4. Hamiltonformalismus Für die praktische Lösung von Problemen bietet der Hamiltonformalismus meist keinen Vorteil gegenüber dem Lagrangeformalismus. Allerdings bietet der Hamiltonformalismus einen direkten Ausgangspunkt für die Quantenmechanik. Der Begriff des Phasenraumes ist in vielen Gebieten der Physik von großer Bedeutung. 4.1. Hamilton-Funktion Die Lagrangefunktion Lq , q̇ ,t ist eine Funktion der verallgemeinerten Koordinaten und Geschwindigkeiten. Im Hamiltonformalismus werden die verallgemeinerten Geschwindigkeiten q̇i durch die verallgemeinerten Impulse pi ersetzt pi = ∂L ∂ q̇i i=1,, f 72 Damit können wir die q̇i als Funktion der verallgemeinerten Koordinaten und Impulse ausdrücken q̇k = q̇k q , p , t Zur Vereinfachung der Notation verwenden wir die Abkürzungen q = q1 , , q f , q̇ = q̇1 ,, q˙ f , p = p1 ,, p f Die Hamiltonfunktion ist definiert als f H q , p ,t = ∑ q̇ i q , p , t p i − Lq , q̇q , p ,t ,t i=1 Da die q̇i q , p , t als Funktion der verallgemeinerten Koordinaten und Impulse ausgedrückt wird, ist die Hamiltonfunktion auch nur von q und p abhängig. 73 Beispiel: linearer harmonischer Oszillator m 2 k 2 ẋ − x 2 2 ∂L p p= = m ẋ ẋ = ∂ ẋ m 2 p m p k 2 p2 k H x , p = p − x = x2 m 2 m 2 2m 2 L= Die verallgemeinerten Koordinaten und Impulse werden als von einander unabhängige Größen betrachtet, ∂ pi =0 . ∂ qk 74 4.2. kanonische (Hamiltonsche) Gleichungen Das Prinzip der kleinsten Wirkung (Hamiltonsches Prinzip) t2 S [q] = ∫ dt L q , q̇ ,t = 0 t1 besagt, dass die tatsächliche Bahnkurve q(t) die Wirkung S minimiert. Die Variation nach f Funktionen qi(t) mit festen Randwerten für ein System mit f Freiheitsgraden liefert f Differenzialgleichungen 2. Ordnung (LagrangeGleichungen). Wir ersetzen L durch H t2 S [q , p ] = ∫ dt t1 ∑ f i =1 pi q̇i − H q , p , t = 0 Da q und p unabhängige Variablen sind, müssen wir nach 2f-Größen variieren. 75 Für feste Randwerte qt 1 = qt 2 = 0 erhalten wir t2 pt 1 = pt 2 = 0 f S [q , p] = ∫ dt ∑ pi q̇i pi q̇i − i=1 t1 ∂H ∂H qi − pi ∂ qi ∂ pi Der zweite Term kann durch partielle Integration (∫fg' = fg| - ∫f'g) umgeschrieben werden t2 t2 ∫ dt pi q̇i = pi qi ∣t − ∫ dt ṗi qi t1 1 Nach Ausnutzen der Randwerte erhalten wir t2 f [ S [q , p] = ∫ dt ∑ q̇i − t1 i=1 ] ∂H ∂H pi − ṗi qi = 0 ∂ pi ∂ qi Da die Variationen δpi und δqi beliebige Funktionen sind, müssen die ( ) Klammern Null werden. 76 Kanonische (Hamiltonsche) Gleichungen q̇i = ∂H ∂ pi ṗ i = − ∂H ∂ qi i = 1,... , f sind die kanonischen oder Hamilton'schen Gleichungen. Die kanonischen Gleichungen sind 2f Differenzialgleichungen 1. Ordnung und völlig äquivalent zu den f Differenzialgleichungen 2. Ordnung (Lagrange-Gleichungen 2. Art). Bewegung eines Teilchens in einem Potenzial U(x,y,z,t): 2 m ̇r m 2 L = −U r , t = ẋ ẏ 2 ż 2 −U x , y , z , t 2 2 Die verallgemeinerten Impulse sind px= ∂L = m ẋ , ∂ ẋ p y = m ẏ , p z = m ż Die Hamiltonfunktion lautet: 3 2 2 2 p p p m p H q , p ,t = ∑ q̇i p i − L q , q̇ ,t = ∑ i pi − x y z U r , t = 2 m m m i=1 i= x , y , z m 2 2 2 2 p x p y p z p = U r ,t = U r , t 2m 2m 77 Die kanonischen Gleichungen für die x-Koordinate lauten: ∂H ∂U ṗ x = − = − , ∂x ∂x px ∂H ẋ= = ∂ px m Die Ausdrücke für die y- und z-Koordinate sind ähnlich, so dass die kanonischen Gleichungen in Vektorform zusammen gefasst werden können. ̇p = −grad U r , t , ̇r = p m Ableiten des zweiten Ausdruckes und einsetzen des Ergebnisses in den ersten gibt ̈r = ̇p m m ̈r = −gradU r , t Die Äquivalenz mit den Lagrangegleichungen bzw. den Newtonschen Axiomen ist hoffentlich offensichtlich. 