–40, hier S. 38–39.
1584 Vgl. Karrer, Geschichte der Kriegsopferorganisation, S. 37–40, hier S. 38–39; Menzel, Ein Rückblick, S. 69–
70. [Menzel arbeitete ab 1920 im Sekretariat des Kriegsblindenverbandes und war auch für die NSKOVFachabteilung für Kriegsblinde tätig.]
1585 Vgl. Gerber, Disabled Veterans, pp. 899–916, hier p. 904.
1586 1940 erfolgte die endgültige Auflösung des Bundes und die damit verbundene Umbenennung in
NSKOV„Fachabteilung erblindeter Krieger“. Bei Aussagen, die sich dieser Organisation zeitlich nicht zuordnen lassen, sondern sich auf den gesamten, in dieser Studie relevanten Zeitraum von 1938 bis 1945
beziehen, wird die Bezeichnung „Fachabteilung erblindeter Krieger“ verwendet. Der „Bund erblindeter
Krieger“ hatte allerdings bereits mit seinem Anschluss an die NSKOV seine Selbständigkeit verloren, bevor Ende 1940 die endgültige Auflösung erfolgte. Vgl. Kapitel III.3.3, III.3.4, III.3.5, III.3.6.
220
beide Hände verloren und war schon in der Wiener Landesgruppe des österreichischen
Kriegsblindenverbandes aktiv gewesen, in welcher Funktion und in welchem Zeitraum
ist nicht bekannt.1587
3.2 Aufbau und Ziele der NSKOV e. V.
Im September 1930 richtete die NSDAP in Deutschland unter der Leitung von Hanns Oberlindober ein Referat für Kriegsopferversorgung ein,1588 woraus sich die NSKOV entwickelte.
Zu diesem Zeitpunkt war das Kriegsopfervereinswesen in Deutschland stark zersplittert.1589
Unter dem NS-Regime sollten die vielen einzelnen Gruppierungen in einer Zentralorganisation zusammengefasst werden. Dieser Prozess war im Juli 1933 weitgehend abgeschlossen
und die NSKOV galt als offizielle Vereinigung aller deutschen Kriegsopfer.1590 Die NSKOV
gehörte zu den der NSDAP angeschlossenen Verbänden1591 und unterstand dem „Hauptamt für Kriegsopfer“. Nach dem „Organisationshandbuch der NSDAP“1592 von 1943 waren
als Mitglieder alle Kriegsopfer und deren Angehörige sowie Mitglieder der Polizei, SA,
SS, Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK), des RAD und der NSDAP, die auf
Grund des so genannten „Kampf[es] um die nationale Erhebung“ invalide geworden waren,
zugelassen.1593 Darüber hinaus mussten sie „deutscher Abstammung“ sowie „im Besitz der
bürgerlichen Ehrenrechte“ sein, sich zum „Staate Adolf Hitlers“ bekennen und einen „[u]
nbescholtenen [sic!] Lebenswandel“ führen.1594 Die Beauftragten der NSKOV wurden 1934
per Gesetz bevollmächtigt, Kriegsopfer bei den Versorgungsbehörden und Gerichten vertreten zu können.1595 Die Integration der Kriegsopfer in die Arbeitswelt und die Schaffung
von Wohnraum für NSKOV-Mitglieder zählten zu den offiziellen Hauptaufgaben dieser
NS-Organisation.1596 Die NSKOV verstand sich als „Frontkämpfergemeinschaft“1597, war
aber keinesfalls eine reine Interessenvertretung, sondern erfüllte in erster Linie politische
Aufgaben: „As with the most NSDAP affiliates the main purposes of the NSKOV were social
control and propaganda.“1598
1587 Vgl. Hirsch, Die Kriegsblinden in der Zentralorganisation, S. 109. Die Mitteilungen der Kriegsblindenvereinigung wurden als eigene Beilage zu jeder Ausgabe der Zeitschrift „Österreichs Kriegsopfer“ beigelegt.
Per Fernleihe konnte der betreffende Beitrag allerdings nicht bestellt werden, weil in der Universität
1588 Vgl. Diehl, Disabled Veterans, pp. 705–736, hier p. 706.
1589 Vgl. Diehl, Disabled Veterans, pp. 705–736, hier p. 709.
1590 Vgl. Diehl, Disabled Veterans, pp. 705–736, hier p. 711.
1591 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 239.
1592 Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch.
1593 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 239.
1594 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 239.
1595 Vgl. [D] RBGl., Teil I, Fünftes Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen, S. 544–547; Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 240.
1596 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 240.
1597 Schmalfuß, An unsere Leser, S. 1. [Schmalfuß war von 1926 bis 1945 Schriftleiter der Zeitschrift „Der
Kriegsblinde“.]
1598 Diehl, Disabled Veterans, pp. 705–736, hier p. 728; Vgl. auch Diehl, The Thanks of the Fatherland, p. 46;
Vgl. weiterführend: Zeck, Erziehung zu soldatischem Geist, S. 193–195, hier S. 193; Karrer, Geschichte der
Kriegsopferorganisation, S. 37–40, hier S. 39.
221
3.3 Entstehung und Entwicklung der NSKOV
„Fachabteilung erblindeter Krieger“
Im Juli 1933 wurde der „Bund erblindeter Krieger“ zu einer Abteilung der NSKOV.1599 Im
Gegensatz zu anderen Kriegsopferorganisationen behielt diese Organisation zunächst formal ihre Selbständigkeit.1600 Erst 1940 löste sich der Bund endgültig auf.1601 Die eigene Abteilung für Kriegsblinde blieb bestehen, sie wurde aber in „Fachabteilung erblindeter Krieger“
umbenannt, um die Auflösung des „Bundes erblindeter Krieger“ auch nach außen hin zu
demonstrieren. Die Fachabteilung unterstand der „Betreuungsabteilung“1602 der NSKOV.1603
Die Kriegsblinden und die „Hirnverletzten“ waren die einzigen Gruppen von Kriegsopfern,
für die in der NSKOV Spezialabteilungen zuständig waren. Ein Grund dafür war, dass die
Rehabilitation von „hirnverletzten“ und kriegsblinden Soldaten als besonders aufwendig
galt und daher die NSKOV ein behindertenspezifisches Angebot zur besseren Integration
dieser Kriegsopfer in die Arbeitswelt als notwendig erachtete.
Es gab allerdings Kriegsblinde, die in die Zuständigkeit beider Spezialabteilungen fielen,
da einige Soldaten auf Grund einer schwerwiegenden Kopfverletzung erblindet waren und
eine Sehbehinderung auch die Folge einer dauerhaften Hirnschädigung sein konnte.1604 In
den Akten eines Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges, Heinrich H., für den das Versorgungsamt Linz zuständig war, befindet sich etwa ein ausgefüllter Fragebogen der „NSKOV
Gruppe hirnverletzter Krieger“1605 vom Juli 1939.1606
Von 1929 bis 1936 fungierte Peter Plein als Vorsitzender des „Bundes erblindeter Krieger“ und der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“.1607 Wie die führenden
Funktionäre der Zivilblindenorganisationen verhielt er sich nach der Machtübertragung
an Hitler dem neuen Regime gegenüber loyal.1608 1933, noch vor dem Erlass der „Nürnberger Rassengesetze“ 1934, führte der „Bund erblindeter Krieger“ den „Arierparagraphen“
ein und schloss bis Dezember des gleichen Jahres 17 Mitglieder wegen ihrer jüdischen
Herkunft aus.1609 Die NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ betrieb einen
extremen Führerkult und verbreitete über die monatlich erscheinende Zeitschrift „Der
1599 Vgl. o. A., Bund erblindeter Krieger e. V., S. 146–147, hier S. 146; Schmalfuß, An unsere Leser, S. 1.
1600 Vgl. o. A., Bund erblindeter Krieger e. V., S. 146–147, hier S. 146.
1601 In einem historischen Abriss gibt der „Bund der Kriegsblinden Deutschlands“, der sich offiziell als Nachfolgeorganisation des „Bundes erblindeter Krieger“ ansieht, an, zwischen 1933 und 1945 weiterhin eigenständig gewesen zu sein. Vgl. o. A., Geschichte des BKD, <http://www.kriegsblindenbund.de/geschichte.
htm>, Download am 9.2.2009.
1602 Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 242.
1603 Vgl. Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 338; Schöffler, Hohe Begräbniskosten, S. 121–
122, hier S. 121.
1604 Vgl. Kapitel III.1.2.2, III.1.3.
1605 Nach 1939 wurde diese Gruppe, die ihren Sitz in München hatte, offenbar in „Fachabteilung hirnverletzter
Krieger“ umbenannt.
1606 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Heinrich H., Fragebogen NSKOV Gruppe hirnverletzter Krieger vom 3.7.1939.
1607 Peter Plein war Vorsitzender des „Bundes erblindeter Krieger“ von 1929–36 und von 1949–52 der Nachfolgeorganisation Bund der Kriegsblinden Deutschlands. Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 219–220;
o. A., Geschichte des BKD.
1608 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 193.
1609 Wie das NS-Regime mit jüdischen Kriegsblinden umging, wird in einem eigenen Kapitel behandelt. Vgl.
Kapitel IV.3.3; Richter, Blindheit und Eugenik, S. 16–34, hier S. 21; Pielasch, Jaedicke, Geschichte des
222
Kriegsblinde“ die NS-Propaganda, wie beispielsweise Hetzkampagnen gegen Menschen
jüdischer Herkunft.1610
Peter Plein wurde 1936 von der NSKOV zum Rücktritt gezwungen, da er die Selbständigkeit des „Bundes erblindeter Krieger“ innerhalb der NSKOV erhalten wollte.1611 Bis 1940
fungierte dann August Martens als Bundesobmann.1612 Im Zuge der endgültigen Auflösung
des Vereines übernahm Josef Friedel aus Würzburg 1941 seine Funktion.1613
Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges begann die Wehrmacht, die NSKOV
„Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ in die Versorgung der erblindeten Soldaten mit
einzubeziehen.1614 Wie im vorherigen Kapitel beschrieben, setzte das OKW Vertreter dieser
NSKOV-Spezialabteilung zur Rehabilitation erblindeter Soldaten in Reservelazaretten ein.
Sie nahmen an den so genannten „Berufsberatungen“1615 teil, vertraten die Kriegsblinden in
sozialrechtlichen Angelegenheiten und sollten durch persönliche Besuche vor allem dazu
beitragen, den psychischen Zustand der Betroffenen zu verbessern.1616
Seinen Geschäftssitz hatte die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ im „AdolfHitler-Kriegsblindenhaus“ in Berlin, Wilhelmshöhe. 1934 steuerte Adolf Hitler zur Errichtung 50.000 RM bei und gab auch die Genehmigung zur Verwendung seines Namens
für das Haus.1617 Im Kriegsblindenhaus befanden sich die Geschäftsstelle der NSKOVSpezialabteilung, die „Deutsche Kriegsblindenstiftung“1618, eine Bücherei, die Räumlichkeiten der „Deutschen-Kriegsblinden-Arbeitsfürsorge“1619 und vier Doppelzimmer, in denen
Mitglieder übernachten konnten.1620 Aus den Mitteln der Kriegsblindenstiftung finanzierte die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ beispielsweise Tastuhren, die die
Organisation im Zweiten Weltkrieg jedem erblindeten Soldaten überreichte. Auch für
die Benutzung durch blinde Menschen speziell adaptierte Gesellschaftsspiele verteilte die
NSKOV aus diesen Mitteln an Betroffene.1621 Darüber hinaus zahlte die Stiftung Beihilfen
und Darlehen aus, beispielsweise bei Eheschließungen,1622 und finanzierte Erholungsaufenthalte.1623 Die Gelder der „Kriegsblindenstiftung“ stammten aus Spendensammlungen,
die nach dem Sammlungsgesetz vom 5. November 1934 genehmigungspflichtig waren.
Blindenwesens, S. 162; Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 206–209; Bab, Leben und Tod des deutschen
Judentums, S. 105.
1610 Vgl. Kapitel III.3.5.1; Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 193.
1611 Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesen, S. 162.
1612 Vgl. o. A., Bund erblindeter Krieger, S. 146–147; Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 220.
1613 Nach dem Ende des Krieges übernahm Friedel zwischen 1967 bis 1971 die Funktion des Vorsitzenden
des Landesverbandes Bayern des „Bundes der deutschen Kriegsblinden“ Vgl. Fincke, Kriegsblinde in der
DDR, S. 220–221.
1614 Vgl. Schmalfuß, Mit vereinten Kräften, S. 73–79, hier S. 74.
1615 Vgl. Kapitel III.4.1, III.4.2.2, III.5.
1616 Vgl. Kapitel III.2.3.
1617 Als Zentrum des deutschen Kriegsblindenwesens wurde dieses Gebäude, in Anlehnung an den Sitz der
NSDAP-Reichsleitung in München, auch als „das braune Haus auf der Wilhelmshöhe“ bezeichnet, Vgl.
Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 214.
1618 Claessens, Von der Deutschen Kriegsblindenstiftung, S. 69–70.
1619 Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 215.
1620 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 215.
1621 Vgl. Klingel, Erholungsheim zum Mittelpunkt, S. 65–66, hier S. 65.
1622 Vgl. Kapitel III.7.
1623 Vgl. Jantzen, Die Tätigkeit der Deutschen Kriegsblindenstiftung für 1937, S. 204; Kapitel III.6.
223
Hierbei galten die gleichen Bestimmungen wie für die Organisationen der Zivilblinden.1624 Nach dem „Anschluss“ wollte diese Stiftung ihre Spendenwerbung auch auf die
„Ostmark“ ausweiten. Im „Altreich“ war ihr per Erlass vom 11. April 1939 der Postversand von bis zu 100.000 Spendenschreiben an Personen, die diese Organisation schon in
früheren Jahren unterstützt hatten, bereits genehmigt worden. Am 20. Mai 1939 erteilte
der „Reichsminister des Inneren“ dann die Bewilligung, diese Sammlungstätigkeit auch
auf die „Ostmark“ auszudehnen.1625 Während die zugelassenen Vereine für Zivilblinde,
der DBV und der RBV, nur in eingeschränktem Maße nach dem „Anschluss“ in der „Ostmark“ Spendenmittel lukrieren konnten, erfuhr die Kriegsblindenstiftung der NSKOV
hier eine wesentlich günstigere Behandlung.1626
Die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ und ihre Einrichtungen blieben bis
1943 in Berlin. Im Laufe dieses Jahres übersiedelte die Geschäftsstelle wegen der Luftangriffe
nach Braunlage im Harz. Dort besaß die NSKOV-Spezialabteilung für Kriegsblinde das
„Paul Silex Heim“.1627 Die Geschäftsstelle der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“
in Berlin wurde 1944 durch Bombentreffer zerstört.1628
Das ehemalige Erholungsheim in Braunlage diente gegen Kriegsende allerdings nicht
nur als Sitz der Geschäftsstelle: In zwei Werkstatträumen und einem Schulzimmer, die provisorisch eingerichtet worden waren,1629 erhielten Kriegsblinde, die ohne eine entsprechende
Schulung aus der Wehrmacht entlassen worden waren,1630 und im Krieg erblindete Zivilpersonen eine Berufsausbildung. Außerdem kam in Braunlage auch die Zentralstelle der
„Deutschen Kriegsblinden-Arbeitsgemeinschaft“ unter, die kriegsblinden HandwerkerInnen
Arbeitsaufträge erteilte und Rohstoffe besorgte.1631 Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges
besaß diese Organisation auch eine Zweigstelle in Wien.1632
Durch die Zerstörung der Geschäftsstelle in Berlin musste die Bücherei der NSKOV
„Fachabteilung erblindeter Krieger“ nach Braunlage verlegt werden. Die Kriegsblinden, die
Bücher ausgeliehen hatten, sollten diese dorthin schicken und wurden noch im Herbst 1944
zu Spenden aufgerufen, um einen neuen Bücherbestand aufbauen zu können.1633
1624 Vgl. Kapitel II.3.8.
1625 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 197, Zl. 4351/18, GZ VW II 9 u. 10/39-9164, Reichsminister des Inneren an die Deutsche Kriegsblindenstiftung vom 20.5.1939, Betreff: Antrag vom 21.4.1939; Jantzen, Ludwig,
Bundestag 1939, S. 145–151, hier S. 148. Mit den gesammelten Geldern in den „Alpen- und Donaureichsgauen“ sollte unter anderem die Renovierung des „ostmärkischen“ Erholungsheimes für Kriegsblinde in
Eibischwald finanziert werden. Vgl. Kapitel III.6.
1626 Vgl. Kapitel II.3.8.
1627 Vgl. Klingel, Erholungsheim zum Mittelpunkt, S. 65–66, hier S. 65.
1628 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 217; Klingel, Erholungsheim zum Mittelpunkt, S. 65–66, hier S. 65.
1629 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 217; Klingel, Erholungsheim zum Mittelpunkt, S. 65–66, hier S. 65.
1630 Vgl. Kapitel III.4.2.4.
1631 Vgl. Kapitel III.5.2; Klingel, Erholungsheim zum Mittelpunkt, S. 65–66, hier S. 65.
1632 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Fritz H., HVA Wien an Reichsstatthalter in Sachsen, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte in Dresden vom 26.8.1944, Betreff: Kriegsblinder Fritz H. [Über weitere Geschäftsstellen ist nichts
bekannt.]
1633 Vgl. o. A., Auf- und Ausbau der Deutschen Kriegsblinden-Bücherei, S. 70.
224
3.4 Die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ in der „Ostmark“
Wie bereits eingangs erwähnt, gab es 1938 keinen selbständigen Kriegsblindenverband
in Österreich, sondern nur eine entsprechende Sektion des „ständestaatlich“ gelenkten
Einheitsverbandes der Kriegsopfer.1634 Ferdinand Ehmann wurde nach dem „Anschluss“
1938 zunächst kommissarisch zum Obmann des „Landesverbandes Ostmark“ der NSKOV
„Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ bestimmt, Rudolf Fuchs zu seinem Stellvertreter.1635 Sitz der Organisation wurde das Palais Esterhazy in Wien.1636
Dem „Landesverband Ostmark“ sollten sich möglichst alle Kriegsblinden der „Alpen- und
Donaureichsgaue“ anschließen. Nach eigenen Angaben traten 305 Kriegsblinde bei.1637 Dementsprechend wären in der „Ostmark“ ebenfalls nahezu alle Kriegsblinden von dieser NSKOVSpezialabteilung erfasst worden.1638 1939 gliederte sich die NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ in insgesamt 15 „Landesverbände“, die wiederum in 47 Bezirke unterteilt waren.
Die Landesgruppe „Ostmark“ verfügte in allen „Alpen- und Donaureichsgauen“ außer
in Wien über eine eigene Bezirksvertretung.1639 Wahrscheinlich ist, dass Ehmann für die
Kriegsblinden Wiens zuständig war. Als NSDAP-Mitglied war Ehmann wie seine Amtskollegen im „Altreich“ ein Anhänger des NS-Regimes.1640
Im Mai 1938 reiste Ehmann zusammen mit zehn anderen namentlich nicht genannten
Kriegsblinden aus der „Ostmark“1641 nach Berlin zu einem Treffen mit dem Vorsitzenden
der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“, August Martens. Unter anderem
besuchten sie das „Adolf-Hitler-Kriegsblindenhaus“. Anlass der Reise war die jährlich stattfindende „Reichskriegsopfertagung“ der NSKOV in Northeim.1642
Diese erste Zusammenkunft diente den Kriegsblinden der „Ostmark“ in erster
Linie zur ideologischen Schulung. Die Kriegsblinden der „Ostmark“ sollten sich nicht
nur mit den versorgungsrechtlichen Grundlagen und Aufgaben, sondern vor allem mit
dem „Leistungsprinzip“1643 der nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung vertraut
machen.1644
1634 Daneben existierte noch der 1916 gegründete „Verein Kriegsblindenheimstätten“, der mittellosen Kriegsblinden Wohnraum finanzierte, allerdings 1938 über kein nennenswertes Vereinsvermögen mehr verfügte. Der Stillhaltekommissar ordnete an ihn aufzulösen. Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 73–75 und
S. 177–180; Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 294; M. Abt. 119, A 32, Zl. 2891/22, AZ IV
Ad 38, Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände an die Polizeidirektion Wien vom
1.8.1938, Betreff: Kriegsblindenheimstätten.
1635 Vgl. Fuchs, Unser Führer in Wien, S. 132–134.
1636 Vgl. o. A., Fünfzig Jahre Schicksalsgemeinschaft der österreichischen Kriegsblinden, S. 7–20, hier S. 17.
1637 Vgl. Jantzen, Ludwig, Bundestag 1939, S. 145–151, hier S. 146.
1638 Am 1. Dezember 1938 lebten nach einer Angabe des Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit in Österreich noch 336 ehemalige Soldaten, die zusätzlich zu ihrer Invalidenrente den Blindenzuschuss erhielten.
Vgl. ÖSTA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 56, GZ. 551.087/Abt.1/1938 eingelegt in: Zl. 1944, Versorgung der
Kriegsopfer, Ministerium für Wirtschaft und Arbeit an den Reichskommissar für die Wiedervereinigung
Österreichs vom 19.7.1938, Betreff: Versorgung der österreichischen Kriegsopfer; Kapitel III.1.1.
1639 Vgl. o. A., Mitteilungen der Fachabteilung, S. 257–279, hier S. 278.
1640 Vgl. Ehmann, Ein österreichischer Kriegsblinder erlebt den Sieg, S. 129–132.
1641 Vgl. Schmalfuß, Northeim, S. 161–163.
1642 Vgl. Ehmann, Die österreichischen Kriegsblinden bei der Reichsarbeitstagung, S. 163–165, hier S. 164.
1643 Ehmann, Die österreichischen Kriegsblinden bei der Reichsarbeitstagung, S. 163–165, hier S. 164; Vgl.
Diehl, The Thanks of the Fatherland, p. 45.
1644 Vgl. Ehmann, Die österreichischen Kriegsblinden bei der Reichsarbeitstagung, S. 163–165.
225
Vom 21. bis 24. Jänner 1939 fand dann eine umfangreichere Schulung für alle Funktionäre des „Landesverbandes Ostmark“ in den Räumen der Handelskammer am Stubenring in Wien statt. Zu diesem Zweck reisten Vertreter der NSKOV „Fachabteilung Bund
erblindeter Krieger“ aus dem „Altreich“, unter anderem der Vorsitzende Martens, sein
Stellvertreter Friedel und Schmalfuß, der Schriftleiter der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“,
nach Wien.1645
Abb. 11: Teilnehmer
der NSKOVSchulung für
Kriegsblinde im
Januar 1939 in
Wien.
Im Rahmen dieser Veranstaltung fand auch ein so genannter „Appell“ statt, wozu die
Kriegsblinden aus Wien, „Oberdonau“ und „Niederdonau“ mit Betroffenen aus dem
Sudetenland „antraten“.1646 Die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ verwendete
durchgängig diese militärische Sprache, um bei den Mitgliedern das Selbstverständnis als
ehemalige Soldaten zu fördern. Die Durchführung solcher Versammlungen und abendlichen Zusammenkünfte, die teilweise monatlich stattfanden, gehörten zu den wichtigsten
Aufgaben der Bezirksorganisationen.1647 An derartigen Treffen nahmen auch regelmäßig
hochrangige Vertreter der NSDAP, der NS-Verwaltung sowie der Wehrmacht teil, wodurch
den Kriegsblinden vermittelt werden sollte, die Kriegsopfer lägen dem NS-Regime „besonders am Herzen“.1648 Zur Weihnachtsfeier des „Landesverbandes Ostmark“ am 13. Dezember 1939 in Wien kamen beispielsweise Gauleiter Josef Bürckel und SS-Oberführer Karl
Scharizer sowie mehrere namentlich nicht genannte Offiziere der Wehrmacht.1649 Auf
der Weihnachtsfeier 1940 hielten unter anderem der Reichsstatthalter in Wien Baldur
von Schirach sowie der Gauleiter von „Niederdonau“ Hugo Jury Ansprachen.1650 Darüber hinaus wurden diese Zusammenkünfte zur „politischen Ausrichtung“1651 genutzt.
Beim „Jahresappell“ der „Gaufachabteilungen“ Tirol, Salzburg und „Oberdonau“ hielt
1645 Vgl. Fr[iedel], Die Kameraden der Ostmark traten an, S. 71–73, hier S. 71.
1646 Vgl. Fr[iedel], Die Kameraden der Ostmark traten an, S. 71–73, hier S. 72.
1647 Vgl. o. A., Bund erblindeter Krieger, S. 146–147, hier S. 146.
1648 Hitler, Gauleiter bei Kriegsblinden, S. 4; o. A., Gauleiter der Ostmark vor Kriegsblinden, S. 73–74.
1649 Vgl. B., Aus dem Bundesleben. Landesverband Ostmark, S. 31.
1650 Vgl. o. A., Weihnachtsfeier in Wien, S. 18–19, hier S. 18.
1651 Huber, Aus dem Kameradenkreis, S. 109; Weghofer, Ein Stimmungsbild, S. 104–105, hier S. 104.
226
Ehmann zu diesem Zweck einen Vortrag über den „Opferbegriff als Nationalsozialist und
Kriegsblinder“.1652 Außerdem demonstrierten solche Veranstaltungen, an denen Vertreter der NSDAP und des Militärs teilnahmen, die vermeintliche Einheit von „Partei und
Wehrmacht“.1653
Die Funktionäre der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ in den „Alpen- und
Donaureichsgauen“ waren außerdem dazu angehalten, Kriegsblinde, die auf dem Land
wohnten, regelmäßig persönlich zu besuchen.1654
Gegen Ende des Krieges konnte die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ in
den „Alpen- und Donaureichsgauen“ ihre Tätigkeit kaum mehr ausüben. Bereits am
Sonntag, den 10. September 1944, wurde ihr Sitz in Wien durch einen Bombentreffer
zerstört.1655 Im April 1945 begannen einige Kriegsblinde die Grundlagen für eine neue
Selbsthilfeorganisation zu legen. Hans Hirsch, der als einziger Kriegsblinder, der nach
den „Nürnberger Rassengesetzen“ als Jude galt, die Zeit der NS-Diktatur in Wien überlebt hatte und den Kriegsblindenverband nach dem Ersten Weltkrieg mit aufgebaut und
bis 1934 geleitet hatte, verfasste am 5. Mai 1945 den ersten Rundbrief an die Betroffen
in Wien mit der Bitte, sich zu einer neuen Vereinigung zusammenzuschließen.1656 Auf
die Person Hans Hirsch wird u. a. im Kapitel IV.3.3.4 sowie in Kapitel III.10.2 näher
eingegangen.
3.5 Die Propagandatätigkeit der NSKOV
„Fachabteilung erblindeter Krieger“
3.5.1 Die Zeitschrift „Der Kriegsblinde“
Das wichtigste Medium der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ war die Monatsschrift „Der Kriegsblinde“.1657 Im Lauf des Krieges verringerte sich allerdings der Umfang
der Zeitschrift und ab 1942 kamen nur mehr Doppelnummern heraus.1658 Mit 31. Dezember
1944 gab der NSKOV im Editorial bekannt, die Zeitschrift endgültig für die Dauer des
Krieges einzustellen.1659
1652 Vgl. Huber, Aus dem Kameradenkreis, S. 109.
1653 Vgl. Diehl, The Thanks of the Fatherland, p. 49.
1654 Vgl. o. A., Bund erblindeter Krieger, S. 146–147, hier S. 146; Fr[iedel], Die Kameraden der Ostmark traten
an, S. 71–73, hier S. 71; Jantzen, Ludwig, Bundestag 1939, S. 145–151, hier S. 147.
1655 Vgl. o. A., Fünfzig Jahre Schicksalsgemeinschaft der österreichischen Kriegsblinden, S. 7–20, hier S. 17.
1656 Vgl. Kapitel IV.3.3.4, IV.7; Jähnl, Kriegsblinden, S. 117, 129; Alois Poisel, Festansprache, S. 19–23, hier
S. 20.
1657 Ab 1934 erschien diese mit dem Zusatztitel „Zeitschrift der Deutschen National-Sozialistischen Kriegsopferversorgung e. V. Fachabteilung Bund erblindeter Krieger e. V.“. Als 1940 der „Bund erblindeter Krieger“
endgültig aufgelöst wurde, änderte sich damit auch die Titelseite: Die Zeitschrift bekam 1941 den Titel
„Deutsche Kriegsopferversorgung. Fachblatt: Der Kriegsblinde“ und als Herausgeber fungierte der „Reichskriegsopferführer“ Hanns Oberlindober. Der Vorsitzende der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“
wurde nicht mehr wie in früheren Ausgaben auf dem Titelblatt genannt.
1658 In den Jahren davor erschien nur in den Sommermonaten jeweils eine Doppelnummer pro Jahr.
1659 Vgl. o. A., An unsere Leser, in: Der Kriegsblinde, Nr. 11/12, Jg. 28 (1944), S. 73.
227
Zur Zielgruppe des Mediums zählten nach eigenen Angaben in erster Linie Kriegsblinde.1660 1940 erreichte „Der Kriegsblinde“ eine Auflage von 5.600 Stück.1661 Die Stückzahl war damit doppelt so hoch wie die der Zeitschrift „Die Blindenwelt“ des RBV.
Diese erschien 1941 mit einer Auflage von 2.450 Stück,1662 obwohl im „Deutschen Reich“
wesentlich mehr Zivilblinde lebten. Die Kriegsblinden machten 1940 nur etwa zehn
Prozent der Gesamtzahl der blinden Menschen aus.1663 Ein weiterer Unterschied zur
RBV-Zeitschrift war, dass „Der Kriegsblinde“ zwar ein Medium für blinde Menschen war,
aber trotzdem nicht in Punktschrift erschien. Es gab nur eine Schwarzschriftausgabe.
Auf einer Arbeitstagung der „Gebiets- und Gaufachleiter“ der NSKOV „Fachabteilung
erblindeter Krieger“ im Jahr 1941 wurde zwar die zusätzliche Herausgabe in Brailleschrift angedacht, „ein offenkundiges Bedürfnis“ der Kriegsblinden konnte aber nicht
nachgewiesen werden.1664 Die NS-Herausgeber gingen davon aus, dass die erblindeten
Soldaten genügend Möglichkeiten hätten, sich die Beiträge vorlesen zu lassen. Viele
Kriegsblinde beherrschten ferner die Punktschrift nur rudimentär. Die Ausbildung der
Kriegsblinden im Lesen der Brailleschrift hatte sowohl nach dem Ersten als auch nach
dem Zweiten Weltkrieg nur wenige Monate betragen und den Betroffenen große Schwierigkeiten bereitet.1665
Die Information über sozialrechtliche Angelegenheiten spielte in der Zeitschrift „Der
Kriegsblinde“ nur eine untergeordnete Rollte. Die meisten Berichte waren Teil der NSPropaganda.1666 Charakteristisch war außerdem die Verwendung von militärischen Ausdrücken.1667 Kriegsblinde, die in der NSKOV „Fachabteilung für erblindete Krieger“ tätig
waren, wurden dementsprechend auch als „politische Soldaten des Führers“1668 bezeichnet.
Viele Beiträge waren antisemitisch. Ab 1934 begann in der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“
eine „systematische Diffamierungs- und Hetzkampagne“1669 gegen Menschen, die nach den
„Nürnberger Rassengesetzen“ als Jüdinnen und Juden galten. Auffallend häufig erschienen
1939 antijüdische Artikel zu Überschriften wie „Eine alte Schuld muß beglichen werden. Die
Sünden der Juden am deutschen Volk“1670 oder „Wie ich Judengegner wurde“.1671
Außerdem erschienen Beiträge, die das Selbstwertgefühl der Betroffenen ansprachen.
Kriegsblinde sollten sich als eine eigene, separate Gruppe von blinden Menschen begreifen.
In diesem Zusammenhang wurde auch die NS-Argumentation zur Rassenhygiene widerlegt, die alle Menschen mit einer Behinderung als „minderwertig“ stigmatisierte.1672 Der
NS-Ideologie entsprechend wurden Kriegserblindungen daher moralisch höher bewertet
als zivile Erblindungsursachen.1673
1660 Vgl. Schmalfuß, Fachzeitschrift, S.65–68, hier S. 66.
1661 Vgl. Schmalfuß, Fachzeitschrift, S.65–68, hier S. 66.
1662 Vgl. Kapitel II.3.4.1.
1663 Vgl. Schmalfuß, Fachzeitschrift, S. 65–68, hier S. 67.
1664 Vgl. Schmalfuß, Kriegs-Arbeitstagung Söcking, S. 65–68, hier S. 68.
1665 Vgl. Kapitel III.4.2.1; Hoffmann, Kriegsblinde, S. 82–83.
1666 Vgl. Schmalfuß, Fachzeitschrift, S. 65–68, hier S. 67.
1667 Vgl. Zeck, Erziehung zu soldatischem Geist, S. 193–195; Huber, Soldatentum der Kriegsblinden, S. 17–18.
1668 Haule, Unsere Freizeitgestaltung, S. 84–85, hier S. 84.
1669 Richter, Blindheit und Eugenik, S. 82.
1670 O. A., Eine alte Schuld muß beglichen werden, S. 15–16.
1671 Mettel, Wie ich Judengegner wurde, S. 16 [Abdruck aus „Der Stürmer“].
1672 Vgl. Kapitel II.8.2.6; Schmalfuß, Reichsarbeitstagung der NSKOV, S. 195–199, hier S. 197.
1673 Vgl. Schmalfuß, Reichsarbeitstagung der NSKOV, S. 195–199, hier S. 198.
228
Aus heutiger Sicht absurd erscheinen publizierte Beiträge über angebliche Heldentaten
von blinden Menschen, die die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ offenbar platzierte, um den Kriegsblinden das Gefühl zu geben, auch als Menschen mit einer Beeinträchtigung „leistungsfähig“ zu sein. 1939 erschien beispielsweise ein Bericht über einen blinden
Vater, der sich angeblich mit seinen 32 [sic!] blinden Söhnen aus Sorrento (Italien) an der
gewaltsamen Machtübernahme von Benito Mussolini beteiligt haben soll. Dieser Artikel
beschrieb, wie die blinden Männer die so genannten „Freiheitskämpfer“ um die „nationale
Einigung“ Italiens nachts, durch unwegsame Sümpfe geführt hatten, was nur ihnen auf
Grund ihrer durch die Blindheit geschulten Orientierungsfähigkeit möglich gewesen sei.1674
In der vorhergehenden Ausgabe wurde von einem ehemaligen Frontsoldatem des Ersten
Weltkrieges berichtet, dem wegen eines vor kurzem entdeckten Minensplitters ein Auge
entfernt werden musste. Die Hornhaut des Auges wurde einem zehnjährigen Jungen in der
Universitätsklinik Tübingen eingesetzt, der daraufhin wieder sehen konnte.1675
Die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ schreckte außerdem nicht davor
zurück, über angebliche medizinische Forschungsergebnisse zu berichten, die den Kriegsblinden Hoffnungen machten, eines Tages wieder sehen zu können.1676 Dieser Aspekt war
allerdings von besonderer Tragik für die Betroffenen, da aus damaliger medizinischer Sicht
eine Wiedererlangung des Sehvermögens in den allermeisten Fällen unmöglich war. Die
Aussicht, wieder sehen zu können, behinderte zudem die Rehabilitation der Betroffenen.
Franz Schubert, Lehrer im „Blindensammellazarett“ kritisierte 1943 dezidiert die ÄrztIn­nen
in den Lazaretten, die die erblindeten Soldaten nicht über das Ausmaß ihrer irreversiblen
Augenverletzung informierten, weshalb die Betroffenen ihre Blindheit nur als vorübergehend einschätzten. Viele erblindete Soldaten sahen daher keinen Sinn darin, in einem
Reservelazarett für Kriegsblinde die Blindenschrift und andere für blinde Menschen zur
Alltagsbewältigung notwendige Fertigkeiten zu lernen.1677 Dieses Beispiel zeigt, was charakteristisch für die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ war: Sie war keine Interessenvertretung von Kriegsveteranen, sondern die NSKOV und ihre Abteilungen dienten in
erster Linie der Verbreitung der NS-Propaganda und der Umsetzung der NS-Ideologie.1678
3.5.2 Die Rolle von Kriegsblinden in der NS-Propaganda
Die Propagandawirksamkeit von Kriegsblinden in der Öffentlichkeit spielte beim Umgang
des NS-Regimes mit ihnen eine besondere Rolle. Der NS-Staat setzte die erblindeten Kriegsopfer gezielt für die Verbreitung seiner Anliegen, beispielsweise zur Militarisierung der
Gesellschaft im Zuge der Wiederaufrüstung, ein.1679 Kriegsblinde nahmen auch bei Paraden
auf Ehrenplätzen teil.1680 1935 veranstaltete der NSKOV vom 2. bis 16. Juni in Stuttgart eine
1674 Vgl. o. A., Blinder Vater mit 32 blinden Söhnen, S. 58.
1675 Vgl. o. A., Ein totes Auge macht einen Blinden sehend, S. 10–11.
1676 Vgl. u. a.: o. A., Durch Hornhaut-Überpflanzung wieder sehend, S. 300; Kirst, Sehprothese, S. 35–36; o. A.,
Forschungsarbeit für Sehprothesen, S. 79.
1677 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 1–10, hier S. 3.
1678 Vgl. Diehl, The Thanks of the Fatherland, p. 49.
1679 Vgl. Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 328; Poore, Disability in Twentieth Century,
p. 72.
1680 Vgl. Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 329.
229
Ausstellung unter dem Titel „3000 deutsche Kriegsblinde – ihr Schicksal und Schaffen“.1681
Auf dem Titelblatt der Broschüre zur Ausstellung war ein heroisch dargestellter Soldat mit
verbundenen Augen unter dem Hakenkreuz zu sehen.
Abb. 12: Titelbild der Broschüre zur
„Kriegsblinden­ausstellung“ 1935
in Stuttgart.
Bei diesen Veranstaltungen wurden insbesondere die beruflichen Leistungen der Kriegsblinden inszeniert. Sie wurden zu einem Symbol für die Stärke deutscher Soldaten hochstilisiert, die bereitwillig ihr Augenlicht für das „Vaterland“ „geopfert“ hätten. Der Kult um
Kriegsblindheit und andere „Kriegshelden“ war charakteristisch für das NS-Regime und
sollte motivieren: „Die geistige Mobilmachung der Nation, insbesondere der männlichen
Jugend war das vordingliche Ziel“ dieser „Heldenverehrung“.1682
Auch in der „Ostmark“ wurden Kriegsblinde zu Propagandazwecken eingesetzt. Die
NSDAP nahm beispielsweise Ferdinand Ehmann 1941 in den Rednerstab des Gaues Wien
auf und setzte ihn auf Massenveranstaltungen ein.1683 1943 bestellte die NSDAP Othmar
Huber, leitender Funktionär der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ in Graz, zum
„Gauredner“.1684
Im weiteren Verlauf des Zweiten Weltkrieges änderte sich die Rolle von Kriegsblinden
in der Propaganda. Die Darstellung veränderte sich, da die realen Fronterlebnisse nicht
mehr mit den durch den Kult um die Kriegshelden geschürten Erwartungen an den Krieg
1681 O. A., Führer durch die Ausstellung. Zur Darstellung von Kriegsopfern durch die NS-Propaganda vgl.
Poore, Disability in Twentieth Century, pp. 69–75.
1682 Schilling, „Helden der Wehrmacht“, S. 550–572, hier S. 570.
1683 Vgl. o. A., Aus dem Kameradenkreis, in: Der Kriegsblinde, Nr. 4, Jg. 25 (1941), S. 91.
1684 Vgl. o. A., Aus dem Kameradenkreis, in: Der Kriegsblinde, Nr. 7/8, Jg. 27 (1943), S. 60–61, hier S. 60.
230
übereinstimmten.1685 Erblindete Männer entsprachen nicht mehr dem Bild des Helden, da
sie kampfunfähig und als Menschen mit einer Behinderung mit negativen Eigenschaften
besetzt waren.1686 Die Kriegsblinden dienten der NS-Propaganda nun dazu, der Öffentlichkeit zu demonstrieren, wie sehr sich das NS-Regime um ihre Rehabilitation und Integration
in ein ziviles Leben bemühe.
„Der Kriegsblinde“ war in diesem Zusammenhang ein wichtiges Medium der NSKOV,
die persönliche Haltung und Meinung der Kriegsblinden zu beeinflussen. Kriegsblinde, die
in ihrem Umfeld dadurch auffielen, dass sie ihre Behinderung nicht akzeptieren konnten
und Minderwertigkeitskomplexe hatten, waren ein Widerspruch zum Heldenkult und den
Versprechungen des NS-Regimes, die Kriegsopfer umfassend zu versorgen. Die Veranstaltungen der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ sollten einer depressiven Verstimmung der Kriegsblinden entgegenwirken.
Den Kriegsblinden wurde durch die NS-Propaganda suggeriert, eine hohe gesellschaftliche Stellung als „die ersten Bürger im Reich“1687 einzunehmen.1688 Dementsprechend sollten
sich die Kriegsblinden auch äußerlich von anderen blinden Menschen unterscheiden. Sie
trugen nicht das nach der STVO für Zivilblinde und andere Menschen mit einer Behinderung vorgesehene gelbe Abzeichen mit den drei schwarzen Punkten.1689 Das Kennzeichen
für Kriegsblinde war das des Eisernen Kreuzes, umrahmt von drei schwarzen Punkten auf
gelbem Grund.1690
3.5.3 Der Personenkult um Adolf Hitler
„Mein Führer! Ich werde Dich nie sehen können.
Doch Deine Stimme bringt mir Dein Bild in das
Herz. Deiner Größe, Deinem Heldentum und Deiner Liebe haben wir es zu verdanken, daß auch wir
nicht vergeblich gelebt haben.“1691
Der Personenkult um Adolf Hitler spielte in der NSKOV eine wichtige Rolle. Hitler wurde als
Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges verehrt, der endlich das realisierte, wofür die Soldaten
gekämpft hatten.1692 In Bezug auf die Kriegsblinden kam dabei ein weiterer Aspekt hinzu,
der mit der Kriegsteilnahme von Hitler zusammenhing: Adolf Hitler stellte seine gegen Ende
des Ersten Weltkrieges durch „Senfgas“1693 erlittene Augenverletzung als vorübergehende
1685 Vgl. Schilling, „Helden der Wehrmacht“, S. 550–572, hier S. 572.
1686 Vgl. Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 168.
1687 Schmalfuß, An unsere Leser, S. 1; Vgl. Poore, Disability in Twentieth Century, p. 69.
1688 Vgl. weiterführend o. A., Beleidigung eines Kriegsblinden, S. 58.
1689 Vgl. Kapitel II.2.6.
1690 Vgl. Friedrich, Das Doppelfahrrad, S. 48–50, hier S. 49.
1691 Ehmann, Ein österreichischer Kriegsblinder erlebt den Sieg, S. 130. [Zitat von Ehmann in einem Bericht
darüber, wie er den „Anschluss“ erlebt hat.]
1692 Vgl. Diehl, The Thanks of the Fatherland, p. 31 und p. 48.
1693 Zu den bekanntesten und wirkungsvollsten „sesshaften“ Kampfstoffen des Ersten Weltkrieges gehörte
das Senfgas. Die Dämpfe verursachten Bindehautentzündungen, die sehr schmerzhaft waren. Die betroffenen Soldaten waren zudem extrem lichtempfindlich, weshalb ihnen die Augen verbunden wurden.
231
Erblindung in Aufsätzen und Reden dramatisch dar.1694 Tatsächlich litt Hitler im Oktober
1918 an einer schweren Bindehautentzündung, die von den Dämpfen dieses chemischen
Kampfstoffes hervorgerufen worden war. Diese Reizung dauerte zwar meist sehr lange an,
zu dauerhaften Schädigungen kam es allerdings nur vereinzelt.1695 Nach seiner eigenen
Darstellung rechnete Hitler, der auf Grund seiner Augenverletzung zu Kriegsende in einem
Lazarett in Pasewalk medizinisch versorgt wurde, allerdings damit, nie wieder vollständig
sehen zu können:
„Der bohrende Schmerz in den Augenhöhlen ließ nach; es gelang mir langsam, meine
Umgebung in groben Umrissen wieder unterscheiden zu lernen. Ich durfte Hoffnung
hegen, wenigstens so weit wieder sehend zu werden, um später irgendeinem Berufe
nachgehen zu können. Freilich, daß ich jemals wieder würde zeichnen können, durfte
ich nicht hoffen.“1696
Der von der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ betriebene Kult um Adolf Hitler
nahm solche Ausmaße an, dass sogar übliche Begrifflichkeiten abgeändert wurden. Bis
1933 wurden beispielsweise die ausgebildeten Hunde von blinden Menschen in der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ als „Führerhunde“ bezeichnet. Auch in der Fassung des RVG
vom 12. Mai 1920 wurde dieser Begriff verwendet.1697 Die NSKOV „Fachabteilung Bund
erblindeter Krieger“ ersetzte nach der Machtübertragung an Hitler 1933 dieses Wort durch
den Begriff „Führhund“1698, der dann auch im WFVO Verwendung fand. Ein weiterer Ausdruck, den die NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ nach 1933 verwendete,
war „Leithund“.1699
Nach dem „Anschluss“ nutzte die NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“
diesen Führermythos in der „Ostmark“, um die Kriegsblinden an das NS-Regime zu binden.1700 Rudolf Fuchs gab eine Rede Hitlers in Wien im Mai 1938 folgendermaßen wieder:
„Als der Führer auf seine fast vollständige Erblindung zu sprechen kommt – auf
jenen Schicksalsschlag, den wir in unserer ewigen Nacht wohl am besten mitfühlen
und beurteilten können – da herrscht unter den Zuhörern eine tiefe Ergriffenheit.“1701
Dementsprechend existieren einige Bilder von Soldaten des Ersten Weltkrieges mit Augenbinden, das
bekannteste stammt wohl von John Singer Sargent und ist eines der Exponate im Imperial War Museum London. Die Auffassung, dass der Einsatz von „Giftgas“ im Ersten Weltkrieg zu einer Zunahme von
Kriegserblindungen im Ersten Weltkrieg geführt hätte, ist dementsprechend weit verbreitet. Tatsächlich
erblindeten nur vereinzelt Soldaten durch chemische Kampfstoffe. Schuss- und Explosionsverletzungen
waren die häufigsten Erblindungsursachen. Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 31–43.
1694 Vgl. Kershaw, Hitler. 1889–1936, S. 143–146; Hitler, Mein Kampf, S. 202–206; Rohrbach, Augen Adolf
Hitlers, S. 644–650.
1695 Vgl. Zecha, Unter die Masken, S. 60–61.
1696 Hitler, Mein Kampf, S. 203.
1697 Vgl. GBlÖ, Nr. 450, RVG, § 5.
1698 Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 195; WFVO § 77, 3.
1699 O. A., Arbeits- und Berufskunde. Blindenarbeit in Flugzeugwerken, S. 10.
1700 Vgl. Fuchs, Unser Führer in Wien, S. 132–134, hier S. 132; Martens, Unsere österreichischen Kameraden
zum Gruß, S. 97–98, hier S. 98.
1701 Fuchs, Unser Führer in Wien, S. 132–134, hier S. 132.
232
Hitler wurde den Kriegsblinden als ein Mensch präsentiert, der mit ihnen das „Schicksal“
einer Kriegsblindheit „mehrere Monate“ geteilt habe.1702 Auf Grund dieser persönlichen
Erfahrung hätte Hitler für die Anliegen der Kriegsblinden besonderes Verständnis.1703 Den
Kriegsblinden wurde suggeriert, das NS-Regime würde ihre Interessen daher besonders
großzügig berücksichtigen. Außerdem versprachen sich die Kriegsblinden dadurch eine
Aufwertung ihres sozialen Status.
3.6 Resümee
In diesem Kapitel konnte aufgezeigt werden, dass sich die Kriegsblinden bedingungslos dem
NS-Regime anschlossen. Die kriegsblinden Funktionäre unterstützten die antisemitische
Hetzkampagnen und durch ihre Propagandatätigkeit auch die Vorbereitungen zum Zweiten
Weltkrieg und dessen Rechtfertigung. Kriegsblinde waren daher in einem noch wesentlich
umfangreicheren Ausmaß als die Zivilblinden1704 Akteure des NS-Regimes, weil das NSRegime sie auf Grund ihrer öffentlichen Wirksamkeit stärker einband und beispielsweise
als Redner einsetzte. Kriegsblinde verbreiteten die NS-Ideologie damit weit über den engen
Kreis der Betroffenen hinaus. Es ist daher notwendig, ihre Rolle im NS-Regime genauer zu
beleuchten. Das wird in Kapitel III.10 geschehen.
1702 Vgl. Martens, Unsere österreichischen Kameraden zum Gruß, S. 97–98, hier S. 98.
1703 Vgl. Martens, Unsere österreichischen Kameraden zum Gruß, S. 97–98, hier S. 98; Fuchs, Unser Führer in
Wien, S. 132–134, hier S. 132.
1704 Vgl. Kapitel II.11.2, II.11.4.
233
4.Die Rehabilitation erblindeter Soldaten
4.1 Reservelazarette für Kriegsblinde
Einige Soldaten des Zweiten Weltkrieges waren infolge ihrer Verwundung so schwer behindert, dass sie ohne Umschulungsmaßnahmen keinem Erwerb nachgehen konnten. Um
Soldaten, die infolge ihrer Kriegsverletzung dauerhaft behindert waren, wieder in ein ziviles Berufsleben integrieren zu können, verlegte das OKW diese in auf ihre Rehabilitation
spezialisierte Reservelazarette. Mit Beginn der Mobilmachung im August 1939 führten alle
im Heimatkriegsgebiet bereits bestehenden und neu aufgestellten Lazarette die Bezeichnung „Reservelazarett“.1705 Einige dieser Einrichtungen waren auf bestimmte Erkrankungen
oder Behinderungen spezialisiert, beispielsweise auf Augenverletzungen.1706 Die Reservelazarette waren im Rahmen des „Verwundeten-Rücktransport-Systems“1707 der Wehrmacht
von der Front in die Heimat die letzte Station für schwer Verwundete und Erkrankte vor
ihrer Entlassung aus der Wehrmacht oder gegebenenfalls ihrer Rückkehr zur kämpfenden
Truppe.1708 Für die Einrichtung der Lazarette wurden auch zivile Heil- und Pflegeanstalten
herangezogen. Deren PatientInnen wurden verlegt oder zu Opfern der NS-„Euthanasie“.1709
Die Wehrkreiskommandanten veranlassten auch in den annektierten Gebieten die Schaffung solcher Einrichtungen.1710 Die Wehrmacht verfügte bis 1943 über etwa 800.000 Betten
in Reservelazaretten.1711
Erblindete Soldaten kamen nach Abschluss ihrer medizinischen Behandlung in so
genannte „Blindensammellazarette“.1712 Die Sammellazarette für Kriegsblinde waren militärische Einrichtungen1713 und ihrem Konzept nach eine Mischung aus Krankenanstalt
1705 Einleitung zum Bestand „RH 55 Sanitätsdienststellen und Reservelazarette im Heimatkriegsgebiet und
in besetzten Gebieten“ im Bundesarchiv Deutschland, MA von Antje Märke, September 2005. Online
zugänglich und in der Zweigstelle des Bundesarchivs in Freiburg.
