Das Israelitische Blindeninstitut in Wien Zurück nach Wien, wo die Betreuung der Blinden in vielen Bereichen Vorbildcharakter für ähnliche Institute hatte. So ergriff etwa der Arzt, Journalist, Schriftsteller, Philanthrop, Sekretär und Archivar der Israelitischen Kultusgemeinde Wien Ludwig August Frankl (3. Februar 1810 - 12. März 1894) die Initiative, um mit Unterstützung des Bankiers und Präsidenten der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde Jonas Freiherr von Königswarter (10. August 1807 - 23. Dezember 1871) im Jahre 1872 das Israelitische Blindeninstitut in Wien zu gründen. Ein 6.000 Quadratmeter großes Grundstück im 19. Bezirk, Hohe Warte Nr. 32, stand dafür zur Verfügung. Architekt Wilhelm Stiassny errichtete darauf ein dreigeschossiges Gebäude mit Schlafsälen für 20 Mädchen und 30 Buben, entsprechende Lehrsäle, Turnsaal, Bad, Wäscherei, Korbflechterei, Seilerei und einer hauseigenen Druckerei für Publikationen in Blindenschrift. Bereits ein Jahr später, 1873, stand Ludwig August Frankl als Präsident dem von ihm einberufenen und in Wien tagenden Ersten Blindenlehrerkongress vor. Zwei bedeutende Blindenlehrer, die an diesem Israelitischen Blindeninstitut wirkten, wollen wir hier kurz vorstellen: Zunächst Simon Heller (25. Oktober 1843 - 4. Mai 1922), der nach seiner Ausbildung an der Lehrerbildungsanstalt in Olmütz als Privatlehrer, als Volks- und Fortbildungsschullehrer tätig war. Im Jahre 1873 wurde Heller Direktor des Israelitischen Blindeninstituts auf der Hohen Warte. Auf seine Initiative hin wurde an den Blindenschulen der Modellier- und Zeichenunterricht eingeführt, und er ist Verfasser mehrerer Lehrbücher für blinde Schüler. Simon Heller wurde in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof, Israelitische Abteilung, 1. Tor, bestattet. Der zweite, der in den zwanziger Jahren Konsulent der Gemeinde Wien für das Blindenwesen war und ab 1922 die Nachfolge von Simon Heller als Direktor des jüdischen Instituts auf der Hohen Warte antrat, war der Psychologe Prof. Siegfried Altmann (12. Juli 1887 - 14. September 1963). Er trat auch als Gründer eines Heimes für blinde Mädchen des jüdischen Vereines Providentia im 2. Bezirk, Darwingasse Nr. 5, hervor und fand bereits im Alter von 22 Jahren, im Jahre 1909, seinen Lebensberuf im Israelitischen Blindeninstitut in Wien. Über ihn schrieb Ottokar Wanecek in den Mitteilungen des Österreichischen Blindenverbandes einen Nachruf, aus dem ich ein paar Sätze zitieren möchte: "Sowohl als Blindenlehrer und Blindenfürsorger hat er sich bleibende Verdienste erworben. Stand er doch vorbehaltlos auf der Seite der jungen, damals noch sehr bestrittenen Selbsthilfebestrebungen der Blinden. Mit seinem persönlichen Einsatz, oft auch stark angefeindet, hat er wesentlich dazu beigetragen, die endgültige Anerkennung der neuen Wohlfahrtsbestrebungen in Österreich durchzusetzen [...] Die jüngere Generation in unseren Reihen wird noch lange Anregungen und Belehrungen in seinen formvollendet stilisierten Artikeln schöpfen, in denen er insbesondere die neuen Richtungen psychologischer Forschung in ihrer praktischen Bedeutung für die Blindenerziehung abwog." Auch in seinem Zufluchtsland ab 1939, in den USA, wirkte Siegfried Altmann tatkräftig in österreichischen Exilorganisationen mit; ein Affidavit hatte er von der blinden Schriftstellerin Helen Keller