2 Unsere Sinne Lärm und Stress im Alltag; Reklamen und markante Farbeindrücke, so weit das Auge reicht – unsere sensorischen Empfindungen werden beständig stark beansprucht, so stark, dass das Singen der Vögel, der Duft des erwachenden Frühlings oder eine angenehme Brise auf der Haut oft gar nicht mehr in unser Bewusstsein vordringen. Obwohl wir aus der physiologischen Forschung bereits vieles über Sinnesleistungen beziehungsweise Krankheiten wissen, ist deren Erforschung längst nicht abgeschlossen. Grund genug, das Thema in dieser Ausgabe weiter zu vertiefen und gegebenenfalls neu zu entdecken. Den ganzen Tag empfinden wir über Auge, Ohr, Haut, Mund und Nase unzählige Reize, die es zu sortieren und zu verarbeiten gilt. Allerdings werden Eindrücke wie zum Beispiel Rosenduft oder Sonnenuntergang nur dank der „Verarbeitungsstation“ Gehirn wahrgenommen. Somit wird jenes Bild geschaffen, das jeder von uns ganz individuell für sich allein entwirft. Inzwischen können Wissenschaftler recht klar darstellen, was genau passiert, wenn wir sehen, hören, fühlen, schmecken und riechen. Vereinfacht gesagt treffen Informationen in Form von Reizen aus der Umwelt ein, die zunächst von speziellen Zellen und Rezeptoren der Sinnesorgane empfangen und dann in bioelektrische Signale umgewandelt werden. Diese Signale werden an die zentralen Verarbeitungsstellen des Gehirns weitergeleitet und dort in Wahrnehmungen zusammengesetzt. Der Wahrnehmungsprozess unseres Körpers arbeitet ständig auf Hochtouren, um uns die Welt in unserem individuellen Bild erscheinen zu lassen. Jedes einzelne der fragilen Sinnesorgane funktioniert mit einer Präzision, die allzu leicht aus dem Takt geraten kann, und uns dann in eine andere Welt projiziert, die wir nur mehr leise oder gar nicht hören, die wir nicht mehr riechen oder schmecken – manchmal nur temporär, schlimmstenfalls sogar für immer. Die Sinnesorgane stellen demnach eine wesentliche Voraussetzung für unser körperliches und psychisches Wohlbefinden dar. Die Fortschritte in der Medizin und in der Forschung spielen eine immer wichtigere Rolle bei der Prävention und Behandlung von Sinnesstörungen, und tragen somit zur Verbesserung unserer Lebensqualität bei. Die praktische Anwendung immer besserer Schutzmaßnahmen, Behandlungsmethoden sowie Hilfsmittel unterstreicht die Errungenschaften auf diesem Gebiet. Wichtiger noch ist für viele Menschen die Perspektive auf zukünftige Entwicklungen und die damit verbundenen Hoffnung auf Wiederherstellung der Wahrnehmungskapazität durch ihre Sinnesorgane. Robert THEISSEN Generaldirektor „Stëftung HËLLEF DOHEEM“ Ich wünsche Ihnen, dass Sie bei der Lektüre der Texte und beim Betrachten der Bilder dieser Ausgabe einige neue und interessante Erkenntnisse erlangen. 3 Die Welt unserer Sinne “ Die Wahrnehmungen, Empfindungen und Eindrücke, die ein Mensch jeden Tag entdeckt, gestalten seine persönliche, innere Welt und verleihen seinem Leben einen Sinn. Alles, was wir wahrnehmen und erkennen, nehmen wir über unsere Sinne auf. Mit ihnen lernen wir die Welt, die Menschen und uns selbst als Individuum kennen. Alle Informationen müssen, bevor sie zu unserem Gehirn gelangen, immer durch eines unserer Sinnesorgane aufgenommen werden. Diese verschiedenen Reize, die uns von der Außenwelt geliefert werden, werden interpretiert und hinterlassen ihre Spuren. Die Sinnesorgane sind also sowohl eine offene Tür nach außen, als auch