1706 Zu den Reservelazaretten existieren im Militärarchiv des Bundesarchivs in Freiburg nur noch Schriftgutreste. Weiterführende Literatur und Quellen: Müller, Wege zum Ruhm, insb. S. 52–72; Fischer, Sanitätsdienst in den ersten Kriegsmonaten des Jahres 1939, S. 26–27; MA, RH 55, Sanitätsdienststellen und
Reservelazarette im Heimatkriegsgebiet und in besetzten Gebieten sowie die in den Fußnoten zu Kapitel
III.4.4 genannten weiterführenden Quellenbestände. Zu den Sonderlazaretten des Heeres und den Sonderformationen vgl. Valentin, Die Sonderlazarette des Heeres, S. 167–182; Valentin, Krankenbataillone.
1707 Blaßneck, Militärpsychiatrie, S. 55.
1708 Vgl. Blaßneck, Militärpsychiatrie, S. 57.
1709 Vgl. Thom, Die Entwicklung der Psychiatrie, S. 127–165, hier S. 141. Im Rahmen der „Euthanasie Aktion
T 4“ wurden nach einer Aufstellung von Ernst Klee bis Ende 1941 31.058 Betten von zivilen Anstalten für
Reservelazarette frei gemacht. Vgl. Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, S. 341. Vgl. weiterführend: Blaßneck,
Militärpsychiatrie, S. 57–58; Neumann, Heeressanitätsinspektion, S. 187–188; Kepplinger, NS-Euthanasie
in Österreich, S. 35–62, hier S. 53–54; Müller, Militärpsychiatrie, insb. S. 60–64.
1710 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 114.
1711 Vgl. D. Dankert, Der deutsche und alliierte Sanitätsdienst während des II. Weltkrieges unter besonderer
Berücksichtigung der Invasion 1944, in: Wehrmedizinische Monatsschrift, Jg. 27 (1983), S. 68–84, hier
S. 73, zitiert in: Blaßneck, Militärpsychiatrie, S. 58.
1712 Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 3; Vgl. Thiermann, Ins Leben zurück, S. 34–36, hier S. 35.
1713 Robert Müller berichtet in seinem 2001 publizierten Buch über die Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg anhand des Beispiels Marburg an der Lahn, dass die in Reservelazaretten behandelten Soldaten
mit psychischen Erkrankungen nicht als Patienten behandelt wurden, sondern „Eigentum der Deutschen
234
und Schulungsstätte.1714 Einige der erblindeten Soldaten befanden sich dementsprechend
noch in Rekonvaleszenz und bei anderen erforderte ihre Verletzung weitere medizinische
Eingriffe. Immer wieder kam es vor, dass Kriegsblinde für eine weitere Operation ihre
Ausbildungszeit unterbrechen mussten und gegebenenfalls für einen operativen Eingriff
in ein anderes Lazarett verlegt wurden.1715
Für die medizinische Versorgung war der Chefarzt zuständig. In den Richtlinien aus
dem Jahr 1942 legte das OKW fest, dass die fürsorgerechtlichen Maßnahmen zum Aufgabengebiet des zuständigen Wehrmachtsfürsorgeoffiziers gehörten.1716
Den Ablauf der Rehabilitation regelten die Fürsorge- und Versorgungsbestimmungen
der Wehrmacht. 1939 hatte das OKW erstmals Vorschriften für Kriegsblinde erlassen. 1942
wurden diese Anordnungen erweitert und adaptiert.1717 Dabei wurde die Durchführung der
Ausbildung genauer geregelt, um den Aufenthalt der erblindeten Soldaten in den Reservelazaretten so kurz wie möglich zu halten. Auf Grund der steigenden Anzahl von Kriegsversehrten begann das OKW den Ablauf der Rehabilitation zu rationalisieren.1718
Der erste Schritt der Rehabilitation erblindeter Soldaten war eine fünfmonatige
„blindentechnische“1719 Grundausbildung. Im Schnitt sechs bis acht Wochen nach Start dieses
Unterrichts begann die so genannte „Berufsberatung“. Diese Bezeichnung ist allerdings
irreführend. Zur „Berufsberatung“ trat eine Kommission zusammen, die über die berufliche Zukunft der betreffenden Kriegsblinden, zunächst in deren Abwesenheit, beriet.1720
Noch vor dem Abschluss der Grundausbildung begann die Berufsausbildung, die je nach
zu erlernender Tätigkeit unterschiedlich lang dauern konnte.
Wie bereits erwähnt, gab es zu Beginn des Krieges nur zwei Reservelazarette für Kriegsblinde, in Marburg an der Lahn und in Berlin.1721 Das Reservelazarett 132 in Berlin im
Wehrkreis III war am 8. Dezember 1939 für Augenkranke und Kriegsblinde eingerichtet
worden und verfügte anfangs über 25 Betten.1722 Die Einrichtung im ehemaligen Krankenhaus Bethanien nahm am 10. Jänner 1940 den ersten Kriegsblinden auf.1723 Schon bald waren
allerdings die Kapazitäten erschöpft. Am 15. September 1940 wurde die Einrichtung daher
auf 107 Betten aufgestockt.1724 In Marburg an der Lahn richtete die Wehrmacht fünf Tage
vor dem Angriff auf Polen am 26. August 1939 drei Reservelazarette ein. Eines davon, das
Lazarett III, bestand unter anderem aus 25 Betten der Universitätsaugenklinik.1725 Auch
in Wien wurde zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt im 17. Gemeindebezirk in
Wehrmacht“ waren und „entsprechend behandelt“ wurden. Vgl. Müller, Militärpsychiatrie im Zweiten
Weltkrieg, S. 56–57.
1714 Vgl. Schmalfuß, Mit vereinten Kräften, S. 74.
1715 Vgl. Thiermann, Ins Leben zurück, S. 34–36, hier S. 34.
1716 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–
80, hier S. 77.
1717 Vgl. Kapitel III.2.3.
1718 Vgl. Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 110–111.
1719 Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 5; Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche
und Berufsbetreuung [1942], S. 77–80, hier S. 77.
1720 Vgl. Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 85.
1721 Vgl. Kapitel III.2.3.
1722 Vgl. o. A., Reservelazarett Berlin.
1723 Vgl. Schmalfuß, Mit vereinten Kräften, S. 73–79, hier S. 74.
1724 Vgl. o. A., Reservelazarett Berlin.
1725 Vgl. Müller, Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg, S. 57.
235
Neuwaldegg1726 mit dem Reservelazarett IX a-c, Waldegghofgasse 5, ein Sammellazarett
für Kriegsblinde errichtet.1727
Im Oktober 1943 gab es weitere solche Einrichtungen in Nürnberg, Breslau, Stuttgart,
Chemnitz, Prag, Würzburg und in Forst (Lausitz), wohin das Berliner Sammellazarett für
Kriegsblinde verlegt worden war.1728 Außerdem bestand im Oktober 1944 noch ein Reservelazarett für Kriegsblinde in Aussig.1729 Die Standorte veränderten sich bedingt durch den
Rückzug der Wehrmacht und das Vorrücken der alliierten Verbände zu Ende des Krieges mehrfach.1730 Dementsprechend dürfte es auch noch an anderen Orten, als den hier
genannten „Blindensammellazarette“, gegeben haben. Allerdings können diese, mangels
schriftlicher Überlieferungen in dem für diese Arbeit eingesehenen Quellenbestand, nicht
benannt werden.1731
Um die Umsetzung der Richtlinien zur Rehabilitation der erblindeten Soldaten zu
gewährleisten, beraumte das OKW zwei Tagungen ein. Die erste fand im November 1942
in Berlin statt. Die Chefärzte der Reservelazarette, Wehrmachtsfürsorgeoffiziere, Vertreter
der Waffen-SS,1732 Blindenlehrer, Beamte des RAM und Vertreter der Hauptfürsorgestellen
und der NSKOV nahmen daran teil.1733 Aus der „Ostmark“ reisten der Wehrmachtsfürsorgeoffizier Arnold, der Direktor der „Blindenanstalt“1734 Wien, Anton Kaiser, und der
„Gebietsfachleiter“ der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“, Ferdinand Ehmann,
an. Die zweite Versammlung der Verantwortlichen für die Sammellazarette für Kriegsblinde
berief die Heeressanitätsinspektion im Juni 1944 an einen nicht genannten Ort ein. Über
diese Tagung konnte keine Niederschrift gefunden werden. Es ist nur ein Bericht in der
Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ bekannt.1735
Neben der Schulung über die Vorschriften dienten diese Treffen dem Erfahrungsaustausch. Dabei wurden durchaus heikle Probleme aus dem Lazarettalltag thematisiert wie
1944 beispielsweise die „sexuelle Frage“1736 der Kriegsblinden. Dieser Aspekt wird allerdings
in dem Bericht über die Tagung in der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ nicht weiter ausgeführt, deshalb ist auch nicht klar, was damit gemeint war.
1726 Neuwaldegg war ein Ort vor Wien und wurde 1892 eingemeindet.
1727 Die Adresse ist den Fürsorgeakten der Kriegsblinden des HVA Wien entnommen worden. Vgl. Jähnl,
Kriegsblinden, S. 114.
1728 Vgl. BAB, DGT, R 36/1803, Bildungswesen für Blinde, GZ II1.1.6.3, Oberpräsident Provinzialverband
Merseburg an den DGT (Nr. 1156/43) vom 30.10.1943, Betreff: Schulung Kriegsblinder dieses Krieges
durch ältere Jahrgänge der Blindenlehrer.
1729 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Josef D., Reichsstatthalter Sudetengau, Außendienststelle Aussig, Fragebogen zur Berufsfürsorge vom 17.10.1944.
1730 Vgl. [Malasek], Vom Waffenrock zum Blindenstock, S. 1–57, hier S. 24.
1731 Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel III.4.4.
1732 Erblindete Angehörige der Waffen-SS erhielten eine separate Rehabilitation. Vgl. Kapitel III.8.
1733 Laut Teilnehmerliste nahm an dieser Veranstaltung keine einzige Frau teil. Vgl. BAB, DGT, R 36/1762,
Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Oberbürgermeister der Reichshauptstadt
Berlin, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene (Hrsg.), Tagesordnung für
die Tagung am 10. und 11. November 1942. Betrifft: Betreuung erblindeter Soldaten, Berlin 1942, S. 1–2.
1734 Obwohl zu diesem Zeitpunkt per Runderlass alle Blindenanstalten in „Blindenschulen“, gegebenenfalls
mit dem Zusatz „mit Heim“, umbenannt worden waren, erscheint in dieser publizierten Tagungsniederschrift noch die Bezeichnung Blindenanstalt. Vgl. Kapitel II.4.1.
1735 Vgl. EKK, Einheitliche Ausrichtung der Kriegsblindenbetreuung, S. 49–50.
1736 EKK, Einheitliche Ausrichtung der Kriegsblindenbetreuung, S. 49–50, hier S. 49.
236
Einige Kriegsblinde konnten die Reservelazarette kurzfristig verlassen und einen Urlaub
beantragen. Da sie noch der Wehrmacht angehörten, bedurfte dieser aber einer Bewilligung.
Ein Oberstleutnant des Reservelazarettes Recklinghausen meldete beispielsweise an den
zuständigen Wehrmachtsoffizier Wien am 27. April 1942, dass dem dort untergebrachten
Kriegsblinden Unteroffizier Oskar C.1737 eine Woche Urlaub zu Pfingsten genehmigt worden war sowie für die Zeit vom 30. Juni bis zum 28. Juli 1942 ein „Erholungsurlaub“1738.
Außerdem informierte der Oberstleutnant darüber, dass Oskar C. beabsichtige, im Mai zu
heiraten. Daher konnte er seinen Lazarettaufenthalt bereits ab dem 15. Juni bis zum 30. Juni
für einen „Hochzeitsurlaub“1739 unterbrechen. Erst Ende Juli 1942 sollte er in das Reservelazarett Gelsenkirchen verlegt werden, um eine Ausbildung zum Masseur zu absolvieren.1740
4.2 Der Ablauf der Rehabilitation in den Sammellazaretten
für Kriegsblinde
4.2.1 Grundausbildung
Zunächst mussten die erblindeten Soldaten in den Sammellazaretten all jene Fertigkeiten1741
erlernen, die sie für die Bewältigung des Alltags benötigten.1742 Durch ihre Erblindung
waren sie gezwungen, viele Tätigkeiten des alltäglichen Lebens neu einzuüben: „They have to
learn to feed, wash, shave and dress themselves.“1743 Auch mit dem Einsatz von Hilfsmitteln,
wie zum Beispiel einem Stock zur besseren Orientierung, wurden sie vertraut gemacht.1744
Durch diese Schulung war es beispielsweise einigen blinden Soldaten schon ein paar Tage
nach ihrer Ankunft möglich, sich ohne Hilfe selbständig in den Räumlichkeiten der Sammellazarette zu bewegen.1745
Zur Rehabilitation gehörte es nach den Vorgaben des OKW auch, den Betroffenen ihr
„seelische Gleichgewicht“1746 wiederzugeben. Wie bereits erwähnt, litten erblindete Soldaten
1737 Oskar C. war am 29.7.1916 geboren worden und im Juni 1941 auf Grund einer Granatsplitterverletzung in
Smolensk erblindet. Er fiel in die Zuständigkeit des Versorgungsamtes Wien III.
1738 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Oskar C., Oberstleutnant Recklinghausen an den Wehrmachtsfürsorgeoffizier Wien vom
27.4.1942, Betreff: C.
1739 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Oskar C., Oberstleutnant Recklinghausen an den Wehrmachtsfürsorgeoffizier Wien vom
27.4.1942, Betreff: C.
1740 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Oskar C., Oberstleutnant Recklinghausen an den Wehrmachtsfürsorgeoffizier Wien vom
27.4.1942, Betreff: C.
1741 Das Erlernen von alltäglichen Handgriffen wird in der modernen Rehabilitationsarbeit als Training von
lebenspraktischen Fertigkeiten (LPF-Training) bezeichnet.
1742 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 3.
1743 Wittkower, Davenport, The war blinded, pp. 121–137, hier p. 123.
1744 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–
80, hier S. 78.
1745 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 3; Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 216–217.
1746 Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–80,
hier S. 78; Schmalfuß, Mit vereinten Kräften, S. 73–79, hier S. 77.
237
nach ihrer Verletzung häufig an Depressionen und Minderwertigkeitskomplexen.1747 Nach
damaliger Ansicht wirkte sich das auch negativ auf ihre „Leistungsfähigkeit“1748 aus. Um
dem entgegenzuwirken, legte das OKW unter anderem fest, dass Kriegsblinde der NSKOV
„Fachabteilung erblindeter Krieger“ regelmäßig die erblindeten Soldaten besuchten,1749 um
ihnen Mut zu machen und sie in den „Blindentechniken“ zu schulen.1750 Dadurch sollten
die erst seit kurzer Zeit erblindeten Männer neue Lebensperspektiven erhalten. Lindmayr
schrieb beispielsweise über diesen Kontakt mit Kriegsblinden aus dem Ersten Weltkrieg:
„Die Erläuterungen der Kameraden, daß es bereits zahlreiche berufstätige kriegsblinde
Kameraden gebe, und zum Teil Schulen für deren Ausbildung eingerichtet wurden
und es Führhundeausbildungsstellen für Blinde gäbe, stärkten meinen ursprünglich
total gesunkenen Lebenswillen.“1751
Ein weiterer Teil der Grundausbildung in den Lazaretten war das Erlernen der Blindenvoll- und -kurzschrift sowie das Verfassen von Texten an einer Schreibmaschine. Nach den
Richtlinien des OKW sollte der Unterricht darin täglich zwei Stunden umfassen. Durchgeführt wurde diese Ausbildung unter anderem durch LehrerInnen aus den Blindenschulen.1752 Im Wiener Blindenlazarett arbeitete beispielsweise der Blindenlehrer Karl Trapny
der „Städtischen Blindenschule mit Heim“ in Wien.1753 Trapny unterrichtete aber nicht nur
die Blindenschrift, sondern wurde auch für die berufliche Ausbildung eingesetzt. Er dürfte
auch bis zur Auflösung dieses Sammellazarettes für Kriegsblinde dort tätig gewesen sein.
Das galt nicht für alle Lehrer, die in den Reservelazaretten beschäftigt waren. Im Zuge der
Mobilmachung sollten die Blindenoberlehrer der Jahrgänge 1900 und jünger, die in den
Reservelazaretten ihren Dienst leisteten, an die Front versetzt und durch ältere sowie selbst
blinde PädagogInnen der Blindenschule für Zivilblinde ersetzt werden.1754
Sich die Blindenschrift anzueignen, bereitete vielen der Männer große Schwierigkeiten, weil das Ertasten der sechs Punkte hohe Konzentration und taktiles Gefühl erfordert.1755 Umgangssprachlich verwendeten erblindete Soldaten für die Punktschrift daher
häufig abwertende Begriffe wie beispielsweise „olle Grabbelschrift“, deren Aneignung „das
1747 Vgl. Kapitel III.1.3.
1748 Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 80.
1749 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien für die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–80,
hier S. 77.
1750 Vgl. Jaedicke, Geschichte des deutschen Blindenwesens, S. 229. Weiterführende Literatur zu diesem Aspekt: Huber, Betreuungsdienst in der Schicksalsgemeinschaft, S. 99–100; Wenzel, Gemeinsame Arbeitstagung des Reichsarbeitsministeriums, S. 77.
1751 Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 217.
1752 Vgl. BAB, DGT, R 36/1803, Bildungswesen für Blinde, GZ II1.1.6.3, Oberpräsident Provinzialverband
Merseburg an den DGT (Nr. 1156/43) vom 30.10.1943, Betreff: Schulung Kriegsblinder dieses Krieges
durch ältere Jahrgänge der Blindenlehrer; Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 7; Oberkommando der
Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–80, hier S. 77.
1753 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 5; Vgl. Kapitel II.4.5.1.
1754 BAB, DGT, R 36/1803, Bildungswesen für Blinde, GZ II1.1.6.3, Oberpräsident Provinzialverband Merseburg an den DGT (Nr. 1156/43) vom 30.10.1943, Betreff: Schulung Kriegsblinder dieses Krieges durch
ältere Jahrgänge der Blindenlehrer.
1755 Vgl. Abraham, Historische und gegenwärtige Aspekte, S. 67; Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 117; Brocke,
Lohnt sich die Mühe, S. 76–77.
238
Widerwärtigste an der ganzen Ausbildung“ gewesen sei.1756 Nach Beginn des Unterrichts in
der Blindenschrift wollten viele Kriegsblinde diese Ausbildung abbrechen, weil sie nicht
glaubten, diese jemals erlernen zu können.1757
Der Sportunterricht war ein weiterer fixer Bestandteil des Stundenplans in den Sammellazaretten.1758 In Wien fand der Sportunterricht jeden Tag nach der ärztlichen Visite
um 9 Uhr noch vor der Grundausbildung statt.1759 Gymnastik, Leichtathletik, Schwimmübungen, einfache Bewegungsspiele, Marschieren in Gruppen, Schlittschuh laufen und
Klettern gehörten je nach den örtlichen Gegebenheiten zu den diversen Betätigungen.1760
Sport war Teil der so genannten „Arbeitstherapie“.1761 Dabei sollten die körperlichen
Fähigkeiten der behinderten Soldaten gezielt verbessert werden, um eine schnellere In­te­gra­
tion in das Berufsleben zu ermöglichen. Zur Steigerung der Fingerfertigkeiten erblindeter
Soldaten wurde 1944 der Bastelunterricht in allen Sammellazaretten eingeführt.1762 Die
blinden Männer stellten dabei diverse Handarbeiten her, beispielsweise eigene Taststöcke.1763
4.2.2 Berufsausbildung
Die Absolvierung der Grundausbildung war zwar eine wichtige Voraussetzung für die folgende berufliche Schulung,1764 trotzdem begann die Berufsausbildung nicht erst nach Ende
der fünfmonatigen Basisschulung. Das OKW hatte in seinen Richtlinien 1942 festgelegt,
dass diese auch schon früher beginnen konnte,1765 um die Aufenthaltsdauer der betroffenen Soldaten in den Sammellazaretten zu verkürzen. Das OKW berechnete die Dauer der
Berufsausbildung auf insgesamt fünf Monate,1766 sie konnte aber durchaus länger dauern.
Die Dauer der Ausbildung zum Stenotypisten inklusive der Grundschulung konnte bis
zu 15 Monate betragen und beinhaltete die Vermittlung von Kenntnissen, die auf einer
1756 Vgl. Thiermann, Ins Leben zurück, S. 34–36, hier S. 34.
1757 Vgl. Brocke, Lohnt sich die Mühe, S. 76–77, hier S. 76; Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 214.
1758 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–
80, hier S. 78.
1759 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 8.
1760 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–
80, hier S. 78; Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 4.
1761 Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 78. In fast allen Lazaretten fand diese „Arbeitstherapie“ statt. In
Reservelazaretten für anderweitig verletzte Soldaten hatte der Sportunterricht allerdings in erster Linie
das Ziel, die kranken Soldaten möglichst bald wieder in der kämpfenden Truppe einsetzen zu können.
Wenn es der Gesundheitszustand der verwundeten Soldaten zuließ, wurden sie auch für die Ausführung
von Handarbeitstätigkeiten herangezogen. Die Aufträge dafür stammten hauptsächlich von Rüstungsbetrieben. Vgl. Neumann, Heeressanitätsinspektion, S. 187–191.
1762 Vgl. Dannheim, Kriegsblinde basteln, S. 66–68, hier S. 67; Dannheim, Blinde Basteln. [Dannheim war
Chefarzt des Reservelazaretts VI Stuttgart-Solitude.]
1763 Vgl. Dannheim, Kriegsblinde basteln, S. 66–68, hier S. 68.
1764 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 3.
1765 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–
80, hier S. 78.
1766 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–
80, hier S. 77.
239
Handelsschule gelehrt wurden.1767 Die Schulung von Telefonisten konnte insgesamt bis zu
neun Monate dauern.1768 Allein die Ausbildung zu Bürstenhandwerkern konnte in fünf
Monaten absolviert werden, womit sie für das OKW die kostengünstigste Berufsausbildung
für Kriegsblinde war.1769
Bevor ein erblindeter Soldat eine Berufsschulung erhielt, fand die erwähnte „Berufsberatung“ statt, wofür zunächst eine Kommission zur Vorbesprechung zusammentrat. Dieser
gehörten der zuständige Wehrmachtsfürsorgeoffizier, der Chefarzt, ein Vertreter der öffentlichen Versorgungsstelle, in deren Zuständigkeit das Blindenlazarett fiel, und ein Mitglied
der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ an.1770 Die LehrerInnen der erblindeten
Soldaten gaben diesem Gremium lediglich einen Bericht ab.1771 Diese Kommission sollte die
Entscheidung, welchen Beruf ein Kriegsblinder ergreifen sollte, nach folgenden Kriterien
treffen: Schulbildung, bisherige Berufstätigkeit, Fähigkeiten, Kenntnisse und Erfahrungen,
Familienverhältnisse und Gegebenheiten am Wohnort sowie die Arbeitsplatzsituation in
seiner Heimat.1772 Persönliche Interessen der Kriegsblinden spielten dabei eine untergeordnete Rolle, auch wenn die Kommission noch eine abschließende Besprechung in Anwesenheit des Kriegsblinden abhielt. Dass die Betroffenen vor dieser Sitzung bereits einen
festen Berufswunsch hatten, war dezidiert nicht erwünscht,1773 sie sollten den vom Gremium
vorgegebenen Berufsweg einschlagen. Die zuständigen Versorgungsstellen wurden schon
frühzeitig darüber informiert, welchen Beruf die erblindeten Soldaten erlernten, da es ein
erklärtes Ziel der Wehrmacht war, dass Kriegsblinden sofort nach ihrer Entlassung aus dem
Wehrdienst ein Arbeitsplatz in ihrer Heimat zugewiesen wurde.1774
Im Wiener Sammellazarett für Kriegsblinde erhielten bis 1943 nach Angaben des dort
tätigen Stabsarztes Franz Schubert die erblindeten Soldaten folgende Berufsausbildungen:
Bürstenmacher (33 Prozent), Stenotypist (19 Prozent), Telefonist (12 Prozent), Schreibmaschinenkraft (8 Prozent), Masseur (7 Prozent), Aktenhefter1775 (3 Prozent) sowie Verpacker
1767 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–
80, hier S. 79; ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann S., VIa-B1/NW/43, HVA Wien vom 12.3.1943, Aktennotiz zur Berufsberatung von Johann S.; Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 6. Im Reservelazarett Stuttgart betrug die
Dauer für die Ausbildung zum Stenotypisten 9 Monate. Vgl. Althauser, Abschlußprüfung kriegsblinder
Stenotypisten, S. 56–57, hier S. 56.
1768 Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–80,
hier S. 79; Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 6.
1769 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–
80, hier S. 79.
1770 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–
80, hier S. 78; Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 5.
1771 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 5; Schmalfuß, Mit vereinten Kräften, S. 73–79, hier S. 78.
1772 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–
80, hier S. 78; Schmalfuß, Mit vereinten Kräften, S. 73–79, hier S. 78.
1773 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Oberbürgermeister der Reichshauptstadt Berlin, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene
(Hrsg.), Tagesordnung für die Tagung am 10. und 11. November 1942, Betreff: Betreuung erblindeter Soldaten, Berlin 1942, S. 3.
1774 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–
80, hier S. 78.
1775 Dies ist eine Auffälligkeit in der Berufsstatistik des Wiener Reservelazarettes, da drei Prozent der erblindeten Soldaten in Wien zu Aktenheftern ausgebildet wurden, obwohl das OKW in seinen Richtlinien 1942
festlegte, dass diese Ausbildung unzweckmäßig sei, weil diese Tätigkeit bald durch Schnellheftverfahren
240
und Sortierer (2 Prozent).1776 Demnach erlernten viele Kriegsblinde ein Blindenhandwerk,
der Anteil anderer Berufsausbildungen war allerdings wesentlich höher als bei Zivilblinden.1777
Einige der „Blindensammellazarette“ waren auf bestimmte Ausbildungsbereiche spezialisiert. Soldaten, die vor ihrem Kriegseinsatz studiert hatten, sollten beispielsweise nach
Marburg an der Lahn verlegt werden.1778 Die Matura konnten die Kriegsblinden nach Erfüllung der dafür notwendigen Eignungsvoraussetzungen noch in Berlin nachholen.1779 Das galt
auch für die Kriegsblinden aus der „Ostmark“. Für Max S. aus Langau (Niederösterreich)
wurde in der abschließenden Sitzung der „Berufsberatungskommission“ im Reservelazarett
IV in Stuttgart-Solitude beispielsweise bestimmt, ihn zur Vorbereitung auf die Reifeprüfung 1942 nach Marburg an der Lahn zu verlegen.1780 Allerdings waren die Kapazitäten
dort nicht ausreichend, wie aus einem weiteren Beispiel hervorgeht. Auch der durch eine
Granate im Juli 1941 erblindete Friedrich W. sollte von Wien nach Marburg verlegt werden.
Das Reservelazarett dort war aber überfüllt und der Antrag wurde nicht genehmigt.1781 Als
Kompensation genehmigte das Versorgungsamt Wien Friedrich W. eine Ausbildung in
Sprachen für den Beruf eines kaufmännischen Korrespondenten in Wien.
Nach den Vorstellungen des OKW sollten Kriegsblinde eine akademische Laufbahn allerdings nur in Ausnahmefällen einschlagen. Dementsprechend viele Zugangsbeschränkungen
wurden erlassen. So musste zum Beispiel die ausreichende Eignung der Kriegsblinden für
ein Studium durch ein eigenes Gutachten nachgewiesen werden.1782 Franz Schubert berichtet,
dass einer „nicht geringen Anzahl von Blinden“ ohne eine entsprechende Vorbildung der
Besuch einer höheren Schule „ausgeredet“ wurde.1783 Ein Studium beginnen konnten die
Kriegsblinden außerdem erst dann, wenn sie aus der Wehrmacht entlassen worden waren.
Das Reservelazarett Wien IXa für Kriegsblinde in der Waldegghofgasse 5 war auf die
musikalische Ausbildung spezialisiert, auch wenn nur wenige Betroffene dieses Angebot
nutzen konnten: Das OKW genehmigte Kriegsblinden eine Ausbildung zum Berufsmusiker
nur bei ihrer Meinung nach „überragender“1784 Begabung. Ansonsten diente der Musikunterricht in den Lazaretten für Blinde hauptsächlich der Unterhaltung.
abgelöst werde. Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung
[1942], S. 77–80, hier S. 79.
1776 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 5.
1777 Vgl. Kapitel II.6.1, III.5.2, III.5.4.
1778 Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 7; Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche
und Berufsbetreuung [1942], S. 77–80, hier S. 79.
1779 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–
80, hier S. 79.
1780 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge Max S., Württ. Landesfürsorgeverband, Abt. Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und
Kriegshinterbliebene, Berufsberatung im Reservelazarett IV Stuttgart-Solitude vom 3.6.1942.
1781 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale Fürsorge Friedrich Walter, Res. Laz. Waldegghofgasse 5, Blindenberufsberatung in Anwesenheit des
Herr Generalmajor Giehrach am 29.1.1944.
1782 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale Fürsorge Friedrich Walter, Res. Laz. Waldegghofgasse 5, Blindenberufsberatung in Anwesenheit des
Herrn Generalmajor Giehrach am 29.1.1944.
1783 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 6.
1784 Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–80,
hier S. 79.
241
Die Berufsausbildung der erblindeten Soldaten in den Reservelazaretten wurde auch für
Propagandazwecke verwendet. 1942 fand im Reservelazarett Stuttgart-Solitude zu diesem
Zweck eine Ausstellung statt.1785 In dem Reservelazarett für Kriegsblinde in Wien wurde den
erblindeten Soldaten die NS-Ideologie vermittelt. Es fand ein so genannter „Geschichts- und
Weltanschauungsunterricht“1786 statt.
4.2.3 Das Ende der Berufsausbildung und die Entlassung aus der Wehrmacht
Die erblindeten Soldaten wurden meist nach Abschluss ihrer Berufsausbildung aus der
Wehrmacht entlassen. Nach Möglichkeit sollte das zuständige Versorgungsamt in der „Ostmark“ Kriegsblinden zu diesem Zeitpunkt bereits einen Arbeitsplatz beschafft haben. Bei
der Auswahl ihrer ArbeitgeberInnen hatten die Kriegsblinden ebenfalls kaum Mitentscheidungsrechte. Der Kriegsblinde Felix W. aus Grieskirchen, Gau „Oberdonau“, absolvierte
beispielsweise vom 7. September 1944 bis 21. Februar 1945 in Wien eine Ausbildung zum
Telefonisten. Am 24. Jänner 1945 kam die „Berufsberatungskommission“ des Sammellazarettes zusammen, um darüber zu beraten, welche Dienststelle für Felix W. und für einen
anderen Kriegsblinden mit gleicher Qualifikation, Johann D., in Frage käme. Sieben Unternehmen hatte das zuständige Versorgungsamt Linz ermitteln können, die bereit waren,
einen blinden Telefonisten anzustellen. Bei welchem Arbeitgeber die Kriegsblinden dann
tatsächlich unterkamen, sollte dezidiert „nicht nur nach den persönlichen Wünschen der
Kriegsblinden“1787 entschieden werden.
Für die Berufsausübung brauchten die Kriegsblinden verschiedene Hilfsmittel. Das
OKW etwa legte fest, dass alle erblindeten Soldaten nach Absolvierung der Grundausbildung eine Kleinschreibmaschine zugewiesen bekamen, um Schriftverkehr erledigen zu
können.1788 Stenotypisten erhielten eine Stenographiermaschine sowie eine dazugehörige
Leseschiene, um den Punktschriftstreifen besser lesen zu können.1789
Dabei kam es immer wieder zu Wartezeiten, da die Hilfsmittel auf Grund der kriegswirtschaftlichen Umstände nicht immer verfügbar waren.1790 Um die Versorgung mit
Hilfsmitteln zu gewährleisten, rief die NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“
schon 1940 in ihrer Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ Betroffene des Ersten Weltkrieges dazu
auf, gebrauchte Punktschriftmaschinen möglichst kostenlos den „neuen Kameraden“ zu
überlassen.1791
1785 Vgl. o. A., Kriegsblinden-Ausstellung Stuttgart, S. 67.
1786 Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 8.
1787 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale
Fürsorge Felix W., AZ VIa-Bl/NW/1945, HVA Wien, Berufsbetreuung Kriegsblinder, Beratung im Reservelazarett IXa in Wien vom 24.1.1945.
1788 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Tagesordnung und Niederschrift über die Tagung am 10. und 11.11.1942 in Berlin, Betreff: Erblindete Soldaten, S. 3.
1789 Vgl. Kapitel III.4.3.
1790 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Robert A., Oberbürgermeister der Reichshauptstadt Berlin an das HVA Wien vom 21.6.1944,
Betreff: Kriegsblinder Robert A; ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde,
Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge August A.; Schmalfuß, Mit vereinten Kräften, S. 73–79, hier S. 78.
1791 Vgl. o. A., Gebrauchte Punktschriftmaschinen gesucht, in: Der Kriegsblinde, Nr. 7, Jg. 24 (1940), S. 110.
242
Für die blinden Bürstenmacher war nach Beendigung der Ausbildung in den Lazaretten
die „Deutsche Kriegsblinden-Arbeitsgemeinschaft“, eine Einrichtung der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“, zuständig.1792 Sie lieferte den kriegsblinden Handwerkern die
für ihre Arbeiten notwendigen Werkzeuge. Die Kosten dafür stellte sie dann den zuständigen Versorgungsämtern in der „Ostmark“ in Rechnung.1793 Nach Erhalt der Werkzeuge
vermittelte die Arbeitsgemeinschaft Kriegsblinden Arbeitsaufträge.1794 Sollten die kriegsblinden Handwerker nach ihrer Entlassung aus der Wehrmacht ihre Arbeit allerdings nicht
ausführen, dann forderte das HVA Wien die zur Verfügung gestellten Arbeitsgeräte wieder
zurück.1795 Da im Zweiten Weltkrieg ein Mangel an solchen Gerätschaften herrschte, sollten
alle ausgelieferten Werkzeuge wirklich verwendet werden.
4.2.4 Sonderfälle
Nicht alle Kriegsblinden arbeiteten in den Berufen, für die sie eigentlich umgeschult worden
waren. Der Mangel an IndustriearbeiterInnen führte dazu, dass etwa ausgebildete Bürstenbinder einen Arbeitsplatz in einem Industriebetrieb zugewiesen bekamen.1796 Auch
erhielten nicht alle erblindeten Soldaten vor ihrer Entlassung aus der Wehrmacht eine
Berufsausbildung. Dies war vor allem dann der Fall, wenn bei Betroffenen die Umstände
ihrer Verletzung nicht geklärt waren und die Erblindung in der Folge zunächst nicht als
„Wehrdienstbeschädigung“ anerkannt worden war, etwa bei angenommener Selbstverstümmelung oder bei Unfällen, die nicht mit dem Kriegseinsatz in Verbindung standen.1797 Die
Betroffenen hatten dann keinen Versorgungsanspruch als Kriegsopfer. Wurde eine irreversible Augenverletzung allerdings nachträglich doch als Kriegserblindung anerkannt, musste
das zuständige Versorgungsamt für eine entsprechende Ausbildung sorgen, beispielsweise
in einer Blindenschule.1798
Nicht wenige Kriegsblinde hatten gravierende zusätzliche Beeinträchtigungen, wie
die bereits erwähnten blinden „Ohnhänder“.1799 In einigen Fällen dürfte das Ausmaß der
Behinderung so gravierend gewesen sein, dass die körperlichen Voraussetzungen für eine
erfolgreiche Umschulung oder Berufsausbildung nicht gegeben waren.
Aus den Akten im ÖStA ist ein Fall bekannt, bei dem der 1941 bei Riga durch eine Mine
erblindete Soldat aus Nikolsburg (Niederösterreich) Anton Z., aus der Wehrmacht entlassen
1792 Vgl. Kapitel III.3.3.
1793 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Julius B., Deutsche Kriegsblinden-Arbeitsgemeinschaft an das HVA Wien vom 8.9.1943,
Betreff. Kosten für Ausbildung Julius B.
1794 Vgl. Kapitel III.5.1, III.5.2.
1795 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Josef M., GZ VIa-Bl/NW/1944, HVA Wien an Josef M. vom 1.12.1944, Betreff: Entzug Arbeitsgeräte.
1796 Vgl. Kapitel III.5.1, III.5.3.
1797 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Erich B., Wehrmachtsfürsorgeoffizier Graz A an das Versorgungsamt Graz vom 17.10.1941,
Betreff: WDB und erblindeter Versehrter Erich B.
1798 Vgl. Kapitel II.4.5.2.
1799 Vgl. Kapitel III.1.3.
243
wurde, weil er eine berufliche Rehabilitation abgelehnt hatte.1800 Nach seiner Rückkehr in
den familiären landwirtschaftlichen Betrieb äußerte er dann aber doch den Wunsch, dort
eine kleine Bürstenbinderwerkstätte zu errichten. Ein Problem stellte dann allerdings seine
Ausbildung dar. Nach Ansicht von Ehmann, „Gebietsfachleiter“ der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“, sollte er im „Blindensammellazarett“ in Wien diese Ausbildung
absolvieren. Der zuständige Wehrmachtsfürsorgeoffizier lehnte dies allerdings ab, da Anton
Z. bereits aus der Wehrmacht entlassen worden war und dementsprechend als Zivilperson am „Soldatenlehrgang“1801 im Reservelazarett nicht teilnehmen könne. Die berufliche
Rehabilitation von Zivilpersonen, die durch die Auswirkungen des Krieges erblindeten,
selbst von ehemaligen Soldaten, war also in den Reservelazaretten nicht vorgesehen. Das
Wehrkreiskommando XVII änderte nach Rücksprache mit dem Versorgungsamt Wien
seine ablehnende Haltung und genehmigte Anton Z. schließlich aber doch die Teilnahme an
dem Bürstenbinderlehrgang im Wiener „Blindensammellazarett“. Allerdings durfte er nicht
in dem Reservelazarett übernachten und musste selbst eine Begleitperson mitbringen.1802
Ein anderer Kriegsblinder, der 1941 erblindete Wiener Anton H., hatte im Reservelazarett in Wien nur eine Grundausbildung erhalten. Nach seiner Entlassung aus der Wehrmacht
absolvierte er allerdings in den Werkstätten des RBV „Ostmark“ in der Wiener Rotensterngasse eine Ausbildung zum Korbflechter.1803 Der ehemalige Sanitätsunteroffizier war nach
seiner Erblindung zum Feldwebel befördert worden und erhielt wahrscheinlich auf Grund
seiner militärischen Stellung keine Berufsausbildung. Offiziere und Berufsunteroffiziere mit
einer aktiven Dienstzeit von mindestens viereinhalb Jahren erhielten nicht unbedingt eine
Berufsumschulung und wurden nur dann aus dem aktiven Wehrdienst entlassen, wenn sie
dies beantragten. Für sie galten besondere Bestimmungen, die aber in den Fürsorge- und
Versorgungsrichtlinien des OKW für Kriegsblinde 1942 nicht näher beschrieben wurden.
Ihr Aufenthalt in einem „Blindensammellazarett“ endete in der Regel mit dem Abschluss
der blindentechnischen Grundausbildung.1804
Bekannt ist ebenfalls, dass erblindete Soldaten vereinzelt nach einem genehmigten
Urlaub nicht in das zuständige Reservelazarett zurückkehrten. Da sie zu diesem Zeitpunkt
noch im Dienst der Wehrmacht standen, war dies eigentlich ein Fall von Desertation.1805 Die
Militärgerichtsbarkeit scheint aber nachsichtig mit den erblindeten Soldaten umgegangen
zu sein. Darauf weist zumindest das Beispiel des Kriegsblinden Johann J. aus Krainburg in
1800 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale Fürsorge Anton Z., AZ 30 b 32, Wehrmachtsfürsorgeoffizier Znaim an das HVA Wien, vom 25.8.42,
Betreff: Vorgebrachte Wünsche Anton Z.
1801 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale
Fürsorge Anton Z., AZ 30 p. 10/42 (Laz. Betr.) an das HVA Wien vom 20.10.1942, Betreff. Kriegsblinder Z.
Anton, geb. 7.10.04, Ausbildung im Bürstenmacherhandwerk.
1802 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale Fürsorge Anton Z, AZ VIa BL/NW/1942, VA Wien an die NSKOV Fachabteilung erblindeter Krieger
vom 11.11.1942, Betreff: Kriegsblinden Anton Z. aus Gurdau, Umschulung zum Bürstenmacher.
1803 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Anton H., RBV Abteilung Ostmark an das HVA Wien vom 9.7.1943, Betreff: Bekanntgabe über
Abschluß Ausbildung Anton H.
1804 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–
80, hier S. 80.
1805 Weiterführende Literatur zu Deserteuren in der Wehrmacht: Wette, Deserteure der Wehrmacht.
244
der „Untersteiermark“ hin.1806 Der 1921 geborene Johann J. war nach einem genehmigten
Urlaub nicht in das Reservelazarett für Kriegsblinde in Wien zurückgekehrt. Das Gericht der
Division 438 in Klagenfurt traf am 11. Jänner 1945 aber den Beschluss, von einer Verfolgung
abzusehen. In einer Sitzung zur „Berufsberatung“ für Johann J. vom 24. Jänner 1945, die
ohne den Betroffenen stattfand, informierte der Chefarzt die „Berufsberatungskommission“
über diesen Beschluss. Zur Urteilsbegründung heißt es in dieser Notiz: „In der Begründung
wird darauf verwiesen, daß J[…] Kriegsblinder ist, der für einen Dienst in der Wehrmacht
nicht mehr in Frage kommt.“1807 Johann J. dürfte daraufhin aus der Wehrmacht entlassen
worden sein. Der Akt gibt keinen Aufschluss darüber, inwieweit versorgungsrechtlich mit
Johann J. weiter verfahren wurden.
Ebenfalls einen Sonderfall stellten erblindete Angehörige der SS-Formationen dar. Darauf wird in Kapitel III.8 eingegangen.1808
4.3 Hilfsmittel und Führhunde
Eine wichtige Voraussetzung für die berufliche Integration Kriegsblinder und anderer
Kriegsopfer mit körperlichen Beeinträchtigungen war der Einsatz von Hilfsmitteln.1809 Um
die beruflichen Möglichkeiten der Betroffenen zu verbessern, intensivierte das NS-Regime
die Entwicklung von neuen Behelfen. Für einarmige Betroffene wurde beispielsweise 1943
eine Schreibmaschine erfunden, die mit einem Fußpedal bedient werden konnte. Mit der
unversehrten Hand konnten die Buchstabentasten gedrückt werden. Die Umschalttaste für
Klein- und Großbuchstaben oder Sonderzeichen wurde durch das Fußpedal betätigt. Dies
erhöhte die Schreibgeschwindigkeit.1810
Noch 1944 richtete das OKW unter Leitung von Oberstabsarzt Dr. Ernst Rühe eine
„Arbeitsgemeinschaft für Blindenbetreuung“1811 ein, die vorhandene Blindenhilfsmittel auf
weitere technische Verbesserungsmöglichkeiten überprüfen und neue entwickeln sollte.
Bei der Entwicklung und Herstellung von Hilfsmitteln ergaben sich allerdings einige
Schwierigkeiten, die nicht nur durch den kriegswirtschaftlichen Mangel an Rohstoffen und
Materialien gekennzeichnet waren. Die Herstellungskosten von Hilfsmitteln waren meist
sehr hoch. Gleichzeitig war die zu produzierende Stückzahl relativ niedrig. Eine Se­ri­en­fa­
bri­ka­tion war daher nicht gewinnorientiert möglich und die Kosten für ein einzelnes Gerät
konnten unerschwinglich werden.1812
1806 Die Untersteiermark (Spodnja Štajerska) war Teil der ab 1941 besetzten Verwaltungsbezirke und Regionen von Slowenien. Vgl. weiterführend dazu auch die im folgenden Sammelband angegebene Literatur:
Jochem, Seiderer, Entrechtung.
1807 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale
Fürsorge Johann J, AZ VIa-Bl/NW/1945, HVA Wien, Berufsbetreuung Kriegsblinder, Beratung im Reservelazarett IXa in Wien vom 24.1.1945.
1808 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 114.
1809 Vgl. Kapitel III.4.2.3, III.4.3.
1810 Vgl. o. A., Eine Schreibmaschine für Kriegsversehrte, S. 58.
1811 O. A., Arbeitsgemeinschaft für Blindenbetreuung, S. 78.
1812 Vgl. Moser, Das elektrische Auge, S. 9–10; o. A., Rechenmaschine für Blinde, S. 23–26.
245
Nach dem RVG1813 und dem WFVG1814 zählten zu den Hilfsmitteln, auf die Kriegsblinde gegebenenfalls Anspruch hatten, auch Führhunde.1815 Die Hunde sollten den
Kriegsblinden wieder eine selbständige Lebensführung ermöglichen und sie beispielsweise auf dem Weg zum Arbeitsplatz führen. In der Wehrmacht gab es eine eigene
Blindenführhundeabteilung, die zum Heereshundedienst gehörte, der zur Nachrichtentruppe zählte.1816 In einem vierwöchigen Lehrgang erlernten die Kriegsblinden bei
diesen Blindenführhundestaffeln den Umgang mit den ausgebildeten Tieren.1817 Nach
einem Erlass des Chefs des Wehrmacht-Sanitätswesens vom 1. April 1944 konnten
auch Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges Hunde aus diesen Staffeln der Wehrmacht
erhalten.1818 Ab 1944 hatte die Wehrmacht zur Ausbildung der Tiere drei Standorte im
„Deutschen Reich“. Am 10. Jänner 1944 wurde die Dienststelle „Dietrichstein“ in Wien/
Weilingau, Mühlenbergstraße 9, eröffnet.1819 Die beiden anderen Führhundestaffeln
befanden sich in Biesenthal und Melchow/Mark, die beide zum Kreis Oberbarnim (D)
zählten.1820
Nach den Richtlinien des OKW konnten erblindete Soldaten einen Hund allerdings
erst nach Abschluss der Berufsausbildung erhalten.1821 Außerdem sollte feststehen, wo die
Betreffenden nach ihrer Entlassung aus der Wehrmacht lebten und welchem Beruf sie nachgingen. Damit sollte vermieden werden, dass Kriegsblinde einen Hund wieder zurückgeben
mussten, wenn sich herausstellte, dass die Lebens- und Wohnverhältnisse die Haltung eines
solchen Tieres unmöglich machten.1822
Ein Grund, warum nicht alle Kriegsblinden einen Führhund bekamen, war finanzieller Natur, denn die Ausbildung der Tiere war sehr aufwändig. Damit sie blinde Menschen sicher führen konnten, mussten sie beispielsweise Hindernisse, die für die Tiere
selbst nicht relevant waren, als solche erkennen. Das heißt, sie mussten ihren blinden
BesitzerInnen Briefkästen oder ähnliche Hindernisse anzeigen, unter denen die Tiere
normalerweise problemlos hindurch gehen konnten.1823 Darüber hinaus benötigten die
Tiere Futter und eine tierärztliche Versorgung, was insbesondere während des Krieges
zu Schwierigkeiten führte. Die BesitzerInnen von Hunden bekamen zwar Bezugsscheine
für Tiernahrung zugeteilt, die auf Grund der kriegsbedingten Lebensmittelknappheit
nur pflanzlich war.1824
1813 Vgl. Kapitel III.2.2.
1814 Vgl. Hoffmann, Blinde Menschen in der „Ostmark“, S. 270–271.
1815 Zum Begriff Führhunde vgl. Kapitel III.3.5.3.
1816 Vgl. Brüll, Blindenführhunde der Wehrmacht, S. 44–48, hier S. 47. Leutnant Brüll war Leiter der Blindenführhundabteilung einer Hundestaffel.
1817 Vgl. Brüll, Blindenführhunde der Wehrmacht, S. 44–48, hier S. 47.
1818 Vgl. o. A., Neue Beschaffungsmöglichkeiten von Führhunden, S. 43.
1819 Vgl. o. A., Neue Blindenführhund-Staffel, S. 44.
1820 Vgl. o. A., Neue Beschaffungsmöglichkeiten von Führhunden, S. 43.
1821 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Merkblatt. Ärztliche Fürsorge für erblindete Soldaten, S. 164–165,
hier S. 165.
1822 Vgl. Liese, Das Führhund-Problem, S. 115–188.
1823 Vgl. Brüll, Blindenführhunde der Wehrmacht, S. 44–48, hier S. 44.
1824 Vgl. o. A., Futtermittelscheine für Hunde, S. 130–131.
246
4.4 Resümee
In diesem Kapitel wurden lediglich die Grundzüge der schrittweisen Wiedereingliederung von erblindeten Soldaten in ein ziviles Leben aufgezeigt. Da die Reservelazarette zur
beruflichen Rehabilitation im Zweiten Weltkrieg bisher kaum wissenschaftlich untersucht
wurden, wäre eine weitergehende Forschung unter Einbindung von noch vorhandenen
Quellen aus dem Bestand des „Freiburger Militärarchives“ zu diesem Thema notwendig.1825
Unter Umständen könnte eine Untersuchung dieses Freiburger Quellenbestandes folgende
in dieser Studie offenen Fragen beantworten: Es konnte beispielsweise nicht ausführlich
geklärt werden, welche Gründe dazu führten, dass erblindete Soldaten ohne Berufsausbildung aus dem Dienst der Wehrmacht entlassen wurden. Außerdem scheinen in den
Reservelazaretten ausschließlich erblindete Soldaten ausgebildet worden zu sein. Der Ablauf
der Berufsausbildung von durch den und im Krieg erblindeten Zivilpersonen konnte bisher
nicht geklärt werden.1826
1825 Darüber hinaus wäre es möglich, diese Sammellazarette für Kriegsblinde und ihre Versorgung durch
die Wehrmacht weitergehend zu untersuchen. Im Bundesarchiv Deutschland, Abteilung Militärarchiv in
Freiburg im Breisgau gibt es unvollständige Bestände zu diesem Thema, die für diese Arbeit nicht eingesehen wurden, weil ein weiterer Archivbesuch den budgetären Rahmen dieses ausschließlich aus Eigenmitteln finanzierten Projektes überschritten hätte. Vgl. MA, Sanitätsdienststellen und Reservelazarette,
RH 55/103, Anordnung über die Schließung von Lazaretten, Versorgung kriegsblinder Soldaten, Zahnbehandlung und Verfahren bei Todesfällen 1945; MA, Reservelazarette RH 55/104, Berufliche Ausbildung, Fürsorge und Versorgung kriegsblinder Soldaten 1944–1945; RH 55/105, Fürsorge für Kriegsblinde.
– Betreuung durch weibliche Luftwaffen-Angehörige 1945; RH 55/122, Beförderung von Kriegsblinden
1944–1945.