erhalten. Auf der Hohen Warte Nr. 32 wurden die Schülerinnen und Schüler nicht nur in den sogenannten "Blindenberufen" ausgebildet, sondern man versuchte, ihre individuellen Fähigkeiten zu wecken und zu fördern. So berichtete 1933 Primarius Dr. Max Meissner über dieses Blindeninstitut: "Auch in der Berufsausbildung unterscheidet sich unsere Anstalt von den meisten anderen. Der Leiter des Institutes ist grundsätzlich davon abgegangen, die Zöglinge nur zu den 'Blindenberufen' auszubilden [...] Eine Reihe von Zöglingen leistet in verschiedenen industriellen Betrieben vollwertige Arbeit, andere sind als sprachkundige Korrespondenten und Stenotypisten tätig. Etliche absolvierten verschiedene Hochschulen und beendeten das Studium an der juristischen, philosophischen und staatswissenschaftlichen Fakultät [...] Es ist eine jüdische Anstalt, auf die wir Juden mit Stolz hinweisen können." Aus einem Tätigkeits- und Lagebericht vom 3. Jänner 1939 geht hervor, dass die Israelitische Kultusgemeinde Wien in der Zeit vom 2. Mai 1938 bis 31. Dezember 1938 täglich 87 Personen im Israelitischen Blindeninstitut verköstigte. Auch der Hilfsverein der jüdischen Blinden, mit seinem Sekretariat im 2. Bezirk, Rembrandtstraße Nr. 18, und andere Organisationen waren um Hilfeleistung für die Blinden bemüht. Unter dem Nationalsozialismus Mit der Ernennung Adolf Hitlers im Jänner 1933 zum Reichskanzler und der dadurch legalisierten Terrorwelle der Nationalsozialisten in Deutschland kam es bereits in diesem Jahr zu den ersten Maßnahmen gegen blinde Juden. So wurde im Juli 1933 ein sogenannter "Arierparagraph" im Verein der blinden Akademiker Deutschlands eingeführt, und im Oktober 1933 führte der Reichsdeutsche Blindenverband eine Satzungsänderung durch, wonach ein "ordentliches Mitglied" nur "deutschstämmig" sein durfte; den jüdischen Kriegsblinden wurde in diesem Jahr erklärt, dass "im völkischen Staat Angehörige fremder Rassen leitende oder führende Stellen nicht innehaben können". Nach dem sogenannten "Anschluss" Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im März 1938 wurden die humanen Bemühungen von Blindenorganisationen stark eingeengt bzw. deren Tätigkeit überhaupt verboten. So erfolgte der Zusammenschluss des Verbandes der Kriegsblinden Österreichs mit dem Verein Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung e.V., und die 1935 gegründete Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten Österreichs wurde in den Reichsdeutschen Blindenverband eingegliedert. Alle diese Organisationen hatten in ihren Reihen auch jüdische Blinde als Mitglieder. Kommerzialrat Hans Hirsch, Obmann des Verbandes der Kriegsblinden Österreichs, der schon im Mai 1938 in einer Denkschrift an den Reichsminister für Justiz auf die drohenden Existenzsorgen der fünfzig jüdischen Inhaber, unter ihnen zwölf Kriegsblinde, von Tabaktrafik-Lizenzen hinwies, erinnert sich an die Situation nach dem März 1938: "Dieses an schönen Aufgaben und erfreulichen Erfolgen reiche Organisationsleben wurde durch die politische Entwicklung in den dreißiger Jahren jäh unterbrochen. Ich war gezwungen, meine Tätigkeit im Verband aufzugeben, und im weiteren Verlauf musste ich sogar als Mitglied aus der Organisation ausscheiden. Es zählt jedoch zu meinen schönsten Erinnerungen, dass auch in diesen Zeiten Kameraden den Weg zu mir fanden und ich ihnen mit meinem Rat dienen