eine Reise zum Inneren unseres Körpers. Die Wahrnehmungen, Empfindungen und Eindrücke, die ein Mensch jeden Tag entdeckt, gestalten seine persönliche innere Welt und verleihen seinem Leben einen Sinn. Ein Leben, erfüllt mit Erinnerungen, Erfahrungen, Beurteilungen und Schätzungen, die uns durchs Sehen, Hören und Empfinden geformt haben, und bis zum Ende unseres Leben formen werden. Eine Welt von vitaler Wichtigkeit, da sie die Säule unserer Persönlichkeit und unserer Existenz ist. Physiologisch spricht man von einem Sinnesorgan. Ein Organ, das Informationen in Form von Rei­zen aus der Umwelt auf­nimmt, diese in elektrische Im­pulse umwandelt, entlang der Nervenfasern an unser Gehirn weiterleitet und dann in Wahrnehmungen umwandelt. Die Umwandlung der Reize wird von den Rezeptoren (Sinneszellen, die man mit biologischen Sensoren vergleichen kann) des Sinnesorgans vollzogen. Diese Umwandlung wird durch chemische und/oder physikalische Prozesse bewerkstelligt. 4 Die Welt unserer Sinne Als Sinnesorgan bezeichnet man: Man spricht auch vom ‚Sechs­ ten Sinn‘. Dieser bezeichnet die Fähigkeit, Dinge wahrzuneh- das Auge (visuelle Wahrnehmung) das Ohr (auditive Wahrnehmung) den Mund (gustatorische Wahrnehmung) die Nase (olfaktorische Wahrnehmung) und die Haut (haptische Wahrnehmung) men, die nicht mit den anderen Sinnesorganen aufgenommen werden können. Diese wird auch als Psi-Fähigkeit (Telepathie, Hellsehen, Präkognition) bezeichnet. 5 Die Haut “ Haptik bedeutet aktives Erfühlen Als haptische Wahrnehmung (griech.: haptikos = greifbar) bezeichnet man das aktive Erfüh­ len von Größe, Konturen, Ober­ flächentextur, Gewicht usw. eines Objektes durch Integration aller Hautsinne und der Tiefensensibilität. Die Gesamtheit der haptischen Wahrnehmungen erlaubt es dem Gehirn, mechanische Reize, Temperaturreize und Schmerz zu lokalisieren und zu bewerten. Die Sinne der haptischen Wahr­ nehmung beim Menschen sind: Taktile Wahrnehmung (lateinisch: tangere = berühren) nennt man das Erkennen von Druck, Berührung und Vibratio­ nen auf der Haut. Diese Kompo­ nente der haptischen Wahrnehmung nennt man auch Ober­ flächensensibilität. Zur Oberflächensensibität zählen auch die Temperatur- und Schmerzwahrnehmung. Sie steht damit der Tiefensensibilität gegenüber. Kinästhetische Wahrnehmung, Tiefensensibilität oder Proprio­ zeption (lateinisch proprius = eigen + recipere = aufnehmen) So bezeichnet man die Wahrnehmung der Reize, die nicht durch die Außenwelt, sondern aus dem eigenen Körper stammen, auch Eigenwahrnehmung des Körpers genannt. Man unterscheidet: 8Lagesinn (Haltung des Körpers im Raum und Position der Gelenke); 8Kraftsinn (Spannung der Muskeln und Sehnen); 8Bewegungssinn oder Kinästhetik (Bewegungs- Empfindungen und Richtungen). Temperaturwahrnehmung So bezeichnet man die Unterscheidung der Qualität von Wärme und Kälte. Beide dienen der Thermoregulation, also der Aufrechterhaltung 6 Die Haut der Körpertemperatur, und da­ mit dem Schutz vor Überhitzung oder Unterkühlung. Schmerzwahrnehmung Der Schmerz ist eine komplexe Sinneswahrnehmung, deren Abhängigkeit sehr stark vom seelischen Empfinden abhängt. Die Förderung der haptischen Wahr­nehmung spielt eine wichtige Rolle bei Menschen mit beeinträchtigter Bewegungskoordination, beeinträchtigten Be­wegungsabläufen, Bewusstseinsstörungen, Demenz und anderen Erkrankungen. Durch basale Stimulation wird der „Körperschmerz“ dieser Menschen