1826 Vgl. Kapitel III.9.
247
5.Die berufliche Situation Kriegsblinder
5.1 Einführung
Wie im vorhergehenden Kapitel über die Rehabilitation erblindeter Soldaten festgestellt,
wurden die meisten zu Handwerkern ausgebildet.1827 Das Blindenhandwerk galt allerdings
als unrentabel, da die hergestellten Produkte in industrieller Fertigung wesentlich kostengünstiger erzeugt werden konnten.1828 Dementsprechend versuchte das NS-Regime insbesondere für die Kriegsblinden neue Berufsmöglichkeiten zu schaffen. Dabei gingen die
Bemühungen weit über diejenigen für die Zivilblinden hinaus. Nicht nur Stenotypist oder
Telefonist galten für Kriegsblinde als Berufe der Zukunft, in diesen Berufszweigen wurde
ihnen sogar eine Beamtenlaufbahn in Aussicht gestellt. Viele Kriegsblinde arbeiteten beispielsweise bei der „Deutschen Reichspost“. 1943 waren von den 97 dort beschäftigen blinden
Menschen 79 im Ersten und 14 im Zweiten Weltkrieg erblindet. Nur vier Zivilblinde waren
bei der „Deutschen Reichspost“ beschäftigt.1829
Auch die Wehrmacht sollte möglichst viele Kriegsblinde beschäftigen, etwa im
Nachrichtenwesen oder bei entsprechenden sprachlichen Kenntnissen als Dolmetscher
oder als Masseure1830 in den Reservelazaretten.1831 Der Kriegsblinde Oskar C. erhielt
beispielsweise 1942 eine Ausbildung zum Heilmasseur in Wien und arbeitete dann in
einem Fachlazarett für Rheumakranke in Baden.1832 Kriegsblinden sollte außerdem die
Absolvierung eines neuen Studienganges der Rundfunkwissenschaften ermöglicht werden.1833 Die zuständigen Stellen im Kriegsblindenwesen glaubten auch, Kriegsblinde
im Pressewesen als Schriftleiter oder Lektor einsetzen zu können, wenn sie durch ein
Studium auf diese Tätigkeiten entsprechend vorbereitet würden.1834 Dass Kriegsblinde
tatsächlich in diesem Berufsfeld tätig waren, kann allerdings nicht belegt werden. Nach
der Einschätzung von Pielasch und Jaedicke zeigten die Kriegsblinden auf Grund ihrer
besseren Arbeitsmöglichkeiten im Vergleich zu den Zivilblinden das „Bild einer fortgeschrittenen sozialen Integration“.1835
Die Einbindung von Kriegsblinden in das Berufsleben verlief allerdings nicht ohne
Schwierigkeiten. Auf diese Probleme geht Kapitel III.5.4 ein. Eine besondere Herausforderung an das NS-Kriegsblindenwesen war es, Berufe zu finden, die auch von den zahlreichen
Kriegsblinden mit mehrfachen Beeinträchtigungen ausgeübt werden konnten.
1827 Über die berufliche Integration ziviler Kriegsblinder kann auf Grund der Quellenlage keine Aussage gemacht werden, weshalb sich dieses Kapitel hauptsächlich auf die berufliche Integration der ehemaligen
Soldaten bezieht. Vgl. Kapitel III.4.2.4, III.9.
1828 Vgl. Kapitel II.6.1, II.6.2.
1829 Vgl. Webers, Beschäftigung von Kriegsblinden, S. 90–92, hier S. 90–91.
1830 Vgl. Baer, Der kriegsblinde Masseur, S. 103–105.
1831 Vgl. Schwendy, Versorgung und Fürsorge, S. 105–108; Christmann, Der Blinde im Dienst, S. 102–103.
1832 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Oskar C.
1833 Vgl. Kapitel II.6.6.
1834 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Niederschrift über die Tagung am 10. und 11. 11.
1942, Betreff: erblindete Soldaten, S. 4.
1835 Pielasch, Jaedicke, Geschichte des Blindenwesens, S. 163.
248
Anders als im Ersten Weltkrieg gab es für erblindete Soldaten des Zweiten Weltkrieges
nicht mehr die Möglichkeit, eine landwirtschaftliche Ausbildung zu absolvieren. Im Ersten
Weltkrieg war 1916 für Kriegsblinde zur Erlernung von landwirtschaftlichen Tätigkeiten
eine eigene Schule in Niederösterreich gegründet worden. Dort lernten sie durch den Einsatz diverser Hilfsmittel, Arbeiten im Gemüse- und Obstanbau sowie in der Kleintierzucht
auszuführen.1836 Auch in Deutschland wurde kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges
in der Nähe von Potsdam eine entsprechende landwirtschaftliche Schule für Kriegsblinde
eingerichtet.1837 Nachdem die erblindeten Soldaten des Ersten Weltkrieges ihre Ausbildung
in diesen beiden Einrichtungen abgeschlossen hatten, wurde diese offenbar geschlossen,
denn in der beruflichen Rehabilitation für die erblindeten Soldaten des Zweiten Weltkrieges
war diese Ausbildung nicht vorgesehen.1838 Erst gegen Ende des Krieges, im Sommer 1944,
regte die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ an, eine Ausbildungsmöglichkeit in
der Landwirtschaft und im Gartenbau zu schaffen, aber diese Pläne wurden nicht mehr
umgesetzt.1839
Einige erblindete Soldaten hatten in den Besprechungen zur „Berufsberatung“ in den
Reservelazaretten den Wunsch geäußert, einer landwirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen.
Meist handelte es sich dabei um Kriegsblinde, die vor ihrer Erblindung im ländlichen Raum
gelebt hatten. Die „Berufsberatungskommissionen“ lehnten dieses Ansinnen allerdings ab,
unter anderem weil die Betriebe infolge des Krieges nicht mit Futter- und Saatgut versorgt
werden könnten.1840
Die Bemühungen, Kriegsblinde wieder in das Berufsleben zu integrieren, nutzte das
NS-Regime für Propagandazwecke.1841 Kriegsblinde bekamen etwa Dank- und Anerkennungsurkunden der DAF.1842 In der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ und in „Die Blindenwelt“
wurde 1941 etwa verlautbart, dass der Betrieb von Othmar Huber in Graz von der DAF
„beim Leistungskampf der deutschen Betriebe“1843 ausgezeichnet worden war. Dabei wurde
allerdings nicht erwähnt, welcher Art dieser Betrieb war. Es dürfte sich um eine Werkstätte
gehandelt haben. In den Fürsorgeakten der Kriegsblinden im ÖStA befindet sich kein Akt
über Huber, aus dem eine entsprechende Information darüber entnommen werden könnte.
1836 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 96–103.
1837 Vgl. o. A., Verschiedenes, in: Zeitschrift für das österreichische Blindenwesen, Nr. 1, Jg. 7 (1920), S. 1256.
1838 Obwohl während des Zweiten Weltkrieges keine Kriegsblinden für landwirtschaftliche Berufe ausgebildet wurden, gab es mit Stichtag vom 31. Dezember 1968 unter den 661 Kriegsblinden, die dem österreichischen Kriegsblindenverband angehörten, 27 Landwirte. Die selbständig in der Landwirtschaft tätigen
Kriegsblinden hatten fast alle Höfe geerbt und bewirtschafteten diese wahrscheinlich mit Hilfskräften.
Vgl. o. A., Der Kriegsblinde im Erwerbs- und Wirtschaftsleben, S. 64–66, hier S. 64.
1839 Vgl. o. A., Einheitliche Ausrichtung der Kriegsblindenbetreuung, S. 49–50.
1840 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Fridolin L., VA Innsbruck an das HVA Wien vom 19.5. 1943, Betreff: Berufsberatung Kriegsblinder Fridolin L; Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Anton G.
1841 Vgl. Kapitel III.3.5.1, III.3.5.2.
1842 Ein an die NSDAP angeschlossener Verband, der 1933 an die Stelle von Gewerkschaften und ArbeitnehmerInnenverbänden trat. Vgl. Schmitz-Berning, Vokabular, S. 135–137.
1843 O. A., Aus dem Kameradenkreis. Kriegsblinde im Berufs- und Wirtschaftsleben, in: Der Kriegsblinde,
Nr. 8/9, Jg. 25 (1941), S. 105; o. A., Zur Chronik des Blindenwesens. Graz, in: Die Blindenwelt, Nr. 10, Jg.
29 (1941), S. 268. 1943 wurde der leitende NSKOV-Funktionär der „Fachabteilung“ für Kriegsblinde in der
Steiermark Huber zum Gauredner bestellt. Vgl. Kapitel III.3.5.2.
249
5.2 Kriegsblinde HandwerkerInnen1844
5.2.1 Umschulung von Trafikanten nach dem „Anschluss“
Viele Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges hatten vor ihrer Entlassung aus dem Militärdienst
zwar eine Handwerksausbildung erhalten,1845 aber da weit mehr als die Hälfte der Betroffenen eine Tabaktrafik erhielten, waren sie durch die Einnahmen aus diesem Geschäft und ihre
Renten nach dem IEG ausreichend versorgt und mussten nicht in einem Handwerksberuf
arbeiten. Nach dem „Anschluss“ und den damit verbundenen Änderungen des Tabaktrafikmonopols und den Auswirkungen der kriegsbedingten Regulierung der Tabakwarenzuteilung wurden die Tabakverschleißgeschäfte, wie in Kapitel III.5.5 ausführlich geschildert
wird, zunehmend unrentabel. Die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ führte daher
auf Kosten der Versorgungsämter ab 1941 entsprechende Lehrgänge zur Ausbildung in
Blindenhandwerksberufen insbesondere für Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges aus allen
„Alpen- und Donaureichsgauen“ durch.1846 Die Ausbildung zu Bürstenmachern übernahm
der Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges Albin Sackl. Der Bürstenmachermeister wurde für
diese Tätigkeit von Graz nach Wien geholt.1847 Ort, Häufigkeit und Umfang dieser Kurse
sind nicht bekannt. Allerdings geht aus den Akten im ÖStA hervor, dass die Kriegsblinden
des Ersten Weltkrieges nach Beendigung ihrer Ausbildung eine vollständige Werkzeuggarnitur zur Ausübung ihres Handwerkes erhielten. Zunächst allerdings nur leihweise. Das
HVA „Ostmark“ übernahm erst die Kosten für die Gerätschaften, wenn die Kriegsblinden
tatsächlich ihre Arbeit aufnahmen. Dies geht beispielsweise aus einem standardisierten
Schreiben an den kriegsblinden Klagenfurter Trafikanten August Z. hervor. Mit 46 Jahren
musste der im Ersten Weltkrieg vollständig erblindete Vater von vier Kindern noch einen
neuen Beruf erlernen.1848 Es ist vorstellbar, dass diese Umstände zu Unmut unter den Betroffenen geführt haben könnten, der allerdings nicht dokumentiert ist.
5.2.2 Berufliche Situation der kriegsblinden HandwerkerInnen
Zivilblinde, die als HandwerkerInnen arbeiteten, waren entweder in einer Werkstatt
angestellt oder selbständig.1849 Der Großteil der kriegsblinden HandwerkerInnen war in
Heimarbeit für die „Kriegsblindenarbeitsgemeinschaft“ der NSKOV tätig. Sie erhielten
von dieser Stelle nicht nur Arbeitsaufträge, sondern auch ihren Arbeitslohn ausbezahlt.
Die NSKOV vertrieb die handwerklichen Produkte der Kriegsblinden aus der „Ostmark“
über eine zentrale Verkaufsstelle in Wien. Abnehmer waren hauptsächlich die Wehrmacht,
1844 Da auch durch die Auswirkungen des Krieges erblindete Zivilpersonen, darunter waren auch Frauen, in
diesem Berufszweig ausgebildet wurden, wird die Formulierung HandwerkerInnen gewählt.
1845 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 81–96.
1846 Vgl. o. A., Zur Chronik des Blindenwesens. Wien, in: Die Blindenwelt, Nr. 4, Jg. 29 (1941), S. 103.
1847 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 115; o. A., Reichsstatthalter u. Gauleiter Dr. Jury bei kriegsblinden Handwerkern, S. 71.
1848 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale Fürsorge Anton Z.
1849 Vgl. Kapitel II.6.2.
250
NS-Dienststellen oder Abteilungen der NSDAP.1850 Vereinzelt gab es zu HandwerkerInnen ausgebildete Kriegsblinde, die in ihrem erlernten Beruf eine Anstellung in einem
Wirtschaftsbetrieb fanden. Der 1923 geborene Kriegsblinde Alois J. aus Maribor1851 im
„Sudetengau“ war im Jänner 1944 erblindet und im „Blindensammellazarett“ in Wien zum
Bürstenbinder ausgebildet worden. Nach seiner Entlassung konnte der ehemalige Rangierer
der Reichsbahn wieder bei seinem alten Arbeitgeber im Bahnausbesserungswerk als Bürstenmacher und Polsternäher anfangen.1852
Große Schwierigkeiten bereitete im Zweiten Weltkrieg, wie bereits erwähnt,1853 die Versorgung der blinden HandwerkerInnen mit Rohstoffen. Schon vor Ausbruch des Zweiten
Weltkrieges war durch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen die Anzahl kriegsblinder Handwerker im „Deutschen Reich“ und damit der Bedarf an Rohstoffen stark gestiegen. 1938
bildete die NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ beispielsweise zusätzlich 80
Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges zu Handwerkern aus.1854 Im Gegensatz zu den Organisationen der Zivilblinden versuchte daher die NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter
Krieger“ schon frühzeitig, die Versorgung mit Rohstoffen sicherzustellen. Um den Nachschub von Hölzern für die Herstellung von Bürsten gewährleisten zu können, kaufte die
„Kriegsblinden-Arbeitsfürsorge“ der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ im
April 1939 bei der „Berliner Stelle für Arisierung industrieller Werke“ das „Hölzerwerk Robert
Wolff“ in Stolberg (D) „preiswert“.1855 Insgesamt war die Situation für die Kriegsblinden,
die als HandwerkerInnen tätig waren, daher wesentlich günstiger, weil sie sowohl durch
die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ sowie auch durch die Hilfsmittelstellen
für Zivilblinde des RBV unterstützt wurden.1856
5.3 Die Beschäftigung Kriegsblinder in Industriebetrieben
Wie bereits im Kapitel über die Zivilblinden erwähnt, wurde ab 1938, bedingt durch den
ArbeiterInnenmangel im „Deutschen Reich“, verstärkt versucht, blinde Menschen in Industriebetrieben zu beschäftigten.1857 Zu HandwerkerInnen ausgebildete Kriegsblinde kamen
daher auch als Hilfsschlosser oder für Kontrollarbeiten in Industriebetrieben unter.1858
Die direkte Ausbildung von Kriegsblinden für eine Tätigkeit in Fabriken wurde nach
Beginn des Zweiten Weltkrieges zunächst aber nicht forciert, da es von verschiedenen Seiten
eine ablehnende Haltung gegenüber diesen Tätigkeiten für Kriegsblinde gab. Der Stabsarzt
des Reservelazarettes für erblindete Soldaten in Wien, Franz Schubert, lehnte beispielsweise
eine Beschäftigung Kriegsblinder in der Industrie auf Grund des Lärmes in den Betrieben
1850 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 7.
1851 In den Akten als Marburg/Drau bezeichnet.
1852 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Alois J.
1853 Vgl. Kapitel II.6.2.
1854 Vgl. Jantzen, Ludwig, Bundestag 1939, S. 145–151, hier S. 147.
1855 Vgl. Jantzen, Ludwig, Bundestag 1939, S. 145–151, hier S. 147.
1856 Vgl. Kapitel II.6.1, II.6.4.
1857 Vgl. Kapitel II.6.1., II.6.3.
1858 Vgl. o. A., Vermischtes. Neue Arbeitsmöglichkeiten für Blinde, in: Der Kriegsblinde, Nr. 10/11, Jg. 25
(1941), S. 124.
251
und der monotonen Arbeit ab, die den Betroffenen „weniger Befriedigung“1859 bieten würde
als in anderen Berufen. Außerdem gab es negative Erfahrungen mit der Beschäftigung
von Kriegsblinden in industriellen Unternehmen.1860 Der bereits erwähnte Kriegsblinde
Johann H. kündigte beispielsweise seine Anstellung im Heeresbekleidungsamt Salzburg
1943 wieder, weil die Maschinen dort so eng beieinander standen, dass er sich ständig den
Kopf anstieß.1861 Auch die erblindeten Soldaten in den Reservelazaretten äußerten häufig
die Bitte, nicht in einem Industriebetrieb angestellt zu werden.1862
Im Laufe des Krieges stieg aber der Druck des NS-Regimes auf die für die Ausbildung
und Versorgung der Kriegsblinden zuständigen NS-Stellen, erblindete Soldaten nach ihrer
Entlassung aus der Wehrmacht in kriegswichtigen Betrieben einzusetzen. In der Zeitschrift
„Der Kriegsblinde“ erschienen dementsprechend Beiträge, in denen die Tätigkeit von
Kriegsblinden in Industriebetrieben beschönigt wurde. Über die beiden Betriebe „Junkers
Flugzeuge- und Motorenwerke AG“ in Dessau (D) und die „Ernst Heinkel Flugzeugwerke“
in Rostock (D) wurde beispielsweise 1941 berichtet, dass gute Erfahrungen mit blinden
ArbeiterInnen an Bohrmaschinen, Drehbänken, Fräsmaschinen, Schreibmaschinen, in der
Kontrolle, als Verpacker, im Materiallager sowie als Telefonisten gemacht worden seien.1863
Es wurde betont, dass die Arbeitsplätze alle sicher und entsprechend adaptiert worden seien.
Die Firma Junkers hat nach diesen Angaben sogar extra einen Hundezwinger eingerichtet,
in dem „Leithunde“1864 der Kriegsblinden während der Arbeitszeit untergebracht werden
konnten.1865
Das OKW regte darüber hinaus in seinen Fürsorge- und Versorgungsbestimmungen aus
dem Jahr 1942 an, die Betätigungsfelder in den Industrieunternehmen abwechslungsreicher
zu gestalten. Kriegsblinde sollten nicht immer die gleichen Arbeiten ausführen, sondern
unterschiedliche Tätigkeiten wie Zählen, Abwiegen, Sortieren und Verpacken.1866 Die tatsächlichen Arbeitsbedingungen dürften dem allerdings nicht entsprochen haben: Erfahrungen mit blinden ArbeiterInnen hatten gezeigt, dass sie bei der Ausführung von monotonen
Arbeiten am laufenden Band, bei denen sie immer die gleichen Handgriffe machen mussten,
die besten Leistungen erbrachten.1867 Eine für die Betroffenen attraktivere Gestaltung ihres
Betätigungsfeldes entsprach demnach nicht dem NS-Produktivitätspostulat.
Um die Anstellung Kriegsblinder und anderer Kriegsopfer weiter zu forcieren, richtete
die Reichsgruppe Industrie im November 1942 unter dem Vorsitz des Vorstandsmitgliedes
1859 Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 7.
1860 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Niederschrift über die Tagung am 10. und
11.11.1942, Betreff: erblindete Soldaten, S. 4.
1861 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann H, H. an das HVA Wien vom 24.6.1943, Betreff: Arbeitseinstellung im Heeresbekleidungsamt.
1862 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Niederschrift über die Tagung am 10. und
11.11.1942, Betreff: erblindete Soldaten, S. 4.
1863 Vgl. o. A., Arbeits- und Berufskunde, S. 10.
1864 Zu diesem Begriff vgl. Kapitel III.3.5.3.
1865 Vgl. o. A., Arbeits- und Berufskunde, S. 10.
1866 Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Richtlinien über die ärztliche und Berufsbetreuung [1942], S. 77–
80, hier S. 79.
1867 Vgl. Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 109.
252
der „Siemens & Halske A. G.“ und der „Siemens-Schuckert-Werke“, Wolf-Dietrich von Witzleben, einen Ausschuss für die „Wiedereingliederung von Kriegsversehrten“1868 in Industriebetrieben ein. Die beiden genannten Siemens-Unternehmen waren damals die größten
industriellen Arbeitergeber für blinde Menschen.1869
Gemäß der Forderung des NS-Regimes, restlos jede Arbeitskraft zu „verwerten“, wurden
auch Kriegsblinde mit weiteren körperlichen Beeinträchtigungen in Industriebetrieben
eingesetzt. Durch bestimmte Adaptionen der Maschinen war es bereits seit dem Ersten
Weltkrieg möglich, beispielsweise armlose Kriegsblinde an Bohrmaschinen arbeiten zu
lassen, die mit Fußpedalen bedient werden konnten.1870 Zu diesen mehrfachbehinderten
Kriegsblinden zählte auch der 1920 geborene St. Pöltener Karl H. Beim Verlegen von Minen
hatte er sich Anfang 1943 schwer verletzt. Neben seiner Erblindung war seine rechte Hand
so stark verwundet worden, dass ihm der Daumen und mehrere Endglieder der Finger
entfernt werden mussten. Der Gebrauch seiner rechten Hand war dementsprechend nur
sehr eingeschränkt möglich. Trotzdem kam die Kommission, die zur „Berufsberatung“
von Karl H. zusammentrat, 1943 zu dem Entschluss, er könne gewisse Arbeiten in einem
Industriebetrieb wie zum Beispiel Sortieren ausführen.1871 Zudem gab es in St. Pölten mit
der „Ersten Österr. Glanzstoffabrik A. G.“1872 ein Unternehmen, das nach dem „Invalidenbeschäftigungsgesetz“ nicht genügend ArbeiterInnen mit einer Behinderung, insbesondere
Kriegsgeschädigte, angestellt hatte. Vier solcher Stellen waren 1943 nicht besetzt. Dementsprechend veranlasste das Versorgungsamt Wien III, dass Karl H. dort unterkam. Trotz
seiner verletzten Hand sollte er das Aufreihen, Zählen und Glätten von Seidenfadenspulen
bei einem Stundenlohn von 0,70 RM übernehmen.1873
5.4 Schwierigkeiten bei der Integration Kriegsblinder in die Berufswelt
Ein Grund, warum es bei der Integration Kriegsblinder in andere Berufszweige als die
hier ausführlicher geschilderten Bereiche Handwerk und Industrie, Schwierigkeiten gab,
waren Vorbehalte gegenüber der Leistungsfähigkeit blinder Menschen. Dies betraf beispielsweise die Masseure. Auch wenn sie Anstellungen in den Lazaretten der Wehrmacht
sowie in Kliniken fanden, als selbständige Masseure konnten sie nur eingeschränkt tätig
werden. Dafür erhielten sie nach einer Verfügung des Reichsgesundheitsamtes 1943 nur
1868 Schanzer, Rückführung und Einsatz, S. 86.
1869 Vgl. Kapitel II.6.3. Die Firma „Siemens & Halske“ aus Berlin war darüber hinaus das einzige Unternehmen
im Deutschen Reich, das Tastzeichen für die Adaptierung von Arbeitsplätzen für blinde TelefonistInnen
herstellten konnte. Vgl. Kapitel II.6.5.
1870 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 108 (Abb. 22).
1871 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Karl H., HVA Wien an Leiter des VAIII Wien vom 9.3.1943, Betreff: Arbeitsfürsorge für den
Kriegsblinden K. Hl.
1872 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale
Fürsorge Karl H., HVA Wien an Leiter des VAIII Wien vom 9.3.1943, Betreff: Arbeitsfürsorge für den
Kriegsblinden K. Hl.
1873 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Karl H., HVA Wien an Leiter des VAIII Wien vom 9.3.1943, Betreff: Arbeitsfürsorge für den
Kriegsblinden K. Hl.
253
dann eine Zulassung, wenn eine geeignete Person zur „Hilfsleistung zur Verfügung“1874
stand.
Die größten Schwierigkeiten gab es bei der Vermittlung von blinden TelefonistInnen.1875
Wie bereits im Kapitel über die beruflichen Möglichkeiten der Zivilblinden (II.6) ausgeführt,
fanden von den in der Zeit zwischen 1940 und 1945 ausgebildeten 33 Kriegs- und Zivilblinden nur 15 eine Anstellung.1876 Aus den Akten im ÖStA geht hervor, dass entsprechende
Anfragen von Versorgungsämtern und Wehrmachtsfürsorgeoffizieren bei Betrieben immer
wieder abschlägig beantwortet wurden.1877 So lehnte beispielsweise die „Reichsbahndirektion
Wien“ die Anstellung von blinden TelefonistInnen ab, weil die technischen Voraussetzungen dafür nicht gegeben seien. Außerdem könne ihnen beispielsweise bei Unfällen oder
anderen außergewöhnlichen Vorkommnissen nicht zugetraut werden, Hilfsmannschaften,
ÄrztInnen und den technischen Notdienst zu benachrichtigen.1878
Bei der Anstellung von Kriegsblinden in Büroberufen kam es außerdem immer wieder vor, dass die aus der Wehrmacht entlassenen erblindeten Soldaten eine Stelle nicht
sofort antreten konnten, weil die notwendigen Hilfsmittel wie Stenographiermaschinen
oder Schreibmaschinen nicht rechtzeitig geliefert wurden oder das zuständige Versorgungsamt ihnen nicht rechtzeitig eine Unterkunft zuweisen konnte.1879 Grund für diese
Verzögerungen waren zumeist kriegsbedingte Lieferschwierigkeiten sowie die herrschende
Wohnungsnot. Der Kriegsblinde Tiroler Johann H. aus Gerlos war, nachdem er im Jänner
1942 durch ein Explosivgeschoss bei Moskau erblindet war, im Reservelazarett Wien
zum Maschinenschreiber ausgebildet worden und bekam eine Anstellung bei den „Raspe
Werken“ in Kramsach zugewiesen. Zunächst fehlten ihm für den Dienstantritt die notwendigen Hilfsmittel und die ihm zugedachte Wohnung musste erst noch renoviert werden.
Bis zum 1. Juni 1943 sollte der Kriegsblinde sie aber beziehen können. Seine Möbel waren
allerdings bereits am 1. Mai 1943 von seinem Heimatort Gerlos übersiedelt worden, mit
der Begründung, dass im Laufe des Monats Mai für diese Zwecke kein Treibstoff mehr zur
Verfügung stünde.1880 Das Beispiel von Johann H. zeigt, dass die NS-Stelle sich deshalb
um eine rasche Integration Kriegsblinder in die Arbeitswelt bemühte, da sie ansonsten
negative Reaktionen der Bevölkerung befürchtete. In einem Schreiben an den persönlichen Referenten des Reichsstatthalters in Salzburg bat das HVA Wien im Fall von Johann
H. beispielsweise darum, alles Notwendige in die Wege zu leiten, damit der inzwischen
aus der Wehrmacht entlassene Johann H. möglichst schnell seine Tätigkeit in Kramsach
aufnehmen könne:
1874 O. A., Kriegsblinde als selbständige Massierer, S. 59; Knittel, Arbeits- und Berufskunde, S. 20–25, hier
S. 24.
1875 Vgl. Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 6. Vgl. Kapitel II.6.1, II.6.5.
1876 Vgl. Kapitel II.6.5.
1877 Vgl. hierzu auch Schubert, Ueber Blindenfürsorge, S. 7.
1878 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann G. Wehrmachtsfürsorgeoffizier, Lazarettbetreuung im Standort Groß-Wien an das
HVA Wien vom 26. 8.1942, Betreff. Umschulung der versehrten Wehrdienstbeschädigten.
1879 Vgl. Kapitel III.4.2.3.
1880 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann H., GZ IV/2 Fürsorge, VA Innsbruck an das HVA Wien vom 13.5.1943, Betreff:
Kriegsblinder Johann H., geb. 22.7.1920.
254
„Bei der Aufmerksamkeit, die in der Öffentlichkeit der Betreuung der Schwerversehrten entgegengebracht wird, könnte der Fall H[…] zu unliebsamen Erörterungen
Anlaß geben.“1881
Die kriegsbedingten Umstände machten es allerdings unmöglich, die Kriegsblinden in dem
Ausmaße zu versorgen, wie es durch die Propaganda versprochen wurde.
Wie bereits im Kapitel über die Rehabilitation der erblindeten Soldaten (III.4) ausgeführt,
gab es einige Betroffene, die eine akademische Laufbahn einzuschlagen wünschten, aber
nur wenige wurden tatsächlich zum Studium zugelassen.1882 Dabei hatte das NS-Regime
1942 geplant, insbesondere Kriegsblinden neue Studienmöglichkeiten zu eröffnen, indem
es beispielsweise das Studium der Rundfunkwissenschaften auch blinden Studierenden
zugänglich machen wollte.1883 Die klassischen Studienfächer für blinde Menschen waren
Theologie, Jurisprudenz, Philosophie und Philologie.1884 Hintergrund dieser Entwicklung,
neue Studienangebote zu schaffen, war, dass es bei der Integration blinder AkademikerInnen
aus den hier genannten Studiengängen Schwierigkeiten gab. Nur wenige blinde Menschen
fanden beispielsweise eine Anstellung als LehrerInnen, weil ihnen die Tätigkeit nicht zugetraut wurde, insbesondere mit dem Hinweis darauf, dass sie SchülerInnen nicht ausreichend
beaufsichtigen konnten. Der Leiter der „Blindenstudienanstalt“ in Marburg, Carl Strehl,
bat daher das OKW auf einer Tagung 1942 in Berlin, dem Reichsarbeitsminister und dem
„Reichsministerium für Erziehung“ wegen der Verwendung von Philologen im Schuldienst
zu verhandeln. Außerdem regte er an, kriegsblinde LehrerInnen in den Schulungsstätten
der Wehrmacht, der NSDAP und dort einzusetzen, wo die SchülerInnen älter seien und
dementsprechend die „Disziplinierung“ einfacher sei.1885
Tatsächlich gab es in der „Ostmark“ nur vereinzelt Kriegsblinde mit einem abgeschlossenen Studium. Nach Angaben des Kriegsblindenverbandes aus dem Jahr 1969 hatten nur
acht der im Zweiten Weltkrieg erblindeten Soldaten einen akademischen Grad.1886 Die meisten der Kriegsblinden AkademikerInnen hatten ihr Studium bereits vor ihrer Erblindung
absolviert. Insgesamt gab es 1969 im Kriegsblindenverband 22 Doktoren und Ingenieure.1887
5.5 Trafikanten
Charakteristisch für die Versorgung der Kriegsopfer des Ersten Weltkrieges in Österreich
war deren Versorgung mit Tabaktrafiken. Mit einer Verordnung des Finanzministeriums
1881 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale
Fürsorge Johann H., GZ VI a-Bl/NW/1943, HVA Wien an den persönlichen Referenten des Reichsstatthalters in Salzburg, Betreff: Kriegsblinden Johann H., Gerlos 40, Kreis Schwaz Tirol.
1882 Vgl. Kapitel III.4.2.3.
1883 Vgl. Roedemeyer, Rundfunkwissenschaften und Blindenstudium, S. 57–60. Kapitel II.6.6.
1884 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 116–117.
1885 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Niederschrift über die Tagung am 10. und 11.
11.1942, Betreff: erblindete Soldaten, S. 4.
1886 Vgl. o. A., Der Kriegsblinde im Erwerbs- und Wirtschaftsleben, S. 64–66, hier S. 65.
1887 Vgl. o. A., Der Kriegsblinde im Erwerbs- und Wirtschaftsleben, S. 64–66, hier S. 65.
255
vom 10. Juni 1911 bekamen Kriegsopfer ein Vorzugsrecht bei der Vergabe von Trafiken.1888
Mit einer Vollzugsanweisung vom 18. Mai 1919 zur Besetzung und Kündigung von Tabakverschleißgeschäften legte das „Staatsamt für Finanzen“ fest, dass unter „erwerbsunfähigen“
Kriegsgeschädigten gleichen Grades Kriegsblinde Vorrang hatten.1889 Dieser Passus blieb
auch in einer Verordnung des „Bundesministeriums für Finanzen“ vom 15. April 1927
aufrecht, der die Besetzung der Verkaufsstellen des Tabakmonopols neu regelte.1890 Über
die Vergabe von Trafiken entschied ein Beirat, der bei jeder Finanzlandesbehörde eingerichtet wurde und in den gegebenenfalls auch mindestens ein Vertreter der Organisation
für Kriegsblinde berufen wurde.1891
Durch diese Gesetzesgrundlage war es möglich, dass zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ weit mehr als die Hälfte aller Kriegsblinden Inhaber einer Tabaktrafik waren. Nicht
alle arbeiteten allerdings auch selbst in ihren Geschäften. Einige Kriegsblinde konnten auf
Grund ihres Alters, einer Krankheit, weiterer Beeinträchtigungen oder wegen einer zu großen Entfernung der Verkaufsstelle von ihrem Wohnort die Geschäfte nur von Hilfskräften
führen lassen.1892 Die Verwaltung wie monatliche Abrechnung, Inventuren, Einkauf der
Kurzwaren oder Steuerangelegenheiten übernahm dann das „Trafikreferat“ des Kriegsblindenverbandes.1893 Nach Angaben von Ferdinand Ehmann, dem damaligen provisorischen
Leiter der Landesgruppe „Ostmark“ der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“,
verfügten die kriegsblinden Tabaktrafikanten 1938 dadurch über ein zusätzliches monatliches Einkommen von 50 bis 400 Schilling zu ihren Renten.1894 Die NSKOV „Fachabteilung
Bund erblindeter Krieger“ Kriegsblinde in der „Ostmark“ führte das „Trafikreferat“ nach
dem „Anschluss“ weiter.1895 Kriegsblinden jüdischer Herkunft, die Inhaber einer Trafik
waren, wurde die Lizenz zur Führung der Geschäfte gekündigt.1896
1939 hob das NS-Regime das staatliche Tabakmonopol auf und gründete in Berlin die
„Austria Tabakwerke AG vormals österreichische Tabakregie“. Alleinaktionär war das
„Deutsche Reich“. Die Aktiengesellschaft, die nun das Tabakmonopol und das Ver­schleißer­
we­sen verwaltete, hatte ihren Sitz in Wien.1897 Die NSKOV „Gau Wien“ befürchtete, dass
durch diese Entwicklung den Kriegsopfern der „Ostmark“ ihre Existenzgrundlage und
ihre Vorzugsrechte genommen würden, und machte am 15. Juni 1939 beim Reichswirtschaftsministerium eine entsprechende Eingabe. Von dort erhielten zwar die Vertreter der
Kriegsopfer die Zusage, dass die Rechte der Kriegsopfer gewahrt blieben, gleichzeitig wurde
1888 Vgl. o. A., Die gesetzlichen Grundlagen der Trafikverleihung an Kriegsblinde, S. 60–63, hier S. 60.
1889 Vgl. [Ö] StGBl., Nr. 285/1919, Vollzugsanweisung betreffend die Besetzung und Kündigung der Tabakverschleißgeschäfte vom 18. Mai 1919, § 5,2.
1890 Vgl. [Ö] BGBl., Nr. 137/1927, Verordnung betreffend die Besetzung der Verkaufsstellen Tabakmonopols
vom 15. April 1927.
1891 Vgl. [Ö] BGBl., Nr. 137/1927, § 5,4; Hoffmann, Kriegsblinde, S. 168–171.
1892 Vgl. Polsterer, Wie der Kriegsblinde seine Arbeitskraft in der Trafikverwaltung einsetzt, S. 253–254; Ehmann, wirtschaftliche Lage der Kriegsblinden, S. 135–137, hier S. 136.
1893 Vgl. Polsterer, Wie der Kriegsblinde seine Arbeitskraft in der Trafikverwaltung einsetzt, S. 253–254, hier
S. 254.
1894 Vgl. Ehmann, Die wirtschaftliche Lage der Kriegsblinden, S. 135–137, hier S. 136.
1895 Vgl. Polsterer, Wie der Kriegsblinde seine Arbeitskraft in der Trafikverwaltung einsetzt, S. 253–254, hier
S. 253.
1896 Vgl. Kapitel IV.3.3.2.
1897 Vgl. o. A., Die Bildung von Vereinsgruppen, in: Pawlowsky, Leisch-Prost, Klösch, Vereine im Nationalsozialismus, S. 174–221, hier S. 186.
256
das Vorzugsrecht bei der Vergabe von Tabakgeschäften an Kriegsgeschädigte gravierend
eingeschränkt. Kriegsblinden gebührte beispielsweise nur mehr bei „gleichen fachlichen
Voraussetzungen“1898 von mehreren Bewerbern ein Vorrang. Außerdem erweiterte sich der
Kreis der bevorzugten BewerberInnen um Tabaktrafiken, da auch die „Opfer“ und deren
Angehörige von NS-Organisationen mit entsprechenden Geschäftsstellen versorgt werden
sollten.1899
Unter dem NS-Regime gab es in den Gremien, die über die Vergabe entschieden, sowie
in der Interessenvertretung der Trafikanten aber weiterhin Vertreter der Interessen der
Kriegsblinden.1900 Ab 1. April 1939 fungierte der SA-Hauptsturmführer Friedrich Schindler als kommissarischer Leiter des „Verbandes der Tabakverschleißer Österreichs“. Der
Stillhaltekommissar legte allerdings fest, dass künftig die „Fachgruppe Tabak“ im Reichsfinanzministerium die Aufgaben dieses Verbandes übernehmen sollte.1901 In dieser Organisation fungierte der Landesobmann der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“
Ferdinand Ehmann als Sachverständiger für den Einzelhandel. Im erweiterten Beirat fand
sich der ebenfalls Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges Anton Allerberger aus Salzburg.1902
Dementsprechend war es weiterhin möglich, dass vereinzelt erblindete Soldaten des
Zweiten Weltkrieges mindestens bis 1943 Tabaktrafiken verliehen bekamen. Für die Einrichtung der Geschäfte und die Übernahmekosten gab das HVA den Betreffenden rückzahlungspflichtige Darlehen, wenn sie die Kosten nicht aufbringen könnten. Aus den Akten im
ÖSTA geht hervor, dass ein an das NS-Regime angepasstes Verhalten eine Voraussetzung
für die Gewährung eines solchen Kredites war. Für den Kriegsblinden ehemaligen Landwirt
Paul K. aus Villach, geboren am 7. Jänner 1895, bestätigte beispielsweise die dortige NSDAPKreisleitung, dass gegen die Unterstützung „in politischer und charakterlicher Hinsicht keine
Bedenken“1903 bestehen würden. Am 1. April 1941 erhielt der erblindete Unteroffizier Franz
H. ein entsprechendes Geschäft in der Porzellangasse 8 in Wien. Zur Übernahme bekam der
Wiener ein rückzahlungspflichtiges Darlehen in der Höhe von 4.000 RM. Bereits im März
1942 konnte der damals 29-Jährige die monatliche Rate von 200 RM allerdings nicht mehr
aufbringen, da die Trafik nicht mehr ausreichend Gewinn abwarf.1904 Seine monatlichen
Raten wurden dementsprechend von 200 auf 100 RM gekürzt.
1898 ÖStA, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150, 2. Teil a Tabakregie, GZ. II S In 22667/39, Der Reichswirtschaftsminister an die NSKOV Reichsleitung Berlin vom 19.8.1939, Betreff: Stellung der Kriegsopfer innerhalb
der österreichischen Verschleisserschaft.
1899 ÖStA, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150, 2. Teil a Tabakregie, NSKOV Gau Wien, Abteilung Gauobmann,
Nr. LÜ/P, an den Gauleiter Bürckel vom 2.12.1939, Betreff: Tabaktrafiken für Witwen nach „Gehenkten“.
1900 Vgl. ÖStA, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150, 2. Teil a Tabakregie, GZ. II S In 22667/39, Der Reichswirtschaftsminister an die NSKOV Reichsleitung Berlin vom 19.8.1939, Betreff: Stellung der Kriegsopfer innerhalb der österreichischen Verschleisserschaft.
1901 Vgl. o. A., Die Bildung von Vereinsgruppen, in: Pawlowsky, Leisch-Prost, Klösch, Vereine im Nationalsozialismus, S. 174–221, hier S. 187–188.
1902 Vgl. ÖStA, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150, 2. Teil a Tabakregie, Zu Nr. II S In 23 653/39, Abschrift aus
Deutsche Tabakzeitung Leipzig C 1 26, Nr. 17 vom 26.4.1939, Betreff: Die Umgliederung der Trafikantenverbände in der Ostmark.
1903 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale
Fürsorge Paul K., P 3330, NSDAP Kreisleitung Villach an das VA Klagenfurt vom 28.8.1940, Betreff: Darlehen an den Kriegsblinden Paul K.
1904 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Franz H., NSKOV Fachabteilung erblindeter Krieger an das HVA Wien, z. Hd. Oberregierungsrat Schöberle vom 31.3.1942, Betreff: Darlehen des kriegsblinden Jungkameraden Franz H.
257
Die Einnahmeeinbußen dürften auf die kriegsbedingte Steuerung des zivilen Tabakkonsums zurückzuführen sein.1905 Ab dem 11. September 1939 wurde die herkömmliche
Steuer durch einen Kriegszuschlag erhöht. Dieser betrug zunächst 20, ab dem 3. November
1941 50 Prozent des Kleinhandelspreises.1906 1941 folgte eine Drosselung der Produktion
infolge eines Mangels an Rohstoffen, Brennstoffen und Arbeitskräften. Anfang 1942 wurden
zur Regulierung des Absatzes Raucherkarten für Männer über 18 Jahren und für Frauen
zwischen 25 und 55 eingeführt.1907 „Schon Anfang 1942 sollen für die Versorgung der Zivilbevölkerung nur noch halb soviele [sic!] Rauchwaren verfügbar gewesen sein wie zu Beginn des
Sommers 1941.“1908 Für die Trafikanten verschärfte sich ihre wirtschaftliche Lage dadurch
weiter, dass ab 1. Mai 1942 die Kontingentierung an Rauchwaren für Dienststellen der
Wehrmacht nicht mehr über die Tabakgeschäfte, sondern von den betreffenden Einheiten
selbst vorgenommen werden sollte.1909
Dass die Tabaktrafiken zunehmend unrentabler wurden, machte sich auch in den
„Berufsberatungen“ in den Reservelazaretten bemerkbar. Erblindete Soldaten, die eine Trafik führen wollten, sollten zunächst in einem anderen Beruf unterkommen, die Verleihung
eines entsprechenden Geschäftes wurde ihnen aber für die Zeit nach Ende des Krieges in
Aussicht gestellt.1910 In den letzten beiden Kriegsjahren finden sich daher in den Akten des
ÖStA keine Aufzeichnungen mehr über eine Verleihung von Tabaktrafiken an Kriegsblinde.
Im Zuge der Ausdehnung der Kriegshandlungen auf das Gebiet der „Ostmark“ wurden
150 Tabakverschleißgeschäfte vollständig zerstört und 996 Trafiken beschädigt.1911 Wie viele
kriegsblinde Inhaber davon betroffen waren, ist nicht bekannt. Erst nach dem Krieg bekamen Kriegsblinde wieder Tabaktrafiken zugewiesen. Ihre Vorzugsrechte blieben bestehen,
allerdings galten diese nun auch für die Opfer des NS-Regimes.1912
5.6 Resümee
Die Ausführungen in diesem Kapitel und im Kapitel III.4 zeigen auf, wie stark utilitaristisch
die Versorgung der Kriegsblinden unter dem NS-Regime ausgerichtet war: Nicht das in
der Vergangenheit Geleistete, sondern der Nutzen jedes Einzelnen in der Gegenwart war
1905 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Karl M., Fachabteilung Bund erblindeter Krieger an das HVA Wien vom 12.2.1942, Betreff:
Unterstützung für Kriegsblinden Karl M.
1906 Vgl. Merki, nationalsozialistische Tabakpolitik, S. 19–42, hier S. 33.
1907 Vgl. Merki, nationalsozialistische Tabakpolitik, S. 19–42, hier S. 34–35.
1908 BAB, 31.01/11882, Bericht Koelfen an Funk vom 9.12.1941, zitiert in: Merki, nationalsozialistische Tabakpolitik, S. 19–42, hier S. 37.
1909 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann A., GZ VIa-Bl/1942, Austria Tabakwerke AG, Hauptverwaltung an das HVA Ostmark
vom 25.7.1942, Betreff: Johann A. Salzburg.
1910 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Stefan M., Aktennotiz von Hauptmann Arnold vom 10.3.1943, Betreff: Vorbesprechung zur
Berufsberatung.
1911 Vgl. Die ATW-AG berichtet über ihre Tätigkeit vom April 1945 bis Dezember 1946, Wien 1947, S. 33,
zitiert in: Reiter, Geschichte der Austria Tabakwerke, S. 70–71.
1912 Vgl. o. A., Die gesetzlichen Grundlagen der Trafikverleihung an Kriegsblinde, S. 60–63, hier S. 62.
258
ausschlaggebend für ihre gesellschaftliche Stellung im NS-Staat.1913 Durch die Integration
Kriegsblinder in das Berufsleben sollten diese ihre „Vollwertigkeit beweisen“.1914 Dementsprechend konnten die Kriegsblinden nur eingeschränkt ihre eigenen beruflichen Zielvorstellungen umsetzen, vielmehr sollte sich ihre Berufswahl den kriegswirtschaftlichen
Erfordernissen unterordnen. Wer in der Landwirtschaft tätig werden wollte, gegen Ende
des Krieges den Erwerb eine Trafik anstrebte oder ein Studium absolvieren wollte, bekam
dabei nur wenig oder gar keine Unterstützung von den NS-Stellen. Kriegsblinde Trafikanten
des Ersten Weltkrieges mussten in der „Ostmark“ im fortgeschrittenen Alter sogar noch
eine Handwerksausbildung absolvieren, um ihr Einkommen zu sichern. Außerdem waren
die Betroffenen gezwungen, sich dem NS-Regime gegenüber loyal zu verhalten, um gegebenenfalls für ihre Existenzgründung Darlehen von den Versorgungsämtern zu erhalten. Der
Heroisierung der Kriegsopfer durch die Propaganda und die Ehrenbekundungen, die sie
beispielsweise durch die Verleihung von Kriegsauszeichnungen oder auf Paraden erhielten,
folgte im Berufsleben für viele die Ernüchterung.
Die Bemühungen des NS-Regimes, neue Studienmöglichkeiten und Büroberufe zu
erschließen oder die Betroffenen in öffentlichen Einrichtungen unterzubringen, verschafften den Kriegsblinden zwar im Vergleich zu den Zivilblinden bessere berufliche Möglichkeiten. Hinter diesen Maßnahmen des NS-Regimes stand allerdings nicht der Wille, die
Kriegsblinden möglichst gut zu versorgen, sondern primär die Sorge, arbeitslose, finanziell
schlecht versorgte Kriegsblinde könnten in ihrem Umfeld eine Antikriegsstimmung verstärken. Ihre „Brauchbarmachung“ um jeden Preis, unabhängig von ihren körperlichen
Beeinträchtigungen, und die Steigerung ihrer „Leistungsfähigkeit“ waren die Prämisse des
NS-Kriegsblindenwesens.
1913 Vgl. Diehl, Thanks of the Fatherland, p. 45.
1914 Wacker, Wie gestalte ich meine Freizeit, S. 31–32, hier S. 32.
259
6.Ausrichtung der Freizeitgestaltung
„Die vier Wochen im frohen Kameradenkreis in
einem unserer Kriegsblindenheime sind für ihn [den
Kriegsblinden] der Inbegriff einer schönen Ferienerholung – die muß aber auch elf arbeitsreiche Monate
vorhalten und Kraftquelle für sein Familienleben
sein.“1915
Wie die Zivilblinden1916 sollten die Kriegsblinden gemäß der NS-Ideologie einen Lebensstil
führen, der darauf ausgerichtet war, im Erwerbsleben möglichst produktiv sein zu können.
Dazu zählte ein jährlicher mehrwöchiger Erholungsaufenthalt.1917 Die NSKOV „Fachabteilung
erblindeter Krieger“ verfügte zu diesem Zweck wie der RBV über eigene Erholungsheime. 1943
gab es für Kriegsblinde und ihre Familien solche Einrichtungen in Braunlage im Harz, Söcking
am Starnberger See, Swinemünde und ein Haus bei Aichberg in Eibiswald.1918 In der Zeitschrift
„Der Kriegsblinde“ wurden allerdings nicht, wie in den RBV-Zeitschriften, Statistiken über deren
Auslastung veröffentlicht.1919 Daher ist über deren Belegung und Nutzung nicht sehr viel bekannt.
Das Erholungsheim in der Südsteiermark bei Aichberg hatte der österreichische Kriegsblindenverband 1923 erworben und ab 1938 führte die NSKOV den Betrieb weiter.1920 In der
Zeitschrift der Kriegsblinde erschienen Aufrufe, dass nicht nur Kriegsblinde aus der „Ostmark“,
sondern auch aus dem „Altreich“ dorthin kommen sollten.1921 Das Angebot der Erholungsheime
für Kriegsblinde war vor dem Zweiten Weltkrieg wesentlich umfangreicher als für Zivilblinde.1922
Kriegsblinde kamen dort mit ihren Familien unter. Um die Kinder der Kriegsblinden kümmerten sich eigene Kindergärtnerinnen.1923 Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges schränkte den
Betrieb der „Erholungsfürsorge“ für Kriegsblinde allerdings ein. Bereits 1940 musste ein Erholungsheim in Bad Salzhausen der Wehrmacht zur Verfügung gestellt werden.1924 Am selben Ort
nahm 1943 die Pension „Charlotte“ vom 1. Mai bis 30. September ausschließlich Kriegsblinde
auf, allerdings nur solche ohne Kinder.1925 Die Auswirkungen des Krieges führten also wie bei
den Zivilblinden dazu, dass weniger Raum für solche Erholungsaufenthalte für Kriegsblinde
zur Verfügung stand, obwohl durch die ständig hinzukommenden erblindeten Soldaten der
Bedarf eigentlich gestiegen sein dürfte. Die Einrichtung in Eibiswald wurde zu Ende des Krieges
teilweise zerstört und nach 1945 vom damaligen Kriegsblindenverband nicht mehr aufgebaut.1926
1915 Bierwerth, Erholung, S. 59–61, hier S. 60.
1916 Vgl. Kapitel II.7.
1917 Vgl. Haule, Freizeitgestaltung, S. 85–85, hier S. 84, Bierwerth, Erholung, S. 59–61, hier S. 60.
1918 Vgl. o. A., Erholungsfürsorge 1943, S. 10–11, hier S. 10; Finck, Geschichte der Kurfürsorge, S. 91–132.
1919 Vgl. Kapitel II.7.
1920 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 181–183.
1921 Vgl. Finck, Geschichte der Kurfürsorge, S. 117.
1922 Vgl. Kapitel II.7.
1923 Vgl. Bierwerth, Erholung, S. 59–61, hier S. 60.
1924 Vgl. Bierwerth, Erholung, S. 59–61, hier S. 60.
1925 Vgl. Bierwerth, Erholung, S. 59–61, hier S. 60.
1926 Ab 1947 nutzte der wiedergegründete Kriegsblindenverband Schloss Waxenberg im oberösterreichischen
Mühlviertel für Erholungsaufenthalte seiner Mitglieder. 1968 baute der Kriegsblindenverband ein eigenes
Haus in Ossiach (Kärnten). Als die Organisation 1992 nur mehr 302 Mitglieder zählte, konnte dementsprechend die Auslastung dieses „Kriegsblinden-Erholungsheimes“ in Kärnten nicht mehr gewährleistet
260
Ihren Aufenthalt in einem der Erholungsheime konnten die Kriegsblinden auch als
Kuraufenthalt nach dem RVG (§ 5) und dem WFVG (§ 76) beantragen.1927 Wenn dieser
genehmigt wurde, bekamen sie die Kosten für den Aufenthalt refundiert.1928 Außerdem
schuf das NS-Regime weitere finanzielle Anreize, damit Kriegsopfer Erholungsaufenthalte
in Anspruch nahmen. Für Kriegsgeschädigte mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit
um mindestens 50 Prozent ermäßigte sich die Kurtaxe um die Hälfte. Begleitpersonen
mussten keine Kurtaxe bezahlen.1929 Die Betroffenen waren daher nicht auf die Benützung
der Einrichtungen der NSKOV angewiesen.