konnte. So blieb die Verbindung auch während des zweiten Krieges bestehen." Ein anderer Blinder, Jakob Wald, der im Jahre 1935 die Hilfsgemeinschaft der später Erblindeten Österreichs gründete, die heute noch ihre vielfältigen Tätigkeiten als Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs weiterführt, musste miterleben, dass in seinem Büro im Jahre 1938 einige Männer in SA-Uniformen erschienen, es waren auch verblendete Blinde unter ihnen, und ihn zum Verlassen des Lokals der Hilfsgemeinschaft aufforderten. "Es half Jakob Wald nichts", wie es in der Festschrift zum 50jährigen Bestandsjubiläum dieser Organisation im Jahre 1985 hieß, "dass er sich auf Anraten guter Freunde hatte taufen lassen - er war doch der Jude geblieben. Gekränkt, erniedrigt und gedemütigt, musste sich ein Mensch, der nur Gutes gewollt und Bestes getan hatte, in ein untätiges Leben zurückziehen, während er unerfahrenen Blinden, die von der Führung einer Blindenorganisation keine Ahnung hatten, aber Hitler und seinem Hakenkreuz treu ergeben waren, das Schicksal seiner Hilfsgemeinschaft überlassen" musste. Fluchtversuche Bereits am 28. April 1938 verkündete der "Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich" Josef Bürckel, dass der "Arisierungsprozess in Wien ab heute durch ihn persönlich geleitet wird". Den pogromartigen Ausschreitungen im März 1938, dem umfangreichen Stehlen jüdischen Eigentums folgte nun Schritt für Schritt eine systematische Einengung des Lebensraumes der jüdischen Bevölkerung Wiens. Wer die Möglichkeit zur Flucht sah, verließ den Einflussbereich der Nazis. Man braucht nicht viel Phantasie dazu, um sich die Schwierigkeiten bewusst werden zu lassen, die gerade jüdische Blinde dabei zu bewältigen hatten. Robert Vogel, der unermüdliche Motor und umsichtige Präsident der Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs, schildert in seiner Autobiographie "Zwischen Hell und Dunkel" seine Flucht so: "Durch den 'Anschluss' Österreichs an das Deutsche Reich wurde es mir klar, dass ich mich als Jude auf die Dauer nicht werde behaupten können [...] Der Versuch, die dänische Grenze zu überschreiten, schlug fehl, und ich fuhr wieder nach Wien zurück. Vorübergehend wohnte ich im Blindeninstitut Hohe Warte, wo ich mit zwei blinden Freunden, Karl Weinstein und Sigmund Fränkel, die Flucht nach Belgien beschloss. Am 18. November 1938 ging die Reise los. Ich setzte meinen geringen Sehrest ein, um 'Führer' der makabren Expedition zu sein. Beide Freunde waren vollblind. Wir wurden aber beim Überschreiten der Grenze oberhalb Aachen erwischt und mussten wieder zurück. Wir kamen bis Frankfurt am Main, wo wir, von der Gestapo verfolgt, alles daransetzten, um doch noch ein schutzgewährendes Land zu erreichen. Unser Hoffen und unsere Mühe, unsere Entbehrungen und unsere Leiden waren nicht umsonst. Am 27. November 1938 konnten wir mit einer Einreisebewilligung des zuständigen niederländischen Ministeriums über die Grenze fahren." Vertreibung jüdischer Mieter aus den Wiener Gemeindebauten Aus diesem Jahr 1938 sind einige Dokumente über die Vertreibung blinder jüdischer Mieter aus Wiener Gemeindebauten und ihr verzweifeltes, in allen Fällen vergebliches Ringen um den Verbleib in ihren Wohnungen erhalten geblieben. Sie mussten nach dem Rassenwahn der Nationalsozialisten als jüdische Hauptmieter, weil sie mit ihrem jüdischen