ständig durch Stimulationen aktualisiert und erhalten. Die Haut Die Haut ist das größte Sinnes­organ des Menschen. Die Hautfläche eines erwachsenen Menschen beträgt durchschnittlich zwei Quadratmeter und kann vier bis zehn Kilogramm wiegen. Sie ist eine wasserdichte, feste, gepolsterte Schicht, die vor Hitze, Kälte, Sonne, mechanischen Einwirkungen und Keimen schützt. Aufbau Die Oberhaut ist aus mehreren Zellschichten zusammen- gesetzt. Ihre unterste Schicht nennt man Mutterzellschicht oder Basalzellage. Hier entstehen durch kontinuierliche Teilungsvorgänge immer neue Zellen. Sie wandern an die Oberfläche der Haut, sterben ab und werden zu kleinen, kaum sichtbaren Hornschuppen. Auf diese Weise „häuten“ wir uns ständig; die Haut erneuert sich kontinuierlich. Eine Zelle existiert vier Wochen lang, bevor sie an der Hautoberfläche abgestoßen wird. Die Oberhaut passt sich an die darunterliegende Lederhaut exakt an. So entstehen verzahnte Furchen. Am deutlichsten sind solche Furchen bei einem Fingerabdruck zu erkennen. Die mittlere der drei Hautschichten ist die Lederhaut (Dermis), durchsetzt von vielen Schweiß-, Talg- und Duftdrüsen, Haarfollikeln, Blutgefäßen und Sinneszellen. Mit diesen Sinneszellen ertasten wir die Umwelt. Unsere Haut (Cutis) ist gleichzeitig stabil und elastisch. Die Ursache dafür liegt in den Faserproteinen Kollagen und Elastin, aus denen die Lederhaut zu einem großen Teil zusammengesetzt ist. Im Laufe des Lebens zerfallen diese Faserproteine: Wir bekommen Falten und Runzeln. Unterhaut besteht aus Fett­ ge­we­be und ist in ihrer Dicke von der Energie - also von un- 7 Die Haut serer Ernährung - abhängig. Bei einem gut genährten Menschen hält sie Fettreserven bereit, dient damit als Wasserspeicher, sowie „Polsterkissen“ und schützt vor Unterkühlung. Die Wirkung der Sonne auf die Haut Wird unsere Haut intensiver Sonnenbestrahlung ausgesetzt, so bildet sich ein braunes Pigment, das Melanin. Seine Aufgabe ist es, die Haut vor den ultravioletten Strahlen zu schützen. So läßt sich die variierende Hautfarbe von Menschen in den unterschiedlichen Regionen der Welt erklären. Wo die Sonne länger und intensiver strahlt beispielsweise in Afrika - hat sich über viele Generationen hinweg ein dunklerer Hauttyp durchgesetzt als etwa in den klimatisch gemäßigteren europäischen Breiten. Je höher der Anteil des Pigments Melanin, das für die Hautfarbe zuständig ist, desto besser ist die Haut vor den Einwirkungen der Sonne geschützt. Sommersprossen und Leberflecken sind das Resultat von punktuellen Pigmentanhäufungen. Die Haut, „Spiegel der Seele“ Erröten, erblassen und die Haare sträuben, auch das kann die Haut. Sie ist so auch Teil unseres Gefühlsempfindens. Man sagt auch oft, die Haut sei „der Spiegel der Seele“. Über Duftstoffe, Pheromone genannt, sendet die Haut außerdem Geruchsbotschaften. Die Haut, eine Berührung Eine Berührung der Haut ist oft eine sinnliche Erfahrung. Jeder Mensch braucht Berührung. Das ist ein Grundbedürfnis, also genauso wichtig wie Atmen, Essen oder Trinken. Ohne Berührung stirbt der Mensch zwar nicht unmittelbar, aber er verkümmert langsam, zuerst emotional und später körperlich. Eine Form von Berührung ist die Massage: über die Hände wird ein körperlicher Kontakt aufgebaut. Der Haut-zu-Haut-Kontakt ermöglicht die Wahrnehmung und später eine Entspannung des eigenen Körpers. Die Massage bedeutet aber auch Berührung der Innenwelt. Durch