Das NS-Regime förderte außerdem eine entsprechende Freizeitgestaltung der Kriegsblinden. In der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ erschienen Beiträge, in denen sportliche
Aktivitäten angepriesen wurden.1930 Die Benutzung von Doppelfahrrädern, das waren zwei
Damenfahrräder, die seitliche miteinander fest verbunden waren, und Tandems, Schwimmen, Rudern, Kegeln sowie Gymnastik zählten zu den empfohlenen Sportarten.1931 Die
NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ empfahl darüber hinaus ihren Mitgliedern,
an Veranstaltungen und Kursen der NS-Organisation „Kraft durch Freude“ teilzunehmen
sowie Film- und Theatervorstellungen zu besuchen.1932 Die Kriegsblinden sollten dadurch
Entspannung finden. Die bereits geschilderten Ermäßigungen für Kriegsblinde und andere
schwer Kriegsgeschädigte bei kulturellen Veranstaltungen wurden mit dem Hintergedanken
der Erhaltung der beruflichen „Leistungsfähigkeit“ gewährt.1933 Aus diesem Grund konnten
Kriegsblinde nach der Entlassung aus der Wehrmacht auch nicht nur Darlehen für ihren
Existenzaufbau, sondern auch zum Zwecke ihrer Freizeitgestaltung erhalten. Der 1941 durch
einen Granatsplitter bei Smolensk erblindete Unteroffizier Oskar C. wurde in Wien zum
Masseur ausgebildet. Im dortigen Reservelazarett lernte er Klavierspielen und erhielt 1943
ein eigenes Instrument, nachdem die zuständigen Behörden ihm den rückzahlungspflichtigen Betrag von 400 RM zu diesem Zweck genehmigt hatten.1934
Das Angebot zur Freizeitgestaltung für Kriegsblinde nutzte außerdem der NS-Propaganda. Die Präsentation des Erholungsangebotes für Kriegsblinde im Rahmen einer Ausstellung im Reservelazarett Stuttgart-Solitude 1942 sollte beispielsweise bei den ZuschauerInnen
den Eindruck verstärken, „daß alles geschieht, um den neuen Kameraden zu helfen, das Los
der Kriegserblindung leichter zu ertragen.“1935
werden. Ende 1992 wurde diese Einrichtung daher für andere Personen geöffnet und der Kärntner Kriegsopferverband übernahm die Verwaltung. Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 135–138; Finck, Geschichte der
Kurfürsorge, S. 118.
1927 Vgl. o. A., Erholungsfürsorge 1943, 10–11, hier S. 10.
1928 Vgl. o. A., Erholungsfürsorge 1943, 10–11, hier S. 10.
1929 Vgl. o. A., Kurtaxermäßigung für Kriegsbeschädigte, S. 27.
1930 Vgl. Friedrich, Das Doppelfahrrad, S. 48–50, hier S. 48.
1931 Vgl. Haule, Freizeitgestaltung, S. 84–85, hier S. 84; Friedrich, Das Doppelfahrrad, S. 48–50, hier S. 48.
1932 Vgl. Wacker, Wie gestalte ich meine Freizeit, S. 31–32.
1933 Vgl. Kapitel III.2.5.2.
1934 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Oskar C., NSKOV Fachabteilung erblindeter Krieger an das HVA Wien vom 20.9.1943, Betreff:
Rechnung für RM 400 für Klavier, das C. bekommen hat.
1935 O. A., Kriegsblinden-Ausstellung Stuttgart, S. 67; Vgl. Kapitel III.4.2.2.
261
7.Ehefrauen als Faktor der Versorgung
„Dass sie mich gleichfalls liebte, wusste ich nun, und
das gab mir ein Glückgefühl, wie ich es seit meiner
Erblindung nicht mehr erlebt hatte. […] Ich durfte
wieder hoffen, als Blinder auch glücklich werden zu
können.“1936
Wie das Kapitel über die Freizeitgestaltung der Kriegsblinden gezeigt hat, war es charakteristisch für das NS-Regime, Maßnahmen zu setzen, die auch das Privatleben der Betroffenen tangierten. Gleichzeitig demonstrierte die NS-Führung damit der Öffentlichkeit, die
„Kriegshelden“ umfassend zu versorgen. In diesem Zusammenhang wurden Eheschließungen von Kriegsblinden und anderen Kriegsgeschädigten vom NS-Regime gefördert. In den
Medien erschienen sogar Aufrufe, Kriegsinvalide zu heiraten. Dabei wiesen die Verfasser die
Zielgruppe – potentielle Ehefrauen – vor allem auf die finanziellen Vorteile einer solchen
Verbindung mit einem Mann, der ein Anrecht auf eine lebenslange, gut dotierte Rente hat,
hin.1937 Kriegsgeschädigte wurden als eine „attraktive Partie“1938 stilisiert.
Diese Maßnahmen betrafen allerdings ausschließlich die ehemaligen Soldaten und diesen gleichgestellte Männer. Förderungen von Ehen mit durch die Auswirkungen des Krieges
dauerhaft beeinträchtigten Zivilistinnen sind nicht bekannt. Dabei fanden insbesondere
Frauen, die beispielsweise durch Luftangriffe oder aufgefundenes Sprengmaterial erblindet
waren, nach ihrer Kriegsverletzung nur schwer einen Partner. Sie hatten dieselben Schwierigkeiten wie zivilblinde Frauen.1939 Dementsprechend gab es in den Kriegsblindenverbänden
in Deutschland und Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg prozentual gesehen wesentlich
mehr allein lebende Frauen als Männer.1940
Nach damaliger Auffassung galt eine Verehelichung von ehemaligen erblindeten Soldaten mit einer sehenden Frau deshalb als wünschenswert, weil ein erfülltes Privatleben
das Selbstvertrauen und den Lebensmut der blinden Männer positiv beeinflussen würde
und damit auch ihre „Leistungsfähigkeit“ steigere.1941 Darüber hinaus übernahmen Ehefrauen die Betreuung der blinden Männer im Alltag. Sie führten den Haushalt, erledigten
Behördengänge oder führten ihren blinden Ehemann, wenn dieser außer Haus musste.
Dies entsprach auch dem damaligen passiven Rollenbild der Frau.1942 Eheschließungen
von Kriegsblinden waren daher ein Faktor in der Versorgung. Soldaten, die zum Zeitpunkt
ihrer Verwundung noch nicht verheiratet waren, sollten möglichst bald eine Ehefrau finden,
damit ihre tägliche Pflege abgesichert war. Um die Anzahl von Eheschließungen zu erhöhen, wurden diese finanziell gefördert. Erblindete Soldaten, die vor ihrer Entlassung aus
1936 Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 218. Bernhard Lindmayr beschrieb mit diesen Worte eine Begegnung mit
seiner späteren Ehefrau Friedel.
1937 Vgl. Schule, Das Problem der Kriegsblindenehe, S. 74–76, hier S. 74.
1938 Jähnl, Kriegsblinden, S. 113.
1939 Vgl. Kapitel II.10.
1940 Vgl. Sieglinde Bartelsen, Probleme der kriegsblinden Frauen, in: Bund der Kriegsblinden Deutschlands
(Hrsg.), Kriegsblindenjahrbuch 1981, o. O. 1981, S. 43–47, hier S. 44, zitiert in: Abraham, Historische und
gegenwärtige Aspekte, S. 94.
1941 Vgl. Schule, Problem der Kriegsblindenehe, S. 74–76, hier S. 75.
1942 Vgl. Schilling, „Helden der Wehrmacht“, S. 550–572, hier S. 563.
262
der Wehrmacht heirateten, erhielten vom OKW und aus Mitteln der Kriegsblindenstiftung
jeweils 300 RM.1943 Die zuständigen Wehrmachtsfürsorgeoffiziere gewährten zur Hochzeit
außerdem einen Sonderurlaub.1944 Bei Kriegsgeschädigten, die sich nach ihrer Entlassung
aus der Wehrmacht verehelichten, waren die Hauptfürsorgestellen dafür zuständig, die
„Heiratsbeihilfen“1945 auszubezahlen.
Einige der erblindeten Soldaten lernten ihre späteren Ehefrauen im Umfeld der Reservelazarette kennen. Das HVA Wien beispielsweise gab 1944 in einem Schreiben an die
Hauptfürsorgestelle Königsberg in Preußen an, dass Kriegsblinde in „zahlreichen Fällen […]
auf Eheschließung abzielende Verhältnisse mit Wienerinnen“1946 eingehen würden. Genauere
Zahlen dazu wurden in diesem Schreiben allerdings nicht bekannt gegeben. Diese Tatsache führte in Wien allerdings zu Versorgungsschwierigkeiten, da Kriegsblinde nach ihrer
Entlassung aus der Wehrmacht nicht wieder in ihre Heimat zurückkehren, sondern in
Wien, dem Wohnsitz ihrer Partnerinnen, verbleiben wollten. In Wien stand aber nicht
ausreichend Wohnraum zur Verfügung, was durch die Luftangriffe zusätzlich verschärft
wurde.1947 Das HVA Wien hatte dementsprechend Schwierigkeiten, Kriegsblinden, die sich
in Wien niederlassen wollten, eine geeignete Unterkunft zu verschaffen. 1944 genehmigte
das HVA Wien daher nur mehr den Kriegsblinden eine Wohnung in Wien, die dort eine
Anstellung gefunden hatten und aus beruflichen Gründen unbedingt auf eine Wohnstätte
angewiesen waren. Dies geht aus dem bereits zitierten Schreiben des HVA Wien vom Jänner
1944 an die Hauptfürsorgestelle Königsberg in Preußen hervor.1948 Darin teilte das HVA
Wien dieser Behörde mit, dass sie zwei Kriegsblinden aus Preußen, die sich im Reservelazarett Wien aufhielten, keine Wohnung in Wien vermitteln würde. Die beiden zu Bürstenbindern ausgebildeten erblindeten Soldaten wollten dort leben, weil dies der Wunsch ihrer
zukünftigen Ehefrauen war, die aus Wien stammten. Die Hauptfürsorgestelle Königsberg
hatte das Anliegen der beiden Kriegsblinden mit der Begründung unterstützt, dass ehemalige erblindete Soldaten nur schwer eine Ehefrau finden würden. Das HVA Wien ließ
dieses Argument aber nicht gelten, mit der Begründung, diese „Erfahrungen“ hätten sich
in Wien „nicht bestätigt“.1949
1943 Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge und Blindenbildung, Tagesordnung
und Niederschrift über die Tagung am 10. und 11. November 1942, Berlin, Betreff: Erblindete Soldaten,
S. 6.
1944 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Oskar C.
1945 BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge- und Blindenbildung, Tagesordnung und
Niederschrift über die Tagung am 10. und 11. November 1942, Berlin, Betreff: Erblindete Soldaten, S. 6.
1946 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale
Fürsorge Erich K., GZ VI a – Bl/NW/1944, HVA Wien an den Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen
Hauptfürsorgestelle Königsberg vom 19.1.1944, Betreff: Die Kriegsblinden Erich K. und Erwin H. Zuzug,
Ihr Schreiben vom 11.1.1944, Nr. IV a H 703.
1947 Um Wohnraum für ihre Klientel zu schaffen, vertrieben die NS-Machthaber 1938 beispielsweise MieterInnen von Gemeindewohnungen jüdischer Herkunft. Davon waren auch Kriegsblinde betroffen. Vgl.
Kapitel IV.3.2, 3.3.1.
1948 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Erich K., GZ VI a – Bl/NW/1944, HVA Wien an den Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen
Hauptfürsorgestelle Königsberg vom 19.1.1944, Betreff: Die Kriegsblinden Erich K. und Erwin H. Zuzug,
Ihr Schreiben vom 11.1.1944, Nr. IV a H 703.
1949 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Erich K., GZ VI a – Bl/NW/1944, HVA Wien an den Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen
263
Tatsächlich scheint die Anzahl von verheirateten Kriegsblinden relativ hoch gewesen
zu sein. Zivilblinde Männer, die keinen Rentenanspruch hatten, fanden im Vergleich
dazu wesentlich seltener eine sehende Frau.1950 Diese Tatsache darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der erhöhte Pflegebedarf, vor allem der durch infolge einer
Kriegsverletzung mehrfachbehinderten Männer, unter Umständen eine große Belastung für die Ehefrauen darstellte. Einige Ehen scheiterten aus den unterschiedlichsten
Gründen.
Nach Berichten von Kriegsblinden des Zweiten Weltkrieges, die Melanie Abraham
für ihre 1999 fertiggestellte Arbeit zum Staatsexamen für das Lehramt an Sonderschulen
interviewte, wurden die Pläne von sehenden Frauen, einen Kriegsblinden zu heiraten,
darüber hinaus von deren Umfeld teilweise nicht unterstützt. In der Bevölkerung herrschte
noch vielerorts die Meinung, blinde Männer könnten nicht arbeiten und mit ihnen sei
dementsprechend „nichts anzufangen“.1951 Diese Auffassung stand in Zusammenhang mit
den Auswirkungen der rassenhygienischen NS-Propaganda. Diese führte, wie bereits
erwähnt,1952 dazu, dass viele Menschen der Meinung waren, sogar Kriegsverletzungen
seien erblich.
Das Zusammenleben mit den Kriegsblinden wurde auch durch die teilweise schweren
Kriegstraumata oder Spätfolgen von Kopfverletzungen erschwert, die einige dieser Männer
erlitten hatten.1953 In Kapitel III.1.3 wurde bereits das Extrembeispiel des Kriegsblinden
Gustav Atteneder vorgestellt, der infolge seiner Kriegsverletzung unter einer geistigen Beeinträchtigung litt und 1957 aus unerfindlichen Gründen seine Ehefrau erschoss. Viele Frauen
von Soldaten, die aus dem Krieg mit einer dauerhaften Beeinträchtigung heimkehrten,
berichteten nach dem Zweiten Weltkrieg, dass ihre Männer sich völlig anders verhielten
als vor ihrem Militärdienst und praktisch nicht mehr dieselben wären.1954
Das Scheitern von Ehen wurde auch in der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ diskutiert.
In einem 1944 erschienenen Beitrag von Berthold Schule macht dieser allerdings einzig
die Frauen, die aus finanziellen Erwägungen und Mitleid heraus geheiratet hätten, für
Scheidungen verantwortlich.1955 Das HVA Wien vertrat etwa die Meinung, eine Ehe mit
einem Kriegsblinden könne nur gelingen, wenn die Bräute diese Verbindung auf Grund
„wahrer Liebe“ und „frei von Illusionen oder materiellen Gedankengängen“ eingingen.1956
Diese Ansicht entsprach dem damaligen ambivalenten Rollenbild der Frau, die nach zeitgenössischer Ansicht sowohl einen negativen wie stimulierenden Einfluss auf den Mann
haben konnte.1957
Hauptfürsorgestelle Königsberg vom 19.1.1944, Betreff: Die Kriegsblinden Erich K. und Erwin H. Zuzug,
Ihr Schreiben vom 11.1.1944, Nr. IV a H 703.
1950 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 164.
1951 Abraham, Historische und gegenwärtige Aspekte, S. 53–54 und S. 57.
1952 Vgl. Kapitel II.8.2.6.
1953 Vgl. Kapitel III.1.3.
1954 Vgl. Fritsch, 40 Jahre Ehe, S. 80.
1955 Vgl. Schule, Das Problem der Kriegsblindenehe, S. 74–76.
1956 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale Fürsorge Erich K., GZ VI a – Bl/NW/1944, HVA Wien an den Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen
Hauptfürsorgestelle Königsberg vom 19.1.1944, Betreff: Die Kriegsblinden Erich K. und Erwin H. Zuzug,
Ihr Schreiben vom 11.1.1944, Nr. IV a H 703.
1957 Vgl. Schilling, „Helden der Wehrmacht“, S. 550–572, hier S. 565.
264
Auch Funktionäre der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“, die Kriegsblinde
regelmäßig zu Hause besuchten und Berichte darüber ablieferten,1958 waren von diesem
Frauenbild geprägt. Die Abteilung schrieb beispielsweise im Oktober 1941 dem HVA Wien,
dass der Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges Karl M., ein Wiener Trafikant, während seiner Ehe ein „Martyrium“ erlebt habe und die Ehe daher durch „Verschulden der Frau“ im
März 1940 geschieden worden sei.1959 Was der Frau dabei angelastet wurde, geht aus dem
Akt nicht hervor.
Ein anderes Beispiel betraf den in Krottendorf im Gau Kärnten lebenden Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges Paul U. Er wurde 1941 von dem Bezirksobmann der NSKOV
„Fachabteilung erblindeter Krieger“ August Hillepold und einem nicht namentlich genannten Vertreter des Versorgungsamtes Klagenfurt aufgesucht. Aus dem Besuchsprotokoll
vom 14. Februar 1941 geht hervor, dass Paul U. Alkoholiker war und in sehr ärmlichen
Verhältnissen lebte. In dem Bericht wird ein Bild der Lebensumstände gezeichnet, nach
denen der Kriegsblinde von seiner Frau, die ebenfalls trinken würde, stark vernachlässigt
würde und sie „keinen Sinn für Ordnung und Reinlichkeit“1960 hätte. Außerdem gab der nicht
genannte Protokollschreiber an: „Die Gattin dagegen soll sich, wie ich des Öfteren hörte, mit
anderen Männern vergnügen.“1961 Aus Sicht des Verfassers kam diese Frau also ihrer von der
NS-Ideologie vorgeschriebenen Rolle als Pflegerin des Mannes nicht nach.1962
Die Ehen der Kriegsopfer gestalteten sich also ambivalent. Auf der einen Seite boten
sie den betroffenen Männern die Chance, ein erfülltes Leben mit einer eigenen Familie
und Kindern zu leben. Andererseits scheiterten Beziehungen etwa auf Grund der traumatischen Kriegserlebnisse, die die ehemaligen Soldaten in ihrer Fähigkeit, menschliche
Beziehungen zu führen, einschränkten; und an den Frauen, die mit dieser Situation nicht
umgehen konnten.
1958 Vgl. Kapitel III.3.4.
1959 ÖStA, Adr, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 2, Akten betreffend Soziale
Fürsorge Karl M., NSKOV Fachabteilung Erblindeter Krieger an das HVA Wien vom 8.10.1941, Betreff:
Tochter des Kriegsblinden M. [Die NS-Kriegsblindenorganisation suchte für Karl M., der seiner inzwischen geschiedenen Ehefrau Alimente zahlen musste, bei dieser Behörde um zusätzliche finanzielle Unterstützung an. Damit sollten die Kosten gedeckt werden, die anfielen, weil die jüngste Tochter des Kriegsblinden auf Grund einer geistigen und körperlichen Behinderung in einem Heim untergebracht werden
sollte.]
1960 Es entsprach dem Zeitgeist, dass Kriegsblinde zwar als „arbeitsfähig“ galten, aber ohne eine Frau angeblich nicht in der Lage waren, einen Haushalt selbst zu führen. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung,
HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge Paul U., Aktenvermerk Nr. 15 vom
14.2.1941.
1961 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale
Fürsorge Paul U., Aktenvermerk Nr. 15 vom 14.2.1941.
1962 Auch in der 1994 veröffentlichten Dissertation von Otto Jähnl setzt sich die Tendenz fort, dass Kriegsblinde als gute Ehemänner dargestellt werden. Nach Meinung von Jähnl sei ein Blinder generell „ein treuer Mann“. „Seitensprünge, daraus resultierende Eheprobleme, Eifersucht auf andere Frauen, sind faktisch
keine Themen.“ Solche generellen Aussagen sind allerdings abzulehnen, da sie nicht beweisbar sind. Vgl.
Jähnl, Kriegsblinden, S. 166.
265
8.Kriegsblinde Angehörige der Waffen-SS
„Der im Krieg an der Front das Augenlicht verloren
hat, war für mich ganz gleichberechtigt, ob er der
Waffen-SS oder einer sonstigen Wehrmachtseinheit angehört hatte. Als KZ-Wächter verliert man
ja nicht das Augenlicht, habe ich dem Professor
erklärt.“1963
Mit dem Namen „Waffen-SS“ wurde ab Ende 1939 die bewaffneten Formationen der SS1964
bezeichnet.1965 Die Waffen-SS wurde nach dem Sieg der „Deutschen Wehrmacht“ in Polen
aus der Zusammenführung der SS-Verfügungsdivision, der SS-Totenkopfdivision und aus
SS-Totenkopfverbänden geschaffen.1966 Sie wurde durch Heinrich Himmler zu einer selbständigen militärischen Organisation ausgebaut und expandierte im Kriegsverlauf. Am
30. Juni 1944 belief sich der Ist-Stand auf fast 600.000 Mann.1967 Hinsichtlich ihrer Besoldung
und Versorgung waren sie rechtlich den Angehörigen der Wehrmacht gleichgestellt.1968 Die
Waffen-SS verstand sich aber als eigenständige „Elitetruppe“. Zu ihrem „Credo“ zählte es
etwa, dass sie für ihre Mitglieder „sorgte“: „Dies verstärkte ihr Bild als geschlossener Orden
mit seinen eigenen Regeln und Gesetzen.“1969 Für die Versorgung ihrer Kriegsopfer gab es in
der Organisationsstruktur der Waffen-SS eigene Fürsorge- und Versorgungsämter,1970 die
dem Chef des SS-Hauptamtes unterstellt waren.1971 Die Rehabilitation erblindeter Angehöriger der Waffen-SS erfolgte daher nicht gemeinsam mit den erblindeten Soldaten der
Wehrmacht in den Reservelazaretten, sondern in einer eigenen Einrichtung.
1939 war zu diesem Zweck die „Klarsche Blindenanstalt“ in Prag requiriert worden.1972
Zeitweilig erhielten dort bis zu 200 erblindete Waffen-SS-Angehörige eine so genannte
blindentechnische Grund- und unter Umständen Berufsausbildung.1973 Im Juli 1944 wurde
die Kriegsblindenschule der Waffen-SS in Prag in „SS-Lazarett-Abteilung für Kriegsblinde,
1963 Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 212. Bernhard Lindmayr erklärt dies auf die Frage eines Arztes, ob es ihn
stören würde, eine Ausbildung zum Masseur gemeinsam mit kriegsblinden Angehörigen der ehemaligen
Waffen-SS zu absolvieren.
1964 So genannte „Schutzstaffel“ der NSDAP vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 417–436.
1965 Vgl. Schmitz-Berning, Vokabular, S. 681–682. Zum Begriff der Waffen-SS vgl. Wegner, Die Waffen-SS
1933–1945, S. 127–129.
1966 Vgl. Wegner, Die Waffen-SS 1933–1945, S. 124–127.
1967 Vgl. Frank Dingel, Waffen-SS, in: Benz, Graml, Weiß, Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 791–793,
hier S. 792.
1968 Vgl. Reichsorganisationsleiter, Organisationsbuch, S. 427a.
1969 Ailsby, Die Geschichte der Waffen-SS, S. 50.
1970 Vgl. [D] RBBl., Teil I, Durchführungsbestimmungen zum Fürsorge und Versorgungsgesetz für die ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht und ihre Hinterbliebenen – Wehrmachtsfürsorge- und -versorgungsgesetz – hinsichtlich der SS-Verfügungstruppe vom 10. November 1938, S. 1607–1608; Strehl, Rundfunkwissenschaften und Blindenstudium, S. 30–32, hier S. 30.
1971 Vgl. Wegner, Die Waffen-SS 1933–1945, S. 265 und 267. Zum Sanitätsdienst der Waffen-SS vgl. weiterführend: Fischer, Der deutsche Sanitätsdienst [Band 3], S. 2157–2237.
1972 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 114.
1973 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 84.
266
Prag“1974 umbenannt. Dieser Abteilung war eine „Versehrten-Kp für Kriegsblinde“1975 angeschlossen, zu der alle kriegsblinden Angehörigen der Waffen-SS versetzt wurden, bis sie
wieder einer Arbeitsstelle nachgehen konnten. Alle Kriegsblinden der Waffen-SS mussten
der Abteilung in Prag gemeldet werden.1976
Eine Berufsausbildung konnten die erblindeten Angehörigen der Waffen-SS allerdings
unter Umständen auch an den Schulungsstätten für Kriegsblinde der Wehrmacht, beispielsweise in Berlin oder Marburg an der Lahn, absolvieren. Das in Prag ebenfalls eingerichtete
Reservelazarett für erblindete Soldaten der Wehrmacht war aber von dem der Waffen-SS,
das im Czerny-Palast untergebracht war, räumlich getrennt.1977 Die Waffen-SS entsandte
darüber hinaus eigene Vertreter zu Schulungen, die sich mit der Versorgung von Kriegsblinden beschäftigten.1978 An einer Tagung der Hauptfürsorgestelle für Kriegsgeschädigte
und deren Angehörige in Berlin im November 1942 nahmen beispielsweise vier Vertreter
der Waffen-SS teil.1979 Dies zeigt den Sonderstatus, den erblindete Angehörige der WaffenSS unter den Kriegsblinden hatten.
Der Kriegsblinde des Zweiten Weltkrieges Willi Finck, der 2005 ein Buch über die
Versorgung von Kriegsblinden in der DDR veröffentlichte, beschreibt darin, dass es kaum
Beziehungen zwischen den erblindeten Soldaten der Wehrmacht und denjenigen der Waffen-SS gegeben habe. In der Silex-Handelsschule in Berlin konnten zwar die Kriegsblinden
der Wehrmacht und der Waffen-SS gemeinsam Kurse belegen, aber ihre Unterkünfte waren
getrennt. Auch die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ pflegte keinen engen Kontakt zu den blinden Männern der Waffen-SS. Finck berichtet von gelegentlichen Besuchen
Josef Friedels, Bundesführer der NSKOV „Fachabteilung für erblindete Krieger“ seit 1941,
in der Ausbildungseinrichtung für erblindete Angehörige der Waffen-SS in Prag, um die
Kriegsblinden dort über ihre Möglichkeiten zur beruflichen Ausbildung und Berufsausübung zu informieren.1980
Im Zuge der Recherchen für diese Arbeit konnte nur ein Beitrag in der Zeitschrift „Der
Kriegsblinde“ aus dem Jahr 1943 von dem erblindeten Angehörigen der Waffen-SS H. Beier
eruiert werden, der über den Einsatz von Kriegsblinden als Dolmetscher berichtete. Beier
arbeitete selbst in dieser Funktion und hatte in Prag die blindentechnische Grundausbildung absolviert. Auf Grund seiner bereits vorhandenen Sprachkenntnisse in Norwegisch,
der Muttersprache seiner Ehefrau, legte er nach Abschluss seiner Basisschulung in Prag
bei der Reichsfachschaft für das Dolmetscherwesen in Berlin die Dolmetscherprüfung in
dieser Sprache ab. Er wurde nach Oslo versetzt, um dort norwegische Post zu übersetzen. Er
1974 Fischer, Der deutsche Sanitätsdienst [Band 3], S. 2222.
1975 Fischer, Der deutsche Sanitätsdienst [Band 3], S. 2222.
1976 Vgl. Fischer, Der deutsche Sanitätsdienst [Band 3], S. 2222.
1977 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 139; Vgl. Kapitel III.4.1.
1978 Vgl. Strehl, Rundfunkwissenschaft und Blindenstudium, S. 30–32, hier S. 30.
1979 Namentlich wurden SS-Hauptsturmführer Blume, der zur SS-Reichsführung zählte, SS-Hauptsturmführer Koehne vom SS-Lazarett in Prag, SS-Oberscharführer Petrich, ein Angehöriger der Waffen-SS aus
Prag, und SS-Obersturmbannführer Schmitt, ebenfalls zur Waffen-SS Prag zugehörig, genannt. Ihre Vornamen ließen sich nicht eruieren. Vgl. BAB, DGT, R 36/1762, Arbeitsgemeinschaft für Blindenfürsorge
und Blindenbildung, Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Tagesordnung
für die Tagung am 10. und 11. November 1942, Berlin, Betreff: Erblindete Soldaten, S. 1.
1980 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 139.
267
bekam dazu einen Freiwilligen der Waffen-SS zur Seite gestellt, der ihm die Briefe vorlas.1981
Die Unterstützung durch sehendes Hilfspersonal war charakteristisch für die Versorgung
der Angehörigen der Waffen-SS, die dementsprechend umfassender war als für die Kriegsblinden der Wehrmacht. „Die sind ganz toll betreut gewesen“,1982 sagte beispielsweise Bernhard Lindmayr in einem Interview am 15. September 2006. In seinen Memoiren schreibt
Lindmayr, dass auf Grund einer Verfügung von Hitler allen „SS-Blinden“ eine „so genannte
Ordonanz“ als Hilfe und Betreuung, „meist sogar ein Unterscharführer“, zur Seite gestellt
worden sei.1983 Diese unterstützten die Erblindeten auch wenn sie ein Studium begannen.
Erst gegen Ende des Krieges, als sie Prag verlassen mussten, konnte dieser Dienst nicht
mehr aufrechterhalten werden. Die BetreuerInnen wurden in der Folge als LehrerInnen,
Krankenschwestern und Hilfspersonal weiterbeschäftigt und arbeiteten etwa in dem Notlazarett in Bad Ischl, in denen die Kriegsblinden der Waffen-SS aus Prag nach ihrer Flucht
unterkamen.1984
Bernhard Lindmayrs Kenntnisse über die Versorgung von erblindeten Angehörigen
der Waffen-SS sammelte der im April 1945 erblindete Steirer, als er nach Kriegsende in
ein Notlazarett nach Bad Ischl verlegt wurde. Seinen Schilderungen nach teilte ihm dort
der „berühmte Gehirnchirurg […] Prof. Dr. „Dönis“1985 aus Berlin mit, dass sich im Schloss
Engleiten in Laufen bei Bad Ischl Kriegsblinde der Waffen-SS aus der Einrichtung in Prag
befinden würden:
„Die SS-Blinden hätten aufgrund des von den Besatzungsmächten über die SS generell
verhängten negativen Urteiles für die nächste Zeit keine Aussicht auf Versorgung.
Man sei deshalb daran gegangen, eine geeignete Berufsausbildung zu organisieren,
die den Blinden zu einem Beruf verhelfe, mit dem sie sich selbst ernähren könnten.“1986
Lindmayr wurde von dem Arzt aus Berlin gefragt, ob er an dieser Ausbildung zum Heilmasseur teilnehmen wolle. Seiner Erinnerung nach waren in Schloss Engleiten rund 50 erblindete Angehörige der Waffen-SS untergebracht.1987 Lindmayr erlernte dort in der Folge die
Blindenschrift und begann den theoretischen Teil der Ausbildung zum Heilmasseur. Auch
wenn Lindmayr keine Vorbehalte gegen die Angehörigen der Waffen-SS hegte, reagierten
diese doch zunächst ablehnend auf den erblindeten Wehrmachts-Soldaten. Sie erwarteten
sich offenbar auch nach Kriegsende die Aufrechterhaltung ihres Sonderstatus und sahen
Lindmayr daher nach seiner eigenen Einschätzung zunächst als „Eindringling“1988. Im Laufe
der Zeit scheint sich das Verhältnis allerdings gebessert zu haben, denn Lindmayr beschreibt
sein Auskommen mit ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS in der Folge als gut. Im
1981 Vgl. H. Beier, Kriegsblinder als Dolmetscher, in: Der Kriegsblinde, Nr. 7/8, Jg. 27 (1943), S. 55–56, hier
S. 55.
1982 Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am 15.9.2006, Transkription S. 9.
1983 Vgl. Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 217.
1984 Vgl. Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 217.
1985 Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 211. Es dürfte sich hierbei um Prof. Dr. Wilhelm Tönnis gehandelt haben.
Der 1898 in Dortmund-Kley Geborene machte sich insbesondere in der Kriegschirurgie als Ge­hirn­chi­
rurg einen Namen. Vgl. Behrendt, Kriegschirurgie von 1939–1945, S. 245–246.
1986 Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 211.
1987 Vgl. Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am 15.9.2006, Transkription S. 8.
1988 Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 212.
268
September 1945 begann die praktische Berufsausbildung im Haus Starnberg in Bad Ischl.
Die Angehörigen der Waffen-SS konnten diese allerdings nicht beenden. Lindmayr schrieb
darüber:
„Die Kameraden der ehemaligen Waffen-SS waren alle zusammen mit jenen, die noch
in Schloss Engleiten lebten und als Gefangene der Amerikaner dort festgehalten waren,
in das ehemalige Konzentrationslager Ebensee abgeführt worden.“1989
Auf Grund der Beteiligung von Einheiten der Waffen-SS am Holocaust und an zahlreichen
Kriegsverbrechen wurde diese NS-Formation 1946 vom „Internationalen Militärgerichtshof“ in Nürnberg zur verbrecherischen Organisation erklärt. Trotzdem kam es nach Kriegsende zu einer Zusammenführung der Kriegsblinden aus Wehrmacht und Waffen-SS.1990
Kriegsblinde Angehörige der ehemaligen Waffen-SS übernahmen Funktionen in den
Kriegsblindenorganisationen, die sich nach Kriegsende in Deutschland und Österreich neu
formierten. Laut Willi Finck übernahmen sie Positionen in den Vorständen der Landesverbände des „Bund der Kriegsblinden Deutschlands“. Als Beispiel nannte er den Landesverband Niedersachsen, dessen Leitung zeitweise vier Angehörige der ehemaligen Waffen-SS
angehörten. Namentlich genannt werden diese von Finck allerdings nicht. Er machte auch
keine genauere zeitliche Angabe dazu.1991
Eine Zusammenarbeit zwischen den Kriegsblinden der ehemaligen Wehrmacht und der
ehemaligen Waffen-SS scheint es auch in Österreich gegeben zu haben. Lindmayr berichtete
in einem Zeitzeugeninterview 2006, er habe zwei erblindete ehemalige Angehörige der
Waffen-SS persönlich gekannt, namentlich Walter Laske und Erich Göstl.1992 Weitere Kriegsblinde, die der Waffen-SS angehört hatten, ließen sich namentlich nicht eruieren. In der
Festschrift des „Verband[es] der Kriegsblinden Österreich“, 1949 zum 30-jährigen Bestand
der Vereinigung herausgegeben, scheinen Walter Laske und Erich Göstl als Delegierte der
Landesgruppe „Wien, Niederösterreich und Burgenland“ auf.1993 Über Erich Göstl konnten
keine weiteren Informationen eruiert werden. Der Name Walter Laske findet sich in einer
Aufstellung der leitenden Mitglieder der Landes- und Bundesorganisation des Kriegsblindenverbandes von Otto Jähnl mit Stand vom Sommer 1993.1994 Laske übte die Funktion des
Schriftführers im Vorstand der Bundesorganisation des Kriegsblindenverbandes aus und
war Obmannstellvertreter der Landesgruppe „Wien, Niederösterreich und Burgenland“.
Aus einem bei Jähnl wiedergegebenen kurzen Lebenslauf geht hervor, dass der 1924 geborene Laske als Gefreiter durch Granatsplitter am 22. November 1943 in Krasnovska in der
Sowjetunion erblindete.1995 In Jähnls publizierter Dissertation findet sich auch ein Bericht
Laskes über sein Studium.1996 Daraus geht hervor, dass er noch während seines Lazarettaufenthaltes in Prag an der dortigen Karls-Universität sein Jus-Studium begann.1997 Seine
1989 Lindmayr, Erfülltes Leben, S. 225–226.
1990 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 139.
1991 Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 139.
1992 Vgl. Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am 15.9.2006, Transkription S. 9.
1993 Vgl. Verband der Kriegsblinden Österreichs, Festschrift 1919–1949, S. 58–59.
1994 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 250.
1995 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 250.
1996 Vgl. Walter Laske, Mein Studium, in: Jähnl, Kriegsblinde, S. 229–232.
1997 Walter Laske, Mein Studium, in: Jähnl, Kriegsblinde, S. 229–232, hier S. 230.
269
Privilegien als erblindeter Angehöriger der Waffen-SS erwähnte Laske dabei allerdings nicht.
Seine SS-Mitgliedschaft blieb in der Arbeit von Otto Jähnl unerwähnt. Im März 1946 nahm
Laske sein Studium in Wien wieder auf und beendete es am 16. März 1950.
In den in den Jahren 1959 und 1969 herausgegebenen Festschriften des Kriegsblindenverbandes ist Laske nicht als Funktionär des Kriegsblindenverbandes und seiner Landesorganisationen genannt.1998 In den Dokumenten im ÖStA befindet sich nur ein sehr unvollständiger Akt über Laske. Darin ist lediglich ein Antrag der Kriegsblindenvereinigung in der
„Zentralorganisation der Kriegsopfer Österreichs“ vom 12. Juli 1945 auf Ausstellung eines
Ausweises für Schwerkriegsgeschädigte enthalten.1999 Dies ist ein Hinweis darauf, dass die
erblindeten Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS von der Organisation für Kriegsblinde
nach 1945 gleichwertig mit denen der Wehrmacht behandelt wurden.
Auch die Auszahlung von Renten wurde nach Ende des Krieges für die ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS günstig geregelt. Kriegsgeschädigte erhielten nach Ende des Zweiten
Weltkrieges zunächst Abschlagszahlungen als Renten, das heißt gekürzte Beträge, berechnet
nach den bestehenden Ansprüchen der sich noch in Kraft befindlichen NS-Gesetzgebung.2000
Davon ausgeschlossen waren zunächst unter anderem dezidiert die Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS. Dies regelte das „Gesetz vom 12. Juni 1945 über vorläufige Maßnahmen
zur Entschädigung der Kriegsopfer“.2001 Im Juli 1946 wurde diese Bestimmung dann abgeändert. Personen, die zum Dienst in der Waffen-SS auf Grund der Notdienstverordnung
vom 15. Oktober 19382002 herangezogen wurden, waren wieder versorgungsberechtigt.2003
Mit dem Inkrafttreten des „Kriegsopferversorgungsgesetzes“ (KOVG)2004 am 1. Jänner 1950
erhielten die ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS einen generellen Versorgungsanspruch.2005 Die Kriegsblinden der ehemaligen Waffen-SS waren also wieder mit denen der
Wehrmacht gleichgestellt. Einen Sonderstatus hatten sie nur in der Zeit von 1939 bis 1945.
Auf Grund der von Mitgliedern der Waffen-SS begangenen grausamen Delikte im Zweiten
Weltkrieg wurden die ehemaligen Angehörigen dieser NS-Formation nach Ende des Zweiten
Weltkrieges aber nicht als Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten, sondern als
Verbrecher wahrgenommen:
„Während die Wehrmachtssoldaten (und meist auch die Generäle), trotz des ‚Versagens
Einzelner‘, als menschliche Wesen, mit Schwächen und Stärken, dargestellt wurden, wurden die Mitglieder der SS meist als unmenschliche, entweder kaltblütig mordende oder sich
im Blutrausch befindliche Bestien beschrieben und auch explizit als solche bezeichnet.“2006
1998 Vgl. Verband der Kriegsblinden Österreichs, 40 Jahre; Verband der Kriegsblinden Österreichs, 50 Jahre.
1999 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 5, Akten betreffend Soziale Fürsorge Walter L.
2000Vgl. Hornung, Hierarchisierung der Opfer, S. 59–72, hier S. 67–68.
2001 Vgl. [Ö] StGBl. Nr. 36/1945, Gesetz vom 12. Juni 1945 über vorläufige Maßnahmen zur Entschädigung der
Kriegsopfer.
2002Vgl. [D] RGBl., Teil I, Dritte Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung (Notdienstversorgung) vom 15. Oktober 1938, S. 1441–1442.
2003 Vgl. Hornung, Hierarchisierung der Opfer, S. 59–72, hier S. 69.
2004Vgl. [Ö], BGBl., Nr. 197/1949, Bundesgesetz vom 14. Juli 1949 über die Versorgung der Kriegsbeschädigten
und Hinterbliebenen (Kriegsopferversorgungsgesetz – KOVG).
2005Vgl. Hornung, Hierarchisierung der Opfer, S. 59–72, hier S. 71.
2006Pollak, Die Wehrmachtslegende in Österreich, S. 44.
270
Vor diesem Hintergrund dürfte der wiedergegründete Kriegsblindenverband in Österreich
darauf verzichtet haben, auf eine eventuelle Mitgliedschaft von Funktionären in der ehemaligen Waffen-SS explizit hinzuweisen. Die Kriegsblinden der Wehrmacht und WaffenSS waren wieder eine homogene Gruppe geworden. Das persönliche Bewusstsein, einer
Elite anzugehören, verloren einige der erblindeten ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS
allerdings nie. Finck berichtete, dass sich in Deutschland auch Kriegsblinde der ehemaligen
Waffen-SS der „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit“ (HIAG) von ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS anschlossen. Ihre traditionelle Verbundenheit zeigten sie außerdem
dadurch, dass sie in den Nachkriegsjahren zweimal in der Kureinrichtung in Bad Berleburg
zusammenkamen.2007 Eine Beteiligung von Kriegsblinden aus Österreich an diesen Treffen
und in der HIAG konnte bis dato weder bestätigt noch widerlegt werden.
2007Vgl. Finck, Kriegsblinde in der DDR, S. 140.
271
9.Kriegserblindungen von Zivilpersonen:
Ein Forschungsdesiderat
Es ist anhand der eingesehenen Literatur und des verwendeten Quellenmaterials nicht
möglich zu eruieren, wie viele Männer, Frauen und Kinder aus der Bevölkerung, die
nicht als Soldaten oder Angehörige einer der NS-Waffenverbände gekämpft hatten,
im Krieg erblindet sind. Wie erwähnt, gab es bereits während des Krieges Probleme,
Zivilpersonen, die durch die Auswirkungen des Krieges erblindeten, entsprechend zu
erfassen. 2008
Die Versorgung von Zivilpersonen, die durch die Auswirkungen des Krieges dauerhafte körperliche Schädigungen erlitten, regelte die „Personenschädenverordnung“2009 vom
1. September 1939. Danach hatten die Betroffenen Anspruch auf die „Beschädigtenfürsorge
und -versorgung“2010 des WFVG im gleichen Umfang wie Soldaten mit einer Wehrdienstbeschädigung. Diese Durchführungsbestimmungen umfassten, wie bereits in Kapitel III.2.4
erwähnt, verschiedene Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation sowie die Auszahlung
von Renten für Personen, die als „arbeitsverwendungsunfähig“ galten. Diese Regelungen
waren aber zum Teil auf Zivilpersonen nicht anwendbar, wie zum Beispiel die Auszahlung
von Dienstgradzulagen. Am 10. November 1940 wurde dieses Gesetz daher in einer neuen
Fassung erlassen und an die Versorgung von Zivilpersonen angepasst.2011
Trotzdem hatte die Versorgung der ZivilistInnen, die durch die Auswirkungen des Krieges erblindeten, nicht dasselbe Ausmaß wie jene für die erblindeten Soldaten. Die berufliche
Rehabilitation der zivilen Kriegsblinden erfolgte nicht gemeinsam mit den Betroffenen aus
der Wehrmacht in den Reservelazaretten, da diese als „Soldatenlehrgänge“2012 konzipiert
waren. Die berufliche Ausbildung von zivilen Kriegsblinden dürfte daher durch eigene
Kurse, die die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ mit initiierte und die gemeinsam
mit Zivilblinden beispielsweise in den Einrichtungen des RBV2013 oder in den Blindenschulen stattfanden, organisiert worden sein.2014
Die Versorgung der zivilen Kriegsblinden kann auch deshalb in dieser Arbeit nicht
umfassend dargestellt werden, weil sich in dem entsprechenden Bestand im ÖStA zu den
Kriegsblinden der „Ostmark“ nur ein Akt einer Zivilperson, es handelte sich dabei um
Maria T., befindet. Maria T. erblindete allerdings nicht im Zweiten Weltkrieg, sondern im
oder in der Folge des Ersten Weltkrieges, die näheren Umstände ließen sich aus den unvoll2008Vgl. Kapitel III.1.2.5; Rohrbach, Augenverletzungen und die Luftschutzbrille, S. 896–901, hier S. 896.
2009GBlÖ, Nr. 1201/1939.
2010 GBlÖ, Nr. 1201/1939.
2011 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Neue Fassung der Verordnung über die Entschädigung von Personenschäden (Personenschädenverordnung) und der Ersten Durchführungsversorgung zur Personenschädenverordnung
vom 10. November 1940, S. 1482–1486.
2012 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale
Fürsorge Anton Z., AZ 30 p. 10/42 (Laz. Betr.) an das HVA Wien vom 20.10.1942, Betreff. Kriegsblinder
Z. Anton, geb. 7.10.04, Ausbildung im Bürstenmacherhandwerk.
2013 Vgl. dazu das Beispiel des 1941 erblindeten Wieners Anton H., der im Reservelazarett Wien nur eine
Grundausbildung erhalten hatte, daraufhin aber nach seiner Entlassung aus der Wehrmacht in den Werkstätten des RBV „Ostmark“ in der Wiener Rotensterngasse zum Korbflechter ausgebildet wurde. Siehe
Kapitel III.4.2.4.
2014 Vgl. Kapitel III.4.2.4.
272
ständig überlieferten Dokumenten nicht eruieren. 2015 Die aus Miklautzhof stammende
Kärntnerin wurde nach den Bestimmungen des „Kriegspersonenschädengesetzes“ (KPSG)
in der Fassung von 22. Dezember 1927 versorgt.2016 Dieses Gesetz regelte den Renten- und
Fürsorgeanspruch von Zivilpersonen, die durch die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges
eine dauerhafte körperliche Schädigung erlitten hatten. Für Anspruchsberechtigte galten
die Bestimmungen des RVG.2017 Mit der „Verordnung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen im Lande Österreich“ 2018 vom 28. Februar 1939 war dieses Gesetz auch in
der „Ostmark“ erlassen worden. Damit hatten Zivilpersonen, die vor dem 14. März 1938
in der „Ostmark“ einen „durch den Krieg verursachten Personenschaden“ 2019 erlitten hatten,
Anspruch auf eine Versorgung nach dem RVG. Maria T. war demnach eine der wenigen
zivilen Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges in Österreich.2020 Die am 8. Jänner 1918
geborene Maria T. könnte als Kleinkind erblindet sein. Unter Umständen erfolgte diese
Verletzung erst nach dem Ende des Krieges durch das Auffinden von Sprengmaterial. Wie
bei anderen Kriegsblinden vertrat die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ ihre
Anliegen vor den Versorgungsbehörden.2021 Maria T. war ausgebildete Blindenlehrerin,
fand allerdings nach Angaben der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ 1941 keine
Anstellung in diesem Beruf, angeblich weil „in Blindenanstalten erblindete Lehrkräfte
wegen Mangel an der Beaufsichtigungsmöglichkeit der zu erziehenden Zöglinge nicht angestellt werden.“ 2022 Dementsprechend lebte sie bei ihren Eltern, einer Hausfrau und einem
pensionierten Bahnbeamten. Im Zuge der intensiven Maßnahmen des NS-Regimes zur
Integration Kriegsblinder in die Arbeitswelt erhielt Maria T. 1940 die Bewilligung für
die Anschaffung einer Schreib- und Stenografiermaschine, die sie mit Unterstützung
des Gaufürsorgeverbandes (300 RM) und des Versorgungsamtes Klagenfurt (180 RM)
anschaffen sollte. Im September 1941 hatte sie diese allerdings, vermutlich auf Grund
kriegsbedingter Lieferschwierigkeiten, noch nicht erhalten.2023 Nicht bewilligt bekam
Maria T. dagegen ein Darlehen über 150 bis 170 RM für die Anschaffung eines Wintermantels. Die NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ unterstützte dieses Ansinnen
offenbar nicht. Eine mündliche Auskunft des Leiters der „Landesgruppe Kärnten“ der
NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“, August Hillepold, hatte dazu geführte, dass
das Versorgungsamt Klagenfurt am 15. September 1941 das Darlehen für Maria T. nicht
2015 Vgl. ÖStA, AdR, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Maria T.
2016 Vgl. [D] RGBl., Teil I, Gesetz über den Ersatz der durch den Krieg verursachten Personenschäden vom
15. Juli 1922, S. 620–623.
2017 Zum RVG vgl. Kapitel III.2.2.
2018 D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Versorgung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen im
Lande Österreich vom 28. Februar 1939, S. 422–424.
2019 D] RGBl., Teil I, Verordnung über die Versorgung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen im
Lande Österreich vom 28. Februar 1939, S. 422–424.
2020 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 49–51.
2021 Vgl. Kapitel III.3.2.
2022 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale
Fürsorge von Maria T., AZ F/S, NSKOV Fachabteilung Bund erblindeter Krieger, Landesverband Ostmark
an das HVA z. Hd. Oberregierungsrat Dr. Schöberl vom 24.7.1941, Betreff: Ansuchen der Maria T., wohnhaft in Miklautzhof, Kärnten.
2023 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Maria T., Aktenvermerk, GZ IV/1-42193, VA Klagenfurt vom 16.9.1941.
273
gewährte.2024 Das HVA „Ostmark“ in Wien entsprach dieser Stellungnahme und bestätigte
am 22. September 1941, dass sich die arbeitslose Maria T. in keiner Notsituation befände
und daher keinen Anspruch auf zusätzliche Unterstützung zu ihren Bezügen nach dem
RVG hätte.2025 Im Juni 1941 betrugen diese 220,55 RM monatlich.2026 Aus dem entsprechenden Akt geht weiter hervor, dass Maria T. 1941 nicht das gleiche Anrecht auf Vergünstigungen bei Fahrten mit der Reichsbahn hatte wie andere Schwerkriegsgeschädigte.
Das Versorgungsamt Klagenfurt schrieb Maria T. am 28. November 1941, dass nach dem
Erlass des RAM vom 14. April 1939 IIb 1930/1939 Personen, die nach dem KPSG versorgt
wurden, auf diese Vergünstigungen keinen Anspruch hätten. Für sie galten daher die
gleichen Bestimmungen wie für Zivilblinde, die nur dann Ermäßigungen bei Bahnreisen
erhielten, wenn es sich um eine beruflich notwendige Fahrt handelte.2027 Dies änderte sich
allerdings am 1. April 1944 mit dem Inkrafttreten der „Verordnung über Vergünstigungen
für Kriegsbeschädigte im öffentlichen Personenverkehr“ 2028, in der bestimmt wurde, dass
auch Zivilpersonen, die nach dem KPSG oder der „Personenschädenverordnung“ versorgt
wurden, Anspruch auf die bereits geschilderten Vergünstigungen von Kriegsgeschädigten
im öffentlichen Verkehr hatten.2029
Auch wenn es sich bei Maria T., die als Kriegsblinde nach dem KPSG versorgt wurde,
um einen Sonderfall handelte, so kann doch festgestellt werden, dass die NS-Kriegsopferversorgung nicht auf die hohe Anzahl von Zivilpersonen, die im Laufe des Krieges erblindeten, vorbereitet war.