Ehepartner in einer sogenannten "Mischehe" lebten oder weil sie ihren blinden Verwandten Unterkunft gaben, ihre Wohnungen räumen. Darüber berichteten Brigitte Ungar-Klein, Johann Koß und ich in dem Buch "Kündigungsgrund Nichtarier. Die Vertreibung jüdischer Mieter aus den Wiener Gemeindebauten in den Jahren 1938-1939" (Wien 1996). In Briefen an den Bürgermeister, an Reichskommissar Bürckel und an andere nationalsozialistische Stellen appellierten die Gekündigten um Menschlichkeit, um eine Zurückziehung der Kündigung, jedoch vergebens. So schrieb die blinde Alleinerzieherin Sarah Seidenfrau aus dem 3. Bezirk am 6. Juli 1938 an das Wohnungsamt: "Da ich gänzlich alleinstehend und auf beiden Augen vollständig erblindet bin, fällt mir das Wohnungssuchen schwer, umso schwerer, da eine jüdische Partei als Hauptmieter nicht genommen wird und in Untermiete mich als Blinde niemand nimmt. Um so weniger, da ich auch ein Kind zu betreuen haben." Fast mit den gleichen Argumenten wie Frau Seidenfrau versuchte der blinde Musiklehrer Abraham Friedmann beim Bezirksgericht Döbling einen Rekurs der Kündigung zu erlangen: "Insbesondere fällt das Wohnungsfinden jetzt schwer, da man einen Juden als Hauptmieter nicht annimmt, und mich als Blinden nimmt aber schwer jemand in Untermiete." Frau Margaretha Beck, die mit ihrem jüdischen Mann Ernst im 20. Bezirk lebte, ersuchte in einem Brief, geschrieben in der J. W. Kleinschen Stacheltypenschrift, das Wohnungsamt um Hilfe und Rücksicht: "Schwer traf mich als Arierin und meinen jüdischen Mann der Schicksalsschlag, als wir in unserer Kindheit erblindeten. Noch härter und vernichtender ereilte uns die Kunde von der Kündigung unserer Wohnung. Nicht nur, dass wir das Obdach verlieren, auch das Brot für zwei unmündige Kinder wird uns dadurch entzogen, denn mein Mann übt im Kabinett das Bürstenbinderhandwerk aus. Sowohl ich als auch mein Mann beziehen von der Fürsorge der Gemeinde Wien einen Erhaltungsbeitrag, der uns ermöglichte, den Zins pünktlich zu erlegen. Wir können es nicht fassen, dass es des Führers Wille sei, die Ärmsten der Armen auf die Straße zu setzen und dem größten Elend preiszugeben." Zusätzlich bemühte sich der Hilfsverein der jüdischen Blinden am 8. Juli 1938 für Ernst Back bei Reichskommissar Bürckel zu intervenieren. Vergebens. Auch der bereits erwähnte Jakob Wald sollte mit seiner Frau am 1. August 1938 seine Gemeindewohnung im 15. Bezirk, Neusserplatz 1-2, Stiege 4, Tür 16, der nationalsozialistischen Stadtverwaltung geräumt übergeben. Seine ebenfalls erblindete Frau Kamilla erinnerte in einem Schreiben an die Wohnhäuserverwaltung der Stadt Wien am 2. Juli 1938 daran, dass Jakob Wald kein konfessioneller Jude, sondern getauft sei und der römisch-katholischen Religionsgemeinschaft angehöre und sie mit sieben Taufscheinen einwandfrei ihre "arische Abstammung" nachweisen könne. Mit "Rücksicht auf die besonders berücksichtigungswürdigen Umstände" beantragte die Städtische Wohnhäuserverwaltung einen Räumungsaufschub per 1. November 1938. Das Ehepaar Wald zog aber bereits am 16. August 1938 aus seiner Gemeindewohnung aus. Jüdische Kriegsblinde Betroffen von der Vertreibung aus ihren Wohnungen bzw. von ihrer kärglichen Existenzsicherung den Trafiken - waren auch jüdische Kriegsblinde. Die jüdischen Soldaten des Ersten Weltkriegs waren für die nun uneingeschränkt herrschende