eine achtsame, respektvolle und liebevolle Berührung des Körpers kann eine Tür aufgehen zu unseren Emotionen und Gefühlen! Der Körper wird getragen, die Seele wird berührt. Die Erfahrung, sich einem anderen Menschen anvertrauen zu können und angenommen zu werden, ist so elementar, dass der Mensch, ob gesund oder pflegebedürftig, Nähe und Geborgenheit erspüren kann. 8 Die gustatorische Wahrnehmung Die Zunge und ihre Geschmacksknospen Ein echtes Allround-Talent im Mund ist dabei die Zunge: sie artikuliert, schmeckt, tastet, prüft und warnt uns vor ungenießbarer oder gar giftiger Nahrung. Ob küssen oder kauen, schmecken oder sprechen, fühlen oder verdauen – in unserem Mund laufen viele wichtige Körperfunktionen zusammen. Der Mund Anatomisch gesehen ist der Mund mit seiner Mundhöhle schlicht der oberste Teil des Verdauungstrakts, über den die Nahrung aufgenommen wird. Neben der reinen Verdauungsfunktion, also dem Kauen, lassen sich noch wesentlich mehr Mundaktivitäten beobachten: kommunikative Funktion, Atmung, mimische Funktion, Einsatz als „dritte Hand“, und natürlich ganz wichtig, der Mund ist zum Küssen da. Ausserdem stellt die Zunge zusammen mit Mund und Rachen einen Schalltrichter her, der für das Sprechen unerlässlich ist. Die von den Stimmbändern erzeugten Geräusche und Klänge werden erst dort zu Sprechlauten moduliert. Die Mundhöhle Die normale und gesunde Mund­ höhle besteht aus verschiedenen Mikroorganismen. Sie sind für bestimmte Stoffwechselvorgänge zuständig und verhindern die Besiedelung mit Krankheitserregern. Doch nicht alle Mikroorganismen sind harmlos. Im gesunden Körper besteht eine ausgeklügelte Balance zwischen „gesunden“ und „krankheitserregenden“ Keimen. Antibiotika, Stress oder falsche Ernährung können jedoch das Gleichgewicht zu Gunsten der Krankheitserreger verschieben. Dann können Mundgeruch oder Krankheiten die Folge sein. Die Nahrung wird im Mund durch die Zunge transportiert, damit sie gut durchgekaut und eingespeichelt werden kann. Die Zunge spielt beim Schlucken eine wichtige Rolle, indem sie den Speisebrei vom Mund in den Rachen schiebt. Zusätzlich zum Sprechen, Schlucken und zum Kauen dient sie als Geschmackssinnesorgan. Der eigentliche Geschmackssinn beschränkt sich auf die Erfassung der bekannten Grundgeschmacksarten: süß, sauer, salzig, bitter. Eine fünfte Qualität ist „umami“ (aus dem Japanischen: „wohlschmeckend“), der durch Glutaminsäure, wie Geschmacksverstärker Natriumglutamat enthalten, ausgelöst wird und einen Teil des typischen Fleischgeschmacks (eiweißhaltige Nahrung) vermittelt. Für diese Grundgeschmacksrichtungen sind eigene Geschmacksrezeptoren auf der Zunge nachgewiesen. Die Existenz weiterer Geschmacksqualitäten wie fettig, alkalisch oder metallisch ist umstritten. 9 Die gustatorische Wahrnehmung Die eigentlichen Organe, die für die Wahrnehmung der fünf Geschmacksrichtungen verantwortlich sind, sind die über die Zunge verteilten Papillen mit den Geschmacksknospen. Sie enthalten jeweils 30 bis 80 Rezeptorzellen, welche den „Geschmack“ in elektrische Reize umwandeln. Diese Reize wandern über Nervenfasern in der Zunge zum Gehirn. Nebenbei lösen die Geschmackssensoren Reflexe im oberen Verdauungstrakt aus. Der Verdauungstrakt wird somit auf die bevorstehende Arbeit vorbereitet. Die Geschmacksknospen liegen an den Randzonen der Zunge. Im Zentrum der Zunge, dem Zungenrücken, sind praktisch keine Geschmacksrezeptoren zu finden. Die Zahl der Ge- schmacksknospen nimmt mit steigendem Lebensalter ab und infolgedessen sinkt unsere Geschmacksfähigkeit mit zunehmendem Alter. Schon jenseits des 30. Lebensjahres lässt die Fähigkeit zu schmecken nach. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Zahl der vorhandenen Geschmacksknospen von 10.000 beim Säugling auf ca. 2000 beim Erwachsenen zurückgeht. Der Geschmackssinn ist bei Säuglingen bereits vollständig entwickelt. Allerdings muss der Säugling in den ersten Lebensjahren noch „üben“, um die verschiedenen Geschmacksrichtungen zu differenzieren. Bei Neugeborenen ist eine Präferenz für die Geschmacksqualitäten süß und umami bereits vorhanden, während gleichzeitig eine angeborene Aversion gegen Bitteres und Saures vorliegt, die sich in einem Abwehrreflex ausdrückt. Für Salzgeschmack wird erst von Heranwachsenden eine gewisse Präferenz entwickelt. Säuglinge zeigen darauf im Normalfall keine ausgeprägte Reaktion. Eine falsche Theorie bezüglich der Zunge läuft seit über 100 Jahren durch die Lehrbücher: Die Wahrnehmung der verschiedenen Geschmacksrichtungen solle auf bestimmte Zonen der Zunge begrenzt sein. Süßes solle angeblich mit der Zungenspitze, Salziges und Saures am Rand und Bitteres am hinteren Ende der Zunge zu schmecken sein. Mittlerweile ist bekannt, dass die unterschiedlichen Geschmacksqualitäten von allen geschmacksempfindlichen Teilen der Zunge wahrgenommen werden. Die Unterschiede zwischen den Zungenbereichen bezüglich der Sensitivität für einzelne Qualitäten sind beim Menschen nur gering. Der Geschmackssinn, ein Geschmackserlebnis Innerhalb der menschlichen Sinne ist der Geschmackssinn (auch Gustatorik, Schmecken oder gustatorische Wahrnehmung) am 10 Die gustatorische Wahrnehmung wenigsten ausgebildet und differenziert. Angesichts der Tatsache, dass wir nur zwischen fünf Geschmacksqualitäten unterscheiden können, trägt dieser Sinn in erstaunlichem Umfang zur Lebensqualität und Lebensfreude bei. Der Geschmackssinn dient dazu, Essbares von Ungeniessbarem zu unterscheiden. Er kontrolliert die Qualität und Bekömmlichkeit der Nahrung und mit der Nahrungsaufnahme zusammenhängende reflektorische Vorgänge (Speichelsekretion, Schutzreflexe wie Husten oder Würgen, etc.). Die Wahrnehmungsschwelle für Geschmack ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Die Qualität des Geschmackssinns ist, wie bei den anderen Sinnen auch, von Erbgut, Umwelt und Le­bensweise abhängig. Zum Geschmackserlebnis trägt mehr als nur der Geschmackssinn bei. Allein mit der Zunge schmecken Speisen und Getränke fade, und das Essen macht keinen Spaß, wenn man es nicht auch riechen kann. Geschmacks- und Geruchssinn müssen also zusammenwirken, damit ein harmonisches Ganzes dabei herauskommt. Das wird einem besonders gut verdeutlicht durch das stark eingeschränkte Geschmacksempfinden bei Schnupfen. Beim Kauen und vor allem beim Schlucken gelangen Aromastoffe über den Rachen in die Nasenhöhle und lösen Gerüche aus. Hinzu kommen der Tastsinn, der die Konsistenz der Speisen von knusprig bis cremig bewertet, sowie das Temperaturempfinden. Unter den verschiedenen Rezeptor-Typen spielen die Bitter-Rezeptoren eine besondere Rolle. Im Gegensatz zu allen anderen Rezeptoren sind sie überlebenswichtig, denn sie erkennen giftige Substanzen in der Nahrung, vor allem in Pflanzen und Pilzen. Die meisten natürlichen Giftstoffe weisen nämlich einen ausgeprägten