Unter dem NS-Regime dürften die zivilen Kriegsblinden nie denselben gesellschaftlichen
Status erreicht haben wie die erblindeten Soldaten. Dies hing mit dem bereits beschriebenen
hohen Stellenwert des „Frontkämpfermythos“ zusammen, mit dem die ehemaligen Soldaten umgeben wurden.2030 Auch nach Kriegsende genossen durch oder im Krieg erblindeten Zivilpersonen nicht dieselbe Unterstützung. Erblindete ehemalige Soldaten und durch
den Krieg erblindete Zivilpersonen wurden nach Kriegsende zwar im wiedergegründeten
Kriegsblindenverband als Mitglieder aufgenommen, trotzdem scheinen die als ZivilistInnen Erblindeten darin eher eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben, was auch an ihrer
geringen Anzahl gelegen haben dürfte. Nach Aussagen von Bernhard Lindmayr gab es in
der Organisation der Kriegsblinden nach dem Zweiten Weltkrieg dementsprechend etwa nur
2024 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Maria T., GZ IV/1-42193, Leiter des VA Klagenfurt an das HVA Ostmark vom 18.9.1941,
Betreff: T. Maria Unterstützung.
2025 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Maria T., Entwurf, GZ VIa – Be/K – Tri/1941, HVA Ostmark an die NSKOV Fachabteilung
erblindeter Krieger Ostmark vom 22.9.1941, Betreff: Maria T. Ansuchen um Unterstützung zum Ankauf
eines Wintermantels.
2026 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Maria T., GZ IV/2, VA Klagenfurt an das HVA Ostmark vom 13.1.1941, Betreff: T. Maria,
Unterstützung.
2027 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge von Maria T., GZ IV/1 – 42193, VA Klagenfurt an Maria T. vom 28.11.1941, Betreff: Benutzung
Bahn; Kapitel II.2.4.3.
2028 [D] RGBl., Teil I, Vergünstigungen für Kriegsbeschädigte im öffentlichen Personenverkehr vom 23. Dezember 1943, S. 5; Vgl. Kapitel III.2.5.2.
2029 Vgl. Kapitel III.2.5.2.
2030 Vgl. Kapitel III.3.5.2.
274
vereinzelt Frauen.2031 1959 war Maria Finger die einzige Frau, die im Kriegsblindenverband
eine Funktion ausübte, als Beisitzerin im Verbandsvorstand. Das Gleiche gilt für die Organe
der Landesgruppen, in denen Frauen ebenfalls nur selten eine Funktion als Beisitzer oder
Mitglied der Kontrolle ausübten.2032
Auf Grund dieser geringen Präsenz in den Vereinsgremien und der geringen Anzahl
von im Krieg erblindeten Zivilpersonen, die sich dieser Organisation anschlossen, vertrat der Kriegsblindenverband hauptsächlich die Interessen derjenigen, die im Zuge ihres
Wehrdienstes ihr Sehvermögen verloren hatten. Wegen dieser fehlenden Lobbyarbeit wurden die zivilen Kriegsblinden in den Jahrzehnten nach Kriegsende von der Öffentlichkeit
entsprechend wenig wahrgenommen, was in der Folge offenbar ebenfalls die historische
Auseinandersetzung mit diesem Thema beeinflusste. In der bereits zitierten Arbeit von
Jähnl wird beispielsweise nicht auf diese Gruppe von Kriegsblinden und ihre Rolle im
Kriegsblindenverband eingegangen.2033 Die lückenhafte Quellenlage lässt es nicht zu, die
Lebensumstände der zivilen Kriegsblinden zwischen 1938 und 1945 detaillierter darzustellen. Die Lebensbedingungen von kriegsblinden Zivilpersonen während des Zweiten
Weltkrieges müssen daher weiterhin als Forschungsdesiderat gelten.
2031 Vgl. Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am 15.9.2006, Transkription, S. 17.
2032 o. A., Organe des Verbandes, in: Verband der Kriegsblinden (Hrsg.), 40 Jahre, S. 100–101. Eine ähnliche
Tendenz gab es nach Angaben von Willi Finck auch in der BRD. In den ersten zwei Jahrzehnten nach
Kriegsende wären Frauen im Bund der Kriegsblinden Deutschlands zwar akzeptiert gewesen, hätten aber
im Verbandsleben kaum eine Rolle gespielt. Erst in den 1980er Jahren sei es zu einer stärkeren Akzeptanz
der Frauen in der Organisation der Kriegsblinden gekommen. Vgl. Finck, Geschichte der Kurfürsorge,
S. 73.
2033 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden.
275
10.Kriegsblinde Akteure des NS-Regimes
10.1Kriegsblinde als „illegale“ Mitglieder der NSDAP
und der ihr angeschlossenen Organisationen
Wie eine nicht bekannte Anzahl von Zivilblinden2034 beteiligten sich auch Kriegsblinde,
insbesondere im Rahmen ihrer Funktionen in der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ an der Umsetzung der NS-Ideologie. Das NS-Regime räumte den blinden NSKOVFunktionären ein gesetzliches Vertretungsrecht ein und übte auf diese Weise soziale Kontrolle über die Kriegsopfer aus. Kriegsblinde wurden vom NS-Regime außerdem gezielt
zur Verbreitung ihrer Anliegen eingesetzt.2035 Die kriegsblinden Akteure des NS-Regimes
hatten also weitergehende Einflussmöglichkeiten als die Zivilblinden und verbreiteten die
NS-Ideologie nicht nur unter anderen Kriegsblinden, sondern weiteten ihre Tätigkeiten
über diesen Adressatenkreis aus, wie die Beispiele Othmar Huber und Ferdinand Ehmann
zeigten, die von der NSDAP zu „Gaurednern“ bestimmt worden waren.2036
Für Kriegsblinde hatte diese aktive Beteiligung an NS-Organisationen nach Ende des
Zweiten Weltkrieges Konsequenzen, denn eine Mitgliedschaft in der NSDAP und der ihr
angeschlossenen Verbände hatte unter Umständen negative Auswirkungen auf die versorgungsrechtlichen Ansprüche.2037 Wie bereits erwähnt, regelte das „Gesetz vom 12. Juni 1945
über vorläufige Maßnahmen zur Entschädigung der Kriegsopfer“2038, dass die gewährten
Abschlagszahlungen von Renten nicht an Personen, die zwischen dem 1. Juli 1933 und dem
13. März 1938 der NSDAP oder einer ihrer Wehrverbände (SS, SA, NSKK, NSFK) angehört
hatten, erfolgen sollten.2039 Zuständig für die Prüfung der illegalen Mitgliedschaft waren
nach Kriegsende die jeweiligen Landesinvalidenämter. Dafür griffen diese Behörden auf
gegebenenfalls vorhandene Unterlagen der neugegründeten „Kriegsblindenvereinigung“
in der „Zentralorganisation der Kriegsopfer“ zurück.2040 Diese Organisation übernahm
wahrscheinlich die Akten der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“, die nach Kriegsende noch vorhanden waren. Diese nach Ende des Zweiten Weltkrieges wiedergegründete
Organisation von Kriegsblinden musste sich daher damit auseinandersetzen, wie mit Kriegsblinden, bei denen vermutet wurde, sie seien illegale Mitglieder der NSDAP oder der Partei
angeschlossenen Gruppierungen gewesen, umzugehen war. Darüber ist allerdings wenig
bekannt, da sowohl die Akten der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ als auch
die der „Kriegsblindenvereinigung“ und des daraus später hervorgegangen „Verbandes der
Kriegsblinden“ nicht auffindbar waren. In den Fürsorgeakten des Kriegsblinden Simon S.
2034 Vgl. Kapitel II.11.2.
2035 Vgl. Kapitel III.3.2, III.3.5.2.
2036 Vgl. Kapitel III.3.5.2.
2037 Zu den Lebensbedingungen Kriegsblinder nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Hamburg (D) vgl. Krukowska, Kriegsversehrte, insb. S. 61–63, S. 122–126 und 135–137.
2038 Mit diesem Gesetz erscheint erstmals das Wort „Kriegsopfer“ in einem österreichischen Gesetzestext. Zur
Verwendung des Begriffes Kriegsopfer vgl. Botz, Opfer/Täter Diskurs, S. 7–8.
2039 Vgl. [Ö] StGbl. Nr. 36/1945, § 3 b.
2040Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge Simon S., AZ IV – 8.995/15/1946, Aktenvermerk, Bundesministerium für Soziale Verwaltung
vom 11.3.1946, Betreff: Scharf S., Prüfung der Zugehörigkeit zur NSDAP.
276
im ÖStA befindet sich aber ein Schreiben der „Kriegsblindenvereinigung“ vom 8. November
1945 an Sektionsrat Theodor Schöberle, in dem Obmann Hans Hirsch und Schriftführer
Slawic nachfragten, ob Kriegsblinde, die vom „Deutschen Reich“ eine Ausstattung zur
Ausübung des Bürstenmacherhandwerks erhalten hatten, diese Gerätschaften nun nach
Ende des Krieges auf Grund einer angenommenen illegalen Mitgliedschaft in der NSDAP
oder der ihr angeschlossenen Organisationen vor 1938 wieder zurückzugeben hätten. In
diesem Schreiben sind namentlich elf Kriegsblinde genannt, die „als illegale Mitglieder
der NSDAP“2041 aufschienen und eine solche handwerkliche Ausstattung erhalten hatten.
Sofern eine Zuordnung der Männer möglich war, zeigt diese Aufstellung, aus welchen unterschiedlichen Gruppen sich diese 1945 als illegale Mitglieder der NSDAP und anderer NSOrganisationen verdächtigten Personen zusammensetzten. Auf Grund ihres Geburtsdatums
kann davon ausgegangen werden, dass acht der dort aufgelisteten Kriegsblinden im Zweiten
Weltkrieg erblindeten, das bedeutet, sie waren bereits vor ihrer Erblindung Mitglieder von
NS-Organisationen. Diese Angabe war allerdings nur in einem Fall überprüfbar, da nur zu
einer dieser Personen im ÖStA Akten auffindbar waren. Johann Z., 1945 wohnhaft in Orth
an der Donau, geboren am 27. September 1919, erblindete im Juli 1942 an der Ostfront. Der
ehemalige Autoschlosser aus Häringsee (Niederösterreich) absolvierte nach seiner Erblindung von Mai bis August 1943 eine Bürstenbinderausbildung in Wien.2042 Laut Angaben
der Kriegsblindenvereinigung war Johann Z. bereits ab 1935 NSDAP-Mitglied und trat 1938
der SA bei. Bei insgesamt fünf dieser acht Kriegsblinden des Zweiten Weltkrieges wurde
ein Beitritt zur NSDAP vor 1938 angenommen. Einer von ihnen galt als Angehöriger der SS
ab 1937 und zwei weitere sollen bereits vor dem „Anschluss“ SA-Mitglieder gewesen sein.
Einer davon, Stefan S. aus Forchtenau (Niederösterreich), trat nach diesen Angaben 1933
der SA bei. Bei ihm steht allerdings auch der Vermerk: „soll nicht stimmen“2043. Dies weist
daraufhin, dass eine Mitgliedschaft zu diesem Zeitpunkt noch nicht als erwiesen galt.2044
Jedenfalls waren diese Männer zu einem Zeitpunkt der NSDAP, SA und SS beigetreten,
als sie noch keine Behinderung hatten. Dies unterschied sie von den meisten Zivilblinden,
die als blinde Männer und Frauen sich für ein Regime begeisterten, das gleichzeitig Menschen mit einer Behinderung diskriminierte, durch eine Zwangssterilisation lebenslangen
körperlichen und seelischen Schaden zufügte oder im Zuge der NS-„Euthanasie“ tötete.2045
2041 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale
Fürsorge Simon S, Abschrift, Eingelangt unter Zahl III-120.601-11/1945, Kriegsblindenvereinigung in der
Zentralorganisation der Kriegsopfer Österreichs an Sektionsrat Dr. Theodor Schöberle vom 8.11.1945, Betreff: Kriegsblinde illegale Mitglieder der NSDAP.
2042Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 4, Akten betreffend Soziale Fürsorge Johann Z.
2043ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale
Fürsorge Simon S, Abschrift, Eingelangt unter Zahl III-120.601-11/1945, Kriegsblindenvereinigung in der
Zentralorganisation der Kriegsopfer Österreichs an Sektionsrat Dr. Theodor Schöberle vom 8.11.1945, Betreff: Kriegsblinde illegale Mitglieder der NSDAP.
2044Über die Registrierungslisten nach dem NS-Gesetz 1947, die in allen Landesarchiven Österreichs überliefert sind, ist es heutzutage möglich, eine NS-Mitgliedschaft zu eruieren. An dieser Stelle wurde aber darauf
verzichtet, zu überprüfen, ob es sich bei den betreffenden Personen tatsächlich um Mitglieder der NSDAP
oder SA gehandelt hat. In dieser Arbeit konnte aufgezeigt werden, dass es eine solche Beteiligung gab. Auf
Grund der unvollständigen Liste mit bekannten Namen von Kriegsblinden erscheint es als nicht sinnvoll,
diese Recherche für Einzelfälle zu tätigen.
2045Vgl. Kapitel II.8.
277
Die restlichen drei in dieser Liste aufscheinenden Kriegsblinden sind vermutlich im
Ersten Weltkrieg erblindet und dementsprechend als blinde Männer der NSDAP beigetreten.
Bei einem von ihnen, Anton F., wohnhaft in Stubenberg (Steiermark), geboren am 5. Juni
1901, angenommenes Mitglied der NSDAP seit 1937, konnte nicht eindeutig eruiert werden,
ob seine Kriegsverletzung aus dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg stammte.2046 Die beiden
weiteren genannten Kriegsblinden, Karl Ludwig K. aus Wien und Simon S. aus Kärnten,
waren nach dem „Anschluss“ im Zuge der Umschulungsmaßnahmen von Kriegsblinden
des Ersten Weltkrieges zu Bürstenbindern ausgebildet worden.2047 Karl Ludwig K. war nach
Angaben in dieser Liste seit 1930 Mitglied der NSDAP. Simon S., dessen Fürsorgeakt im
ÖStA archiviert ist,2048 schloss sich angeblich 1938 der NSDAP an, offenbar noch vor dem
Ende der so genannten „Verbotszeit“.
Im März 1946 traf das „Bundesministerium für Soziale Verwaltung“ eine Entscheidung,
ob diese Kriegsblinden ihre erhaltenen Werkzeuge zurückzugeben hatten. In den Akten im
ÖStA zu dem am 26. Oktober 1899 geborenen ehemaligen Knecht aus Kärnten befindet sich
ein entsprechendes Schreiben vom 11. März 1946. Daraus geht hervor, dass Simon S. die
Werkzeuge für die Ausübung des Bürstenbinderhandwerks nicht zurückgeben muss, weil es
dafür „keine gesetzliche Handhabe“2049 gebe. Das Schreiben war ein vorgefertigtes Formular,
in dem nachträglich nur der Name des betreffenden Kriegsblinden handschriftlich eingefügt
worden war. Daher dürften andere Kriegsblinde die gleiche Mitteilung erhalten haben.
Albin Sackl ist ein weiterer Kriegsblinder des Ersten Weltkrieges, von dem bekannt ist,
dass er bereits vor dem „Anschluss“ Mitglied der NSDAP war. Sackl hatte nach dem Ende
des Ersten Weltkrieges eine Werkstatt in Graz eröffnet und beschäftigte dort u. a. zivilblinde
HandwerkerInnen. In einem im Mai 1938 in der Zeitschrift „Der Kriegsblinde“ erschienenen
Artikel betonte er, bereits während der „Systemzeit“2050 Mitglied der NSDAP gewesen zu sein.
Die NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ zog ihn 1938 dazu heran, Kriegsblinde
des Ersten Weltkrieges zu Bürstenbindern auszubilden.2051 Kriegsblinde, die sich bereits vor dem
„Anschluss“ zu einer NSDAP-Anhängerschaft bekannten, dürften nach 1938 bevorzugt von der
NSKOV für eine Funktion in der „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ eingesetzt worden
sein. Weitere Angaben über Kriegsblinde, bei denen nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine
illegale Mitgliedschaft in der NSDAP angenommen wurde, waren nicht auffindbar.
Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde die NSKOV „Fachabteilung erblindeter
Krieger“ zu einem maßgeblichen Faktor in der Versorgung und Rehabilitation der neu
hinzukommenden Kriegsblinden. Umfassende Versorgungsmaßnahmen, zugestandene
2046Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge Simon S, Abschrift, Eingelangt unter Zahl III-120.601-11/1945, Kriegsblindenvereinigung in
der Zentralorganisation der Kriegsopfer Österreichs an Sektionsrat Dr. Theodor Schöberle vom 8.11.1945,
Betreff: Kriegsblinde illegale Mitglieder der NSDAP.
2047 Vgl. Kapitel III.5.2.1.
2048Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale Fürsorge Simon S.
2049ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 3, Akten betreffend Soziale
Fürsorge Simon S., AZ IV – 8.995/15/1946, Aktenvermerk, Bundesministerium für Soziale Verwaltung
vom 11.3.1946, Betreff: Scharf S., Prüfung der Zugehörigkeit zur NSDAP.
2050 Albin Sackl, Treuebekenntnis aus Graz, S. 137–138, hier S. 138. Zum Begriff Systemzeit: vgl. Dreßen, Systemzeit, S. 756; Schmitz-Berning, Vokabular, S. 597–599.
2051 Vgl. Kapitel III.5.2.1.
278
Privilegien, wie eine bevorzugte Behandlung ihrer Anliegen vor öffentlichen Stellen, 2052
die Freizeitaktivitäten der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“2053 und die über das
Vertretungsrecht ausgeübte soziale Kontrolle durch die NSKOV bedingten ein an das NSRegime angepasstes Verhalten der Kriegsblinden. Ein Beispiel für die von den NS-Machthabern gewährten Privilegien schilderte Walter Malasek, der zu Silvester 1944 erblindet
war. 1945, nach seiner Rückkehr nach Wien, durfte der den von der Gestapo als angeblichen
Spion verhafteten Lebensgefährten seiner Mutter besuchen. Seinen Angaben nach war diese
Bewilligung eine Ausnahme gewesen, die ihm der zuständige NS-Justizbeamte nur gewährt
hatte, weil er ein Kriegsblinder war.2054
Auf der anderen Seite war ein regimetreues Verhalten sowie eine Mitgliedschaft in der
NSDAP und in anderen NS-Organisationen auch eine Bedingung für bestimmte Versorgungsleistungen, beispielsweise den Erhalt von Darlehen.2055
Aber nicht nur der ausgeübte Druck auf die Kriegsblinden war enorm, auch die NSKOVFunktionäre waren gezwungen, sich bedingungslos der NS-Führung unterzuordnen,
ansonsten wurden sie aus ihren Positionen entfernt und durch regimetreue Anhänger ausgetauscht. Der Bundesobmann der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ Peter Plein
verlor beispielsweise 1936 seine Funktion und sein Nachfolger August Martens musste 1941
zurücktreten, weil sie sich nicht entsprechend den Vorstellungen der NSKOV-Führung über
die Gestaltung der Organisation der Kriegsblinden verhalten hatten.2056
10.2Kriegsblinde und die Verfolgungen von „Kameraden“
jüdischer Herkunft
Der größte Teil der Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges, die sich 1938 der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ anschlossen, waren bereits Mitglieder des 1919 gegründeten
Kriegsblindenverbandes gewesen. Die Gründung dieser Organisation ging auf eine Initiative
des jüdischen Rechtsanwaltes David Schapira2057 zurück, der im November 1918 erstmals andere
Kriegsblinde zu einer Versammlung in Wien aufgerufen hatte.2058 Zum ersten Obmann dieses
Kriegsblindenverbandes wurde der 21-jährige Hans Hirsch gewählt.2059 Hirsch, der im Ersten
Weltkrieg nicht nur sein Augenlicht, sondern auch beide Hände verloren hatte, behielt diese
Funktion bis 1936.2060 Nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ galt er ab 1938 als Jude. Die
jüdischen Kriegsblinden waren vollständig in die Organisation der Kriegsblinden von 1919 bis
1934 integriert. Auf Grundlage des eingesehenen Quellenmaterials dürften rund 20 Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges jüdischer Herkunft gewesen sein.2061 Obwohl Kriegsblinde jüdischer Herkunft bis zum „Anschluss“ in der Organisation der Kriegsblinden sogar maßgebliche
2052 Vgl. Kapitel III.2.5; III.2.5.2.
2053 Vgl. Kapitel III.3.2.
2054 Vgl. [Malasek], Vom Waffenrock zum Blindenstock, S. 22 und S. 45.
2055 Vgl. Kapitel III.5.5.
2056 Vgl. Kapitel III.3.3.
2057 Schapira war der erste Präsident der IKG in Wien nach dem Zweiten Weltkrieg, vgl. Kapitel IV.7.
2058 Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 158.
2059 Vgl. Jähnl, Kriegsblinden, S. 69; Kapitel IV.3.3.4.
2060Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 158–165; Kapitel III.3.1.
2061 Vgl. Kapitel IV.1.3; II.11.2, IV.5.2.
279
Funktionen ausgeübt hatten, sind keine Widerstände bekannt, als nach dem „Anschluss“ die
ehemaligen Kameraden auf Grund des „Arierparagraphen“ von der NSKOV „Fachabteilung
Bund erblindeter Krieger“ ausgeschlossen und verfolgt wurden.2062 Hans Hirsch war der einzige
Kriegsblinde jüdischer Herkunft, der mit Wissen der NS-Behörden die Zeit von 1938 bis 1945
in Wien überlebte.2063 Den Kontakt zu Kriegsblinden hielt er auch in dieser Zeit aufrecht.2064 In
Kapitel IV.3.3.4 wird auf seine Person und diese Umstände näher eingegangen werden.
Auf Grund dieser bestehenden Kontakte unter den Kriegsblinden kann davon ausgegangen werden, dass die Funktionäre der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ von den
Repressalien und der Verfolgung Kriegsblinder jüdischer Herkunft 2065 Kenntnis hatten. Da
allerdings keine persönlichen Dokumente von Kriegsblinden aus dieser Zeit, sondern nur
offizielle Quellen überlieft sind, kann die persönliche Haltung von Kriegsblinden zu den Verfolgungen Kriegsblinder jüdischer Herkunft nicht dargestellt werden. Auffällig ist, dass es
auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht zu einer Aufarbeitung dieser Verbrechen
an Kriegsblinden jüdischer Herkunft seitens des neugegründeten Kriegsblindenverbandes
kam. In der Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Kriegsblindenverbandes 1969 wurden
zwar die Verdienste der „Kameraden Kommerzialrat Hans Hirsch“2066 und David Schapira2067
hervorgehoben, aber nicht erwähnt, dass diese jüdischer Herkunft waren und deshalb unter
dem NS-Regime verfolgt wurden.2068 Der vom NS-Regime getöteten Kriegsblinden jüdischer Herkunft wurde ebenfalls nicht gedacht. Dasselbe gilt für andere Festschriften des
Kriegsblindenverbandes.2069 Diese Tatsache ist zwar bemerkenswert, da Hans Hirsch bis
1963 als Obmann des Kriegsblindenverbandes fungierte. Trotzdem hatte er offenbar kein
Interesse daran, auf die Verfolgung Kriegsblinder jüdischer Herkunft unter dem NS-Regime
aufmerksam zu machen. Das entsprach durchaus dem damaligen Zeitgeist.2070 So schrieb
Hirsch 1959 zwar, dass er 1938 seine Tätigkeit im Verband nicht fortsetzen konnte, nannte
aber nicht den Grund für sein Ausscheiden: die Einführung des „Arierparagraphen“.2071
In einem Zeitzeugeninterview mit Bernhard Lindmayr im September 2006 bestätigte
dieser, dass die Verfolgung Kriegsblinder jüdischer Herkunft durch das NS-Regime nach
Kriegsende in der Organisation keine Rolle spielte: „Es war eigentlich kein Thema.“2072 Lindmayr gab außerdem an, nicht gewusst zu haben, dass auch David Schapira in Theresienstadt
gewesen war, obwohl er diesen kannte und wusste, dass er Jude war.2073
2062 Vgl. Kapitel IV.3.3, IV.6.4.
2063 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H., GZ VI A – Bl/W/1944, HVA Wien an die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues
Wien, Hauptabteilung H, Dienststelle des Sonderbeauftragten für die Wiedergewinnung zweckentfremdeter Wohnungen vom 3.4.1944, Betreff: Hans Israel Hirsch.
2064Vgl. Hirsch, Verband der Kriegsblinden Österreichs, S. 31–36, hier S. 33.
2065 Vgl. Kapitel IV.3.3.
2066Verbandsvorstand, Zum Geleit, in: Verband der Kriegsblinden Österreichs, 50 Jahre, S. 4–6, hier S. 5.
2067 O. A., Fünfzig Jahre Schicksalsgemeinschaft der österreichischen Kriegsblinden, S. 7–20, hier S. 7.
2068Vgl. O. A., Fünfzig Jahre Schicksalsgemeinschaft der österreichischen Kriegsblinden, S. 7–20.
2069 Verband der Kriegsblinden Österreichs, 40 Jahre Verband der Kriegsblinden; Verband der Kriegsblinden
Österreichs, 50 Jahre Verband der Kriegsblinden Österreichs; Verband der Kriegsblinden Österreichs, 60
Jahre Verband der Kriegsblinden Österreichs.
2070 Vgl. Kapitel IV.7.
2071 Vgl. Hirsch, Verband der Kriegsblinden, S. 31–36, hier S. 33.
2072 Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am 15.9.2006, Transkription S. 14.
2073 Vgl. Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am 15.9.2006, Transkription S. 14.
280
Damit unterschied sich die Organisation der Kriegsblinden nach 1945 von den Zusammenschlüssen der Zivilblinden, bei denen, wenn auch in äußerst bescheidenem Maße,2074
zumindest der blinden Opfer jüdischer Herkunft gedachte wurde.
Dass der Kriegsblindenverband nach dem Ende des Krieges nicht auf die Verfolgungen
von Kriegsblinden jüdischer Herkunft zwischen 1938 und 1945 in der „Ostmark“ hinwies,
dürfte damit in Zusammenhang stehen, dass diese Organisation nach Kriegsende an der
Legendenbildung einer „sauberen“ Wehrmacht mitarbeitete.2075 Die Beteiligung von Kriegsblinden beispielsweise als Funktionäre der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“
an der Machterhaltung des NS-Regimes war dabei kontraproduktiv. Außerdem hatten die
erblindeten ehemaligen Soldaten der Wehrmacht nach Kriegsende große Imageprobleme:
Sie wurden als Soldaten des „Hitlerkrieges“ bezeichnet.2076 Hinzu kam, dass eine „illegale“
Mitgliedschaft in der NSDAP und der ihr angeschlossenen Wehrverbände eine Auszahlung
von Abschlagszahlungen auf gewährte Renten verhinderte. Um wieder in die Gesellschaft
integriert zu werden, verschwiegen Angehörige der Wehrmacht ihre Beteiligung am NSRegime genauso wie an Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Unter anderem im Zuge der so
genannten „Kreisky-Peter-Wiesenthal-Affäre“2077 1975 sowie der Waldheimdebatte 1986 kam
es dann zu einer breiteren öffentlichen Auseinandersetzung mit der österreichische Beteiligung an NS-Verbrechen.2078 Die 1996 konzipierte Wanderausstellung „Vernichtungskrieg.
Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1945“2079, die auch in Österreich zu sehen war, führte
dann zu einem „Bruch“, der „die Wahrnehmung der Wehrmacht in der Öffentlichkeit und
den Umgang mit dem Wehrmachtsthema grundlegend veränderte.“2080
10.3Resümee: Täter, Opfer und Akteure
In diesem Kapitel und an anderen Stellen dieser Arbeit wurden die verschiedenen Facetten
der aktiven Beteiligung Kriegsblinder am NS-Regime aufgezeigt. Die persönlichen Beweggründe und Einstellungen der Kriegsblinden konnten dabei nicht berücksichtigt werde, da
keine Dokumente existieren, die darüber Auskunft geben. Nur mit einem Kriegsblinden
wurde ein Zeitzeugeninterview geführt.
Malmanesh stellte zu dieser Fragestellung in seiner 2002 publizierten Dissertation die
Vermutung an, dass gerade „Soldatenstolz, der Frontkämpfer-Mythos, die Beschwörung des
heldischen Soldaten“2081 den Kriegsblinden halfen, in ihrem Schicksal, als Menschen mit
2074 Vgl. ÖBSV, Protokoll der konstituierenden Versammlung des Österreichischen Blindenverbandes vom
9.3.1946, S. 2; Exenberger, Jüdische Blinde in Wien.
2075 Vgl. auch die dort angegebene Literatur Pollak, Wehrmachtslegende.
2076 Vgl. [Ada Hirsch], Der Mensch ist gut!?, zitiert in: Jähnl, Kriegsblinden, S. 168–171.
2077 U. a. Böhler, Kreisky-Peter-Wiesenthal Affäre, S. 502–531.
2078 Zum Umgang mit der NS-Herrschaft nach 1945 in Österreich vgl. u. a. Albrich, Holocaust und Schuldabwehr, S. 39–105; Garscha, Entnazifizierung und gerichtliche Ahndung von NS-Verbrechen, S. 852–883;
Mattl, Stuhlpfarrer, Abwehr und Inszenierung, S. 902–934; Kannonier-Finster, Ziegler, Österreichisches
Gedächtnis. Vgl. außerdem die in Kapitel IV.7 dazu angegebene Literatur.
2079 Hamburger Institut für Sozialforschung, Vernichtungskrieg.
2080Vgl. Pollak, Wehrmachtslegende, S. 173; Mattl, Stuhlpfarrer, Abwehr und Inszenierung, S. 902–934, hier
S. 906–907.
2081 Malmanesh, Blinde, S. 211.
281
einer Behinderung weiterleben zu müssen, einen Sinn zu sehen. Persönliche Motive wie
die Hoffnung auf einen sozialen Aufstieg, gesellschaftliche Integration und Anerkennung
dürften daher bei der Beteiligung von Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges am NS-Regime
relevant gewesen sein. Ihre aktive Rolle in der NS-Zeit bekommt allerdings vor dem Hintergrund der Verfolgungen von Kriegsblinden jüdischer Herkunft eine andere Dimension.
In der Zeit der Ersten Republik profitierten die Kriegsblinden von dem Einsatz von Hans
Hirsch, der sich für Verbesserungen in der Versorgung der Kriegsblinden bei Behörden
und in der Öffentlichkeit einsetzte. Die Integration von jüdischen Kriegsblinden in die
Vereinigung der Kriegsblinden bis 1938 endete nach dem „Anschluss“. Die Funktionäre der
NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ unterstützten demnach ein Regime, das ihre
ehemaligen „Kameraden“ massiv verfolgte und gegebenenfalls ermordete.
Es ist gut möglich, wenn auch nicht nachweisbar, dass es unter den Kriegsblinden schon
vor dem „Anschluss“ antisemitische Strömungen gab. Die nachgewiesene Beteiligung von
Kriegsblinden des Ersten Weltkriegs an NS-Organisationen in der Zeit des autoritären
„Ständestaates“ ist ein Hinweis darauf.2082
In der Zeit des Zweiten Weltkrieges hatten die NSKOV-Funktionäre weitgehende Befugnisse und Möglichkeiten, Kriegsblinde zu beeinflussen: Sie konnten die versorgungsrechtlichen Anliegen der Kriegsblinden vor den zuständigen Behörden vertreten und waren an
deren Rehabilitation in den Reservelazaretten beteiligt. Damit unterstützten die kriegsblinden NSKOV-Repräsentanten ein Regime, das die persönlichen Interessen der ehemaligen
erblindeten Soldaten ignorierte und die gesamte Rehabilitation nach dem wirtschaftlichen
Nutzen für die „Volksgemeinschaft“ ausrichtete. Kriegsblinde durften nicht selbst über
ihren Wohnort, ihre Arbeitsstelle und damit über ihre Lebensgestaltung bestimmen.2083 Die
NSKOV-Funktionäre der „Fachabteilung erblindeter Krieger“ trugen damit zum Verlust des
Selbstbestimmungsrechtes der Kriegsblinden unter dem NS-Regime bei.
Die totale Ausrichtung der gesamten Kriegsopferversorgung auf den volkwirtschaftlichen Nutzten hatte in einigen Fällen allerdings noch wesentlich schwerwiegendere Folgen,
insbesondere bei den Kriegsblinden, die so schwer behindert waren, dass sie beispielsweise
infolge einer Kopfverletzung keinem Beruf mehr nachgehen konnten. Es gibt Hinweise
darauf, dass eine nicht bekannte Anzahl von schwerverwundeten Angehörigen der Wehrmacht im Zuge der NS-„Euthanasie“ getötet wurde. Insbesondere Soldaten mit psychischen
Beeinträchtigungen waren davon betroffen. Der Chef des Heeressanitätswesens Siegfried
Handloser ordnete per Befehl vom 9. Februar 1943 an, „Kriegshysteriker, die durch Behandlung nicht symptomfrei gemacht werden können, sind in den Lazarettabteilungen an Heil- und
Pflegeanstalten unterzubringen.“2084 Die Anzahl der davon betroffenen Kriegsgeschädigten
kann allerdings nicht bestimmt werden. Hans-Walter Schmuhl weist in einem 2002 publizierten Aufsatz darauf hin, dass es vor allem „in den späten Phasen der ‚Euthanasie‘“2085 zu
einer Ausweitung des Kreises der Opfer kam. Rüdiger Liedtke berichtete dagegen 1981, dass
es bereits zu einem früheren Zeitpunkt, zwischen September 1939 und Sommer 1941, zur
Tötung von 1.500 bis 4.000 schwerverwundeten oder „hirnverletzten“ Soldaten der Wehr2082 Vgl. Kapitel III.10.1.
2083 Vgl. Kapitel III.4.
2084BA, Militärarchiv, Freiburg, H 20, 464, zitiert in: Aly, Medizin gegen Unbrauchbare, S. 9–74, hier
S. 67.
2085 Schmuhl, Patientenmorde, S. 295–328, hier S. 315. Vgl. Kapitel II.8.3.
282
macht gekommen war. Allerdings fehlt bei Liedtke ein entsprechender Quellennachweis
dazu, was seine Aussage fragwürdig erscheinen lässt.2086
Festzustehen scheint aber, dass auch Kriegsgeschädigte zu Opfern der NS-„Euthanasie“
wurden, was zeigt, wie fragil der angeblich hohe gesellschaftliche Status war, den das NSRegime den Kriegsopfern durch seine Propaganda verlieh. Die Lebensbedingungen Kriegsblinder hingen demnach nicht nur von ihren Verdiensten im Krieg ab, sondern auch davon,
welchen „Nutzen“ sie nach den Wert- und Normvorstellung der NS-Machthaber für die
Volksgemeinschaft hatten. Gleichzeitig waren die Möglichkeiten, Widerstand gegen die
Kriegsopferpolitik des NS-Regimes zu leisten, eingeschränkt, da Versorgungsleistungen
an ein regimetreues Verhalten gebunden waren und Funktionäre, die sich nicht an die von
den NS-Machthabern vorgegebenen Richtlinien hielten, ihrer Ämter enthoben wurden.
Auf Grund ihrer aktiven Beteiligung am NS-Regime tragen aber einige Kriegsblinde,
insbesondere die Funktionäre der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ eine Mitverantwortung an der NS-Diktatur und könnten nach moralisch-ethischen Gesichtspunkten
als Täter bezeichnet werden. Über im Krieg erblindete Zivilpersonen, darunter befanden
sich auch Frauen, die sich gegebenenfalls als FunktionsträgerInnen der NSKOV „Fachabteilung erblindeter Krieger“ oder in anderen Positionen aktiv beteiligten, ist nichts bekannt,
es handelt sich dabei um ein Forschungsdesiderat.
Alle Kriegsblinde zählen gleichzeitig aber ebenfalls zur Gruppe der Kriegsopfer, was ein
Grund dafür gewesen sein dürfte, warum ihre Beteiligung am NS-Regime nicht aufgearbeitet wurde. Dass Opfer gleichzeitig auch Täter sein können, scheint bis dato als Widerspruch
gesehen worden zu sein. Ausgehend von dieser Logik gab es auch doppelte Opfer: des Krieges und des NS-Regimes. Dazu zählten diejenigen Kriegsopfer, die nach den „Nürnberger
Rassengesetzen“ als Juden und Jüdinnen galten, und diejenigen, deren körperliche und
geistige Beeinträchtigungen infolge ihrer Kriegsverletzung so weitreichend waren, dass sie
für das NS-Regime „arbeitsunfähig“ und damit „unbrauchbar“ waren und getötet wurden.
2086Vgl. Liedtke, NS-Mordaktionen an deutschen Soldaten, S. 10–12, hier S. 11.
283
IV. Blinde Menschen jüdischer Herkunft
1.Einleitung und Problematisierung
1.1 Problematisierung von Begrifflichkeiten
Zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ lebten in Österreich nach Angaben von Jonny Moser
206.000 Menschen, die im Sinne der antijüdischen NS-Gesetzgebung als Jüdinnen und
Juden galten.2087 1933 legte das NS-Regime fest, Personen mit einem jüdischen Elternoder Großelternteil seien Jüdinnen oder Juden, ab 1935 definierten dies die „Nürnberger
Rassengesetze“.2088 Das NS-Regime schuf damit eine Festlegung, die zwischen Jüdinnen und
Juden sowie „Mischlingen“ unterschied.2089 Für die NS-Machthaber zählte nicht, ob sich die
Betreffenden selbst aus religiösen, kulturellen, politischen, persönlichen oder anderen Gründen zu dieser Gruppe zugehörig fühlten. Durch das NS-Regime wurden daher Menschen als
Jüdinnen oder Juden verfolgt, die eigentlich nicht zu dieser Religionsgemeinschaft gehörten
oder sich zu ihr bekannten. Der Begriff „jüdisch“ drückte in erster Linie aus, dass die Betreffenden gemäß der NS-Rassendoktrin „nichtarisch“ waren.2090 Die Bezeichnung „Jude“ oder
„Jüdin“ war dementsprechend in der NS-Ideologie ein „verächtlich gemeinter Namenszusatz
für Menschen jüdischer Herkunft oder solche, die ihnen gleichgesetzt wurden.“2091 Um diese
antisemitische Diffamierung in dieser Arbeit nicht auf sprachlicher Ebene fortzusetzen,
wird eine Personen nur dann als Jüdin oder Jude bezeichnet, wenn eruierbar war, dass sie
sich tatsächlich zum jüdischen Glauben bekannte.
Dieser Feststellung entsprechend recherchierte Jonny Moser zu der eingangs erwähnten Zahl von 206.000 Menschen jüdischer Herkunft in Österreich auch noch diejenige
von Personen mit tatsächlicher „israelitischer Konfession“, im NS-Jargon „Glaubensjuden“
genannt.2092 Demnach lebten mit Stand vom 13. März 1938 181.882 Jüdinnen und Juden
in Österreich. Der größte Teil von ihnen, rund 92 Prozent, wohnten in Wien. Die anderen
14.633 Personen verteilten sich auf die Bundesländer.2093 Rund 25.000 ÖsterreicherInnen,
die eigentlich nicht der jüdischen Religion angehörten, aber jüdische Vorfahren hatten,
wurden demnach durch das NS-Regime als Jüdinnen und Juden verfolgt.2094
Problematisch und in wissenschaftlichen Kreisen umstritten ist die Terminologie, ob
die Vertreibung und Ermordung der europäischen Menschen jüdischer Herkunft mit dem
2087 Vgl. Moser, Demographie, S. 17.
2088Zur Problematik der Verwendung der Bezeichnung Jüdinnen und Juden unter dem NS-Regime vgl.
Freund, Safrian, Vertreibung und Ermordung, S.41–43.
2089 Vgl. Freund, Safrian, Vertreibung und Ermordung, S. 43.
2090Vgl. Tepperberg, Oberst Otto Grossmann, S. 319–333, hier S. 320.
2091 Schmitz-Berning, Vokabular, S. 328.
2092 Vgl. Moser, Demographie, S. 16.
2093 Vgl. Moser, Demographie, S. 16–17.
2094 Vgl. Freund, Safrian, Verfolgung der österreichischen Juden, S. 767–794, hier S. 767.
285
Begriff „Shoa“ oder „Holocaust“ zu bezeichnen ist.2095 „Shoa“ ist der offizielle Begriff des
Staates Israel für die Verfolgung und Ermordung der europäischen Menschen jüdischer
Herkunft. Damit repräsentiert dieser Terminus die Sichtweise der Opfer und sollte nach
Ansicht vieler WissenschaftlerInnen nicht in den Ländern der TäterInnen verwendet werden.2096 In anderen Sprachen begann sich ausgehend von der englischen Übersetzung der
Bibel der „Begriff Holocaust durchzusetzen“2097. In der deutschen Übersetzung Luthers wird
dieser Begriff mit „Brandopfer“2098 wiedergegeben. Gemeint waren damit Gott dargebrachte
Opfer, dementsprechend ist dieses Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung ebenfalls unangemessen für den NS-Massenmord.2099 Trotz der begrifflichen Schwächen dieses Terminus
setzte er sich in den vergangenen Jahren im deutschsprachigen Raum durch und wird in
dieser Arbeit verwendet, da der Autorin die Verwendung der Bezeichnung „Shoa“ ebenfalls
als nicht angemessen erscheint.2100
1.2 Quellenlage und inhaltlicher Überblick
Für die folgende Darstellung konnten in erster Linie Quellen der „Israelitischen Kultusgemeinde Wien“ (IKW), des WStLA, des ÖStA aus dem Bestand des Stillhaltekommissars
Wien, der in Wien ansässigen „Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs“ und des DÖW herangezogen werden.2101 Ein weiteres wichtiges Dokument zur Aufarbeitung stammt aus dem Bestand des Instituts für jüdische Geschichte in Österreich in
St. Pölten und ist der im Dezember 1975 verfasste Lebenslauf des jüdischen Kriegsblinden
des Ersten Weltkriegs David Schapira aus Wien, der den Holocaust überlebte und nach
Ende des Zweiten Weltkrieges 1948 zum Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde
gewählt wurde.2102
Dem Ursprungsort der verwendeten Dokumente entsprechend wird im Folgenden
hauptsächlich die Verfolgung blinder Menschen mit jüdischer Herkunft in Wien dargestellt. Damit konnte allerdings der größte Teil blinder Menschen, die nach den „Nürnberger
Rassengesetzen“ als Jüdinnen und Juden galten, erfasst werden, denn die meisten von ihnen
2095 Literaturangaben zur Geschichte des Holocaust finden sich u. a. in Kapitel IV.1, IV.6.1; vgl. Jäckl, Vorwort,
S. XVI–XIX.
2096Vgl. Jäckl, Vorwort, S. XVI–XIX, hier S. XVII–XIX.
2097 Jäckl, Vorwort, S. XVI–XIX, hier XVIII.
2098 Jäckl, Vorwort, S. XVI–XIX, S. XVIII.
2099Vgl. Jäckl, Vorwort, S. XVI–XIX, S. XVIII; Freund, Safrian, Vertreibung und Ermordung, S. 41. Das Gleiche gilt für den Begriff „shoa“ vgl. Bendel, Die Shoa.
2100 Darüber hinaus verwendet etwa die offizielle Gedenkstätte für die Verfolgung und Ermordung europäischer Menschen jüdischer Herkunft „Yad Vashem“ in Jerusalem für ihre deutschen Publikationen den
Begriff „Holocaust“. Vgl. Gutterman, Shalev, Zeugnisse des Holocaust.
2101 Die Akten der IKG Wien aus der Zeit von 1938 bis 1945 sind sowohl in Wien als auch im „Central Archives for the history of the jewish people“ in Jerusalem auf Mikrofiche archiviert. Für diese Studie wurde in
Jerusalem recherchiert, da das Archiv der IKG Wien zum Zeitpunkt der Quellenrecherche für die Bearbeitung dieser Fragestellung nicht zugänglich war, sondern nur für Recherchen im Zusammenhang mit
Restitutionsansuchen geöffnet war.
2102 Vgl. Schapira, Mein bewegter Lebenslauf. Der erste Teil dieser Autobiographie bis zu seiner Erblindung
im Ersten Weltkrieg ist in einem von Albert Lichtlbau herausgegebenen Buch veröffentlicht. Vgl. David
Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 227–237; Kapitel IV.7.
286
lebten in Wien. Dort existierte 1938 nicht nur die größte jüdische Gemeinde des „Deutschen
Reiches“, sondern Wien war auch Wohnort der meisten blinden österreichischen Jüdinnen
und Juden.2103
Viele blinde Jüdinnen und Juden, die nicht schon in Wien aufgewachsen waren, kamen
bis 1938 dorthin, um an dem bereits 1872 von Ludwig August Frankl gegründeten „Israelitischen Blindeninstitut Hohe Warte“ eine Ausbildung zu absolvieren.2104 Auf Grund besserer
beruflicher Möglichkeiten als in kleineren Städten verblieben insbesondere nach Ende des
Ersten Weltkrieges viele der blinden SchülerInnen aus den Bundesländern Österreichs nach
Beendigung ihrer Ausbildung in der Großstadt.
Die NS-Machthaber zerstörten dann schrittweise das international renommierte „Israelitische Blindeninstitut“.2105 Berichte über diese Einrichtung in den ersten Monaten nach
Beginn der NS-Herrschaft in Österreich, von März bis Dezember 1938, existieren durch den
Schriftsteller Michael Stone.2106 In seinem 1995 erschienenen autobiographischen Roman
„Das Blindeninstitut – Bruchstücke einer Jugend“2107 erzählt er von dieser Einrichtung, in
der er zwischen 1933 und 1938 zeitweise lebte. Dieses Buch wird häufig in Verbindung mit
der Geschichte des „Israelitischen Blindeninstituts“ erwähnt, als historische Quelle ist das
Werk allerdings unbrauchbar, denn im Nachwort wies der Autor explizit darauf hin, dass er
sich die künstlerische Freiheit genommen hat, manche Szenen und Personen zu erfinden.2108
1938 begann für blinde Jüdinnen und Juden eine Zeit der Verfolgung in zweifacher Hinsicht. Sie waren sowohl auf Grund ihrer vom NS-Regime bestimmten jüdischen Herkunft
als auch auf Grund ihrer Blindheit Repressalien ausgesetzt.2109
Die antijüdische NS-Politik in der „Ostmark“ teilte sich in zwei Phasen. Die erste Phase
zwischen 1938 und 1940 war vor allem gekennzeichnet von Beraubung und Vertreibung2110
der jüdischen Bevölkerung.2111 Ab 1941 begann die zweite Phase der Verfolgung und damit
die Deportationen in die Vernichtungs- und Konzentrationslager Osteuropas. Der Abtransport der meisten blinden Menschen jüdischer Herkunft erfolgte 1942, zunächst vor allem
nach Theresienstadt.
Am 15. April 1945 lebten nur mehr 5.512 Menschen jüdischer Herkunft in der
„Ostmark“.2112 Die meisten von ihnen hatten überlebt, da sie nach den Bestimmungen der
„Nürnberger Rassengesetze“ in „privilegierter Mischehe“ (3.388), in „nichtprivilegierter
Mischehe“ (1.053) lebten oder so genannte „Geltungsjuden“2113 (1.053) waren.2114
2103 Vgl. Gehrmann, Blinden und Taubstummen, S.1–104, hier S. 52.
2104 Vgl. Kapitel IV.5.3.1.
2105 Vgl. Kapitel IV.5.3.2.
2106 Der 1922 in Berlin geborene Autor flüchtete 1933 mit seiner Familie nach Wien. Zwischen März und
Dezember 1938 fand er eine Zufluchtsstätte im Israelitischen Blindeninstitut und kam 1938 mit einem
Transport jüdischer Kinder nach England.
2107 Stone, Blindeninstitut.
2108 Vgl. Stone, Blindeninstitut, S. 169.
2109 Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Behinderte in Österreich; Kapitel IV.2.; IV. 4.
2110 In diesem Zusammenhang ist die Bezeichnung Emigration oder Auswanderung nicht korrekt, weil es den
flüchtenden Jüdinnen und Juden nicht möglich war, auch ihre Besitztümer mitzunehmen. Vgl. Freund,
Safrian, Vertreibung und Ermordung, S. 12.
2111 Vgl. Florian Freund, Hans Safrian, Verfolgung der österreichischen Juden, S. 767–794, hier S. 767.
2112 Vgl. Moser, Demographie, S. 56.
2113 Vgl. Schmitz-Berning, Vokabular, S. 258–259.
2114 Vgl. Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 310; Schmitz-Berning, Vokabular, S. 409–410.
287
Erst ab Dezember 1938 waren die „jüdischen Partner“ bzw. Partnerinnen einer „deutschjüdischen Mischehe“ von weiteren Verfolgungen „ausgenommen“ und „mehr oder minder
geduldet“.2115 Dies galt etwa für den einzigen jüdischen Kriegsblinden, der bis 1945 in Wien
überleben konnte: Hans Hirsch. Es galt zwar als „Volljude“, seine Ehefrau Ada war allerdings „rein arischer Abstammung“.2116 Im „Sinne der nationalsozialistischen Rassedoktrin“
galten Frauen, selbst wenn sie bei ihrer Eheschließung zum Judentum konvertiert waren,
als „Nichtjuden“.2117 Kapitel IV.7 geht auf die wenigen blinden Menschen jüdischer Herkunft
ein, die den Holocaust überleben konnten.
Durch die Schilderungen der Lebensbedingungen Zivilblinder und Kriegsblinder in der
Zeit von 1938 bis 1945 in den vorangegangenen Kapiteln konnte bereits herausgearbeitet
werden, dass sich das seit dem Ersten Weltkrieg existierende Zweiklassensystem von blinden
Menschen2118 nach dem „Anschluss“ fortsetzte und sogar noch weiter verschärfte.
Die antijüdische NS-Politik hatte zur Folge, dass die Zivil- und Kriegsblinden jüdischer
Herkunft zu einer dritten Klasse von blinden Menschen wurden. Allerdings beeinflusste
der unterschiedliche Status von Kriegs- und Zivilblinden in der NS-Gesellschaft die Verfolgungsmaßnahmen gegen blinde Menschen jüdischer Herkunft: Im Folgenden kann dargelegt werden, dass es bei Kriegsblinden zu einer von der üblichen Praxis abweichenden
Vorgehensweise der NS-Machthaber kam.2119 Diese Tatsachen änderten allerdings nichts
daran, dass auch Kriegsblinde jüdischer Herkunft ab 1942 deportiert und ermordet wurden.