Naziclique, die das Wort "Kameraden" nicht oft genug in den Mund nehmen konnte, eben keine Kameraden. Im Gegenteil. Demütigungen, Diebstahl ihres Hab und Guts und brutale Terrormaßnahmen standen auf der Tagesordnung gegen die jüdischen Bürger Österreichs. Selbst das Tragen von verliehenen Auszeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg wurde den jüdischen Kriegsblinden verboten. So erhielt z. B. am 28. August 1939 Dr. David Schapira vom Wiener Versorgungsamt II eine endgültige Entscheidung, dass ihm als Jude das Tragen des Verwundetenabzeichens nicht gewährt werde. Ein paar weitere Beispiele: Samuel Unger, geboren am 18. November 1875 in Heinzendorf, diente von 1896 bis 1899 beim 1. Ulanenregiment in Wien und leistete seit dem Jahre 1914 Frontdienst. Zwei Jahre später erlitt er an der italienischen Front in den Karnischen Alpen - im Abschnitt Plöckenpaß-Cellonspitze schwere Verletzungen, die zu seiner Erblindung führten. Als Trafikant und Mitglied des Kriegsblindenverbandes gestaltete Unger sein weiteres Leben und bezog 1930 eine Wohnung in der städtischen Wohnhausanlage im 10. Bezirk, Laxenburgerstraße 49-57, Stiege 7, Tür 4. Sein Leben schien in geordneten, wenn auch behinderten Bahnen zu verlaufen, bis ... ja, bis zum März 1938. Auch er sollte am 1. August 1938 seine Wohnung im Gemeindebau verlassen. "Gnadenweise" erhielt er von der nazistischen Stadtverwaltung eine unglaubliche Fristerstreckung des Räumungstermines bis zum 15. August 1938. Unger musste wie alle anderen Juden in eine "Sammelwohnung" einziehen, wo jeweils mehrere Familien eine notdürftige Unterkunft fanden, ehe sie mit Deportationszügen ihren letzten Weg antreten mussten. Samuel Unger pferchte man in die Wohnung Nr. 11 im 2. Wiener Bezirk, Große Sperlgasse 6. Der in einer sogenannten "Mischehe" lebende Kriegsblinde Julius Grünwald musste seine Wohnung im 16. Bezirk verlassen. Über die einem Kriegsblinden zugemutete "Ersatzwohnung" heißt es in einem Interventionsversuch des Hilfsverbandes der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen in Wien: "Er kam hin und erfuhr dort, dass das Haus baufällig ist und in der nächsten Zeit niedergerissen wird. Das Haus steht in einer tiefen Grube, so dass der Zugang für ihn als Blinden mit Lebensgefahr verbunden ist. Grünwald kam nun ins Wohnungsamt zu seinem Referenten zurück und teilte ihm den Sachverhalt mit, er bat um eine neue Zuweisung. Der Referent soll ihm eine neue Zuweisung verweigert haben." Die verzweifelte soziale Situation des Kriegsblinden Naftali Kaminker nach seiner Vertreibung aus seiner Wohnung in der Brigittenau, Stromstraße 74-76, Stiege 17, Tür 13, bestätigte sogar im April 1939 der nationalsozialistische kommissarische Bezirksvorsteher der Leopoldstadt. Es heißt hier: "Kaminker Naftali, Jude, Kriegsblinder, war Tabaktrafikant, und wurde ihm die Trafik entzogen. Er hat um den Wiederbezug der Kriegsinvalidenrente angesucht, hat jedoch noch keinen Bescheid erhalten. Sollte er in Wiederbezug der Rente kommen, wird er den aushaftenden Betrag begleichen. Derzeit ist er nicht in der Lage, irgendeinen Betrag leisten zu können." Deportationen In den folgenden Jahren wurde das bedeutende pädagogische und humanistische Engagement der Israelitischen Kultusgemeinde Wien für ihre Blinden vollständig zerschlagen. Eine Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden, mit