Bitter-Geschmack auf. Dieser Rezeptortyp ist wesentlich sensibler als alle anderen: im Vergleich zu den SüßRezeptoren ist er um den Faktor 100.000 empfindlicher! Nur wenn die Bitter-Rezeptoren keinen Alarm schlagen, schiebt die Zunge die Nahrung wie ein automatisches Fördersystem portionsweise in Richtung Rachen. Durch diese Kontrolle schützt sich der Körper selbst, indem vermeintliche Gifte früh erkannt werden. Bitterstoffe stecken aber auch von Natur aus in vielen genießbaren Lebensmitteln, in anderen entstehen sie erst während der Verarbeitung. Und das ist für die Lebensmittelindustrie 11 Die gustatorische Wahrnehmung immer wieder ein Problem. Der Bittergeschmack muss dann entweder überdeckt werden – mit Zucker, Salz oder Fett. Oder die technischen Prozesse müssen vom Hersteller verfeinert werden. „Scharf “ wird zwar als Ge­ schmacks­­­empfindung qualifiziert, ist aber genau genommen ein Schmerzsignal der Nerven bei Speisen. So enthält Chili das Alkaloid Capsacain, das die Nerven stimuliert und die Durchblutung anregt. Die Geschmacksverstärker Geschmacksverstärker sind chemisch in der Lage, bestimmte Geschmacksrichtungen in ihrer Intensität zu verstärken oder auch einige Geschmacksrichtungen zu überlagern, um damit z.B. Geschmacksfehler zu korrigieren. Geschmacksverstärker werden vor allem in asiatischen Essen und in Fertiggerichten verwendet, da sie deren Geschmack besonders intensivieren können. Von Natur aus ist besonders viel Glutamat zum Beispiel in reifen Tomaten, Fleisch, Käse und in der Muttermilch. Bei empfindli- chen Menschen kann Glutamat zu dem so genannten „ChinaRestaurant-Syndrom“ führen. Symptome sind Herzrasen, Gesichtsrötung, Kopfschmerz und Benommenheit. Andere Nebenwirkungen sind beim Menschen nicht bekannt. Die gesetzliche Möglichkeit, Fertig-Lebensmitteln Geschmacksverstärker zuzusetzen, wurde eingeschränkt, damit es nicht zu einer unnatürlichen Verschiebung des Aminosäurengleichgewichts kommt. Unser Geschmackssinn wird immer mehr durch Zusatzstoffe wie künstliche Aromen beeinträchtigt. Diese Aromen spielen in der Lebensmittelindustrie eine ganz wichtige Rolle. Sie sind dazu gedacht, Lebensmittel geschmacklich zu verfeinern, damit sie intensiver schmecken. Viele mögen sie, aber unser Geschmackssinn wird dadurch in die Irre geführt, unser Körper durcheinander gebracht. Ernährungswissenschaftler kritisieren immer häufiger, dass der Geschmackssinn durch beigesetzte Aromen verarmt. Künstlicher Geschmack ist süßer und intensiver als frisches Obst. Kinder können deshalb eine Art Abhängigkeit entwickeln: Ihre Geschmacksprägung ist mit drei Jahren abgeschlossen. Danach ist es schwierig, sie an frisches Obst und Gemüse umzugewöhnen. 12 Die versteckten Möglichkeiten des Gehörsinns “ Hören ist die erste Sinneswahrnehmung. Der akustische Sinn wird bereits in der 22. Schwangerschaftswoche ausgebildet. Zu Unrecht wird der Gehörsinn oft zu Gunsten der anderen Sinne ein wenig vernachlässigt. Dabei ist der akustische Sinn, wie er auch noch genannt wird, bereits ab der 22. Schwangerschaftswoche ausgebildet und Hören ist somit unsere erste Sinneserfahrung im Mutterleib. Während des Sterbeprozesses bleibt der Gehörsinn am längsten erhalten. Zugleich ist das Gehör beim Sterben auch der letzte Sinn, der verschwindet. Zugang zu unseren Mitmen­ schen über das Ohr finden Der akustische Sinn ist ein we­s entlicher Tragpfeiler der menschlichen Kommunikation. Über