In letzter Konsequenz unterschied sich ihr Schicksal daher nicht von dem der zivilblinden
Menschen jüdischer Herkunft. Kriegs- und Zivilblinde jüdischer Herkunft kamen zudem
in großer Anzahl in das gleiche „Altersghetto“: Theresienstadt. Daher erfolgt in Abschnitt
IV über die blinden Menschen jüdischer Herkunft keine generelle Trennung von Kriegsund Zivilblinden, wie das bisher in dieser Arbeit geschehen ist. An den entsprechenden
Stellen wird aber auf die abweichende Praxis im Umgang mit Kriegsgeschädigten des Ersten
Weltkrieges seitens der NS-Machthaber hingewiesen, insbesondere in den diversen Unterkapiteln von Kapitel IV.3.3.
1.3 Probleme der Quantifizierung und namentlichen Erfassung
Wie hoch die Anzahl blinder Menschen jüdischer Herkunft in der „Ostmark“ 1938 war, ist
nicht bekannt. 1910 wurden, wie bereits erwähnt, 223 blinde Jüdinnen und Juden in Wien
sowie fünf in den „Karstländern“ gezählt.2120 Aus dem Protokoll der Sitzung des „Kuratoriums
der Jüd. Blindenanstalt, Taubstummen- u. Krüppelhilfe Hohe Warte“2121, das am 8. September
2115 Vgl. Ursula Büttner, The Persecution of Christian-Jewish Families in the Third Reich, in: Year Book 1989,
XXXIV, Leo Baeck Institute, S. 267–289, hier S. 283 ff, zitiert in: Moser, Demographie, S. 53.
2116 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H., GZ VI A – Bl/W/1944, HVA Wien an die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues
Wien, Hauptabteilung H, Dienststelle des Sonderbeauftragten für die Wiedergewinnung zweckentfremdeter Wohnungen vom 3.4.1944, Betreff: Hans Israel Hirsch.
2117 Vgl. Moser, Demographie, S. 19.
2118 Vgl. Hoffmann, Entstehung eines „Zwei-Klassen-Systems“, S. 75–84.
2119 Vgl. Kapitel IV.3.3.
2120 Vgl. Gehrmann, Blinden und Taubstummen, S.1–104, hier S. 52.
2121 Kapitel IV.5.3.2.
288
1940 zusammenkam, um die endgültige Auflösung dieser Einrichtung zu beschließen, gaben
die Vertreter der „Selbsthilfegruppe jüdischer Blinder“ Jakob Wald und Leo Demm an, dass
diese Organisation die Interessen „von mehr als 150 Personen, die durch ihre Blindheit im
besondere Masse [sic!] hilfsbedürftig sind“2122 vertrete. Die Vorgängerorganisation dieser Selbsthilfevereinigung, der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“, zählte am 30. Juni 1938 insgesamt
187 Mitglieder.2123 Auf Grund der Tatsache, dass die antijüdische NS-Politik zu einer völligen
Verarmung blinder Menschen führte, dürften blinde Menschen jüdischer Herkunft in der
„Ostmark“ von diesen Sozialorganisationen nahezu vollständig erfasst worden sein. Hinzu
kam, dass nur wenige blinde Menschen auf Grund ihrer eingeschränkten körperlichen Möglichkeiten Chancen zur Flucht ins Ausland hatten. Dementsprechend kann davon ausgegangen
werden, dass 1938 rund 200 blinde Menschen jüdischer Herkunft in der „Ostmark“ lebten.
Auf Grund des eingesehenen Quellenmaterials und diverser Listen, auf denen blinde
und sehbehinderte Menschen erfasst wurden, konnte eine Liste von 260 Menschen, die nach
den „Nürnberger Rassengesetzen“ als Jüdinnen und Juden galten und der Quellenangaben
entsprechend vermutlich eine Sehbehinderung hatten, erstellt werden. Eine Abgrenzung
zwischen blinden und sehbehinderten Personen war auf Grund des vorliegenden Quellenmaterials nicht möglich. Diese Liste kann allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit
erheben. In vielen Fällen konnten beispielsweise keine Geburtsdaten oder weitere biographische Daten ermittelt werden. Sie ist im Anhang abgedruckt.
Diese Liste umfasst zwölf Namen von Kriegsblinden jüdischer Herkunft, deren Anzahl
dürfte allerdings etwas höher gewesen sein. In einem Schreiben aus dem Jahr 1938 ist die
Rede von zwölf Kriegsblinden jüdischer Herkunft, die Besitzer einer Trafik waren und
die zwangsenteignet wurden.2124 Es kann angenommen werden, dass es darüber hinaus
noch einige wenige Kriegsblinde jüdischer Herkunft gab, die allerdings nicht Besitzer eines
solchen Tabakwarengeschäftes waren. Im Ersten Weltkrieg dienten rund 300.000 jüdische Soldaten in der Armee Österreich-Ungarns.2125 Dies entsprach rund drei Prozent der
neun Millionen Soldaten.2126 Die namentliche Erfassung der Kriegsblinden könnte über
Dokumente aus dem Bestand der IKG Wien aus dieser Zeit weiter vervollständigt werden. Im „Central Archives for the history of the jewish people“ (CAHJP) befinden sich die
Mikrofilmaufnahmen der Personalbögen von Mitgliedern des Kriegsopferverbandes.2127
2122 WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 2308/22, Protokoll über die Sitzung des Kuratoriums der Jüd. Blindenanstalt, Taubstummen- u. Krüppelhilfe Hohe Warte vom 8.9.1940.
2123 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Obmann Leo Demm, Bericht über die Tätigkeit
und sozialen Einrichtungen vom 30.6.1938; Kapitel IV.5.2.
2124 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/1, Mitglied der S. d. P. Ortsgruppe Troppau an Herrn
Doktor vom 3.5.1938, Betreff: Gesuch und Verzeichnis von 12. Kriegsblinden und 2 Hilfslosen nichtarischen Trafikanten; Kapitel IV.3.3.2.
2125 Vgl. Schmidl, Davidstern und Doppeladler, S. 15–29, hier S. 25.
2126 Vgl. Schmidl, Davidstern und Doppeladler, S. 15–29, hier S. 25. Weiterführend vgl. Tepperberg, Oberst
Otto Grossmann 1873–1942, S. 319–333 [Dieser Aufsatz enthält auch einen kurzen Überblick über den
Forschungsstand]; Militärgeschichtliches Forschungsamt, Deutsche Jüdische Soldaten; Weisl, Juden in
der österreichischen und österreichisch-ungarischen Armee, S. 1–22; Schmidl, Juden in der k. (u.) k. Armee [Begleitpublikation zur Ausstellung „200 Jahre jüdische Soldaten in Österreich“ des Österreichischen
Jüdischen Museums in Eisenstadt].
2127 Vgl. CAHJP, A/W 2874/1-5, HBM 3368-3371, Personalbögen der dem Verband angehörigen Mitglieder
(bei späterer Einteilung in einen Abwanderungstransport Angabe der Transportnummer und des Abgangsdatum), Nr. 1-1500.
289
Rund 1.500 Personalbögen sind überliefert, allerdings sind die Mikroficheaufnahmen so
unleserlich und zudem die Rückseiten der Erfassungsbögen nicht mit abfotografiert, so
dass nur eine Einsicht der Originaldokumente eine vollständige Auswertung ermöglichen
würde. Das Gleiche gilt für die archivierte Korrespondenz des „Verbandes der jüdischen
Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen“, auch hier sind einige Schriftstücke unleserlich
und müssten im Original angesehen werden.2128 Dies war allerdings für diese Arbeit im
Archiv in Jerusalem nicht möglich.
2128 Vgl. CAHJP, A/W 2878, 1-2, HMB 3375, Korrespondenz Verband der jüdischen Kriegsblinden, Invaliden,
Witwen und Waisen in Wien.
290
2.Aspekte des Antisemitismus
gegen blinde Jüdinnen und Juden vor 1938
Seit der Antike wird das Judentum mit Krankheiten, die als „typisch jüdisch“ galten,
in Verbindung gebracht. 2129 Der medizinische Antisemitismus2130 des 19. und 20. Jahrhunderts unterschied sich allerdings von den vorhergehenden Varianten insbesondere
durch den Anspruch, wissenschaftlich legitimiert zu sein. 2131 Als Ursachen für eine
angeblich spezifische jüdische Nosologie2132 galten die historischen Lebensverhältnisse
des Judentums, die geprägt waren von Ausgrenzung und dem Leben in der Stadt, sowie
die angenommenen häufigen Eheschließungen unter Verwandten. Ebenfalls als pathogen galten die bei orthodoxen Jüdinnen und Juden üblichen Heiraten in sehr jungen
Jahren. 2133
Als Argumentation dienten den Antisemiten im 20. Jahrhundert die Ergebnisse von
Volkszählungen. Im Zuge der „Reichsgebrechlichenzählung“ 1925/26 in Deutschland wurde
beispielsweise festgestellt, dass der Anteil von Erblindungen unter Jüdinnen und Juden
höher sei als unter dem Rest der Bevölkerung.2134 Unter 10.000 Personen waren nach dieser
Erhebung 6,3 blinde Jüdinnen und Juden. Der Anteil von KatholikInnen lag mit 4,8, der
von ProtestantInnen mit 5,5 darunter.2135
Nur wenige Autoren stellten solche Ergebnisse daher in Frage. Der Statistiker W. Feilchenfeld erklärte aber 1931 den scheinbar höheren Anteil von blinden Jüdinnen und Juden
damit, dass sie „bekanntermaßen ganz besonders auf körperliches Befinden“2136 achten würden
und dementsprechend bei der Zählung sorgfältigere Angaben gemacht hätten. Blinde Jüdinnen und Juden seien daher durch die Erhebung 1925/26 fast vollständig erfasst worden, während dieses auf die übrige Bevölkerung nicht zutreffe.2137 Kritisiert wurde an zeitgenössischen
Bevölkerungsstatistiken darüber hinaus ihre „tendenziöse Indienstnahme“2138, die fehlerhafte
Durchführung der Befragungen sowie Mängel bei der Erfassung nach Konfessionen.2139
2129 Vgl. Hödl, Pathologisierung, S. 37; Hödl, Medizinischer Antisemitismus, S. 161–185, hier S. 164.
2130 Weiterführende Literatur vgl. auch die im folgenden Aufsatz angegebene Literatur: Hödl, Medizinischer
Antisemitismus, S. 161–185, hier insb. S. 161–164; Lipphardt, Biologie der Juden.
2131 Vgl. Hödl, Medizinischer Antisemitismus, S. 161–185, hier S. 165; Lichtblau, Macht und Tradition, S. 212–
229, hier S. 216.
2132 Lehre von der Erscheinungsform/Klassifikation einer Krankheit.
2133 Vgl. Hödl, Pathologisierung, S. 239–240.
2134 Vgl. Engelmann, Die Blinden im Deutschen Reich nach den Ergebnissen der Volkszählung von 1900. Medizinische Mitteilungen an das Kaiserliche Gesundheitsamt, Nr. 9 (1905), S. 156–183, hier S. 172 und Feilchenfeld, Die Blinden, in: Die Gebrechlichen im Deutschen Reich. Statistik des Deutschen Reiches, Band
419 (1931), S. 14, beide zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 77. Auch eine Erhebung aus Preußen
1905 kam nach Angaben von Fritz Lenz zu dem Ergebnis, dass unter der jüdischen Bevölkerung auf 10.000
Personen 71 blinde Menschen kamen, während im Landesdurchschnitt nur 56 von 10.000 BürgerInnen
blind waren. Vgl. Lenz, Die krankhaften Erbanlagen, S. 169–407, hier S. 199.
2135 Vgl. [W.] Feilchenfeld, Die Blinden, in: Die Gebrechlichen im Deutschen Reich. Statistik des Deutschen
Reiches, Band 419 (1931), S. 14, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 77.
2136 [W.] Feilchenfeld, Die Blinden, in: Die Gebrechlichen im Deutschen Reich. Statistik des Deutschen Reiches, Band 419 (1931), S. 14, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 78.
2137 Vgl. [W.] Feilchenfeld, Die Blinden, in: Die Gebrechlichen im Deutschen Reich. Statistik des Deutschen
Reiches, Band 419 (1931), S. 14, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 78.
2138 Lipphardt, Demographisches Wissen, S.45–66, hier S. 51.
2139 Vgl. Lipphardt, Demographisches Wissen, S. 45–66, hier S. 51–58.
291
Trotzdem kam es zu keiner grundsätzlichen Ablehnung der Statistik und die Ergebnisse
wurden insbesondere im Zuge der antijüdischen NS-Propaganda rezitiert.2140
Zu den speziellen Augenerkrankungen, die angeblich signifikant häufiger unter Jüdinnen
und Juden auftraten, zählten Anfang des 20. Jahrhunderts die Myopie (Kurzsichtigkeit), das
Glaukom (Grüner Star) und das Tay-Sachs-Syndrom, die infantile Form einer familiären
so genannten „amaurotischen Idiotie“.2141 In diesem Zusammenhang die bekannteste dieser
Erkrankungen ist das Tay-Sachs-Syndrom.2142 Drei bis sechs Monate nach der Geburt zeigen
sich dabei die ersten Anzeichen einer Erkrankung. Neben einer Erblindung treten bei den
Kleinkindern schwerwiegende psychische und körperliche Beeinträchtigungen auf. Das
Tay-Sachs-Syndrom führt meist im zweiten bis dritten Lebensjahr zum Tod. Nach Meinung
von WissenschaftlerInnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert trat das Syndrom fast
„ausschließlich“2143 bzw. „ganz überwiegend“2144 in jüdischen Familien auf. Diese Meinung
blieb nachweislich bis in die 1980er Jahre in wissenschaftlichen Kreisen verbreitet.2145
Über die Myopie war dagegen Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt, dass sie zwar bei
Jüdinnen und Juden besonders häufig vorkommen soll, allerdings in der gesamten Bevölkerung auftrat.2146 Nach damaligem Wissensstand galten nicht alle Formen der Myopie als
„erblich“.2147 Das Gleiche traf auf das Glaukom zu.2148 Diese Erkrankung konnte selbst bei
einer entsprechenden fachärztlichen Behandlung zu einer vollständigen Erblindung oder
schweren Sehbehinderung führen.2149
Das NS-Regime verwendete die pseudowissenschaftliche Beweisführung über das Vorkommen von „typisch jüdischen Augenerkrankungen“ in zweierlei Hinsicht: Zum einen
begründeten die NS-Machthaber damit ihre Forderung nach Erweiterungen oder Verschärfungen der eugenischen Gesetzgebung. Richter nannte hierbei unter anderem das Beispiel
des Sozialhygienikers Wilhelm Pfannenstiel, der anhand der amaurotischen Idiotie „eine
Brücke von der Forderung nach Sterilisation zu der nach der Euthanasie“ schlug, „die er
in diesem Fall befürwortete“. Zum anderen dienten die „vermeintlich ‚jüdischen‘ Augenerkrankungen“ auch „der vorurteilshaften negativen Charakterisierung“ von Jüdinnen und
2140 Vgl. Lipphardt, Demographisches Wissen, S. 45–66, hier S. 65.
2141 Engelmann, Die Blinden im Deutschen Reich nach den Ergebnissen der Volkszählung von 1900, in: Medizinalstatistische Mitteilungen an das Kaiserliche Gesundheitsamt, Nr. 9 (1905), S. 156–183, hier S. 172,
zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 77; Clausen, Refraktion des Auges, S. 223–244, hier S. 240;
Wegener, Erbliche Optikuserkrankungen, S. 213–222, hier S. 212.
2142 Vgl. Hödl, Pathologisierung, S. 238; Richter, Blindheit und Eugenik, S. 77; Rohrmann, Mythen und Realitäten, S. 96. Zur medizinischen Definition vgl. Hollwich, Augenheilkunde, S. 255.
2143 Hugo Hoppe, Sterblichkeit und Krankheit bei Juden und Nichtjuden, in: O&W, Nr. 3 (1903), S. 631–638,
hier S. 634, zitiert in: Hödl, Pathologisierung, S. 238; Lenz, krankhaften Erbanlagen, S. 169–407, hier
S. 362.
2144 Wegener, Erbliche Optikuserkrankungen, S. 213–222, hier S. 212.
2145 Vgl. Rohrmann, Mythen und Realitäten, S. 96; Goodmann, Genetic disorders, S. 121–122; Hödl, Pathologisierung, S. 238.
2146 Da eine „erbliche hochgradige Kurzsichtigkeit“ nach Meinung von beispielsweise Wilhelm Clausen, Direktor der Universitäts-Augenklinik Halle a. S., 1938 eine „vorzeitige Invalidität“ zur Folge haben konnte, galt
diese Erkrankung unter Umständen als eine „schwere körperliche Missbildung“ im Sinne des GzVeN. Vgl.
Clausen, Refraktion des Auges, 223–244, hier S. 240.
2147 Vgl. Clausen, Refraktion des Auges, 223–244, hier S. 240.
2148 Vgl. Verschuer, Blindheit, S. 10; Kapitel II.1.2.2.
2149 Das Glaukom gehörte dementsprechend der NS-Ideologie gemäß zu den Augenerkrankungen, die die
„Berufsfähigkeit“ beeinträchtigen konnten. Vgl. Löhlein, Glaukom als Erbleiden, S. 35–64, hier S. 60.
292
Juden.2150 Auch Theodor Fritsch, dessen „Handbuch der Judenfrage“2151 aus dem Jahr 1907
bis Kriegsende 1945 49 Mal aufgelegt wurde, stützte mit der Erwähnung der unter Jüdinnen
und Juden angeblich besonders häufig vorkommenden Augenkrankheiten seine abwertende,
diffamierende Darstellung des Judentums.2152
Blinde Menschen jüdischer Herkunft traf der medizinische Antisemitismus persönlich,
da sie als lebender Beweis dafür galten, Teil einer „degenerierten Rasse“ zu sein. Die intensive Rezitation dieser Argumentation Anfang des 20. Jahrhunderts dürfte den Umgang mit
blinden Jüdinnen und Juden bereits negativ beeinflusst haben.
Auch im österreichischen Blindenwesen kam es vor diesem Hintergrund zu einer
gewissen Absonderung blinder Jüdinnen und Juden. Wie bereits geschildert, entstanden
im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts viele unterschiedliche Vereine, die die Interessen der
Zivilblinden vertraten.2153 Auch für zivilblinde Jüdinnen und Juden gab es seit 1911 eine
eigene Organisation, den „Hilfsverein der jüdischen Blinden“.2154 Am 12. März 1938 zählte
dieser Verein 136 Mitglieder.2155
Dass es auch antisemitische Ressentiments unter blinden Menschen gab, zeigt das
Beispiel der 1926 gegründeten „Interessengemeinschaft für blinde Musiker und Klavierstimmer“. Diese Selbsthilfeorganisation führte mit Genehmigung der Behörden bereits im
Mai 1937 den „Arierparagraphen“ in ihren Statuten ein.2156 In § 4 der Satzungen hieß es:
„Ordentliches Mitglied kann jeder männliche und weibliche Blinde arischer Abstammung
werden.“2157 Dies ist bemerkenswert, weil die „Interessengemeinschaft für blinde Musiker
und Klavierstimmer“ bis 1937 dem „Verband der Blindenvereine Österreich“ angehörte, dem
sich, wie oben bereits erwähnt, auch der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ angeschlossen
hatte. Der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ legte am 30. Juni 1937 bei der Wiener Magistratsabteilung 2 Einspruch gegen diese Statuten ein, mit der Begründung, die „Interessengemeinschaft für blinde Musiker und Klavierstimmer“ sei eine „berufsständische Gruppe“ und
ein Ausschluss von jüdischen Mitgliedern stelle einen „Verstoss [sic!] gegen die Bundesverfassung“ dar.2158 Auch der „Verband der Blindenvereine Österreich“ wandte sich am 5. Juli
1937 mit einem sechs Seiten umfassenden Einspruch an die Magistratsabteilung. Darin
wurde argumentiert, die Einführung des „Arierparagraphen“ sei nicht rechtmäßig erfolgt,
da von den 60 Mitgliedern der „Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer“ nur 24 bei der Generalversammlung anwesend waren und wiederum nur zehn für
2150 Vgl. Wilhelm Pfannenstiel, Blindheit und Eugenik vom Standpunkt der Volkshygiene. Beiträge zum Blindenbildungswesen 4 (1933), S. 106–115, hier S. 109, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 79.
2151 Fritsch, Handbuch der Judenfrage.
2152 Vgl. Fritsch, Handbuch der Judenfrage, S. 31.
2153 Vgl. Kapitel II.3.1 und II.3.2.
2154 Vgl. Kapitel II.11.2 und IV.5.2.
2155 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden, Bericht über
die Aufbringung der Mittel zur Befürsorgung von Leo Demm am 4.4.1938.
2156 Vgl. Kapitel II.11.2. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker
und Klavierstimmer, Bescheid M. Abt. 2/4019/37 vom 15.7.1937, Betreff: Umbildung wird nicht untersagt.
2157 WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer,
Satzungen der Interessengemeinschaft blinder Musiker und Klavierstimmer vom Mai 1937.
2158 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden, Für die
Vereinsleitung Leo Demm an Mag. Abt. 2, Wien, vom 30.6.1937, Betreff: Interessengemeinschaft blinder
Musiker, Klavierstimmer und Musiklehrer.
293
die vorliegende Fassung der Statuten gestimmt hätten.2159 Außerdem sah der „Verband der
Blindenvereine Österreichs“ die Interessen blinder Menschen dadurch geschädigt, dass „eine
bestimmte Gruppe von Blinden von der Berufsfürsorge“2160 ausgeschlossen werden würde.2161
Keine Bedenken gegen die Statuten äußerte allerdings die Bundes-Polizeidirektion Wien am
3. Juli 1937.2162 Das Obermagistrat erteilte dieser Argumentation folgend die Zustimmung
zur Änderung der Statuten am 15. Juli 1937.2163
Als mögliche Hintergründe für die Entscheidung der „Interessengemeinschaft für blinde
Musiker und Klavierstimmer“, einen „Arierparagraphen“ einzuführen, nennt der „Verband
der Blindenvereine“ Österreichs in dem bereits zitierten Schreiben vom Juli 1937 wirtschaftliche Interessen:
„Von Seite der Interessengemeinschaft wird wohl erklärt, daß diese Bestimmung aus
rein wirtschaftlichen Gründen in das Statut aufgenommen sei und daß damit keinerlei
politische Tendenzen verfolgt werden.“2164
Da zu diesem Zeitpunkt im benachbarten Deutschland bereits die „Nürnberger Rassengesetze“ in Kraft waren, hatte die Entscheidung, „nichtarische“ Mitglieder auszuschließen,
allerdings sehr wohl eine politische Dimension. Wie bereits erwähnt, handelte es sich bei
der „Interessengemeinschaft blinder Musiker und Klavierstimmer“ vermutlich um ein Auffangbecken für zu diesem Zeitpunkt blinde illegale Mitglieder der NSDAP.2165
Diese Ausgrenzung von blinden Menschen jüdischer Herkunft war allerdings kein Spezifikum des Blindenwesens. Bereits im 19. Jahrhundert bemühten sich Antisemiten, „Organisationen
dazu zu bringen, Juden nicht aufzunehmen.“2166 Neben antisemitischen Parteien und Vereinen,
die Jüdinnen und Juden auf Grund ihrer Statuten eine Mitgliedschaft „prinzipiell untersagten“,
„verwiesen beginnend mit dem Jahr 1877 die national gesinnten Korporationen der Studenten in
2159 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer, Verband der Blindenvereine Österreichs an den Wiener Magistrat, Abt. 2 vom 5.7.1937, Betreff:
Interessengemeinschaft blinder Musiker und Klavierstimmer.
2160 WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer,
Verband der Blindenvereine Österreichs an den Wiener Magistrat, Abt. 2 vom 5.7.1937, Betreff: Interessengemeinschaft blinder Musiker und Klavierstimmer.
2161 Eine weitere Eingabe erfolgte durch den „Bund der österreichischen Gewerbetreibenden“ am 30. Juni 1937.
Dieser stimmte erst nach einer Änderung der Statuten zu, die allerdings nicht im Zusammenhang mit der
Einführung des „Arierparagraphen“ stand. Dieser Umstand blieb in dieser Stellungnahme unerwähnt.
WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer,
GZ 1801-Org/1937 Dr. H/R, Bund der österreichischen Gewerbetreibenden an Mag. Abt. 2, vom 30.6.1937,
Betreff: Verein Interessengemeinschaft blinder Musiker und Klavierstimmer, Umbildung.
2162 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer, V. B. 3765/37, Bundes-Polizeidirektion in Wien an Mag. Abt., vom 3.7.1937, Betreff: Verein Interessengemeinschaft blinder Musiker und Klavierstimmer, Umbildung.
2163 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer, Bescheid M. Abt. 2/4019/37 vom 15.7.1937, Betreff: Umbildung wird nicht untersagt.
2164 WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 7554/27, Interessengemeinschaft der blinden Musiker und Klavierstimmer,
Verband der Blindenvereine Österreichs an den Wiener Magistrat, Abt. 2 vom 5.7.1937, Betreff: Interessengemeinschaft blinder Musiker und Klavierstimmer.
2165 Vgl. Kapitel II.11.2.
2166 Lichtblau, Macht und Tradition, S. 212–229, hier S. 216.
294
Österreich und Deutschland Juden aus ihren Reihen.“2167 Nach dem Ersten Weltkrieg kam es,
bedingt durch die „ökonomische und politische Krise“ zu einer „erneuten Radikalisierung des Antisemitismus“, woraufhin in den 1920er Jahren scheinbar unpolitische Vereine jüdische Mitglieder
ausschlossen.2168 In diesem Zusammenhang können etwa der „Österreichische Touristenclub“
(1920) sowie Sektionen des „Österreichischen Alpenvereins“ (ab 1921) genannt werden.2169
Auch wenn das Beispiel dieser „Interessengemeinschaft blinder Musiker und Klavierstimmer“ ein Beleg dafür ist, dass antisemitische Strömungen unter blinden Menschen genauso wie
in der restlichen Bevölkerung bereits vor 1938 verbreitetet waren, so kann aus dieser Quelle
nicht eruiert werden, wie weitreichend diese waren. Bekannt ist, dass es durch den Zusammenschluss im „Verband der Blindenvereine Österreichs“ zumindest auf Vereinsebene eine
Zusammenarbeit zwischen blinden Menschen unabhängig von der Konfession gab. Allerdings
spielten dabei in erster Linie wirtschaftliche Gründe eine Rolle. Dementsprechend ist diese
Vereinigung kein Beleg für ein Zusammengehörigkeitsgefühl von jüdischen und nichtjüdischen blinden Menschen. Auch ist nicht bekannt, inwieweit ein zwischenmenschlicher
Kontakt beispielsweise im Privatleben unterhalten wurde. 1938 endete dann offiziell jegliche
Zusammenarbeit. Als Funktionäre des RBV, Mitglieder der NSDAP und SA beteiligten sich
blinde Menschen an der Verfolgung blinder Menschen jüdischer Herkunft.2170
Im Gegensatz zum Vereinswesen der Zivilblinden gab es im Kriegsblindenwesen keine
Trennung zwischen Betroffenen unterschiedlicher Konfessionen, wahrscheinlich auch auf
Grund ihrer geringen Anzahl. Wie erwähnt, gab es voraussichtlich höchstens 20 Kriegsblinde jüdischer Herkunft. Über antisemitische Tendenzen unter Kriegsblinden vor 1938
ist nichts bekannt, aber auf Grund der Tatsache, dass einige bereits vor dem „Anschluss“
nachweislich Mitglieder der NSDAP und anderer NS-Organisationen waren, wird es auch
unter ihnen AntisemitInnen gegeben haben.2171
Diese Verbreitung des Antisemitismus unter blinden Menschen ist eine mögliche Erklärung dafür, warum die 1938 beginnende Verfolgung blinder Menschen jüdischer Herkunft
nicht zu Protesten von Zivil- oder Kriegsblinden führte.
2167 Norbert Kampe, Studenten und „Judenfrage“ im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus, Göttingen 1987 und Robert Hein, Studentischer Antisemitismus
in Österreich, [= Beiträge zur österreichischen Studentengeschichte, 10], Wien 1984, beide zitiert in: Lichtblau, Macht und Tradition, S. 212–229, hier S. 216.
2168 Vgl. Lichtblau, Macht und Tradition, S. 212–229, hier S. 216.
2169 Vgl. Andrea Wachter, Antisemitismus im österreichischen Vereinswesen für Leibesübungen 1918–1938
am Beispiel der Geschichte ausgewählter Vereine, Diss. [Manuskript] Wien 1983, S. 72–130, zitiert in:
Lichtblau, Macht und Tradition, S. 212–229, hier S. 216.
2170 Vgl. Kapitel II.11.2.
2171 Vgl. Kapitel III.10.1.
295
3.Die Verfolgung blinder Menschen
jüdischer Herkunft 1938–1942
3.1 Die antijüdische NS-Gesetzgebung und ihre Auswirkungen
auf den Alltag blinder Menschen jüdischer Herkunft
Die antijüdische Politik der NS-Machthaber erfasste alle Lebensbereiche von Menschen
jüdischer Herkunft und hatte damit eine soziale, wirtschaftliche und persönliche Dimension. Blinde Menschen traf die Verfolgung des NS-Regimes besonders. Ihre Behinderung
schränkte ihre Erwerbsmöglichkeiten ein und bei vielen Verrichtungen des alltäglichen
Lebens waren sie auf Hilfsmittel sowie auf die Unterstützung von Sehenden angewiesen. Der
„Anschluss“ und die damit beginnenden Repressalien gegen Menschen jüdischer Herkunft
wirkten sich daher auf ihre Existenzmöglichkeiten verheerend aus: Im Zuge der „Zwangsarisierungen“ verloren diejenigen, die einer Beschäftigung nachgingen, ihren Arbeitsplatz.
Auf Grund des „Arierparagraphen“ konnten Zivilblinde nicht dem RBV beitreten und
Kriegsblinde jüdischer Herkunft nicht in der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter
Krieger“ Mitglied werden. Damit waren sie von den Leistungen dieser Institutionen, wie
beispielsweise Verkaufsstellen von Hilfsmitteln, Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung oder
Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten sowie Freizeitangebote, ausgeschlossen. Alle Blindenbüchereien im „Deutschen Reich“ nahmen in ihre Richtlinien auf, ihre Werke nur mehr
an „ArierInnen“ zu verleihen.2172
Zugelassen waren nach dem „Anschluss“ nur mehr zwei Selbsthilfeorganisation, die
blinde Menschen jüdischer Herkunft unterstützten: Der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“
und der „Hilfsverband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen“.2173 Einen
eigenständigen Kriegsblindenverband für Betroffene jüdischer Herkunft gab es nicht, die
Anzahl der Kriegsblinden, die nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ als Juden galten,
war dafür zu gering.2174
Einige der antijüdischen Bestimmungen und Erlässe des NS-Regime betrafen blinde
Menschen direkt. 2175 Reichsfinanzminister Johann Ludwig Graf Schwerin von Korsigk
startete nach Angaben von Götz Aly beispielsweise bereits ab 1935 einen „Ideenwettbewerb“ unter seinen Beamten, der die „steuerliche Ausplünderung“ von Menschen
jüdischer Herkunft bezweckte. 2176 Diesbezüglich fand im April 1938 eine Besprechung
statt, in der diskutiert wurde, ob die Blindenhunde von Kriegsblinden jüdischer Herkunft weiterhin von der gemeindlichen Hundesteuer befreit bleiben sollten. 2177 Ob diese
Bestimmung auch durchgesetzt wurde, ist nicht bekannt. Hart traf blinde Menschen
2172 Vgl. Nationalsozialistisches Schrifttum der Süddeutschen Blindenbücherei der Blindenanstalt Nürnberg,
o. O., o. J. [AIDOS].
2173 Vgl. Kapitel IV.5.1.
2174 Vgl. Kapitel IV.1.3.
2175 Vgl. weiterführend die in Kapitel IV.1 angegebene Literatur.
2176 Vgl. Aly, Hitlers Volkstaat, S. 22–23.
2177 Vgl. Auszug aus dem Entwurf des Reichsfinanzministeriums-Schreiben betreff Judenfrage vom 25.4.1938,
Referat Zülow und Kühne [BAB R 2/Nr. 56014, Bl. 97ff], zitiert in: Friedenberger, Gössel, Schönknecht,
Reichsfinanzverwaltung im Nationalsozialismus, S. 53–54.
296
jüdischer Herkunft allerdings das Verbot ab Mai 1942, Haustiere, darunter fielen auch
Führhunde, zu halten. 2178
Blinde Menschen jüdischer Herkunft waren zudem von der Möglichkeit ausgeschlossen, um eine Befreiung von den Rundfunkgebühren anzusuchen.2179 Ab September 1939
mussten dann alle Menschen jüdischer Herkunft im „Deutschen Reich“ ihre Radiogeräte
abgeben.2180 Für blinde Menschen, die keine Zeitungen lesen konnten und denen der Zugang
zu Blindenschriftbüchern durch ihren Ausschluss aus dem Blindenwesen verwehrt war, war
dies ein weiterer entscheidender Einschnitt in ihrem alltäglichen Leben.
Ab September 1941 wurden jüdische BürgerInnen im „Deutschen Reich“ gezwungen,
den Judenstern zu tragen. Diese Zwangskennzeichnung bedeutete eine weitere, schwerwiegende Diskriminierung in der Öffentlichkeit.2181 David Schapira, ein Kriegsblinder aus Wien,
der mit seiner Frau 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde und überlebte, schrieb seine
Erinnerungen 1975 in einem unveröffentlichten Manuskript nieder.
„Parkanlagen, Kaffeehäuser und Kinos durften von den Sternträgern nicht betreten
werden. Selbst befreundete Arier wagten nicht, ihre jüdischen Bekannten zu grüßen,
geschweige denn anzusprechen oder sonstigen persönlichen Kontakt zu pflegen.“2182
Gleichzeitig gab es im Reichsverkehrsministerium Pläne, blinden Menschen das Tragen der
gelben Armbinde mit den drei Punkten, welche zur Kennzeichnung von Menschen mit einer
Behinderung im Straßenverkehr diente,2183 zu verbieten. Im Juli 1942 wurde dann allerdings
festgelegt, das Tragen dieser Armbinden blinden Menschen jüdischer Herkunft weiterhin
zu erlauben. Dies geschah allerdings nicht ihretwegen, sondern diente „den Bedürfnissen
des Verkehrs […]“2184. Alle VerkehrsteilnehmerInnen sollten zu ihrer eigenen Sicherheit weiterhin alle Menschen mit einer Behinderung, die ihre Wahrnehmung oder Beweglichkeit
einschränkte, erkennen können, um sich darauf einzustellen.2185
1942 mussten sie, sofern sie diese besaßen, Schreibmaschinen und Telefonapparate
abliefern.2186 Am schwersten trafen blinde und andere Menschen mit Beeinträchtigungen
die Auswirkungen der antijüdischen Gesetzgebung auf den Arbeitsmarkt. Bereits vor dem
„Anschluss“ hatten viele Betroffene Schwierigkeiten, eine Arbeitsstelle zu finden. Wichtige
Arbeitgeber für blinde Menschen waren daher auch jüdische Vereine und Einrichtungen.
Eine nicht bekannte Anzahl arbeitete etwa in der jüdischen Blindenbibliothek, dem „Israelitischen Blindeninstitut“ oder dem „Hilfsverein der jüdischen Blinden“. Diese Einrichtungen
2178 Vgl. Friedländer, Jahre der Vernichtung, S. 396; Jaedicke, Die Blinden in Theresienstadt, S. 39–43, hier
S. 40; Scheer, Jüdische Blinde im „Dritten Reich, S. 14–15, hier S. 15 [Redaktion: Blinden- und Sehschwachen-Verband der DDR].
2179 Vgl. Kapitel II.2.4.4.
2180 Vgl. Jaedicke, Die Blinden in Theresienstadt, S. 39–43, hier S. 40.
2181 Zu den Bestimmungen vgl. weiterführend: O. A., Wichtig für Alle, in: Jüdisches Nachrichtenblatt, Nr. 26,
(27.8.1943), S. 1 [DÖW 10020/01].
2182 Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 28–29.
2183 Vgl. Kapitel II.2.6.
2184 Erlass des Reichsverkehrsministerium vom 13.7.1942, Betreff: Tragen von Armbinden, zitiert in: Walk,
Sonderrecht für die Juden, S. 381. Vgl. Reichs-Verkehrs-Blatt Ausgabe B Kraftfahrtwesen (RVKB1B)
(1942), Nr. 101, zitiert in: Richter, Blindheit und Eugenik, S. 83.
2185 Vgl. Richter, Blindheit und Eugenik, S. 83.
2186 Vgl. Jaedicke, Die Blinden in Theresienstadt, S. 39–43, hier S. 40.
297
wurden beginnend im Jahr 1938 schrittweise aufgelöst.2187 In der Folge verarmten viele
Menschen jüdischer Herkunft mit einer Beeinträchtigung völlig, auch weil sie zudem ihr
Anrecht, Arbeitslosengeld zu beziehen, verloren hatten.2188 Die IKG bemühte sich, für die
blinden Menschen wieder Arbeitsplätze zu finden. Dieses Ansinnen wurde allerdings durch
das NS-Regime stark erschwert und es konnte daher nur in Ausnahmefällen gelingen.2189
Schwerwiegende Folgen hatten für blinde Menschen jüdischer Herkunft die Vertreibungen aus ihren Wohnungen, da sie dadurch die ihnen vertraute Umgebung, in der sie sich
gut orientieren konnten, verlassen mussten. Auf die Kündigungen von blinden MieterInnen
in Wiener Gemeindewohnungen 1938 geht das folgende Kapitel ein. 1939 wurde mit dem
Gesetz über die „Mietverhältnisse mit Juden“2190 der gesetzliche MieterInnenschutz teilweise
aufgehoben und die Zusammenlegung von Familien jüdischer Herkunft erzwungen. Die
Verordnung zur Einführung dieser Vorschriften in der „Ostmark“ wurde am 10. Mai 1939
bekannt gemacht.2191 Dies hatte zur Folge, dass viele Gemeinden BürgerInnen jüdischer
Herkunft aus ihren Wohnungen vertrieben und diese gezwungen waren, in engere und
überfüllte Ausweichquartiere zu ziehen, die häufig wesentlich teurer waren als ihre vorherigen Unterkünfte.2192
3.2 Die Vertreibung von blinden Menschen jüdischer Herkunft
aus Wiener Gemeindewohnungen
Zur Zeit des „Anschlusses“ setzten sich die zuständigen NS-Behörden mit der Wohnungsnot
in Wien auseinander, die sich auf Grund der geringen Wohnbautätigkeit in der Zeit des
autoritären „Ständestaates“ verschärft hatte. Der Zuzug von ParteimitarbeiterInnen, Militär- und Verwaltungspersonal aus dem „Deutschen Reich“ und die Rückkehr so genannter
„alter Kämpfer“, das heißt ehemalige illegale Mitglieder der NSDAP, die in der „Verbotszeit“
zwischen 1933 und 1938 Österreich verlassen hatten, führte zu einem erhöhten Bedarf
an Wohnraum.2193 Um Wohnungen für ihre Klientel zu beschaffen, vertrieben die NSMachthaber MieterInnen jüdischer Herkunft aus Gemeindewohnungen. In der Registratur
der Magistratsabteilung 52 fanden Herbert Exenberger, Johann Koß und Brigitte UngarKlein, die diese Zwangsräumungen 1996 untersuchten, 2.064 solcher Kündigungsakten von
MieterInnen jüdischer Herkunft.2194 Nach ihren Angaben waren auch zehn blinde Männer,
davon vier Kriegsblinde, fünf blinde Frauen und eine Hinterbliebene eines Kriegsblinden
betroffen.2195
2187 Vgl. Kapitel IV.5.
2188 Vgl. CAHJP, A/W 272, HBM 2502, Nr. 236, Selbsthilfegruppe der jüdischen Krüppel in Wien an die Amtsdirektion vom 8.6.1940, Betreff: Memorandum vom 15.3.1940.
2189 Vgl. Kapitel IV.5.4.
2190 [D] RGBl. Teil I, Gesetz über die Mietverhältnisse mit Juden vom 30. April 1939, S. 864–865.
2191 Vgl. GBlÖ, Nr. 607/1939, Verordnung zur Einführung des Gesetzes über die Mietverhältnisse mit Juden in
der Ostmark vom 10. Mai 1939.
2192 Vgl. Tepperberg, Oberst Otto Grossmann, S. 319–333, hier S. 325–326.
2193 Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 28.
2194 Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 12.
2195 Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 72. Die Originaldokumente zu
den Kündigungen dieser blinden MieterInnen jüdischer Herkunft der zuständigen Wiener Mag. Abt.
298
In Briefen an verschiedene NS-Stellen bemühten sich die verzweifelten Gekündigten
darum, den Verlust ihrer Wohnungen zu verhindern.2196 Aus den Akten geht hervor, dass
ihnen nach Erhalt der Kündigung, die gegen Ende Juni 1938 bei den MieterInnen eingetroffen sein dürfte, rund vier Wochen Zeit blieb, ihre Wohnung zu räumen.
Der blinde Bürstenbinder Ernst Back und seine ebenfalls blinde Ehefrau Margaretha
verloren beispielsweise nicht nur ihre Unterkunft, der 35-Jährige auch seinen Arbeitsplatz.
Wie einige andere blinde HandwerkerInnen, die in Heimarbeit tätig waren,2197 nutzte Ernst
Back die Räumlichkeiten seiner Wohnung in der Stromstraße 81–87 im 20. Wiener Gemeindebezirk für die Ausübung seines Handwerkes. Das Bezirksgericht Leopoldstadt verfügte
auf Antrag der Magistratsabteilung 21 am 5. Juli 1938 die Aufkündigung der Wohnung für
den 31. Juli 1938.2198 Die Einspruchsfrist war acht Tage. Am 8. Juli 1938 verfasste Margaretha
Back einen solchen Einspruch an das zuständige Wohnungsamt:
„SCHWER TRAF MICH ALS ARIERIN UND MEINEN JÜDISCHEN MANN
DER SCHICKSALSSCHLAG, ALS WIR IN UNSERER KINDHEIT ERBLINDETEN: NOCH HÄRTER UND VERNICHTENDER EREILTE UNS DIE KUNDE
VON DER KÜNDIGUNG UNSERER WOHNUNG. […] SOWOHL ICH ALS AUCH
MEIN MANN BEZIEHEN VON DER FÜRSORGE DER GEMEINDE WIEN EINEN
ERHALTUNGSBEITRAG, DER UNS ERMÖGLICHTE DEN ZINS PÜNGTLICH
[sic!] ZU ERLEGEN [sic!] […] WIR KÖNNEN ES NICHT FASSEN; DASZ ES DES
FÜHRERS WILLE SEI, DIE ÄRMSTEN DER ARMEN AUF DIE STRASZE ZU SETZEN UND DEM GRÖSZTEN ELEND PREISZUGEBEN […].“2199
Auf dem Schreiben befindet sich der handschriftliche Vermerk eines nicht genannten Beamten oder einer nicht genannten Beamtin: „Gattin angebl. arisch 2 Kinder Mischlinge!“2200
Wie bei vielen anderen Zivilblinden jüdischer Herkunft intervenierte in diesem Fall der
„Hilfsverein der jüdischen Blinden“ unter der Leitung von Leo Demm. In dem Schreiben an
den „Reichskommissar für die Wiedervereinigung“ Gauleiter Bürckel, das dort am 9. Juli
1938 eingegangen war, wurde darauf verwiesen, dass es sich bei Familie Back um „sehr arme
Leute“2201 mit zwei schulpflichtigen Kindern handle. Am 18. August 1938 sollte dieser Fall
21 konnten nicht vollständig eingesehen werden. Nach intensiven Recherchen von Herbert Exenberger
und Dr. Ursula Schwarz konnten im DÖW die Unterlagen von lediglich sechs blinden MieterInnen (fünf
Zivilblinde, ein Kriegsblinder) von Wiener Gemeindewohnungen aufgefunden werden. Auch eine entsprechende Anfrage beim WStLA blieb ohne Ergebnis. Vgl. E-Mail von Andrew Simon, WStLA MA 8,
<[email protected]>, an: Barbara Hoffmann <[email protected]>, Betreff: AW: Anfrage an das
Wr. Stadt- und Landesarchiv, gesendet am 19.2.2008.
2196 Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 71–75.
2197 Vgl. Kapitel II.6.2.
2198 Vgl. DÖW, Wiener Ma. Abt. 21, XX N 26/38, Beschluss des Bezirksgerichtes Leopoldstadt vom 5.7.1938.
2199 DÖW, Wiener Ma. Abt. 21, XX N 26/38, Margaretha Back an das Wohnungsamt vom 8.7.1938, Betreff: Bitte um Hilfe. [Das Schreiben war nur in Großbuchstaben verfasst, da es mit Hilfe der Stacheltypenschrift
erstellt wurde. Blinde Menschen verwendeten diese Schrift, um Dokumente in Schwarzschrift zu erstellen.
Die Buchstaben werden dabei mittels eines Griffels in Papier gestanzt.]
2200DÖW, Wiener Ma. Abt. 21, XX N 26/38, Margaretha Back an das Wohnungsamt vom 8.7.1938, Betreff:
Bitte um Hilfe.
2201 DÖW, Wiener Ma. Abt. 21, XX N 26/38, Hilfsverein der jüdischen Blinden an Reichskommissar und Gauleiter Bürckel, eingegangen am 9.7.1938, Betreff: Nachtrag zu Ansuchen vom 6. ds. Monats.
299
vor dem Bezirksgericht Leopoldstadt entschieden werden.2202 Zu dieser Verhandlung kam
es aber nicht, denn bereits am 8. August hatte das blinde Ehepaar mit seinen Kindern die
Wohnung verlassen.2203 Das blinde Ehepaar kam im „Israelitischen Blindeninstitut“ in Wien
unter und wanderte schließlich mit unbekanntem Ziel aus.2204 Weitere Informationen zum
Schicksal der Familie ließen sich nicht eruieren.
Die gekündigten blinden Menschen hatten große Schwierigkeiten, wieder eine Unterkunft zu finden. Der blinde Musiklehrer Abraham Friedmann, der in einem Haus in der
Heiligenstädter Straße 11–25 lebte, schrieb beispielsweise am 6. Juli 1938 an das Bezirksgericht Döbling:
„Die Aufkündigung trifft mich umso schwerer, da ich blind bin und ausserstande
[sic!], irgendwie eine Wohnung zu finden. Insbesondere fällt das Wohnungsfinden
jetzt schwer, da man einen Juden als Hauptmieter nicht nimmt und mich als Blinden
nimmt aber schwerlich jemand in Untermiete.“2205
Das zuständige Bezirksgericht bestätigte am 28. Juli allerdings die angebliche Rechtmäßigkeit der Kündigung.2206 Friedmann räumte daraufhin seine 23 m 2 große Wiener
Gemeindewohnung. Am 1. August konnte sie neu vermietet werden.2207 In der gleichen
Straße, in der Friedmann wohnte, lebte noch ein weiterer blinder Mann, der Bürstenbinder Felix Mahler. Er erhob am 6. Juli 1938 vor dem Bezirksgericht Döbling Einspruch
gegen seine Kündigung und wusste ebenfalls nicht, wo er unterkommen sollte: „Da es
mir unmöglich ist, eine neue Wohnung zu verschaffen, würde ich durch die Kündigung
als Blinder obdachlos werden.“ 2208 Auch Mahlers Einspruch blieb erfolglos, er musste am
8. August 1938 seine Wohnung räumen.2209 Über das weitere Schicksal dieser blinden
Männer ist wenig bekannt. Abraham Friedmann kam wie das Ehepaar Back im „Israelitischen Blindeninstitut“ unter, das ab Ende 1938 von der IKG auch als Unterkunft für
Menschen mit einer Behinderung genutzt wurde. Aus den vom DÖW erstellten Deportationslisten lässt sich nicht eruieren, ob Friedmann von dort oder einer anderen Adresse
2202 Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, XX N 26/38, GZ 100 755/38, Bezirksgericht Leopoldstadt, Abt. 10 vom
13.7.1938.
2203 Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, XX N 26/38, Aktenblatt Städtisches Wohn-, Stiftungs-, Fondshaus XX.
Stromstraße 81/87 vom 9.8.1938, Betreff: Freiwerdende Wohnung.
2204Nach Recherchen im Zuge des Forschungsprojektes an der Universität Wien „Gehörlose Menschen während des Nationalsozialismus in Österreich“ (Dauer Mai 2008 bis April 2009) konnte unter der Leitung
von Dr. Verena Krausneker ermittelt werden, dass Ernst und Margaretha Back abgewandert sind. Krausneker, Schalber, Gehörlose Österreicherinnen und Österreicher im Nationalsozialismus [DVD].
2205 DÖW, Wiener M. Abt. 21, I XIXM17/38, Abschrift, Abraham Friedmann an das Bezirksgericht Döbling
vom 6.7.1938, Betreff: Rekurs gegen Aufkündigung.
2206Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, I XIXM17/38, GZ 2 C 476/38 4, Bezirksgericht Döbling vom 28.7.1938,
Beschluss Rechtssache Stadt Wien vertreten durch die Mag. Abt. 21 gegen Abraham Friedmann.
2207 Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, I XIXM17/38, Aktenblatt Städtische Wohnhausanlage XIX. Heiligenstädterstraße 11/15, Stiege 7, Stock Part. Tür 1 vom 6.7.1938, Betreff: Freiwerdende Wohnung.
2208 DÖW, Wiener M. Abt. 21, I XIXM17/38, GZ 2 C 475/38, Einwendung gegen die Aufkündigung, aufgenommen vom Bezirksgericht Döbling am 6.7.1938, Betreff: Rechtssache, Kündigender: Stadt Wien M. A. 21,
Kündigungsgegner Felix Mahler.
2209 DÖW, Wiener M. Abt. 21, I XIXM17/38, Aktenblatt Städtische Wohnausanlage XIX. Heiligenstädterstraße 11/15, Stiege 12, Stock 3, Tür 18 vom 6.7.1938, Betreff: Freiwerdende Kündigung.