Sitz in der Unteren Augartenstraße 35, versuchte in diesen Jahren für ihre Schicksalsgenossen tätig zu werden. Erhalten geblieben ist etwa ein betroffen machender verzweifelter Appell an den Amtsdirektor der Israelitischen Kultusgemeinde Wien Dr. Josef Löwenherz vom 25. Februar 1941: berichtet wird, daß bereits beim ersten Transport von Wien nach Opole, Distrikt Lublin, am 15. Februar 1941 drei Blinde deportiert wurden und sich weitere zwei Blinde schon im Sammellager in der Castellezgasse befanden. "Es ist unleugbar", schrieb die Selbsthilfegruppe, "dass die Umsiedlung für jeden unserer Glaubensgenossen schwer tragbar ist. Aber es ist ebenso unleugbar, dass sie den Blinden um ein vielfaches schwerer trifft. Der Blinde, aus einer im bekannten Umgebung herausgenommen und in eine ihm unbekannte verpflanzt, ist in des Wortes wahrster Bedeutung ein verlorener Mensch." Wenige Monate später, am 30. September 1941, musste sich die Israelitische Kultusgemeinde Wien von der nationalsozialistischen Gemeindeverwaltung, Hauptabteilung für Wohnungs- und Siedlungswesen diktieren lassen, dass die Stadt Wien die Liegenschaft in der Unteren Augartenstraße 35 übernimmt. Die Räumung erfolgte 1942 mit der gleichzeitigen Auflösung der Selbsthilfegruppe der jüdischen Blinden. Das Haus des Israelitischen Blindeninstituts auf der Hohen Warte diente in der Folge als Wohnheim der Kultusgemeinde. So erstattete zum Beispiel Direktor Max Birnstein am 3. Oktober 1941 auf telefonische Weisung folgenden Bericht über die Insassen der Zweiganstalt Hohe Warte an die Hauptabteilung Wohnungs- und Siedlungswesen der nazistischen Wiener Stadtverwaltung: "Blinde: 117, Taubstumme: 27, Krüppel: 5, davon 1 unter 10 Jahren, 2 über 10, 6 über 20, 3 über 30, 15 über 40, 23 über 50 Jahre alt. Hingegen sind von den 58 Alten 6 über 60, 35 über 70, 17 über 80 Jahre alt, Gesamtstand 207." Um eine Möglichkeit für Heimarbeit für die Blinden in diesem Haus zu erhalten, sprachen der Leiter des jüdischen Kriegsopferverbandes Ing. Siegfried Kolisch und andere beim Arbeitsamt und bei der Deutschen Arbeitsfront vor. Es gelang ihnen durch die Bereitstellung von leicht montierbaren Webstühlen. Schon vorher wurden im Heim Hohe Warte Schreibmaschinenkurse für Blinde eingerichtet. Bereits 1940 hatte die Israelitische Kultusgemeinde Wien von der "Aufbaufonds Vermögensverwaltung G. m. b. H." die schriftliche Aufforderung erhalten, bis zum 1. Juni 1940 die Räumung des Gebäudes der Jüdischen Blindenanstalt, Taubstummen- und Krüppelhilfe auf der Hohen Warte 32 durchzuführen. In einem Antwortschreiben hatte Dr. Josef Löwenherz erklärt, dass im "gegenwärtigen Augenblick die Schaffung einer Ersatzunterkunft, die für Blinde und sonstige Krüppel entsprechend eingerichtet wäre, ganz unmöglich" sei. Massive Maßnahmen gegen die jüdischen Blinden setzten die Nazis im Jahre 1942. Schlag auf Schlag musste auf Befehl des berüchtigten SS-Hauptsturmführers Alois Brunner das Altersheim Hohe Warte 32 geräumt werden, die Auflösung erfolgte am 7. Juli 1942, und 40 Blinde, die seit Oktober 1941 im Altersheim der Israelitischen Kultusgemeinde Wien in Favoriten, Alxingergasse 97, untergebracht waren, mussten in den folgenden Deportationstransport nach Theresienstadt eingereiht werden. Das Heim in der Alxingergasse wurde am 15. September 1942 aufgelöst. Ghetto Theresienstadt Ab 15. Februar 1941 wurden