78 Energieerhaltung: dH d = dt dt ∑ f i=1 d pi q̇i − L = dt f ∂L ∂L ∂H q̇ − L = − = ∑ ∂ q̇ i ∂ t ∂t i=1 i Wenn L nicht explizit von der Zeit abhängt, ist der Klammer-Ausdruck konstant (siehe 4.1. Homogenität der Zeit). Wenn die kinetische Energie nur quadratisch von den Geschwindigkeiten q̇i abhängt f f ∑ ∂∂ q̇L q̇i = ∑ mi q̇2i = 2T i=1 i=1 f mi 2 q̇i i=1 2 T =∑ Dann ist die Hamiltonfunktion H = 2T - L H q , p , t = T U gleich der Energie. Wenn die Koordinaten kartesisch sind und das Potenzial nicht von den Geschwindigkeiten abhängt, hat die Hamiltonfunktion die obige einfache Form als Summe von kinetischer und potenzieller Energie, im allgemeinen Fall gilt dieser Zusammenhang nicht. 79 4.3. Phasenraum Die Angabe von 2f Werten qi ,... , qf und p1 , ... , pf legt den Zustand eines Systems zu einer bestimmten Zeit fest. Wir ordnen nun jedem Zustand einen Punkt in einem abstrakten, 2f-dimensionalen Raum zu, der durch die Größen qi und pi aufgespannt wird. Dieser Raum wird Phasenraum genannt. Die zeitliche Entwicklung eines Systems wird durch eine Kurve im Phasenraum dargestellt. Beispiel: linearer harmonischer Oszillator p 2 p k H x , p = x2 2m 2 pmax xmax x 80 Da die Energie erhalten bleibt H(x, p) = E = const. 1 k 2 p2 x =1 2m E 2E ist eine Ellipse im Phasenraum. Die Halbachsen der Ellipse sind 2 a = 2E k b = 2 m E 2 x y 2 = 1 2 a b Das Phasenraumvolumen ist gleich der von der Kurve H(q, p)=E eingeschlossenen Fläche. Für die Ellipse des harmonischen Oszillators erhalten wir 2E 2 E V PR E = ∬ dq dp = a b = = k / m H q , pE 81 4.4 Poissonklammer Wenn ein System durch qi und pi bestimmt ist, kann eine beliebige physikalische Größe nur von diesen Variablen und der Zeit abhängen. Zwei physikalische Größen F = F q1 , , q f , p1 ,, p f ,t K = K q1 ,, q f , p1 ,, p f ,t seien gegeben. Wir definieren die Poissonklammer in der Form f {F , K } = ∑ i =1 ∂F ∂K ∂F ∂K − ∂ qi ∂ pi ∂ pi ∂ qi Eigenschaften: {F , K } = − { K , F } {F , F } = 0 82 Im Hamiltonformalismus sind q und p unabhängige Variablen ∂ pi ∂ qi = = ij ∂ pj ∂qj Damit erhalten wir z. B. ∂ qi ∂ pi = =0 ∂ pj ∂qj ∂ qi ∂ pi = =0 ∂t ∂t { qi , q j } = { pi , p j } = 0 { pi , q j } = − ij Wenn wir in der Poissonklammer für K=qj oder K=pj einsetzen, erhalten wir ∑ f {F ,q j} = ∑ i=1 f {F , pj} = i=1 f ∂ F ∂qj ∂F ∂qj ∂F ∂F − =−∑ ij = − ∂ qi ∂ pi ∂ pi ∂ qi ∂ pj i=1 ∂ p i f ∂ F ∂ pj ∂ F ∂ pj ∂F ∂F − =∑ ij = ∂ q i ∂ pi ∂ pi ∂ qi ∂qj i=1 ∂ q i 83 Die vollständige Zeitableitung einer beliebigen physikalischen Größe F(q,p,t) ist f dF ∂F ∂F = ∑ q̇i dt ∂t ∂ q i=1 i ∂F = {F , H } ∂t f ∑ ∂∂ Fp i =1 ṗi i unter Ausnutzung der kanonischen Gleichungen. Wenn F nicht explizit von der Zeit abhängt, dann ist diese Größe eine Erhaltungsgröße, falls die Poisson-Klammer mit H verschwindet. z. B. F=H dH ∂H ∂H = {H , H } = dt ∂t ∂t Falls H nicht explizite von der Zeit abhängt, folgt die zeitliche Konstanz von H, d.h. die Energie des Systems bleibt erhalten. 84 4.5 Hamilton-Jacobi-Gleichung Durch Variablentransformation (q, p) -> (Q,P) lässt sich eine neue Hamiltonfunktion H' finden, für die gelten soll: ∂ W q , Q ,t ≡0 ∂t ∂W q ,t ∂ W q , t ∂ W q , t H q 1 , , q f , ,, ,t =0 ∂ q1 ∂qf ∂t H ' Q , P , t = H q , p , t Für die tatsächliche Bahn entspricht die Größe W der Wirkung. Die HamiltonJacobi-Gleichung ist eine partielle DGL 1. Ordnung für die Funktion W. Sie kann ebenso wie die Lagrange-Gleichungen oder Hamiltonschen Gleichungen als Grundgleichung für die Bewegung mechanischer Systeme aufgefasst werden. Allerdings dient die Hamilton-Jacobi-Gleichung weniger zur Lösung von konkreten mechanischen Bewegungen, sondern zeigt Beziehungen zwischen Mechanik, Optik und Quantenmechanik. 85