300
in ein Vernichtungslager transportiert worden ist.2210 Zu Felix Mahler konnten gar keine
weiteren Angaben recherchiert werden.2211
Eruierbar war dagegen das weitere Schicksal der ebenfalls in einer Wiener Gemeindewohnung lebenden blinden Mieterin Sarah Seidenfrau. Die blinde Witwe lebte gemeinsam
mit einem Kind in der Grasbergergasse 2–6 im 3. Bezirk. Am 1. Juli 1938 gab sie vor dem
Bezirksgericht Landstraße zu Protokoll, es sei ihr wegen ihres „Gebrechens“ nicht möglich,
sich „in einer anderen Wohnung zurecht zu finden“ und sie bräuchte „ständig jemanden“, der
ihr „Hilfe“ leisten würde.2212 Am 6. Juli 1938 wendete sie sich schriftlich an das Wohnungsamt,
mit der Bitte, ihr eine andere Unterkunft zu vermitteln. Sie schlug vor, dass sie die Wohnung
ihres Nachmieters, der ihrer Kenntnis nach ihre Wohnung erhalten sollte, ein gewisser Otto
Frey, übernehmen könnte.2213 Das war aber nicht im Sinne des NS-Regimes: Sie kam unter
nicht bekannten Umständen im 20. Wiener Gemeindebezirk, Brigittenauer Lände 48/7 unter
und wurde am 11. Juni 1942 nach Sobibor deportiert. Ein Todesdatum ist nicht bekannt.2214
Von fünf der insgesamt 19 in Wiener Gemeindebauten lebenden und gekündigten blinden Menschen, die nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ als Jüdinnen und Juden galten,
ist bekannt, dass sie in Vernichtungslagern getötet wurden.2215
Wie rigoros die NS-Behörden gegen die MieterInnen jüdischer Herkunft vorgingen, zeigt
das Beispiel des ehemaligen Obmannes der „Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten“ Jakob
Wald.2216 Jakob Wald lebte 1938 mit seiner blinden Frau Kamilla und der damals achtjährigen Tochter im 15. Bezirk, Neusserplatz 1/2. Wald war zwar jüdischer Herkunft, hatte sich
aber taufen lassen. Die ganze Familie war katholisch. Kamilla Wald wies auf diesen Umstand
in ihrem Einspruch gegen die Kündigung vom 2. Juli 1938 hin. Sie betonte, dass ihr Mann
kein „konfessioneller Jude“2217 sei. Nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ galt er aber als
Jude, weshalb das Wiener Stadtmagistrat auf die Räumung der Wohnung zum 31. Juli 1938
bestand. Familie Wald war es inzwischen gelungen, eine Ersatzwohnung zu bekommen,
2210 Auf den Deportationslisten des DÖW von denjenigen Personen, von denen als letzte Wohnadresse die
Adresse des Israelitischen Blindeninstituts, Hohe Warte Nr. 32, bekannt war, erscheint Friedmann nicht.
Ansonsten gibt es im Zuge des DÖW-Projektes zur Erfassung der österreichischen Holocaustopfer zwei
Personen unter dem gleichen Namen. Da bei einer dieser beiden Personen das Geburtsdatum fehlt, konnte
keine Zuordnung gemacht werden. Vgl. DÖW, Datenbanken, Namentliche Erfassung der österreichischen
Holocaustopfer, Liste mit Deportationen von der Adresse Hohe Warte 32 [Ausdruck vom 21.11.2007].
2211 Es konnte nicht in allen Fällen das weitere Schicksal der Betroffenen eruiert werden, weil die Geburtstage
und Geburtsorte häufig nicht bekannt waren. Dementsprechend war ein Abgleich mit der Datenbank der
Holocaustopfer im DÖW in vielen Fällen nicht möglich. Weitere Recherchen über beispielsweise Restitutionsverfahren oder Ähnliches wurden allerdings nicht angestellt, da dies den Rahmen dieser Arbeit
überschritten hätte.
2212 Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, III V/45/38, GZ 9 C 578/38/2, Einwendung gegen die Aufkündigung, aufgenommen am 1.7.1938, Betreff: Rechtssache Kündigender: Gemeinde Wien, Kündigungsgegner: Sarah
Seidenfrau.
2213 Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, III V/45/38, Sarah Seidenfrau an das Wohnungsamt Wien I, Bartensteingasse 7, vom 6.7.1938, Betreff: Bitte.
2214 Vgl. DÖW, Datenbank, Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer; [Online Ressource:
DÖW, Opferdatenbanken, Shoa-Opfer, <http://de.doew.braintrust.at/db_shoah_33210.html>, Download
am 19.4.2009]; Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 301.
2215 Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 75.
2216 Vgl. Kapitel II.11.2.
2217 DÖW, Wiener M. Abt. 21, XV L/2/38, Kamilla Wald an die Hausverwaltung der Stadt Wien vom 2.7.1938,
Betreff: Rücknahme der Kündigung.
301
diese konnte allerdings erst ab 1. November 1938 bezogen werden. Die städtische Wohnhäuserverwaltung wendete sich daher am 19. Juli 1938 an das Büro des Vizebürgermeisters,
um zu erreichen, dass das blinde Ehepaar die Wohnung nicht bereits Ende Juli verlassen
musste und bis zum Einzug in die neue Wohnung am Neusserplatz dort wohnen bleiben
konnte. Die Magistratsabteilung verwies dabei „auf die besonders berücksichtigungswürdigen Umstände“2218, weil sich das blinde Ehepaar in fremder Umgebung nicht zurechtfinden
würde. Dem Antrag wurde nicht stattgegeben. Bereits am 23. Juli 1938, das heißt acht Tage
bevor die Frist zum Verlassen der Wohnung am 31. Juli auslief, bewilligte das zuständige
Bezirksgericht in Fünfhausen die zwangsweise Räumung der betreffenden Wohnung.2219
Familie Wald verließ am 16. August 1938 ihre Gemeindewohnung.2220 Es gelang ihnen,
unter nicht bekannten Umständen unterzutauchen und sie überlebten. Nach dem Ende
des Zweiten Weltkrieges setzte Jakob Wald seine Funktionärstätigkeit im österreichischen
Blindenvereinswesen fort.2221
3.3 Die Verfolgung von Kriegsblinden jüdischer Herkunft
3.3.1 Besonderheiten bei der Vertreibung von Kriegsblinden aus Wiener Gemeindewohnungen
Eine andere Vorgehensweise zeigten die NS-Behörden bei den Vertreibungen von Kriegsblinden jüdischer Herkunft aus ihren Gemeindewohnungen.2222 Wie bereits erwähnt, waren
von den Kündigungen der NS-Stadtverwaltung vier Kriegsblinde betroffen. Für diese Studie
konnten allerdings nur die Dokumente im DÖW zu einem dieser Betroffenen eingesehen
werden, die anderen Unterlagen waren ebenfalls im WStLA nicht mehr auffindbar.2223 Diese
Akten dokumentieren die Vertreibung von Julius Grünwald, der mit seiner Frau und zwei
erwachsenen Kindern 1938 in der Enenkelstraße 35 im 16. Wiener Gemeindebezirk lebte.
Im Gegensatz zu den bereits geschilderten Fällen von Zivilblinden jüdischer Herkunft wurde
Grünwald mehrfach gestattet, seinen Räumungstermin aufzuschieben. Außerdem bekam
er bis Dezember 1938 zwei Ersatzwohnungen zugewiesen.2224 Grünwald lehnte es allerdings
ab, dort einzuziehen. Dies hing mit dem baulichen Zustand dieser Unterkünfte zusammen.
Es zählte zur damals gängigen Praxis der NS-Behörden, von den Kündigungen betroffenen
ehemaligen Teilnehmern des Ersten Weltkrieges jüdischer Herkunft minderwertige Unterkünfte in einem alten, baufälligen Haus oder in einer Baracke anzubieten.2225
2218 DÖW, Wiener M. Abt. 21, XV L/2/38, M. Abt. 21 an das Büro des Vizebürgermeisters vom 19.7.1938, Betreff: Jakob Wald Kündigung.
2219 DÖW, Wiener M. Abt. 21, XV L/2/38, GZ 4 C 676/38, Bezirksgericht Fünfhausen, Bewilligung der zwangsweisen Räumung vom 23.8.1938.
2220 Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, XV L/2/38, Dienstzettel an Betriebsbuchhaltung – Wohnhäuser vom
18.11.1938, Betreff: Auszug der Mietpartei Jakob Wald.
2221 Vgl. Bachleitner, Vogel, Jakob Wald, S. 32–33.
2222 Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 64–71.
2223 Vgl. Kapitel IV.3.2.
2224 Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, XV/A/5/38, Dienstzettel an die M. Abt. 21/I Verwaltung vom 23.12.1938,
Betreff: Julius Grünwald, Delogierung der Partei.
2225 Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 67.
302
Eine der Ersatzwohnungen, die Grünwald in der Albrechtskreitgasse 35 angeboten
worden war, lag beispielsweise in einem alten Gebäude, das in Kürze abgerissen werden
sollte. Beim Betreten hätte nach Angaben des „Hilfsverbandes der jüdischen Kriegsopfer,
Invaliden, Witwen und Waisen“ zudem für den blinden Mann „Lebensgefahr“2226 bestanden,
da sich das Haus bzw. der Zugang in einer tiefen Grube befunden hätte. Als Grünwald den
zuständigen Referenten der NS-Stadtverwaltung darauf hinwies, verweigerte ihm dieser die
Zuweisung einer anderen Wohnung. Der Kriegsblinde befürchtete daher eine Zwangsdelogierung. Der Hilfsverband der jüdischen Kriegsopfer forderte das zuständige Magistrat auf,
„die Sache so zu regeln, wie man es [bei] einem Kriegsblinden tun soll.“2227 Auf Grund der von
der NS-Propaganda versprochenen privilegierten Behandlung von nichtjüdischen Kriegsblinden unter dem NS-Regime war auch unter den Teilnehmern des Ersten Weltkrieges
jüdischer Herkunft der fatale Irrglaube verbreitet, das NS-Regime würde die Kündigungen
eventuell rückgängig machen.2228
Am 23. Dezember 1938 endete für Grünwald die Verlängerung der Räumungsfrist. Die
zuständige Magistratsabteilung beschloss die Räumung der Wohnung.2229 Am 10. Jänner
1939 wurde die Wohnung an Josef Mazulanik neu vermietet. Mazulanik war SA-Mitglied
seit 1934. Dieser hatte sich bereits am 23. November 1938 an Gauleiter Bürckel gewandt
und sich darüber beschwert, dass einem „Juden“2230 mehrfach Aufschub bei der Räumung
der ihm vom Wohnungsamt Wien zugesagten Wohnung gewährt wurde.2231
Dass Julius Grünwald kein Einzelfall war, sondern auch andere Kriegsblinde eine längere Räumungsfrist bekamen, zeigen die Recherchen von Herbert Exenberger zu Samuel
Unger. Der 1875 Geborene war 1916 an der italienischen Front in den Karnischen Alpen
erblindet. 1930 war er in eine Wohnung der kommunalen Wohnhausanlage im 10. Wiener
Gemeindebezirk, Laxenburgerstraße 49–57, Stiege 7, Tür 4 gezogen. Auch Unger sollte
wie andere blinde MieterInnen bis 1. August 1938 seine Wohnung in dem Gemeindebau
verlassen. Unger bekam eine Aufschiebung bis 15. August 1938. Danach brachte ihn die
NS-Stadtverwaltung in einer „Sammelwohnung“ mit anderen Menschen jüdischer Herkunft
im 2. Bezirk, Große Sperlgasse 6 unter.
Die hier beschriebenen Ausnahmeregelungen bei den Kündigungsverfahren für ehemalige Soldaten des Ersten Weltkrieges jüdischer Herkunft beruhten auf keiner Richtlinie. Der
Erlass einer solchen war zwar laut den Recherchen von Exenberger, Koß und Ungar-Klein
von der Magistratsabteilung 21/1 angedacht, wurde aber nie erlassen.2232 Die Zuweisung
von desolaten Ersatzwohnungen und die Gewährung längerer Kündigungsfristen waren
dementsprechend die einzigen Zugeständnisse an die Teilnehmer des Ersten Weltkrieges
2226 DÖW, M. Abt. 21, XVI A/5/38, Hilfsverband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen in
Wien an die Magistratsabteilung 21 vom 25.8.1938, Betreff: Kriegsbeschädigter Julius Grünwald.
2227 DÖW, M. Abt. 21, XVI A/5/38, Hilfsverband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen in
Wien an die Magistratsabteilung 21 vom 25.8.1938, Betreff: Kriegsbeschädigter Julius Grünwald.
2228 Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 64.
2229 Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, XV/A/5/38, Dienstzettel an die M. Abt. 21/I Verwaltung vom 23.12.1938,
Betreff: Julius Grünwald, Delogierung der Partei.
2230 DÖW, Wiener M. Abt. 21, XV/A/5/38, Josef Mazulanik an Reichskommissar Gauleiter Bürckel vom
23.11.1938, Betreff: Wohnung im Gemeindebau.
2231 Vgl. DÖW, Wiener M. Abt. 21, XV/A/5/38, Josef Mazulanik an Reichskommissar Gauleiter Bürckel vom
23.11.1938, Betreff: Wohnung im Gemeindebau.
2232 Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 67.
303
und erfolgten willkürlich. Samuel Unger wurde, wie andere Kriegsblinde,2233 am 20. August
1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er am 8. April 1944 starb.2234
3.3.2 Die Kündigung von Trafiklizenzen
„Ich der vielfach ausgezeichnete Frontsoldat muss
als Bettler durch die Gassen schleichen.“2235
Die im vorangegangenen Kapitel bereits vorgestellten Kriegsblinden Grünwald und Unger
verloren nach dem „Anschluss“ nicht nur ihre Gemeindewohnung, sondern auch ihre
wirtschaftliche Existenz: Sie waren zwei von insgesamt zwölf Kriegsblinden, die nach den
„Nürnberger Rassengesetzen“ als Juden galten und nach dem Ersten Weltkrieg, wie viele
andere Kriegsblinde,2236 eine Trafik erhalten hatten.2237 Mit dem Erlass V 1046-192 II vom
9. November 1938 verfügte der Reichsminister für Finanzen die Kündigung aller „jüdischen Vertragspartner“ der staatlichen Tabakmonopolverwaltung „ohne Ausnahme“.2238 Als
Kündigungsgrund wurde die „Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse“2239 angegeben. Insgesamt
wurden 1938 circa 90 Trafiken, die von BürgerInnen jüdischer Herkunft geführt wurden,
gekündigt.2240 Ob unter ihnen auch Zivilblinde waren, ist nicht bekannt.
Obwohl der Reichsminister für Finanzen die entsprechende Kundmachung erst am
9. November 1938 erlassen hatte, war den Betroffenen bereits unmittelbar nach dem
„Anschluss“ mitgeteilt worden, dass sie ihre Trafiken verlieren würden. Dies geht aus den
Schreiben hervor, die Trafikanten jüdischer Herkunft an diverse NS-Stellen richteten, um
den Verlust ihrer Geschäfte zu verhindern.2241
2233 Vgl. Kapitel IV.6.3.; Vgl. Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 298; Exenberger, Jüdische
Blinden in Wien.
2234 Vgl. Exenberger, 1916 erblindet am Cellon; DÖW, Opferdatenbanken, Shoa-Opfer, <http://de.doew.
braintrust.at/db_shoah_41380.html>, Download am 19.04.2009.
2235 CAHJP, A/W 2878,2, HMB 3374, o. Nr., Korrespondenz Verband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden,
Witwen und Waisen in Wien (1939)-7.3.1941, David Diener, Kriegsblinder, an das Reichsministerium für
Wirtschaft und Arbeit vom 14.12.1939, Betreff: Bitte eines Kriegsblinden.
2236 Vgl. Kapitel III.5.1, III.5.5.
2237 Vgl. ÖStA, AdR, Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich
RK 104 b (2150/2), zitiert in: Exenberger, Koß, Ungar-Klein, Kündigungsgrund Nichtarier, S. 74. Diese
Quelle war im Bestand des ÖStA nicht auffindbar. Dieselbe Information gibt aber folgende Quelle: ÖStA,
AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/1, Mitglied der S. d. P. Ortsgruppe Troppau an Herrn Doktor vom
3.5.1938, Betreff: Gesuch und Verzeichnis von 12 Kriegsblinden und 2 Hilfslosen nichtarischen Trafikanten.
2238 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/2, Reichsfinanzministerium Abwicklungsstelle Österreich, Zl. 22678-22/1938, Rundschreiben an alle Oberfinanzpräsidenten vom 10.11.1938, Betreff: Ausscheiden der Juden aus dem staatlichen Tabakverschleißmonopol in Oesterreich.
2239 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/2, Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten,
Abteilung I, Zl. 104.367-I/39, An Reichsminister des Inneren vom 18.2.1939, Betreff: Ausscheiden der Juden aus dem staatlichen Tabakverschleißmonopol.
2240 Vgl. Pawlowsky, Leisch-Prost, Klösch, Vereine im Nationalsozialismus, S. 186.
2241 In der Studie von Exenberger, Koß und Ungar-Klein ist noch ein Schreiben von Hans Hirsch an den nationalsozialistischen Justizminister zitiert, der angeblich auch im ÖStA archiviert ist. In dem entsprechenden Akt konnte das Schreiben allerdings nicht gefunden werden. Vgl. Exenberger, Koß, Ungar-Klein,
304
Hans Kauders, ein „nichtarischer, schwerbeschädigter Frontkämpfer“2242 des Ersten Weltkrieges, wandte sich beispielsweise bereits am 29. April 1938 an Gauleiter Bürckel. Aus
dem Schreiben geht hervor, dass dem „Hauptmann des Ruhestandes“ und weiteren 40 bis
50 „nichtarischen“ Kriegsopfern von „berufener Stelle“ bereits mitgeteilt worden war, dass
ihnen die Trafiklizenzen entzogen werden sollten.2243 Kauders empfand dies als Katastrophe:
„Die mir im Februar 1917 verliehene Trafik-Lizenz, […] soll mir nunmehr mit Rücksicht auf die nationalsozialistische Neuordnung Deutschoesterreichs entzogen werden,
was für mich der vollständige Ruin ist, da ich als 58 jähriger, einbeiniger KriegsKrüppel keine Möglichkeit habe, mein tägliches Brot auf andere Weise zu verdienen
oder auszuwandern.“2244
Unter den gekündigten kriegsblinden Trafikbesitzern befand sich auch der Rechtsanwalt
David Schapira, ein Kriegsblinder des Ersten Weltkrieges. In seiner unveröffentlichten Autobiographie beschrieb er, wie sich sein Leben und seine wirtschaftliche Existenz innerhalb
weniger Monate nach dem „Anschluss“ 1938 dramatisch veränderten:
„Meine Söhne mußten mit Ende des Schuljahres das staatliche Realgymnasium verlassen. Meine wirtschaftliche Existenz wurde schwer erschüttert. So durfte ich meine
Trafik überhaupt nicht betreten, der angestellten Verkäuferin keinerlei die Geschäftsführung betreffende Weisungen geben und den bis dahin monatlich erstellten Gewinn
nicht beheben. […] Gleich meinen Kollegen jüdischer Abstammung wurde ich aus der
Liste der Rechtsanwaltskammer gestrichen und durfte arische Klienten nicht mehr
vertreten.“2245
Ein weiterer Kriegsblinder, der gegen die Kündigung seiner Trafik intervenierte, war David
Diener. Er war allerdings ein Sonderfall, denn er bezog im Gegensatz zu den anderen Betroffenen 1938 keine Kriegsopferrente. Dies hing damit zusammen, dass Diener nicht während
des Ersten Weltkriegs, sondern erst Jahre später, zu einem nicht bekannten Zeitpunkt, an
den Folgen seiner von einer „Gasgranate“2246 verursachten Verletzung erblindet war. Die
weiteren Umstände seiner Erblindung sind allerdings nicht bekannt.2247 In der Zeit des
Kündigungsgrund Nichtarier, S. 73–74; ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/1, Hans Kauders an
Gauleiter und Reichskommissar Bürckel vom 29.4.1938, Betreff: Entzug seiner Trafik.
2242 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/1, Hans Kauders an Gauleiter und Reichskommissar Bürckel
vom 29.4.1938, Betreff: Entzug seiner Trafik.
2243 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/1, Hans Kauders an Gauleiter und Reichskommissar
Bürckel vom 29.4.1938, Betreff: Entzug seiner Trafik.
2244ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/1, Hans Kauders an Gauleiter und Reichskommissar Bürckel
vom 29.4.1938, Betreff: Entzug seiner Trafik.
2245 Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 27.
2246CAHJP, A/W 2878, HMB 3374, o. Nr., Verband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen
in Wien, Korrespondenz 1939 – 07.03.1941, David Diener, Kriegsblinder, an das Reichsministerium für
Wirtschaft und Arbeit vom 14.12.1939, Betreff: Bitte eines Kriegsblinden.
2247 Infolge des Einsatzes von chemischen Kampfstoffen im Ersten Weltkrieg kam es nur in Ausnahmefällen
zu Erblindungen. Bekannt ist aber, dass es durch den Einsatz von Stoffen wie beispielsweise Phosgen oder
Gelbkreuz durchaus zu Veränderungen der Netzhaut und/oder Beeinträchtigungen des Sehnervs bei Soldaten, welche durch diese Kampfmittel verwundet wurden, kommen konnte. Es ist möglich, dass Diener
305
autoritären „Ständestaates“ war dem Wiener aber auf Grund dieser Umstände eine Invalidenrente verwehrt worden. Um seine Versorgung trotzdem sicherzustellen, bekam er in
dieser Zeit eine Tabaktrafik verliehen. Diener hoffte nun 1938 zunächst nicht nur, diese
Kündigung seiner Trafik rückgängig machen zu können, sondern darüber hinaus vom NSRegime wieder eine Rente zugesprochen zu bekommen. Dies kommt in einem Schreiben,
das Diener am 14. Dezember 1939 an das „Reichsministerium für Wirtschaft und Arbeit“
richtete, zum Ausdruck:
„Als der Umbruch kam und die neuen Invalidenorganisationen eingerichtet wurden, gaben alle in Betracht kommenden Herren damals ihrer Meinung Ausdruck,
daß Gross-Deutschland diesen von der Systemregierung in Anspruch genommenen
Revers sicherlich ablehnen werde, weil die Kriegsbeschädigten – besonders so schwer
betroffene Kriegsbeschädigte – in Gross-Deutschland anders gewürdigt werden, als
von der verflossenen Systemregierung.“2248
Dies war allerdings ein Irrtum: Das NS-Regime gewährte ihm nicht nur keine Rente, sondern entzog David Diener seine einzige Existenzgrundlage, das Tabakgeschäft. Dementsprechend war der Kriegsblinde 1939 völlig ohne Einkommen. In bescheidenem Rahmen erhielt
Diener, wie andere Kriegsblinde jüdischer Herkunft, zwischen 1940 bis 1942 finanzielle
Unterstützung durch die „Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden“2249 und die Fürsorgezentrale der IKG Wien.2250 Am 20. August 1942 wurde Diener nach Theresienstadt deportiert,
wo er am 17. Juni 1943 starb.2251
Bei den Abwicklungen der Kündigungen von Tabaktrafiken von schwer kriegsgeschädigten Menschen jüdischer Herkunft gab es allerdings wiederum eine von der Norm
abweichende Behandlung dieser Gruppe. Dies entsprach einer Weisung des Reichsfinanzministeriums. Einem Aktenvermerk in den Dokumenten des Reichskommissariats für
die „Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ vom Mai 1938 ist zu entnehmen, dass Folgendes bestimmt wurde: „Bei der Entziehung von Lizenzen gegenüber
schwer kriegsbeschädigten Juden sind Härten zu vermeiden.“ 2252 Ursprünglich scheint sogar
geplant gewesen zu sein, festzulegen, dass bei diesen „Zwangsarisierungen“ zunächst keine
Gewalt angewendet werden sollte. Auf dem Aktenvermerk befand sich der Hinweis: „Bis
auf weiteres ist von Erziehungsmassnahmen [sic!] abzusehen.“ 2253 Dieser Satz wurde nachdementsprechend zu den wenigen Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges gehörte, bei denen es bei der Abheilung zu Komplikationen kam und die daraufhin erblindeten. Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde, S. 40–43.
2248 CAHJP, A/W 2878, HMB 3374, o. Nr., Verband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen in Wien, Korrespondenz 1939–07.03.1941, David Diener, Kriegsblinder, an das Reichsministerium für
Wirtschaft und Arbeit vom 14.12.1939, Betreff: Bitte eines Kriegsblinden.
2249 Vgl. Kapitel IV.5.2.1.
2250 Vgl. CAHJP, A/W 1907, HMB 3069, Nr. 0862 und 0956, Kriegsopferverband, Selbsthilfegruppen der jüdischen Krüppel, betreffend Gewährung von Unterstützungsbeiträgen an Mitglieder dieser Verbände durch
die Fürsorgezentrale 1940–1942.
2251 Vgl. DÖW, Opferdatenbanken, Shoa-Opfer, <http://de.doew.braintrust.at/db_shoah_22102.html>,
Download am 27.4.2009.
2252 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/1, Aktenvermerk Gauleiter Bürckel ab 4.5.1938, Betreff:
schwer kriegsbeschädigte jüdische Trafikanten.
2253 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/1, Aktenvermerk Gauleiter Bürckel ab 4.5.1938, Betreff:
schwer kriegsbeschädigte jüdische Trafikanten.
306
träglich allerdings von Hand durchgestrichen und das Dokument durch einen anderen
Vermerk ergänzt. Demnach sollten den jüdischen Kriegsgeschädigten lediglich „längere
Übergangsfristen“ 2254 gewährt werden. In einem Rundschreiben an alle Oberfinanzpräsidenten und Zweigstellen des Reichsfinanzministeriums „Abwicklungsstelle Oesterreich“
vom 10. November 1938 wurde bestimmt, dass im Zuge der Kündigungsmaßnahmen
„schwerkriegsbeschädigten Juden“ mitzuteilen sei, sie sollten sich an die zuständige „Kriegsopferversorgung u.s.w.“ wenden.2255
3.3.3 Die Behandlung Kriegsblinder durch das NS-Regime
„Ihnen kann doch nichts geschehen, einem Kriegsblinden wird selbst Hitler nichts zuleide tun.“2256
In der NS-Zeit existierte, wie bereits geschildert, 2257 unter den Kriegsblinden und anderen
Schwerkriegsgeschädigten des Ersten Weltkrieges jüdischer Herkunft die Auffassung,
das NS-Regime würde sie als ehemalige „Frontkämpfer“ von Repressalien verschonen
und weiterhin versorgen. Der „Verband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen
und Waisen“ intervenierte daher für seine Klientel gemeinsam mit dem „Reichsbund
deutscher Frontkämpfer“ nicht nur bei diversen Stellen in Berlin, sondern sogar bei
Hitler selbst. 2258
Zu den Kriegsblinden, die glaubten, trotz der mannigfaltigen Repressalien gegen Menschen jüdischer Herkunft unter dem NS-Regime eine Existenzberechtigung zu haben, zählte
der bereits erwähnte Kriegsblinde Rechtsanwalt David Schapira. 1938 war Schapira wie
andere Rechtsanwälte jüdischer Herkunft aus der Liste der Reichsanwaltskammer gestrichen
worden.2259 Der Wiener gehörte allerdings zu den wenigen jüdischen Rechtsanwälten, die
zu „Konsulenten“ ernannt wurden, dass heißt, sie durften keine „arischen“ KlientInnen,
aber andere Menschen, die als Jüdinnen und Juden galten, vertreten. „Als schwerkriegsbeschädigter, mehrfach dekorierter altösterreichischer Frontoffizier wurde auch ich dieses
‚Privilegs‘ teilhaftig.“2260 Insgesamt gab es nach Schätzungen von Friedrich Kübel nur 50
solcher Anwälte in der „Ostmark“.2261 Schapira vertrat in der Folge vor allem andere Kriegsgeschädigte des Ersten Weltkrieges jüdischer Herkunft.
2254 ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/1, Aktenvermerk Gauleiter Bürckel ab 4.5.1938, Betreff:
schwer kriegsbeschädigte jüdische Trafikanten.
2255 Vgl. ÖStA, AdR, Bürckel-Materie, Kt. 86, Zl. 2150/2, Reichsfinanzministerium Abwicklungsstelle Österreich, Zl. 22678-22/1938, Rundschreiben an alle Oberfinanzpräsidenten vom 10.11.1938, Betreff: Ausscheiden der Juden aus dem staatlichen Tabakverschleissmonopol in Oesterreich.
2256 Marcus, Ein Schicksal dieser Zeit, S. 40. [Exilpresse digital, <http://deposit.ddb.de/online/exil/exil.htm>.]
2257 Vgl. Kapitel IV.3.3.
2258 Vgl. CAHJP, A/W 178,2, Brief des Verbandes der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen in
Wien, gezeichnet Benzion Lasar, an Josef Löwenherz vom 14.19.1939, zitiert in: Duizend-Jensen, Jüdische
Gemeinden, S. 78.
2259 Vgl. Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 27; weiterführend: Friedrich Kübel, Geschichte der jüdischen
Advokaten und Rechtsgelehrten in Österreich, in: Gold, Geschichte der Juden in Österreich, S. 117–125.
2260 Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 27.
2261 Vgl. Kübel, Geschichte der jüdischen Advokaten und Rechtsgelehrten, S. 117–125, hier S. 123.
307
„Es war recht schwierig und zuweilen auch nicht ungefährlich, im Dschungel judenfeindlicher Gesetze und Verordnungen und noch mehr willkürlicher Aktionen staatlicher und nationalsozialistischer Funktionäre als Konsulent jüdische Klienten zu
vertreten.“2262
Schapira erhielt das Mandat für seine Tätigkeit vom „Hilfsverband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen“. Trotz der von ihm angedeuteten Schwierigkeiten
schreibt Schapira an anderer Stelle in seinen Erinnerungen:
„Als Vertreter dieses Verbandes intervenierte ich bei den auf Grund des deutschen
Kriegsopferversorgungsgesetzes in Österreich eingerichteten Versorgungsämtern.
Diese waren im Allgemeinen korrekt, insbesondere hinsichtlich der Zuerkennung der
im Versorgungsgesetz festgelegten Renten und sonstigen Leistungen.2263
Diese Einschätzung Schapiras widerspricht allerdings anderen Dokumenten aus der NSZeit. Herbert Rosenkranz berichtete beispielsweise in seinem 1978 publizierten Buch über
die Verfolgung von Menschen jüdischer Herkunft in Österreich von dem Schwerkriegsgeschädigten Richard Marcus, dem „mit vielen anderen jüdischen Kriegsopfern“2264 ab 1. Jänner 1939 keine Rente mehr ausgezahlt wurde. Marcus war allerdings versorgungsrechtlich
ein Sonderfall, wie der bereits erwähnte David Diener. Der Soldat des Ersten Weltkrieges
hatte erst nach Ende des Krieges auf Grund eines Lungenschusses eine posttraumatische
Epilepsie erlitten und nach Angaben von Rosenkranz war daher seine Kriegsopferrente
bereits am 1. Oktober 1937 in einen Krankenbezug umgewandelt worden.2265 An anderer
Stelle findet sich der Hinweis, dass zwar nicht allen Kriegsopfern jüdischer Herkunft weitere Rentenauszahlungen verwehrt worden sind, es allerdings zu Kürzungen der Bezüge
gekommen sei.2266 Zudem wurde Druck auf die Bezieher von Kriegsopferrenten jüdischer
Herkunft ausgeübt. 1939 mussten alle Kriegsgeschädigten ein Formblatt ausfüllen, das unter
anderem die diskriminierende Frage enthielt: „Sind Sie arischer Abstammung und haben
Sie Nachweis darüber?“2267
Spätestens ab 1940 waren die Kriegsblinden jedenfalls wie andere blinde Menschen
so verarmt, dass sie sporadisch Unterstützungszahlungen von der IKG Wien erhielten. So
erschienen etwa die Kriegsblinden Naftali Kaminker, David Diener und Leo Goldapper
auf einer Liste der Fürsorgezentrale der IKG Wien, auf der blinde Menschen verzeichnet
waren, die zwischen dem 19. und 28. August 1940 Unterstützungen in der Höhe von vier
bis maximal zwölf RM erhalten hatten.2268
David Schapira ging in seiner Autobiographie auf diese Pauperisierung von Kriegsopfern des Ersten Weltkrieges nicht ein. Ausführlich behandelt er dagegen eine weitere
2262 Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 27.
2263 Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 29.
2264Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 200.
2265 Vgl. Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 200.
2266 Vgl. Tepperberg, Oberst Otto Grossmann, S. 319–333, hier S. 325.
2267 Tepperberg, Oberst Otto Grossmann, S. 319–333, hier S. 325.
2268 Vgl. CAHJP, A/W 1907, HMB 3069, Nr. 0862 und 0956, Kriegsopferverband, Selbsthilfegruppen der jüdischen Krüppel, betreffend Gewährung von Unterstützungsbeiträgen an Mitglieder dieser Verbände durch
die Fürsorgezentrale 1940–1942.
308
Schikane des NS-Regimes, die Schapira kurioserweise als eine „befremdliche Ausnahme“2269
der ansonsten seiner Meinung nach rechtskonformen Vorgangsweise der NS-Behörden
bewertete: Den jüdischen Kriegsteilnehmern des Ersten Weltkrieges wurde das Tragen von
Kriegsauszeichnungen verboten.2270 Schapira selbst wehrte sich gegen diese Bestimmung,
aber er erhielt am 28. August 1939 vom Wiener Versorgungsamt II die endgültige Mitteilung,
dass ihm das Tragen des Verwundetenabzeichens wegen „Abstammungsgründen“2271 nicht
mehr erlaubt sei.2272 Die Betroffenen empfanden diese Bestimmung deshalb als tragisch,
weil sie wie Schapira hofften, durch das Tragen dieser Abzeichen „einen gewissen Schutz
vor Schikanen“2273 zu genießen.
Obwohl Schapira, wie hier geschildert, die Diskriminierungen und Verfolgungsmaßnahmen gegen Kriegsblinde und andere Kriegsopfer jüdischer Herkunft kannte, erwartete
er nach eigenen Angaben weiterhin, dass das NS-Regime ihn vor dem Abtransport aus
Wien verschonen würde.
„Ich selbst hoffte durch meine Tätigkeit als jüdischer Konsulent und als Rechtsvertreter
des jüdischen Kriegsopferverbandes, sowie auf Grund meiner Kriegserblindung von
der Deportation nach Polen verschont zu bleiben.“2274
David Schapira wurde wie viele andere Kriegsblinde und Schwerkriegsgeschädigte jüdischer
Herkunft 2275 1942 gemeinsam mit seiner Frau nach Theresienstadt deportiert.2276
Die Illusion, das NS-Regime würde Kriegsopfer des Ersten Weltkrieges jüdischer
Herkunft versorgen und nicht deportieren, war aber nicht nur in der „Ostmark“, sondern auch im „Altreich“ weit verbreitet. Dies zeigt ein Bericht über den deutschen
Kriegsblinden Fritz Simon, der 1947 in der Zeitschrift „Der Auf bau“ erschien.2277 Der
in Frankfurt zum Dr. jur. promovierte Simon wollte nach der Machtübertragung 1933
in die Schweiz fliehen, wurde dort aber nicht aufgenommen. In Genf und Zürich teilten
ihm verschiedene Stellen mit, er solle in Deutschland bleiben, da er dort durch seine
Kriegsopferrente versorgt sei. Auch in der Schweiz herrschte die Meinung vor, das NSRegime würde einem Kriegsblinden „nichts zuleide tun“ 2278. Simon musste daher nach
Deutschland zurückkehren. Dort erhielt er von den NS-Behörden die Ausnahmegenehmigung, sein „arisches“ Dienstmädchen unter 45 Jahren zu behalten, bekam also
im Vergleich zu anderen BürgerInnen jüdischer Herkunft eine bevorzugte Behandlung.
1942 wurde er gemeinsam mit seiner im sechsten Monat schwangeren Frau nach Theresienstadt deportiert. Das Kind kam dort zur Welt. Der Familie glückte es, trotz der
2269 Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 30.
2270 Vgl. Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 30.
2271 Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 30.
2272 Vgl. Exenberger, Jüdische Blinde in Wien.
2273 Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 30.
2274 Schapira, Mein bewegter Lebenslauf, S. 30.
2275 Vgl. Kapitel IV.6.3.
2276 Ihre beiden Kinder hatten sie zuvor am 7. August 1939 nach England in Sicherheit gebracht. Vgl. Schapira,
Mein bewegter Lebenslauf, S. 28. Das Ehepaar überlebte und kehrte nach dem Krieg nach Wien zurück.
Vgl. Kapitel IV.7.
2277 Vgl. Marcus, Ein Schicksal dieser Zeit, S. 40.
2278 Marcus, Ein Schicksal dieser Zeit, S. 40.
309
denkbar unwürdigen Verhältnisse dort zu überleben, und sie emigrierte mit Hilfe der
„Guild of Jewish Blind“ 1947 in die USA. 2279
Wie Fritz Simon erhielten die meisten Kriegsblinden keine Chance zu fliehen. Die USA
lehnten beispielsweise die Ersuchen um Einwanderung von Schwerkriegsgeschädigten jüdischer Herkunft einheitlich ab.2280 Hintergrund dieser Entscheidung war allerdings nicht
nur die Auffassung, dass das NS-Regime ehemalige „Frontkämpfer“ des Ersten Weltkrieges
weiterhin versorgen würde, sondern die Befürchtung der potentiellen Einreiseländer, Menschen mit einer Beeinträchtigung könnten nicht selbst für sich sorgen. Max Waldmann,
ein deutscher ehemaliger Unteroffizier der Reserve, der nach einer im Ersten Weltkrieg
erlittenen Kopfverletzung linksseitig erblindet und gehörlos war, wurde im Herbst 1939
die Einreise in die Vereinigten Staaten mit folgender Begründung des zuständigen Konsul
in Stuttgart verweigert: „Weil Maximilian Waldmann für Deutschland gekämpft hat, soll
Deutschland auch für ihn sorgen.“2281
Die NS-Machthaber gewährten Kriegsblinden jüdischer Herkunft zwar, wie hier bereits
aufgezeigt wurde, tatsächlich eine nachsichtigere Behandlung. Auf Grund ihrer jüdischen
Herkunft zählten aber auch sie zu den unter der NS-Diktatur verfolgten Menschen. Grund
für die in manchen Bereichen erfolgte Sonderbehandlung von Kriegsopfern jüdischer Herkunft war offenbar ein gewisser öffentlicher Druck von verschiedenen Seiten. Raul Hilberg
schrieb dazu 1961: „The war veterans had an argument which was so powerful that it did
not have to be made at all: they had fought for Germany. Every German understood that
argument.“2282 Wie in Kapitel IV.6 noch aufgezeigt werden wird, gab es 1941 und 1942, als
die großen Deportationen aus Wien begannen, tatsächlich einige bekannte Fürsprecher,
die vergeblich versuchten, Kriegsblinde und andere ehemalige Teilnehmer des Ersten Weltkrieges jüdischer Herkunft von den Transportlisten streichen zu lassen. Letztendlich führte
die Sorge des NS-Regimes über die öffentliche Meinung dazu, dass bei der Besprechung
über die „Endlösung der Judenfrage“ am 20. Jänner 1942 am Wannsee festgelegt wurde,
dass die „schwerkriegsbeschädigten Juden und Juden mit Kriegsauszeichnung“ im „Altersghetto“ Theresienstadt unterkommen sollten.2283 In der Begründung dazu hieß es: „Mit dieser
zweckmäßigen Lösung werden mit einem Schlag die vielen Interventionen ausgeschaltet.“2284
Die Bezeichnung „Ghetto“ verschleierte allerdings nur die tatsächliche Funktion Theresienstadts als „Sammel- und Dezimierungslager“,2285 das auch als Durchgangslager für weitere
Deportationen in Vernichtungslager diente.2286
2279 Vgl. Marcus, Ein Schicksal dieser Zeit, S. 40; Institut Theresienstädter Initiative, Theresienstädter Gedenkbuch. S. 264.
2280 Vgl. Schmidt, Zürndorfer-Waldmann, S. 177–189, hier S. 183.
2281 Schmidt, Zürndorfer-Waldmann, S. 177–189, hier S. 183.
2282 Hilberg, Destruction, p. 278.
2283 Vgl. Das Wannsee-Protokoll vom 20.1.1942,
<http://www.ns-archiv.de/verfolgung/wannsee/wannsee-konferenz.php>, Download am 25.4.2009.
2284 Das Wannsee-Protokoll vom 20.1.1942,
<http://www.ns-archiv.de/verfolgung/wannsee/wannsee-konferenz.php>, Download am 25.4.2009.
2285 Tepperberg, Oberst Otto Grossmann, S. 319–333, hier S. 329.
2286 Vgl. Kapitel IV.6.4.
310
3.3.4 Sonderfall: Hans Hirsch (24.5.1898–2.8.1970)
„Dann nannten ihn [Hans Hirsch] die Nazis Israel
Und stahlen ihm nebstbei den Tabakladen; […]
Wenn er noch lebt, so sei er Gott befohlen,
In Wien noch, oder schon in Polen.“2287
In der Zeit der Verfolgung blinder Menschen jüdischer Herkunft gab es unter den Kriegsblinden
einen Ausnahmefall: Hans Hirsch konnte als einziger im Ersten Weltkrieg erblindeter Mann
jüdischer Herkunft zwischen 1938 und 1945 in Wien überleben. Hirsch war der wichtigste
Proponent des 1919 gegründeten Kriegsblindenverbandes.2288 Hirschs Tätigkeit als Obmann
dieser Organisation – er hatte im Ersten Weltkrieg nicht nur sein Augenlicht, sondern auch
beide Hände verloren – endete bereits in der Zeit des autoritären „Ständestaates“.2289 Nach dem
„Anschluss“ durfte Hirsch auf Grund seiner jüdischen Herkunft nicht der NSKOV „Fachabteilung Bund erblindeter Krieger“ beitreten. Über die Zeit in den 1930er Jahren bis 1945 schrieb
Hirsch in der 1959 erschienen Jubiläumsschrift des Kriegsblindenverbandes:
„Ich war gezwungen, meine Tätigkeit im Verband aufzugeben, und im weiteren Verlauf
mußte ich sogar als Mitglied aus der Organisation ausscheiden. Es zählte jedoch zu
meinen schönsten Erinnerungen, daß auch in diesen Zeiten Kameraden den Weg zu
mir fanden und ich ihnen mit meinem Rat dienen konnte. So blieb die Verbindung
auch während des zweiten Krieges bestehen.“2290
Weitere Aussagen von ihm über seine Zeit als Kriegsblinder in Wien zwischen 1938 bis
1945 sind nicht überliefert. Seine Frau, Ada Hirsch, dürfte allerdings die Verfasserin eines
undatierten Berichtes über das Leben als Frau an der Seite eines Kriegsblinden sein, der in
der Publikation von Otto Jähnl wiedergegeben ist.2291 Warum die Autorin an dieser Stelle
nicht explizit genannt ist, konnte nicht eruiert werden. Der Inhalt des Beitrages ließ aber
Rückschlüsse zu, die darauf hinweisen, dass dieser Beitrag von Ada Hirsch stammt. In
diesem Bericht steht über die Zeit nach dem „Anschluss“:
„Freilich waren unter den ‚Alten‘ [Kriegsblinden des Ersten Weltkrieges] auch solche, die bei der Wahl ihrer Eltern nicht vorsichtig genug gewesen waren, die nun
keine ‚Kameraden‘ mehr waren, die sich plötzlich ohne Vaterland fanden, denen trotz
Blutopfer und Blindheit über Nacht alles Heldentum, die Wehrwürdigkeit [sic!] abgesprochen wurde. Bei denen Teile der Rente ‚Kann‘bestimmungen [sic!] wurden, deren
Geschäfte enteignet und deren Menschenrechte mit Füßen getreten wurden.“2292
2287 Ernst Waldinger, Geschichte eines Kriegsblinden, in: Ders., Die kühlen Bauernstuben, S. 64. [Verfasst am
24. August 1942.]
2288 Vgl. Kapitel III.10.2.
2289 Vgl. Menzel, Ein Rückblick, S. 69–70; Kapitel III.3.1.
2290 Hirsch, Verband der Kriegsblinden Österreichs, S. 31–36, hier S. 33.
2291 Vgl. [Ada Hirsch], Der Mensch ist gut!?, in: Jähnl, Kriegsblinden, S. 168–171.
2292 [Ada Hirsch], Der Mensch ist gut!?, in: Jähnl, Kriegsblinden, S. 168–171, hier S. 169 [Dass sie diesen Beitrag
verfasst hat, kann als gesichert angenommen werden.]
311
Im August 1942 verfasste der ebenfalls im Ersten Weltkrieg schwer verwundete spätere Lyriker
und Essayist Ernst Waldinger, der 1938 auf Grund seiner jüdischen Herkunft aus Wien nach New
York geflohen war, ein Gedicht über Hans Hirsch. Darin dokumentiert er die Repressalien des
NS-Regimes gegen diesen Kriegsblinden. Demnach bekam Hirsch wie alle Menschen jüdischer
Herkunft den Beinnamen Israel, verlor seine Tabakfabrik und musste mit der ständigen Gefahr
leben, in die Vernichtungslager deportiert zu werden.2293 Weitere Auskünfte über das Leben
von Hans Hirsch in Wien zwischen 1938 und 1945 geben nur wenige Dokumente des HVA
„Ostmark“ im ÖStA. Unterlagen von anderen Kriegsblinden jüdischer Herkunft finden sich in
diesem Bestand nicht. Bereits der Versorgungsakt von Hirsch zeigt seine Stigmatisierung unter
dem NS-Regime: Auf dem Titelblatt befand sich ein gemalter Judenstern. Laut einem Schreiben
des HVA Wien vom 3. April 1944 galt Hirsch als „Volljude“ und zählte zu den „schwerstbetroffenen Kriegsbeschädigten des 1. Weltkrieges“ und „da er in einer Mischehe lebt[e]“, war er „der
einzige jüdische Kriegsblinde im Gebiete des Reichsgaues Wien“.2294 Er erhielt eine Rente nach dem
RVG.2295 Wie andere Kriegsblinde des Ersten Weltkrieges hatte er die Bezüge eines „Erwerbsunfähigen mit der höchsten Stufe der Pflegezulage.“2296 Er bekam zudem die Frontzulage, die am
1. April 1943 von 429 auf 434 RM erhöht wurde.2297 Trotz seiner weitreichenden körperlichen
Behinderungen meldete er sich 1942, laut Angaben seiner Frau Ada Hirsch, angeblich „freiwillig“
zum „Arbeitseinsatz als Angestellter der Firma Erwin Horacek, ostmärkische Blindenwerkstätte für
Fussmattenerzeugung in Wien II. Leopoldgasse 6–8“.2298 Er fungierte dort als „Geschäftsführer der
Judenabteilung“.2299 Da es Maschinen gab, die mit Fußpedalen bedient werden konnten, fanden
auch Kriegsblinde „Ohnhänder“2300 eine Betätigung in Handwerks- und Industriebetrieben.2301
Bis März 1944 konnte das Ehepaar Hirsch gemeinsam mit ihren zu diesem Zeitpunkt zehn und
acht Jahre alten Kindern in ihrer Wohnung im 1. Wiener Gemeindebezirk, Kleeblattgasse 4,
die sie seit ihrer Eheschließung 1926 bewohnten, verbleiben. Erst am 20. März 1944 erhielt das
Ehepaar von der Gemeindeverwaltung des NS-Reichsstatthalters in Wien die Aufforderung,
binnen acht Tagen ihre Wohnung zu räumen. Sie sollten zwangsweise mit einem ebenfalls in
einer „Mischehe“ lebenden Ehepaar zusammenziehen.2302
2293 Vgl. Waldinger, Geschichte eines Kriegsblinden, S. 64.
2294 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H., GZ VI A – Bl/W/1944, HVA Wien an die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues
Wien, Hauptabteilung H, Dienststelle des Sonderbeauftragten für die Wiedergewinnung zweckentfremdeter Wohnungen vom 3.4.1944, Betreff: Hans Israel H.
2295 Vgl. Kapitel III.2.2.
2296 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale
Fürsorge Hans H.
2297 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H., Versorgungsamt II Wien, Grdl. Nr. H – 416.901 an das HVA Wien, eingegangen am
29.3.1943, Betreff: Kriegsblinder H. Hans Israel.
2298 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H., Ada Hirsch an den Sonderbeauftragen für die Wiedergewinnung zweckentfremdeter
Wohnungen im Reichsgau Wien vom 26.3.1944.
2299 ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale
Fürsorge Hans H., Akteneinband. Bestätigt wird dies auch durch die Aussagen von Bernhard Lindmayr.
Vgl. Interview mit Bernhard Lindmayr in seinem Haus in Kapfenberg am 15.9.2006, Transkription S. 14.
2300Vgl. Kapitel III.1.3.
2301 Vgl. Kapitel III.4.3.
2302 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H., Reichstatthalter in Wien, Gemeindeverwaltung an Herrn H. Hans, gez. Leiter der
312
Abb. 13: Porträt von Hans Hirsch
(Datum unbekannt).
Dagegen legte Ada Hirsch Einspruch ein.2303 Auch ein in den Akten nicht genannter Beamter
des HVA Wien wandte sich am 3. April 1944 an die Gemeindeverwaltung des „Reichsgaues
Wien“, um darauf hinzuweisen, dass auf Grund der „besonderen Verhältnisse“ – gemeint
war damit die schwere Kriegsverletzung Hirschs sowie die Tatsache, dass Hirsch der einzige kriegsblinde „Volljude“ zu diesem Zeitpunkt in Wien war – „von der Maßnahme der
Zusammensiedlung abzusehen“ sei.2304 Offenbar zunächst mit dem Erfolg, dass Hirsch in
seiner Wohnung bleiben konnte. In seinem Akt findet sich allerdings der Vermerk, dass die
Wohnung am 10. September 1944 „total ausgebombt“ wurde und Hirsch mit seiner Familie
in einer anderen Wohnung bei „Prof. Rothbogen“ untergekommen sei.2305
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzte Hans Hirsch seine Funktionärstätigkeit
im Kriegsopferfürsorgewesen fort.2306 Zwischen 1945 und 1946 fungierte er als erster provisorischer Präsident der wieder gegründeten Kriegsopferorganisation.2307 Bereits im Mai
1945 war es Hirsch gelungen, den Kriegsblindenverband in seinen alten Statuten von 1933
zu „restituieren und die Arbeit für die vielen Neuzugänge aufzunehmen“.2308
Hauptabteilung H. Rentemeister vom 20.3.1944.
2303 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H., Ada Hirsch an den Sonderbeauftragen für die Wiedergewinnung zweckentfremdeter
Wohnungen im Reichsgau Wien vom 26.3.1944.
2304 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H., GZ VI A – Bl/W/1944, HVA Wien an die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues
Wien, Hauptabteilung H, Dienststelle des Sonderbeauftragten für die Wiedergewinnung zweckentfremdeter Wohnungen vom 3.4.1944, Betreff: Hans Israel Hirsch.
2305 Vgl. ÖStA, AdR, Gruppe Landesverteidigung, HVA, Ostmark-Kriegsblinde, Kt. 1, Akten betreffend Soziale Fürsorge Hans H., Schreiben an Herrn Hofrat vom 26.3.1944, Betreff: Abschrift des Schreibens vom
Sonderbeauftragten für zweckentfremdete Wohnung, gez. Ada Hirsch.
2306 Vgl. IV.7.
2307 Vgl. Hornung, Hierarchisierung der Opfer, S. 59–72, hier S. 64.
2308 Jähnl, Kriegsblinden, S. 117; Vgl. Ernst, 50 Jahre Kriegsopferversorgung, S. 225–320, S. 230.
313
3.4 Resümee
In diesem Kapitel konnte aufgezeigt werden, wie rigoros das NS-Regime blinde Menschen
jüdischer Herkunft verfolgte. Wie blinde Menschen den Verlust ihrer vertrauten Umgebung,
ihrer wirtschaftlichen Existenz und den NS-Terror persönlich erlebten, konnte dabei nur
ansatzweise dargestellt werden, da entsprechende persönliche Berichte von Betroffenen nicht
überliefert sind. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es zudem kaum mehr blinde
Menschen jüdischer Herkunft, die darüber berichten hätten können, da nur sehr wenige
den Holocaust überlebten.2309 Die hier geschilderten Repressalien, so weitreichend sie auch
waren, dokumentieren aber nur die ersten Jahre der Verfolgung durch das NS-Regime und
damit erst den Beginn des NS-Terrors gegen Menschen jüdischer Herkunft in der Ostmark,
der im Massenmord gipfelte. Diesem Schicksal konnten insbesondere blinde Menschen
jüdischer Herkunft kaum entgehen, da sie nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten zur Flucht
hatten, was im folgenden Kapitel erläutert wird.