Bewohner des Heimes Hohe Warte Nr. 32 von den Nationalsozialisten in Ghettos und Vernichtungslager deportiert, die überwiegende Mehrzahl von ihnen am 28. Juni 1942 in das Ghetto Theresienstadt. Auch in der Zwangsgemeinschaft des Ghettos Theresienstadt nahmen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der "Fürsorgestelle" der blinden Deportierten an. Mit welchen Schwierigkeiten sie dabei fertig werden mussten, zeigt uns ein Bericht des Referates Blindenfürsorge vom März 1944: "Von den 445 blinden Personen wohnen 164 im Blindenheim und 281 in den Blocks. Von 56 Betreuern sind 23 über 60 Jahre, 8 Personen arbeiten nur 4 Stunden pro Tag, so dass auch hier von einer Minderqualität in dem Betreuer-Personal gesprochen werden muss." Diese unerträgliche Situation im Fürsorge-, Pflege- und ärztlichem Bereich und der Versuch, den Blinden dennoch bestmöglichste Hilfestellungen anzubieten, skizzierte schonungslos der Arzt und Leiter der Abteilung Fürsorge im Ghetto Theresienstadt, Dr. Karel Fleischmann, in einer Rede im Blindenheim. So meinte er über die hoffnungslos überfüllten "Quartiere" in Theresienstadt: "Sie sehen auch nicht die elenden Quartiere in den Blocks. Sie sehen nicht die vollgepfropften Räume, die feuchten Wände und die löchrigen Fußböden. Sie sehen nicht all diese Trauer, all dieses Unglück, all diese Verzweiflung. Sie sehen nicht die Krankenstuben, die Ambulanzen mit den endlosen Reihen der wartenden Patienten. Sie sehen nicht das Tempo der aufreibenden Arbeit und können nicht ermessen, welche Schwierigkeiten, welche Hindernisse zu überwinden waren und wie die primitiven Stätten der ärztlichen Hilfeleistung nach und nach zu wirklichen Behandlungsräumen umgewandelt wurden [...] Es gehört schon eine gewisse geistige und moralische Kraft dazu, in einer so von Grund aus geänderten Situation seine Haltung nicht zu verlieren." Der Kriegsblinde Oskar Löwy, geboren am 13. September 1894 in Mattersburg und vom September 1942 bis Juni 1945 im Ghetto Theresienstadt festgehalten, gab im Prozeß gegen den im Kreis um Adolf Eichmann in der "Zentralstelle für jüdische Auswanderung" tätigen Anton Brunner (Brunner II) bei seiner Zeugenvernehmung im Wiener Landesgericht am 25. Februar 1946 unter anderem zu Protokoll: "Weiters gebe ich an, dass mir in Theresienstadt 3 ebenfalls kriegsblinde Weltkriegsteilnehmer namens Goldberger, Unger und Diener erzählten, dass sie, obwohl sie von der Führerkanzlei in Berlin den Bescheid erhalten hätten, als kriegsausgezeichnete Juden von einer Evakuierung nach Osten ausgenommen zu sein, trotzdem auf Veranlassung von Brunner I (Alois Brunner) und Brunner II nach Theresienstadt verschickt wurden und dass bei dieser Gelegenheit ein vierter, ebenfalls Besitzer von Weltkriegsauszeichnungen, weil er sich energisch gegen seine Evakuierung wehrte, von Brunner I und Brunner II geschlagen und dann ausnahmsweise sogar nach Polen verschickt wurde. Dabei handelte es sich um einen gewissen Goldapper. Die drei mit mir in Theresienstadt angehaltenen Auszeichnungsträger und Kriegsblinden sind dann dort infolge Hungers gestorben." Das Leben dieser Blinden im Ghetto Theresienstadt, ihr vorsichtiges Vorwärtstasten, hielt der deutsche Maler und Graphiker Leo Haas, Häftling in Nisko, Theresienstadt, Auschwitz, Sachsenhausen, Mauthausen und Ebensee, 1943 in seinem Aquarell "Die Blinden von