das Gehör können wesentlich komplexere Datenmengen verarbeitet werden als beispielsweise über den Sehsinn. Nicht umsonst ziehen es viele Menschen vor Radio zu hören, anstatt Zeitung zu lesen. Ist die auditive Wahrnehmung beeinträchtigt, sei es durch Schwerhörigkeit oder gar Gehörlosigkeit, so kann dies unweigerlich Auswirkungen auf viele Bereiche des Menschen haben, wie in etwa sein Selbstwertgefühl (fühlt sich nicht mehr 13 Die versteckten Möglichkeiten des Gehörsinns respektiert) oder das Ausmaß seiner sozialen Kontakte (zieht sich aus der Gesellschaft anderer Menschen zurück). Hören als individueller Prozeß Jeder von uns wahrgenommene Ton, egal ob Wort oder Musik, ist eigentlich nichts anderes als rhythmisch bewegte Luft, die auf unser Trommelfell stößt. Im Ohr werden diese Schwingungen in Nervenimpulse umgewandelt und ans Gehirn weitergeleitet, wo die von uns wahrgenommenen Töne oder Wörter entstehen. Der Mensch kann allerdings akustische Ereignisse nur innerhalb eines bestimmten Grenzbereichs wahrnehmen. Wie bei allen Sinnen ist dieser Grenzbereich individuell ausgeprägt und auch beeinflussbar, etwa durch Erkrankungen wie z.B. Tinnitus (Hörgeräusche, Ohrensausen) oder durch musikalische Schulung. Deshalb ist es wichtig zu respektieren, dass Töne, die wir selber als angenehm empfinden, für andere Mitmenschen schmerzhaft sein können. Musik als Schlüssel zum Kontakt Neben der Sprache kommt auch der Musik im Zusammen- hang mit dem auditiven Sinn eine große Bedeutung zu. Musik spielt seit jeher eine große Bedeutung im Leben der Menschen. Außerdem hat Musik auf die Psyche der Tiere eine positive Wirkung. Das älteste Instrument ist eine 35.000 Jahre alte Flöte aus Schwanenknochen. Viele Wissenschaftler sind der Ansicht, dass erst die Musik die Menschen zu sozialen Wesen gemacht hat, da Musik ein sehr wichtiges menschliches Ausdrucks- und Kommunikationsmittel darstellt. Musik verbindet Menschen durch gemeinsames Musizieren oder die Vorliebe für einen Musikstil. Mittels Musik ist es möglich Emotionen aus- zudrücken, wie beispielsweise durch einen Hochzeits- oder Trauermarsch. Musik als Heilkraft Die magische und mystische Wirkung der Musik wurde bereits sehr früh in der Menschheitsgeschichte mit Heilung verbunden. Im Alten Testament wird vom König von Israel erzählt, der den jungen David an seinen Hof gerufen hat, damit dieser mit seinem Harfenspiel seinen Schwermut lindern sollte. Viele Kulturen haben seit jeher Musik benutzt, um in einen tranceartigen Zustand zu verfallen, sei es zur Götterverehrung oder aus heilerischen Zwecken. 14 Die versteckten Möglichkeiten des Gehörsinns Bis 1550 gehörte Musik sogar zu den Fächern des Medizinstudiums. Die auditive Heilkraft wurde auf breiter Basis erst wieder nach dem Zweiten Weltkrieg wiederentdeckt, und findet sich heute in den unterschiedlichen Richtungen und Schulen der Musiktherapie wieder. Die Musiktherapie basiert auf Erkenntnissen darüber, wie musikalische Faktoren sich auf das menschliche Erleben auswirken (sowohl körperlich, vegetativ, psychisch als auch spirituell), und wie Musik dazu genutzt werden kann, um die Menschen zu heilen (kurativ), die Gesund- heit wiederherzustellen (rehabilitativ) oder zu schützen (präventiv). Die positive Wirkung der Musik auf unser Gehirn Aktuelle Studien haben gezeigt, dass Musik fast das gesamte menschliche Gehirn anspricht. Wenn der Mensch Musik hört oder ausübt, sind