2309 Vgl. Kapitel IV.7.
314
4.Die Vertreibung blinder Menschen jüdischer Herkunft
Der Druck des täglichen „pseudolegalen Terrors“2310 gegen Menschen jüdischer Herkunft
durch das NS-Regime führte nach dem „Anschluss“ dazu, dass auch blinde Menschen
jüdischer Herkunft ihre vertraute Umgebung verlassen wollten und eine Flucht ins Ausland
anstrebten.
Ab August 1938 regelte die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien“ unter
der Leitung von Adolf Eichmann die Vertreibung von Menschen jüdischer Herkunft aus der
„Ostmark“, die meist mit einer totalen Beraubung der Betroffenen einherging.2311 Zwischen
1938 und 1945 wurden nach Berechnungen von Jonny Moser insgesamt 130.742 Menschen
jüdischer Herkunft vertrieben.2312 Dem Ansinnen vieler BürgerInnen jüdischer Herkunft,
die „Ostmark“ auf eine der NS-Gesetzgebung entsprechende Art und Weise zu verlassen,
stellte das NS-Regime aber eine wachsende Anzahl bürokratischer Hürden entgegen.2313
Für blinde Menschen war es besonders schwer, sich ins Ausland abzusetzen. Ihre Behinderung war ein Ablehnungsgrund für Einwanderungsbehörden, entsprechende Visa auszustellen. Die Stellen befürchteten wahrscheinlich, Menschen mit einer Behinderung könnten
keinem Beruf nachgehen und seien daher nicht in der Lage, in einem für sie fremden
Land für ihren Lebensunterhalt selbst aufzukommen. Von diesem Schicksal betroffen war
beispielsweise die 1907 in Graz geborene Gisela Kaufmann. Nach den Erinnerungen ihres
Neffen Reuben Kaufmann, die er der Autorin in einer E-Mail 2008 übermittelte, war die
Germanistikstudentin auf Grund eines Gehirntumors erblindet.2314 Ihre Geschwister waren
bereits in den 1920er Jahren nach Kanada ausgewandert. Nach dem „Anschluss“ wollte ihr
Vater Nathan Kaufmann mit seiner blinden Tochter Gisela nachkommen. Auf Grund ihrer
Erblindung erhielt Gisela Kaufmann allerdings kein Visum für Kanada und ihr Vater reiste
daher 1939 alleine nach Kanada.2315
Gisela Kaufmann war zur damaligen Zeit eine Ausnahmeerscheinung, da sie als blinde
Frau studiert hatte. Es gab nur wenige Zivilblinde, die überhaupt die Möglichkeit hatten,
eine akademische Ausbildung zu absolvieren, die meisten davon waren Männer.2316 Gisela
Kaufmann promovierte am 6. Juli 1938 in Graz zur Doktorin. Ihre Dissertation hatte sie über
die Gedichte von Eduard Mörike verfasst.2317 Demnach konnte sie ihr Studium rund drei
Monate bevor im November 1938 jüdische Studierende und Lehrende von den Universitäten
ausgeschlossen wurden abschließen. Nach der Beendigung ihres Studiums in Graz kam
sie am 1. Oktober 1938 im „Israelitischen Blindeninstitut“ auf der Hohen Warte unter.2318
Dort lernte sie ihren späteren, ebenfalls blinden Ehemann Oskar Zeckendorf kennen, der
20 Jahre älter war als sie. Die beiden heirateten am 7. Mai 1941. Gisela starb am 3. Oktober
2310 Freund, Safrian, Vertreibung und Ermordung, S. 12.
2311 Vgl. Freund, Safrian, Die Verfolgung der österreichischen Juden, S. 767–794, hier S. 769.
2312 Vgl. Moser, Demographie, S. 56.
2313 Vgl. Freund, Safrian, Die Verfolgung der österreichischen Juden, S. 767–794, hier S. 770.
2314 Vgl. E-Mail von Reuben Kaufmann, <[email protected]> an: Barbara Hoffmann <info@
kriegsblinde.at>, Betreff: Re: Regarding your aunt, gesendet am 2.3.2008.
2315 Vgl. E-Mail von Reuben Kaufmann, <[email protected]> an: Barbara Hoffmann <info@
kriegsblinde.at>, Betreff: Re: Regarding your aunt, gesendet am 2.3.2008.
2316 Vgl. Kapitel II.6.6, II.10.
2317 Vgl. Kaufmann, Gedichte Mörikes. [In der Arbeit befindet sich kein Hinweis auf ihre Erblindung.]
2318 Vgl. Kapitel IV.5.3.
315
1941 in Wien an einem Gehirntumor.2319 Ihr Mann verließ daraufhin die Einrichtung auf
der Hohen Warte. Am 24. September 1942 wurde er nach Theresienstadt deportiert, wo er
am 28. April 1943 verstarb.2320
Abb. 14: Porträt von Gisela Kaufmann.
Nur einigen wenigen blinden Menschen gelang, auf Grund der Schwierigkeiten, Visa zu
erlangen, die legale Flucht. Eine Möglichkeit bot sich durch die „British Blind Jewish Society“
in London. Noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatten sich VertreterInnen
der „Selbsthilfevereinigung der jüdischen Blinden Deutschlands e. V.“ und des „Israelitischen Blindeninstituts“ in Wien mit der Bitte an diesen Verein gewandt, blinden Menschen
jüdischer Herkunft die Einreise nach England zu ermöglichen. Sieglind Ellger-Rüttgardt
berichtete darüber in ihrem 1996 herausgegebenen Sammelwerk über die „Jüdische Heilpädagogik in Deutschland“.2321 Ihre Informationen stammen aus einem Interview mit dem
Zeitzeugen Manfred Vason, der für die „British Blind Jewish Society“ als Übersetzer gearbeitet hat und selbst aus Deutschland nach England geflüchtet war. Seiner Erinnerung nach
2319 Sie wurde am 10. Oktober 1941 am Wiener Zentralfriedhof, Neuer jüdischer Friedhof (Tor IV) Gruppe 22,
Reihe 9, Grab 25 beerdigt. [Weitere Informationen zu Gisela Kaufmann und Oskar Zeckendorf können in
den Matriken und dem Friedhofsbuch der IKG Wien recherchiert werden.]
2320 Die biographischen Daten konnte Reuben Kaufmann auch in Zusammenarbeit mit Herbert Exenberger
vom DÖW 2006 eruieren. Vgl. E-Mail von Reuben Kaufmann, <[email protected]> an: Herbert Exenberger <[email protected]>, Betreff: Regarding my aunt, gesendet am 4.8.2006.
2321 Ellger-Rüttgardt, Jüdische Blinde, S. 172–205.
316
erhielten 150 blinde Menschen aus Deutschland und Österreich eine Einreisebewilligung.
Die Tätigkeit der „British Blind Jewish Society“ wurde durch James Rothschild und einige
seiner Verwandten unterstützt. Dieser Beitrag durch diese einflussreiche Familie erwies
sich als hilfreich, da beispielsweise Visa von den zuständigen Behörden schneller bearbeitet
wurden.2322 Keine Einreisebewilligung bekamen seinen Angaben nach Menschen, die ein
„Glaukom“2323 (Grüner Star) hatten. Da es sich dabei um keine ansteckende Augenerkrankung handelt, kann aus heutiger Sicht diese Bestimmung nicht nachvollzogen werden.
Weitere Informationen dazu konnten nicht recherchiert werden.
In erster Linie konnte über die „British Blind Jewish Society“ Kindern und Jugendlichen die Flucht ermöglicht werden. Laut Vason kamen einen Tag bevor NS-Deutschland
Polen angegriffen hatte aus dem „Israelitischen Blindeninstitut“ in Wien drei Kinder nach
England.2324 Mit dem Ausbruch des Krieges endete dann diese Möglichkeit zur Flucht. Nur
mehr vereinzelt konnten blinde Menschen nach England fliehen. Manfred Vason erinnert
sich, dass im Mai 1940 nur noch ein paar blinde Flüchtlinge aus Holland ankamen.2325
Zwischen 1919 und 1939 war es die Hauptaufgabe der „British Blind Jewish Society“,
eine monatliche Unterstützung an bedürftige blinde Menschen in England auszuzahlen. Auf
die Unterbringung von blinden Vertriebenen aus anderen europäischen Ländern war diese
Organisation daher nicht ausgerichtet und nach Angabe von Vason damit überfordert.2326
Schwierigkeiten gab es insbesondere bei der Integration der blinden Kinder und Jugendlichen aus dem „Deutschen Reich“ in den britischen Schulen. Über die drei namentlich nicht
genannten blinden Kinder aus Wien, die in einer Blindenschule in einem abgelegenen Dorf
außerhalb Londons untergebracht wurden, berichtete Vason beispielsweise:
„Die Kinder konnten kein Wort Englisch. Zwei waren vollkommen blind, und eines
war beinahe blind. […] Die Kinder hatten einen furchtbaren Start in England. Entsetzlich. Wir konnten praktisch nichts tun, um ihnen zu helfen, sich zu akklimatisieren. Einer der Jungen entwickelte psychische Probleme, er wurde sehr aggressiv. Wir
mußten ihn aus der Schule herausnehmen und privat unterbringen. Das waren alles
keine sehr günstigen Bedingungen, wir hatten sehr große Probleme.“2327
Über das „Israelitische Blindeninstitut“ in Wien kam auch Ester G. nach London. Sie
stammte ursprünglich aus Polen. Das blinde Mädchen wurde in England in einer anderen
Blindenschule untergebracht als die genannten drei Kinder aus Wien. Von dieser Institution erhielt sie allerdings einen Verweis, da sie sich aus Angst vor Wasser geweigert hatte,
am Schwimmunterricht teilzunehmen. Ester G. erhielt daraufhin einen Ausbildungsplatz
zur Strickerin in einer anderen, nicht genannten Einrichtung. Auch dort schloss sie ihre
Lehre aber nicht ab, sondern suchte sich selbständig eine Anstellung und arbeitete später
im öffentlichen Dienst als Stenotypistin.2328
2322 Vgl. Wolffhardt, Israelitische Blindeninstitut Hohe Warte, S. 101.
2323 Ellger-Rüttgardt, Jüdische Blinde, S. 172–205, hier S. 196.
2324 Vgl. Ellger-Rüttgardt, Jüdische Blinde, S. 172–205, hier S. 197.
2325 Vgl. Ellger-Rüttgardt, Jüdische Blinde, S. 172–205, hier S. 197.
2326 Vgl. Ellger-Rüttgardt, Jüdische Blinde, S. 172–205, hier S. 196.
2327 Ellger-Rüttgardt, Jüdische Blinde, S. 172–205, hier S. 198.
2328 Vgl. Ellger-Rüttgard, Jüdische Blinde, S. 172–205, hier S. 198.
317
Vason berichtete außerdem von einem blinden Orgelspieler aus Wien, Jakob W.: Er fand
mit Hilfe der „British Blind Jewish Society“ in zwei Synagogen in London eine Beschäftigung. Da er dort allerdings nur zu den Gottesdiensten am Freitag und Sonntag spielen
durfte, arbeitete er zusätzlich in einer Fabrik, wo er Klaviere stimmte. „Er war nicht sehr
glücklich dabei, aber es gab ihm ein Einkommen.“2329
Dass die Integration blinder Menschen in England sich sehr schwierig gestaltete, wird auch
durch einen Bericht von Hans Cohen auf dem Seminar im November 1989 zum Thema blinde
Menschen im Nationalsozialismus in Berlin bestätigt.2330 Cohen war 1935 vollständig erblindet
und erlitt eine Schädigung des Hörorgans, nachdem er bei einer Schlägerei 1934 zwischen einem
anderen Jungen jüdischer Herkunft und einem Angehörigen der „Hitler-Jugend“ in seinem
Gymnasium als scheinbar Unbeteiligter so schwer verletzt worden war, dass es bei ihm zu einer
Netzhautablösung kam. Im NS-Deutschland konnten seine Eltern kein Krankenhaus finden, das
einen Jungen jüdischer Herkunft entsprechend behandelte. Seine Mutter brachte ihn daraufhin
nach Holland, aber auch ein Facharzt dort konnte sein Sehvermögen nicht wiederherstellen. Im
Mai 1938 gelang es seinen Eltern, ihn im „Worcester College for the Blind“2331 in England unterzubringen. Seine Mutter begleitete zunächst den 15-Jährigen dorthin, fuhr dann aber wieder
zurück nach Deutschland. Cohen blieb allein in einem für ihn fremden Land zurück. Es fiel
ihm schwer, sich in den Schulalltag zu integrieren. Probleme hatte Cohen vor allem mit seinen
Mitschülern, die sich nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges noch verschärften:
„Ich war ein Außenseiter in England als Deutscher. Ich war ein Außenseiter unter
Blinden als Schwerhöriger. Das ist ja schon ziemlich viel. Und dann kommt noch
hinzu, daß ich in England blieb, als der Krieg ausbrach, also als deutsches Kind ein
feindlicher Ausländer war. Die Engländer haben das einfach nicht begriffen, daß ich
genauso ein Opfer der deutschen Regierung war wie jeder englische Soldat oder jeder
Kämpfer gegen den Faschismus; dazu waren sie zu jung.“2332
Die Mutter von Cohen kam später nach London nach. Der Vater starb im März 1944 in
Theresienstadt.2333
Einer der wenigen blinden Erwachsenen jüdischer Herkunft, denen die Flucht aus der
„Ostmark“ gelang, war Robert Vogel. In seinem autobiographischen Buch „Zwischen hell
und dunkel“2334 berichtete der Wiener unter anderem von seiner Flucht im November 1938
nach Holland. Im Alter von 19 Jahren war der spätere Präsident der „Hilfsgemeinschaft der
Blinden und Sehschwachen Österreichs“ (1952–1980) auf Grund eines Sehnervenschwundes 1927/28 praktisch erblindet. Er konnte daher nicht mehr in seinem erlernten Beruf als
Schuhverkäufer arbeiten und eröffnete ein Geschäft für Blindenwaren. 1935 heiratete er seine
ebenfalls blinde Frau Anni. Nach dem „Anschluss“ verlor der gläubige Jude seine Konzession
2329 Ellger-Rüttgard, Jüdische Blinde, S. 172–205, hier S. 198.
2330 Vgl. o. A., Gespräche mit Zeitzeugen, in: Blinde unterm Hakenkreuz, S. 59–87, hier insbesondere S. 59–68.
2331 Diese renommierte Einrichtung war 1866 zunächst als Schule für blinde Jungen in Hertfordshire eingerichtet worden. Erst ab 1944 konnten auch blinde Mädchen das „Worcester Collage“ besuchen. Vgl. o. A.,
A history of four Schools, <http://www.rnibncw.ac.uk/collegehistory.php>, Download am 25.04.2009.
2332 O. A., Gespräche mit Zeitzeugen, Blinde unterm Hakenkreuz, S. 59–87, hier S. 63.
2333 Vgl. o. A., Gespräche mit Zeitzeugen, Blinde unterm Hakenkreuz, S. 59–87, hier S. 65.
2334 Vogel, Zwischen hell und dunkel.
318
und seine Wohnung. Er zog mit seiner Frau, die als „Arierin“ galt, vorübergehend in das
„Israelitische Blindeninstitut“. Von dort aus flüchtete er gemeinsam mit Freunden nach
Holland. Seine Frau folgte ihm mit dem im Juni 1938 geborenen Sohn Heinz. Nach der
Okkupation Hollands kam Robert Vogel 1942 in das Konzentrationslager Amersfort. In
seinem 1982 herausgegebenen Buch berichtete Vogel, dass es ihm gelang, mit anderen KZInsassen unter nicht näher genannten Umständen zu fliehen.2335 Im Juli 1943 wurde in Den
Haag sein zweites Kind Sonja geboren. 1947 kehrte er nach Österreich zurück und arbeitete
gemeinsam mit Jakob Wald an der Wiedergründung der „Hilfsgemeinschaft der Blinden
und Sehschwachen Österreichs“.2336
Die Fluchtanstrengungen blinder Menschen jüdischer Herkunft wurden auch von der
Fürsorgeabteilung der IKG Wien und von dem „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ sowie
dessen Nachfolgeorganisation unterstützt. Sie boten beispielsweise spezielle Fremdsprachenkurse an. Im „Jüdischen Nachrichtenblatt“ erschien im Mai 1940 ein Bericht über diesen
Unterricht für blinde Menschen jeden Alters.2337
Die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung führte zu einer weiteren Verschärfung
der sozialen Probleme in der jüdischen Gemeinde, da vor allem jüngere Menschen fliehen
konnten. Dies hatte eine Überalterung zur Folge. Von den am 30. Juni 1941 von der IKG
registrierten so genannten „Glaubensjuden“2338, die noch in Wien lebten, waren 77,4 Prozent
über 45 Jahre alt.2339 Da Augenerkrankungen auch eine Alterserscheinung sind, dürften sich
darunter viele Menschen befunden haben, die zum Zeitpunkt ihrer Erblindung bereits ein
fortgeschrittenes Alter erreicht hatten.2340 Außerdem stieg die Zahl der alleinstehenden blinden Menschen jüdischer Herkunft stark an, weil ihre Angehörigen sie in Wien zurücklassen
mussten, da sie keine Visa erhielten.2341 Die Organisationen, die sich von 1938 bis 1942 um
die Versorgung blinder Menschen bemühten, die als Jüdinnen und Juden galten, waren
daher mit einer ständig wachsenden Anzahl von alleinstehenden und alten Personen mit
einer Sehbehinderung konfrontiert. Auf die Einrichtungen, die blinde Menschen in dieser
Zeit versorgten, geht das folgende Kapitel ein.
2335 Vgl. Vogel, Zwischen hell und dunkel, S. 57.
2336 Robert Vogel verstarb am 29. November 2001. Vgl. weiterführend DÖW 20100/12728, KZ-Verband Akte
Robert Vogel, Verband der wegen ihrer Abstammung Verfolgten, Eidesstattliche Erklärung vom 2.10.1947;
DÖW 9144,23, Bilder von Widerstandskämpfern der NS-Zeit. Vgl. Kapitel IV.7.
2337 O. A., Blinde erhalten Fremdsprachenunterricht, S. 2–3, hier S. 2 [DÖW 10020/01].
2338 O. A., Die jüdische Gemeinde in Wien, Ihre Schichtung und Bewegung im ersten Halbjahr 1941, S. 1.
2339 Vgl. o. A., Die jüdische Gemeinde in Wien. Ihre Schichtung und Bewegung im ersten Halbjahr 1941, S. 1.
2340Nach Schätzungen von Pielasch und Jaedicke waren 45 Prozent der blinden Menschen zur NS-Zeit zum
Zeitpunkt ihrer Erblindung über 50 Jahre alt. Vgl. Kapitel II.1.1.
2341 Vgl. Kapitel IV.5.2.
319
5.Die Zerstörung des jüdischen Blindenwesens und die
Versorgung blinder Menschen jüdischer Herkunft 1938–1942
5.1 Überblick
Wie bereits im Kapitel II.3.1 über die Zivilblinden ausgeführt, war für die Ausrichtung des
Vereinslebens nach nationalsozialistischen Interessen der Stillhaltekommissar für Vereine,
Organisationen und Verbände zuständig. Die Behandlung jüdischer Organisationen erfolgte
allerdings von der gegenüber den anderen Einrichtungen abweichend: „Ihr Weiterbestand
war grundsätzlich nicht geplant.“2342 Ihre Liquidation fand in verschiedenen Phasen statt.2343
Unmittelbar nach dem „Anschluss“ wurde zunächst das Vermögen all derjenigen Vereine
liquidiert, die nach Auffassung des NS-Regimes nicht für die „Judenfrage“ von zentraler
Bedeutung waren und „in deren Fall eine Bereicherung durchaus lukrativ erschien.“2344 Rund
260 Vereine wurden in die IKG, dabei handelte es sich vorwiegend um Fürsorge- und
Wohltätigkeitsvereine sowie in die freigestellten zionistischen Verbände oder andere Organisationen bzw. Einrichtung wie zum Beispiel das „Israelitische Blindeninstitut“, eingewiesen.2345 Dabei „wurde in den meisten Fällen nur das bewegliche Vermögen oder Inventar
eingewiesen, Liegenschaften aber zu Gunsten der Aufbaufondsvermögensverwaltungs Ges.m.b.
H. eingezogen“2346. In der zweiten Phase, 1939 und 1940, erhielt die IKG im Zuge der Auflösung der noch bestehenden jüdischen Vereine und Stiftungen vom Stillhaltekommissar
Einrichtungen zugewiesen, um dort alte und obdachlose Menschen unterzubringen.2347
Ab 2. Mai 1938 war die IKG Wien die zentrale Leitstelle, der alle jüdischen Organisationen, die weiterhin bestehen durften, untergeordnet waren.2348 Zum Leiter der IKG
wurde der bisherige Amtsdirektor Josef Löwenherz bestimmt.2349 Die Geschäftsführung
hatte allerdings nach den Weisungen der Gestapo zu erfolgen.2350 Bereits am 18. März 1938
waren die Amtsgebäude der IKG in Wien von der Gestapo besetzt worden.2351
Mit den jüdischen Vereinen, die für blinde Menschen tätig waren, wurde folgendermaßen umgegangen: Die „Jüdische Blindenbibliothek“, der Verein „Providentia – Mädchenblindenheim und Fürsorge blinder Frauen“, der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“
2342Pawlowsky, Leisch-Prost, Klösch, Vereine im Nationalsozialismus, S. 211.
2343 Zur Liquidation des jüdischen Vereinswesens wird an diese Stelle auf die umfangreiche Arbeit von Shosana Duizend-Jensen und die dort angegebene Literatur verwiesen. Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden.
2344Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 64
2345 Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 102.
2346Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 102. Die Aufbaufonds-Gesellschaft war zunächst der „finanzwirtschaftliche Arm“ des Stillhaltekommissars und wurde nach Auflösung dieser Behörde „gleichsam“
zu deren Nachfolgeorganisation. Vgl. Pawlowsky, Leisch-Prost, Klösch, Vereine im Nationalsozialismus,
S. 27–28.
2347 Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 64.
2348Vgl. Moskauer Archiv, RGVA 500/1/685. Zl. II 112 41, Zentralorganisation der jüdischen Organisationen
in Österreich, zitiert in: Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 83.
2349 Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 83.
2350 Vgl. Moskauer Archiv RGVA 500/1/685, Organisationsentwurf für die Erfassung der in der Ostmark wohnenden Juden, zitiert in: Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 83.
2351 Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 57.
320
wurden aus dem Vereinsregister gelöscht und das restliche Vermögen, das nach Abzug
einer „Aufbauumlage“ und Verwaltungsgebühr des Stillhaltekommissars verblieb, dem
„Israelitischen Blindeninstitut“ in Wien überwiesen.2352 Diese Einrichtung konnte zunächst
bestehen bleiben, allerdings unter der Auflage, den Namen 1939 in „Jüdische Blindenanstalt,
Taubstummen und Krüppelhilfe Hohe Warte“2353 zu ändern. Auf Beschluss des Stillhaltekommissars Anton Brunner vom Juni 1938 wurden dem „Israelitischen Blindeninstitut“ darüber
hinaus Vereine für Menschen mit einer Behinderung untergeordnet.2354 Dazu gehörte u. a.
die „Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden“, die als Nachfolgeorganisation des „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ fungierte.2355 Das ehemalige „Israelitische Blindeninstitut“ wurde
bis 1942 von der IKG als „Altersheim mit Blindenabteilung“ weiterhin genutzt. Vollständig
aufgelöst wurde dagegen 1939 das „Simon Heller-Heim für alleinstehende jüdische Blinde“.
Die NS-Machthaber zogen das Vermögen dieser Organisation zur Gänze ein.2356
Das „Israelitische Blindeninstitut“, die IKG Wien, der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ und dessen Nachfolgeorganisation, die „Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden“,
waren zwischen 1938 und 1942 dementsprechend maßgeblich für die Versorgung blinder
Menschen jüdischer Herkunft in Wien.2357 Auch Kriegsblinde, die nach den „Nürnberger
Rassengesetzen“ als Juden galten, wurden von ihnen unterstützt, für sie setzte sich darüber hinaus der „Hilfsverband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen“ ein.2358 Diese Organisation zählte 1938 2.500 Mitglieder2359 und versuchte gemeinsam
mit dem „Reichsbund deutscher Frontkämpfer“ bei den NS-Behörden in Berlin und sogar
bei Hitler selbst für ihre Klientel zu intervenieren.2360 Der Stillhaltekommissar gestattete
diesem „Hilfsverband“ für Kriegsopfer jüdischer Herkunft, seine Tätigkeit noch im Jahr
1941 fortzusetzen. Am 1. Dezember 1942 erfolgte dann die endgültige Auflösung dieser
Organisation.2361
5.2 „Hilfsverein der jüdischen Blinden“
Der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ war 1911 als „Blinden Hilfsverein Humanitas“
gegründet worden und erhielt erst durch eine Statutenänderung im Jahr 1919 seinen späteren
2352 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L14 und Kt. 570, Mappe P 21, zitiert in: DuizendJensen, Jüdische Gemeinden, S. 105.
2353 ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 558, Mappe B 9, Bescheid I/6-21537/39 vom 5.10.1939.
2354 Vgl. Kapitel IV.5.3.2.
2355 Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 78; Kapitel IV.5.2, IV.5.2.1.
2356 Vgl. Kapitel IV.5.5.3.
2357 Vgl. CAHJP, A/W, 1829, HMB 3734, Nr. 0111, Jüdische Blindenanstalt, Taubstummen- und Krüppelhilfe
Hohe Warte in Wien an Amtsvorstand Emil Engel vom 15.1.1940, Betreff: Blindenfürsorge.
2358 Vgl. Kapitel IV.3.3.
2359 Vgl. CAHJP, A/W, 178,2, Brief des Hilfsverbandes der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen in Wien, gezeichnet Benzion Lazar, an Josef Löwenherz vom 14.10.1939, zitiert in: Duizend-Jensen,
Jüdische Gemeinden, S. 78.
2360 Vgl. CAHJP, A/W, 178,2, Brief des Hilfsverbandes der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen in Wien, gezeichnet Benzion Lazar, an Emil Engel vom 11.8.1939, zitiert in: Duizend-Jensen, Jüdische
Gemeinden, S. 79.
2361 Vgl. CAHJP, A/W, 275, Brief des Ältestenrat der Juden in Wien, gezeichnet unbekannt, an das Jüdische
Nachrichtenblatt, Berlin vom 30.4.1943, zitiert in: Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 79.
321
Namen.2362 Der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ war von 1923 bis 1938 Mitglied des
„Verbandes der Blindenvereine Österreichs“. Als Obmann trat 1938 der blinde Leo Demm
auf.2363 Nach den Statuten aus dem Jahr 1929 konnte dem Verein „jeder israelitische Blinde“2364
beitreten, der das 18. Lebensjahr vollendet hatte.2365 Zweck des Vereines war die wirtschaftliche Förderung seiner ordentlichen Mitglieder.2366 Bedürftige blinde Menschen erhielten
eine monatliche finanzielle Unterstützung und Darlehen.2367 Darüber hinaus stellte die
Organisation ihre Mitglieder und deren Verwandte an, um ihnen eine Erwerbsmöglichkeit
zu geben, oder zahlte ihnen Provisionen für ihre Tätigkeit im Verein aus.2368
Mit Stichtag 12. März 1938 gehörten dem „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ 136 blinde
Jüdinnen und Juden als ordentliche Mitglieder an.2369 Aus den Unterlagen, welche diese
Organisation für den Stillhaltekommissar Anfang April 1938 zusammengestellt hatte, geht
allerdings hervor, dass sich diese Zahl nach dem „Anschluss“ rasch erhöhte: Bis zum 4. April
1938 stieg sie um rund ein Viertel: „[…] durch die erfolgte Arisierung der anderen Blindenvereine ist ein vorläufiger Zuwachs von 37 Mitglieder zu verzeichnen.“2370 Mit weiteren 30
bis 40 Zugängen rechnete Demm zu diesem Zeitpunkt.2371 Am 30. Juni 1938 zählte diese
Organisation daher bereits 187 Mitglieder, von denen nach Einschätzung von Leo Demm
mindestens 80 Prozent „total verarmt“2372 gewesen sind.
Per 31. März 1938 erhielt die Hälfte aller zu diesem Zeitpunkt eingetragenen Mitglieder
des Vereines, 68 blinde Menschen jüdischer Herkunft, eine monatliche Zahlung in der
Höhe zwischen fünf und 28,50 Schilling aus dem Vereinsvermögen.2373 35 Männer und
33 Frauen zählten damals zum Kreis der Begünstigten. Aus den Vermerken zu den einzelnen
2362 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 3257/20, Hilfsverein der jüdischen Blinden.
2363 Als Obmannstellvertreter fungierte der sehende Wilhelm Kreitler. Oskar Österreicher war Schriftführer
und Karl Bock 2. Schriftführer. Als Kassier trat 1938 Ignaz Glaser auf. Die Funktion des zweiten Kassiers
wurde nach dem Ableben von Siegfried Abeles am 20. August 1937 von Adolf Goldstein übernommen.
Kreitler, Bock und Goldstein waren Sehende, alle anderen blind. Damit unterschied sich diese Organisation von anderen Selbsthilfeorganisationen dieser Zeit, in der sehende Personen nur Funktionen übernehmen durften, in denen das Sehvermögen unverzichtbar war, beispielsweise als Kassier. Insgesamt waren
fünf Sehende im Vereinsvorstand vertreten. Vgl. ÖStA, AdR, Polizeidirektion Wien, Vereinsbüro 15, Zl.
2768, Bundespolizeidirektion Wien an das österr. Ministerium für Finanzen vom 23.3.1938, Betreff: Blindenvereine, Wertlotterie; ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen
Blinden vom 4.4.1938, Anhang zum Fragebogen vom 6.4.1938, Betreff: Die Ausschussmitglieder.
2364WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 3257/20, Statuten des Hilfsvereines der jüdischen Blinden [1929].
2365 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 3257/20, Statuten des Hilfsvereines der jüdischen Blinden [1929].
2366 Vgl. CAHJP, A/W 289, HMB 2518, o. Nr., Verzeichnis der jüdischen Vereine, Hilfsverein der jüdischen
Blinden, Karteikarte ohne Datum.
2367 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Obmann Leo Demm, Bericht über die Tätigkeit
und sozialen Einrichtungen vom 30.6.1938.
2368 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Obmann Leo Demm, Bericht über die Tätigkeit
und sozialen Einrichtungen vom 30.6.1938.
2369 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden vom 4.4.1938,
Anhang zum Fragebogen vom 6.4.1938.
2370 ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden vom 4.4.1938,
Anhang zum Fragebogen vom 6.4.1938.
2371 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden vom 4.4.1938,
Anhang zum Fragebogen vom 6.4.1938.
2372 ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Obmann Leo Demm, Bericht über die Tätigkeit und
sozialen Einrichtungen vom 30.6.1938.
2373 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden vom 4.4.1938,
Anhang zum Fragebogen vom 6.4.1938, Betreff: Monatliche Unterstützungen folgender Mitglieder.
322
unterstützten Personen geht hervor, dass rund 20 von ihnen neben ihrer Erblindung weitere
Beeinträchtigungen wie Epilepsie, Lähmungen, Asthma, eine geistige Beeinträchtigung
oder Erkrankung hatten.2374 Viele der Unterstützten waren zudem Eltern von Kindern im
schulpflichtigen Alter und ohne Einkommen.
Durch die antijüdische NS-Politik erhöhte sich der Kreis der notleidenden blinden Menschen.2375 Auf Grund ihrer bereits beschriebenen geringen Chancen zur Flucht2376 stieg die
Zahl von alleinstehenden blinden Menschen jüdischer Herkunft in den Jahren der Vertreibung stark an. Noch im Juni 1938 plante der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ daher die
Gründung eines Internats für alleinstehende blinde Menschen.2377 Dieser Plan konnte aber
nicht mehr umgesetzt werden, denn zu diesem Zeitpunkt fehlten bereits die finanziellen
Ressourcen, um die bisherige Tätigkeit überhaupt fortzusetzen, da der Verein ab April 1938
nicht mehr frei über sein Vermögen verfügen konnte. Gelder, die dringend benötigt wurden,
um beispielsweise Beiträge an die Arbeiterkrankenkasse, Zinsen und Unterstützungen an
seine bedürftigen Mitglieder zu zahlen, wurden vom Stillhaltekommissar beschlagnahmt.2378
Es bestand zwar generell die Möglichkeit, Ansuchen um Freimachung zu stellen,2379 da der
Fortbestand des „Hilfsvereines der jüdischen Blinden“ seitens der NS-Machthaber nicht
geplant war, sah der Stillhaltekommissar offenbar auch keine Veranlassung, die für eine
weitere Vereinstätigkeit notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Am 5. September
1938 beschloss der Stillhaltekommissar schließlich die Löschung des „Hilfsvereines der
jüdischen Blinden“.2380 Das restliche Vereinsvermögen sollte nach Abzug einer „Aufbauumlage“ in der Höhe von 20 Prozent und einer Verwaltungsgebühr in der Höhe von fünf
Prozent auf das Konto des „Israelitischen Blindeninstituts“ überwiesen werden.2381 Erst am
4. Jänner 1939 ging der Betrag in der Höhe von 7.049,55 RM allerdings tatsächlich auf das
2374 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden vom 4.4.1938,
Anhang zum Fragebogen vom 6.4.1938, Betreff: Monatliche Unterstützungen folgender Mitglieder.
2375 Vgl. Kapitel IV.3.1.
2376 Vgl. Kapitel IV.4.
2377 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Obmann Leo Demm, Bericht über die Tätigkeit
und sozialen Einrichtungen vom 30.6.1938.
2378 Dem „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ standen beispielsweise von einem Sammeltag aus dem Jahr 1937
noch 1.200 RM zu. Diese Summe war allerdings vom Stillhaltekommissar beschlagnahmt worden, nur
auf Ansuchen um Freimachung konnte die Organisation diese Gelder erhalten. Der Verein stellt daher am
26. Mai einen entsprechenden Antrag auf die Auszahlung von 600 RM, um Krankenkassenbeiträge und
Zinsen zahlen zu können. 400 RM davon sollten an „notleidende Blinde“ verteilt werden. Vgl. ÖStA, AdR,
Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden an den Stillhaltekommissar
für Organisationen und Verbände vom 26.5.1938, Betreff: Komm.Schramm/ZimmeR 59, Sachen: Delasbe.
2379 Der „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ wendete sich am 14. Juni 1938 an die IKG Wien, weil der Antrag
vom 28. Mai vom Stillhaltekommissar immer noch nicht bearbeitet worden war. ÖStA, AdR, Stiko Wien,
AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Hilfsverein der jüdischen Blinden an den Amtsvorsteher der Israelitischen
Kultusgemeinde vom 14.6.1938, Betreff: Schreiben vom 12.6.1938 bezüglich Gestapo-Arbeiter-Krankenkasse.
2380 Vgl. WStLA, M. Abt. 119, A 32, Zl. 3257/20, AZ IV AC 31 L 14, Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände an die Polizeidirektion Wien vom 9.9.1938, Betreff: Gesetz vom 17. Mai 1938 über die
Überleitung und Eingliederung von Vereinen, Organisationen und Verbänden (GBl. Nr. 136/1938); ÖStA,
AdR, Stiko, Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Reichsamtsleiter Albert Hoffmann, Bekanntmachung vom
10.9.1938.
2381 Vgl. ÖStA, AdR, ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Schlussbericht vom 5.9.1938.
323
Konto des „Israelitischen Blindeninstituts“ ein.2382 Es verstrichen nach der Löschung des
Vereines also mehrere Monate.
Nach der Auflösung des „Hilfsvereines der jüdischen Blinden“ erhielten die Betroffenen,
die bisher von dieser Organisation unterstützt worden waren, weiterhin Hilfsleistungen
über die „Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden“.
5.2.1 Die Nachfolgeorganisation: „Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden“
Im Zuge der Umwandlung des „Israelitischen Blindeninstitutes“ in die „Jüdische Blindenanstalt, Taubstummen- und Krüppelhilfe Hohe Warte“ wurde die „Selbsthilfegruppe der
jüdischen Blinden“ 1939 ein Teil dieser Einrichtung.2383 Die „Selbsthilfegruppe der jüdischen
Blinden“ galt als „identisch“2384 mit dem gelöschten „Hilfsverein der jüdischen Blinden“ und
bezog die Räumlichkeiten der ehemaligen „Jüdischen Blindenbibliothek“ in der Unteren
Augartenstraße 35 (2. Wiener Gemeindebezirk). Die Schlüssel für diese Räumlichkeiten
hatte das „Israelitische Blindeninstitut“ im Dezember 1938 erhalten.2385 Hauptaufgabe der
„Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden“ war es, vor allem diejenigen blinden Menschen
jüdischer Herkunft zu betreuen, die außerhalb der Einrichtung auf der Hohen Warte lebten.2386
1939 konnte das „Israelitische Blindeninstitut“ die „Selbsthilfegruppe der jüdischen
Blinden“ noch mit 15.308,30 RM unterstützen.2387 Mit der Umbildung in die „Jüdische
Blindenanstalt, Taubstummen- und Krüppelhilfe Hohe Warte“ in Wien entzog der Stillhaltekommissar dieser Organisation bis Ende 1939 aber das gesamte Vermögen. Von 1940
bis 1942 übernahm die Fürsorgezentrale der IKG Wien daher die Auszahlung von Unterstützungsbeiträgen an Mitglieder dieser Selbsthilfegruppe.2388
2382 Vgl. ÖStA, AdR, ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Jüdische Blindenanstalt, Taubstummen- und Krüppelhilfe Hohe Warte in Wien an den Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und
Verbände vom 15.2.1939, Betreff: IV. Bb./IV A. G. – 31 – L 14 vom 11.2.1939; CAHJP, A/W 1829, HMB
3734, Nr. 0111, Jüdische Blindenanstalt, Taubstummen- und Krüppelhilfe Hohe Warte in Wien an Amtsvorstand Emil Engel vom 15.1.1940, Betreff: Blindenfürsorge.
2383 Vgl. Kapitel IV.5.3.2.
2384 ÖStA, AdR, ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 564, Mappe L 14, Jüdische Blindenanstalt, Taubstummen- und Krüppelhilfe Hohe Warte in Wien an den Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und
Verbände vom 4.4.1940, Betreff: Beantwortung des Schreibens vom 30.3.1940 AZ IV AC 31 L14/Dr. F./LF.
2385 Vgl. Kapitel IV.5.5.1. Das Gebäude in der Unteren Augartenstraße 35 wurde dann im März 1939 der IKG
zugewiesen, um dort eine Notunterkunft für jüdische Säuglinge und Kleinkinder einzurichten. Das Gebäude hatte dem jüdischen Theresien-Kreuzer-Verein gehört, der die Räumlichkeiten an andere Vereine,
wie der „Jüdischen Blindenbibliothek“, vermietet hatte. Die Liegenschaft wurde in weiterer Folge vom
Stillhaltekommissar entzogen und am 21. Jänner 1941 an die Stadt Wien verkauft. Die dort untergebrachten Kinder verblieben allerdings bis zu ihrer Deportation dort. Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden,
S. 73.
2386 Der Verein organisierte beispielsweise auch die Fremdsprachenkurse für blinde Menschen jüdischer Herkunft. Vgl. Kapitel IV.4.
2387 Vgl. CAHJP, A/W 1829, HMB 3734, Nr. 0111, Jüdische Blindenanstalt, Taubstummen- und Krüppelhilfe
Hohe Warte in Wien an Amtsvorstand Emil Engel vom 15.1.1940, Betreff: Blindenfürsorge.
2388 Vgl. CAHJP, A/W 1907, HMB 3069, Kriegsopferverband, Selbsthilfegruppen der jüdischen Krüppel, betreffend Gewährung von Unterstützungsbeiträgen an Mitglieder dieser Verbände durch die Fürsorgezentrale 1940–1942.
324
Bekannt ist, dass die „Selbsthilfegruppe jüdischer Blinder“ trotzdem bis 1941 weiterhin
für blinde Menschen jüdischer Herkunft tätig war. Sie intervenierte bei den diversesten
NS-Stellen für die Anliegen der Betroffenen.2389 Im Archiv der IKG Wien befindet sich
beispielsweise ein von Leo Demm unterzeichnetes Schreiben vom 25. Februar 1941 an die
IKG.2390 Zu diesem Zeitpunkt waren in Wien wieder Deportationen ins „Generalgouvernement“ aufgenommen worden, auf die im folgenden Kapitel IV.6. noch näher eingegangen
wird. Nach Aussagen von Leo Demm befanden sich im Februar 1941 in einem Sammellager
für zur Deportation bestimmte Personen in der Castellezgasse zwei blinde Menschen, drei
waren bereits deportiert worden.2391 In einem Appell, der an Löwenherz gerichtet worden
sein dürfte,2392 bat Demm diesen um Hilfe, um weitere Vertreibungen von blinden Menschen zu verhindern:
„Um die Aermsten der Armen, die Blinden vor dem Furchtbarsten zu bewahren,
richtigen wir an Sie, hochverehrter Herr Doktor, die ergebens [sic!] und inständigste
Bitte: Helfen Sie uns!“2393
Eine vergebliche Bemühung: Es kam zu weiteren Deportationen. Auch der am 4. April 1877
geborene Leo Demm2394 und seine Frau Therese2395 wurden am 20. August 1942 zunächst
nach Theresienstadt gebracht. Am 26. September 1942 kam das Ehepaar nach Treblinka,
wo beide umkamen.
2389 Vgl. Kapitel IV.3.2.
2390 Vgl. CAHJP, A/W 273, HMB 2502, Nr. 617, Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden an Herrn Doktor vom
25.2.1941, Betreff: Umsiedlung der Juden.
2391 Auf der Liste des DÖW von Menschen, die von der Adresse Hohe Warte 32 in Wien aus deportiert worden
waren, erscheinen zwei Personen, Grete Dab und Robert Drab, die bereits am 15. Februar 1941 nach Opole
gebracht wurden. Es ließ sich allerdings nicht eruieren, ob es sich dabei um zwei blinde Menschen gehandelt hat. Vgl. DÖW, Datenbanken DÖW, Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer, ca.
230 Personen deportiert aus der Hohen Warte.
2392 In dem Originaldokument ist der Empfänger nicht namentlich verzeichnet, aber es wird angenommen,
dass es sich um Josef Löwenherz gehandelt hat. Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, S. 78; Exenberger, Jüdische Blinde in Wien.
2393 CAHJP, A/W 273, HMB 2502, Nr. 617, Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden an Herrn Doktor vom
25.2.1941, Betreff: Umsiedlung der Juden.
2394 Der offizielle Vorname von Demm war offenbar Leib. In der Opferdatenbank des DÖW erscheint ein
Leib Demm, dessen Geburtsdatum mit Leo Demm übereinstimmt. Auch die bei Leib Demm angegebene
Wohnadresse war gleichlautend mit der Adresse von der Ehefrau Demms, Therese. Vgl. DÖW, Datenbanken, Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer, Liste mit Deportationen von der
Adresse Hohe Warte 32 [Ausdruck vom 21.11.2007]; [Online Ressource: DÖW, Opferdatenbanken, ShoaOpfer, <http://de.doew.braintrust.at/db_shoah_21548.html >, Download am 22.5.2009]; [Von Dr. Verena
Krausnecker freundlicherweise zur Verfügung gestellte Rechercheergebnisse im Zuge des Forschungsprojektes an der Universität Wien „Gehörlose Menschen während des Nationalsozialismus in Österreich“
bestätigen diese Angabe.]
2395 Vgl. DÖW, Datenbank, Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer; [Online Ressource:
DÖW, Opferdatenbanken, Shoa-Opfer, <http://de.doew.braintrust.at/db_shoah_21549.html>, Download
am 22.5.2009].
325
5.3 Das „Israelitische Blindeninstitut“ auf der Hohen Warte
5.3.1 Gründung und Entwicklung bis 1938
1872 wurde das „Israelitische Blindeninstitut“ auf der Hohen Warte 32 im 19. Wiener
Gemeindebezirk eröffnet. Ludwig August Frankl,2396 Generalssekretär, Dichter und Archivar
der IKG Wien2397, hatte es mit finanzieller Hilfe des Bankiers und Präsidenten der IKG Wien
Jonas Freiherr von Königswarter gegründet.2398
Abb. 15: Außen­
ansicht vom
„Israelitischen
Blindeninstitut“
(1938).
Die Anstalt war nach den Plänen des Architekten Wilhelm Stiasny auf einem 6.060 m2
großen Grundstück, wovon 767 m2 verbaut waren, errichtet worden.2399 Als erster Direktor
fungierte ab 1873 Simon Heller.2400 Während seiner fast fünfzigjährigen Lehrtätigkeit erarbeitete sich der Blindenpädagoge etwa durch diverse Publikationen2401 einen internationalen
Ruf. Er galt als Reformer: „Hellers Bild vom mündigen, sich selbstbestimmenden Blinden
2396 Im Garten des Israelitischen Blindeninstituts erinnerte bis 1940 eine Bronzebüste an seinen Gründer.
Wann diese errichtet worden war, ist nicht bekannt. Im Mai 1940 erteilte der Stillhaltekommissar allerdings die Genehmigung, diese Büste abzutragen, offiziell für die kriegsbedingte „Metallsammlung“.
Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 558, Mappe B 9, Dr. F./LF, Aktenvermerk Liquidationsstelle vom
16.5.1940, Betreff: Israelitisches Blindeninstitut Hohe Warte.
2397 Zur Person Ludwig August Frankl vgl. Wolffhardt, Israelitische Blindeninstitut Hohe Warte, S. 7–9.
2398 Vgl. WStLA, AdR, M. Abt. 119, A 32, Zl. 2308/22, Jüdische Blindenanstalt, Taubstummen- und Krüppelhilfe Hohe Warte Wien (= Israelitisches Blindeninstitut); Adunka, Mimi Grossberg und Siegfried Altmann, S. 67–78, hier S. 67. Zur Gründung und Geschichte des Israelitischen Blindeninstitut Hohe Warte
vgl. auch die in folgendem Werk angegebene Literatur und Quellen: Wolffhardt, Israelitische Blindeninstitut Hohe Warte.
2399 Vgl. Kaldori, Jüdisches Wien, S. 163.
2400Geboren am 25. Oktober 1843, gestorben am 4. Mai 1922 in Wien.
2401 Vgl. Wolffhardt, Israelitische Blindeninstitut Hohe Warte, S. 108–110.
326
widersprach dem gängigen Fürsorgemodell.“2402 Als Hauptaufgabe des Instituts sah Heller
die Integration von SchulabgängerInnen in den Arbeitsmarkt und das Vermitteln der dafür
notwendigen Qualifikationen.2403 1922 löste Siegfried Altmann2404 Heller als Direktor ab.
Er behielt diese Funktion bis zur seiner Flucht in die USA 1939 und setzte den re­form­ori­
en­tier­ten Kurs Hellers bis 1938 fort.2405 Nach Angaben von Altmann war das Institut in
Wien 1935/36 die einzige jüdische Blindenerziehungs- und Ausbildungsanstalt der Welt.2406
Trotz Finanzierungsschwierigkeiten nach dem Ersten Weltkrieg und in der Zeit der Wirtschaftskrise gelang es, etwa durch die Hilfe einiger SpenderInnen aus dem Ausland, diese
Einrichtung bis 1938 aufrechtzuerhalten. Das ebenfalls seit 1852 in Wien angesiedelte „Allgemeine österreichische israelitische Taubstummen-Institut“ musste dagegen auf Grund
von finanziellen Problemen bereits 1926 geschlossen werden.2407
1938 war das Angebot des „Israelitischen Blindeninstituts“, dem auch ein Internat angeschlossen war, sehr umfangreich. Die SchülerInnen im Alter von zwei bis 24 Jahren konnten nicht nur in den klassischen Blindenhandwerksberufen ausgebildet werden, sondern
erlernten ebenso damals als modern geltende Tätigkeiten wie beispielsweise Strickarbeiten
nach zeitgenössischen Methoden, Tennis-Rakett-Einflechten und die Arbeit als Körper- und
HeilmasseurIn. Klavierstimmen oder eine Schulung zum/zur Übersetzer/in bzw. Dolmetscher/in2408 zählten zu den weiteren angebotenen Berufsausbildungen.2409
Ein besonderer Schwerpunkt lag auf der musikalischen Ausbildung. Diese konnte mit
einer Staatsprüfung für das Musiklehramt abgeschlossen werden und galt als anerkannt.
Ehemalige AbsolventInnen fanden auch im Ausland Anstellungen als OrganistInnen.2410 Bei
entsprechender Begabung konnten die blinden SchülerInnen ein Mittelschulstudium absolvieren und wurden darin unterstützt, einen akademischen Bildungsweg einzuschlagen.2411
Die umfassenden Tätigkeiten des Institutes konnten aus dem Briefkopf entnommen werden:
„Blindenerziehungsanstalt, Schul- und Berufsausbildung, Sehschwachenabteilung,
Blindenbuchdruckerei, Bürsten- und Korbmacherei, Sessel- und Feinflechterei,
Frauen- und Handarbeiten, Klavierstimmen und Reparieren.“2412
2402 Wolffhardt, Israelitische Blindeninstitut Hohe Warte, S. 21.
2403 Vgl. Wolffhardt, Israelitische Blindeninstitut Hohe Warte, S. 49–54.
2404Geboren am 12. Juli 1887, gestorben am 14. September 1963.
2405 Vgl. o. A., Das Fürsorgewerk der jüdischen Vereine und Institutionen in Wien, S. 18–24, hier S. 20 [DÖW
25523].
2406Vgl. Altmann, Das Isr. Blinden-Institut Hohe Warte, S. 29–31, hier S. 31.
2407 Vgl. Schott, Taubstummen-Institut in Wien.
2408Aus einem Bericht von dem Begutachter des Stillhaltekommissars, Alfred Mörl, vom 8. August 1938 geht
hervor, dass die unterrichteten Sprachen Französisch, Englisch und Hebräisch waren. Vgl. ÖStA, AdR,
Stiko Wien, AC 31, Kt. 558, Mappe B 9, Bericht von Alfred Mörl vom 8.8.1938, Betreff: Hohe Warte 32,
Besuch vom 20.7.1938.
2409Vgl. Duizend-Jensen, Jüdische Behinderte in Österreich; ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 558, Mappe B
9, Bericht vom Israelitischen Blindeninstitut Hohe Warte [1938].
2410 Vgl. ÖStA, AdR, Stiko Wien, AC 31, Kt. 558, Mappe B 9, Bericht vom Israelitischen Blindeninstitut Hohe
Warte [1938].
2411 Vgl. o. A., Das Fürsorgewerk der jüdischen Vereine und Institutionen in Wien, S. 18–24, hier S. 24.
2412 Briefkop
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