Theresienstadt" fest. Im Ghetto Theresienstadt mußte auch der Wiener Künstler Berthold Ordner, geboren am 30. Juni 1889, sein Leben fristen. Er erregte mit seinen Drahtplastiken einiges Aufsehen. Über seine Kunst, dreidimensionale Zeichnungen mittels einer Drahtplastik zu gestalten, meint er, daß er "aus einem einzigen Stück Draht eine Figur in einem Zug formen kann, ähnlich wie ein Zeichner in einer Linie die Umrisse skizziert". Ordner überlebte seine Befreiung nur sehr kurz. Er starb am 27. Jänner 1946. Im Ghetto Theresienstadt wirkte auch der Wiener kriegsblinde Rechtsanwalt Dr. David Schapira, geboren am 29. Dezember 1897, als Fürsorger im Blindenheim, als Kulturreferent der "Freizeitgestaltung", hielt Vorträge, etwa im Juli 1943 zum Thema "Die Blinden und ihre Umwelt", gestaltete musikalisch-deklamatorische Veranstaltungen und Vorlesungen für Blinde und Sehbehinderte und war letztlich auch als Verteidiger beim sogenannten "Ghetto-Gericht" tätig. Im Juni 1945 kehrte Dr. Schapira nach Wien zurück. Er arbeitete wesentlich am Aufbau der Israelitischen Kultusgemeinde Wien mit, war in den Jahren 1948 bis 1949 Präsident dieser Gemeinde und starb am 22. November 1984 im 87. Lebensjahr. 1947 kehrte der bereits erwähnte Robert Vogel aus Holland nach Wien zurück. Unermüdlich war er für seine Schicksalsgefährten tätig, vergaß aber auch nie das Leid der jüdischen Blinden während der Nazizeit. Er war die treibende Kraft für das am 20. Mai 1966 im Blindenheim Unterdambach der Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs enthüllte Mahnmal für 144 blinde jüdische Naziopfer, ein Werk des Bildhauers Franz Coufal. Der damalige Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Dr. Ernst Feldsberg, zeigt in seiner Gedenkrede das Schicksal der doppelten Opfer, der blinden jüdischen Frauen und Männer auf: "Dicht zusammengepfercht lebten diese Blinden [...] im KZ Theresienstadt. Mit einem einmaligen Heldenmut trugen sie ihr doppeltes Schicksal, das Leid des Blinden und das Leid der KZ-Haft [...] Aber im Oktober 1944, 6 Monate vor der Befreiung, wurden fast alle dieser unglücklichen Menschen mit anderen kranken, gehunfähigen und alten Häftlingen in Viehwaggons nach Auschwitz geschafft, wo sie in den Gaskammern den Märtyrertod fanden [...] Mir als ehemaligen KZ-Häftling ist es eine besondere Auszeichnung, Robert Vogel dafür danken zu dürfen, daß er durch die Errichtung eines Denkmales vor dem Blindenheim Unterdambach das Andenken jener blinden Männer und Frauen ehrte, welche in den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus den Märtyrertod starben." Einige blinde Holocaustopfer Stellvertretend für alle wollen wir einige Wiener blinde Holocaustopfer zum Abschluss namentlich erwähnen: Theodor H. Andersen, geboren am 9. Oktober 1860. 10. Bezirk, Ernst Ludwig-Gasse 2/Stiege 3/Tür 21 ("Mithlingerhof"). Letzte Adresse: 9. Bezirk, Grundlgasse 1. Deportiert am 11. Jänner 1942 nach Riga. Rudolf Grünwald, geboren am 3. August 1884, Korb- und Sesselflechter. 2. Bezirk, Obere Augartenstraße 12-14/Stiege 4/Tür 28. Letzte Adresse: 19. Bezirk, Hohe Warte 32. Deportiert am 9. Juni 1942 nach Minsk, Maly Trostinec. Naftali Kaminker, geboren am 12. Mai 1880, Trafikant. 20. Bezirk, Stromstraße 36-38/Stiege 17/Tür 13 ("Winarskyhof"). Letzte Adresse: 2. Bezirk, Floßgasse 6/Tür 9. Deportiert am 9. Juni 1942 nach Minsk, Maly Trostinec. Julie