etliche weitverteilte Areale im Gehirn aktiv. Daraus resultiert auch die vielseitige Anwendbarkeit der Musik für unser Wohlbefinden. Musik aktiviert das limbische System im Gehirn, also jenen Teil, der unter anderem für die Verarbeitung der Emotionen zuständig ist. Musik ermöglicht also einen unzensierten Zugang zu den Emotionen. Musik favorisiert auch die Neubildung von Nervenzellen im Hippocampus, einem der ältesten Teile unseres Gehirns, der zudem eng mit der Verarbeitung von Erinnerungen verbunden ist. Das Hören von geliebter Musik aktiviert aber auch noch jene Hirnareale, die für die größten Glücksgefühle zuständig sind, nämlich unser sogenanntes Belohnungszentrum. Dies führt 15 Die versteckten Möglichkeiten des Gehörsinns Gesang der Mutter weitaus besser besänftigen kann, als nur die einfache verbale Stimme. Musik als zusätzliche Intervention in der alltäglichen Pflege Der berühmte US-Neurologe Oliver Sacks sagt nicht zu Unrecht: „Musik wirkt wie ein Schrittmacher von außen“ (2008). Es gibt keinen stärkeren Reiz für unser Gehirn als die Musik. auch bei gesunden Menschen zu besseren Denkleistungen. Eine bekannte Melodie erzeugt deutlich mehr Reaktionen der Hirnzellen als nicht bekannte Töne oder Musik. Diese eben genannten Erkenntnisse werden beispielsweise gezielt in der Arbeit mit dementen Menschen angewandt. Bekannte Musik kann bei der dementen Person Emotionen und Erinnerungen aus vielen blockiert geglaubten Bereichen des Gehirns aktivieren. Das Herausholen alter Erinnerungen kann eine vertraute und angenehme Atmosphäre schaffen und Bewegungen auslösen. Selbst bewegungseingeschränkte Menschen wiegen beim Hören von Musik den Kopf oder schlagen mit der Hand den Takt auf den Tisch. Musiktherapeutisch wird mittlerweile auch mit vielen Patienten der folgenden Krankheitsbilder gearbeitet: Parkinson (beispielsweise beim Gehtraining), Multiple Sklerose, Schlaganfallpatienten (zur Regeneration bestimmter Hirnareale) uvm. Musik wird zudem gezielt in einzelnen Entspannungsverfahren eingesetzt oder einfach nur zum Streßabbau. So hat sich bei Kleinkindern gezeigt, daß der Pflegebedürftige und pflegende Angehörige können Musik auch in ihrem Alltag gezielt nutzen, sei es zur Entspannung, Kräftesammlung, spirituellen Stimulierung oder einfach als gemeinsame Aktivität. Der Schlüssel zum Erfolg liegt lediglich in der richtigen Auswahl der Musik, und hier gibt es nur eine einzige Regel: Hören Sie die Musik, die Ihnen am besten gefällt und in einer Lautstärke unterhalb der Schmerzgrenze. Literaturtipp Sacks, Oliver (2008). Der einarmige Patient. Über Musik und das Gehirn. Rowohlt Verlag: Reinbek. (deutsche Erstausgabe erscheint erst im Mai 2008) Information: Die im Infoblat abgebildeten Personen müssen nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem beschriebenen Thema stehen. Impressum Redaktion und Fotos:___ Herausgeber:_ _______ Infoline:___________ email:____________ Internet:_________ Auflage:_ _______ HËLLEF DOHEEM Stëftung HËLLEF DOHEEM 48a, avenue Gaston Diderich L-1420 Luxembourg 40 20 80 [email protected] www.shd.lu 5.250 Stück Inhalt Nummer 2 / Juni 2008 Editorial_________________________________ 2 Die Welt unserer Sinne_ ____________________ 3 Die Haut_ _______________________________ 5 Die gustatorische Wahrnehmung_ ___________ 8 Die versteckten Möglichkeiten des Gehörsinns__________________________ 12 Impressum_ ____________________________ 16