Von der Subjektivität zur Intersubjektivität - Ruhr

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Ruhr-Universität Bochum
Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik
Von der Subjektivität zur Intersubjektivität
Die Auseinandersetzung von Habermas mit der Subjektivitätsphilosophie
Inaugural-Dissertation
Zur Erlangung des Grades eines
Doktors der Philosophie
vorgelegt von
Dae Seong JEONG
aus Seoul, Republik Korea
1. Gutachter: Prof. Dr. G. Scholtz
2. Gutachter: Prof. Dr. F. Rodi
Bochum, Juni 2003
Inhaltsverzeichnis
I. Zur Aktualität der Fragestellung ……………………………………………………...4
1. Das Prinzip der Moderne und deren Probleme:
die Subjektivität und das Paradox der Rationalisierung ……………………..……….4
2. Gegenwärtige Versuche, das Problem der subjektiven Philosophie
zu überwinden ……………………………………………………………………….12
2.1. Der Übergang zur Postmoderne …………………………………………………..14
2.2. Die Erneuerung des Begriffs der transzendentalen Vernunft ……………………..23
2.3. Die Wende zur Intersubjektivitätstheorie …………………………………………30
II. Der Ausgangspunkt von Habermas: die Weiterführung des Projektes
der Aufklärung um der sittlichen Totalität willen ……..……………………………39
1. Die Bedeutung der Moderne ……………....………………………………………...42
2. Die Bedeutung der Aufklärung ……………………………………………………...48
3. Die Auseinandersetzung mit der subjektivistischen Vernunft ……………………...56
4. Die Auseinandersetzung mit den radikalen Vernunftkritikern ……………………...64
4.1. Die Kritik an der Grammatologie Derridas ……………………………………….64
4.2. Die Kritik an der Archäologie und der Genealogie Foucaults …..………………..72
III. Die Auseinandersetzung von Habermas mit Hegel und
die Ansätze der Idee der Intersubjektivität ..……………………………………….81
1. Die Anliegen des jungen Hegel: die Herstellung der Lebenstotalität ………………82
1.1. Die Kritik des jungen Hegel an der Positivität ……………………………………82
1.1.1. Die Kritik an der positiven Religion …………………………………………….82
1.1.2. Die Kritik an der positiven Moralphilosophie Kants ……………………………91
1.2. Die Kritik des jungen Hegel an der Reflexionsphilosophie ………………………96
1.3. Die Idee der Lebenstotalität beim jungen Hegel ………………………………...101
2. Die Bedeutung des jungen Hegel für die Philosophie von Habermas
- Eine intersubjektivitätstheoretische Interpretation des Begriffs des Lebens ……….111
2.1. Die sozialphilosophische Bedeutung des Lebens beim jungen Hegel …………..112
2.2. Die Idee der Intersubjektivität beim jungen Hegel ………………………………117
1
IV. Die linguistische Wende von Habermas:
der Übergang von der Subjektivität zur Intersubjektivität ..……………………...123
1. Die sprachphilosophische Wende im Habermasschen Denken ...………………….126
2. Die Sprachpragmatik und die Theorie des kommunikativen Handelns …………...138
2.1. Die Sprachpragmatik …………………………………………………………….138
2.2. Die sprachpragmatische Deutung des Handelns ………………………………...143
2.3. Die sprachpragmatische Deutung der Lebenswelt ………………………………151
2.4. Das Grundproblem der Modernisierung der Gesellschaft:
die Kolonialisierung der Lebenswelt ...…………………………………………...159
V. Die Rolle der Vernunft für die Gesellschaft bei Habermas ……………………….169
1. Die Idee der 'Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen' ………………...169
2. Würdigung und Kritik der Habermasschen Theorie………………………...……...184
Zusammenfassung ……………………………………………………………………191
Literaturverzeichnis …………………………………………………………………..209
2
Häufig verwendete Abkürzungen
HWPh = J. Ritter / K. Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der
Philosophie, Basel, Stuttgart.
TkH = J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M.
1987.
PDM = J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne,
Frankfurt/M. 1996.
ND = J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988.
NU = J. Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1996.
VE = J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des
kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1995.
TW = G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, E. Moldenhauer / K.M.
Michel (Hg.), Frankfurt/M. 1986.
GW = G.W.F. Hegel, Gesammelte Werke. Die Rheinisch-Westfälische
Akademie der Wissenschaften (Hg.), Hamburg.
Differenzschrift = G.W.F. Hegel, Differenz des Fichte’schen und
Schelling’schen Systems der Philosophie, in: GW, Bd. 4, Jenaer
Kritische Schriften, H. Buchner / O. Pöggeler (Hg.), Hamburg 1968.
Glauben und Wissen = G.W.F. Hegel, Glauben und Wissen oder
Reflexionsphilosophie der Kantische, Jacobische und Fichtesche
Philosophie, in: GW. Bd. 4. a.a.O.
Naturrechtsschrift = G.W.F. Hegel, Ueber die wissenschaftlichen
Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen
Philosophie,
und
sein
Verhältniß
zu
den
positiven
Rechtswissenschften, in: GW, Bd. 4, a.a.O.
3
I. Zur Aktualität der Fragestellung
1. Das Prinzip der Moderne und deren Probleme:
die Subjektivität und 'das Paradox der Rationalisierung'
Es scheint bei den heutigen sogenannten 'modischen' Philosophien zur wichtigsten
philosophischen Problematik oder zumindest zu einem der wichtigsten Teile für die
Einleitung in jene Philosophie zu gehören, die Modernität zu deuten. Denn sie befassen
sich auf die eine oder andere Weise mit der Problematik der Moderne. Genauer gesagt:
für die einen Philosophen, die sich für die Erhaltung der Moderne aussprechen, nimmt
die (erneute) Deutung der Modernität immer noch einen zentralen Platz in ihrem
Denken ein, während die anderen, welche die Überwindung der Moderne als Ziel haben,
mit einer grundsätzlichen Kritik dieser Moderne anfangen.
Die
Renaissance,
die
Reformation,
die
sogenannte
Wissenschafts-
und
Industrierevolution, die Aufklärung und die Französische Revolution etc. sind typische
Phänomene und Zeichen der 'Moderne'. Anders als die teleologische, d. h. die
metaphysische und theologische Weltkonzeption der Antike und des Mittelalters, nach
der man das Telos des innerweltlichen Seins außerhalb der endlichen Welt sucht, ist
eine
der
augenfälligsten
Charakteristiken
dieses
Zeitraumes
die
Idee
der
Vollkommenheit der Welt bzw. der Natur, wie sie sich z. B. in der Formulierung
Spinozas zeigt: Deus sive natura.
Die Aufhebung des Begriffs des Telos der Natur bedeutet jedoch gleichzeitig die
Entzauberung der Natur. Erst in diesem Zeitraum, in dem die sogenannte
Wissenschaftsrevolution ermöglicht wurde, konnte es zu einer Beherrschung der Natur
im Kontext des "universalistischen Rationalisierungsvorgangs" kommen, in dem die
Natur quantifiziert und mathematisch berechnet werden könne. Damit wurde die Natur
zum Gegenstand der objektiven Darstellung, Forschung und Untersuchung, und der
Mensch ist als Subjekt der wissenschaftlichen Arbeit zum Vorschein gekommen. An die
Stelle des Begriffes der teleologischen 'Vollkommenheit' wurde der Begriff des
'rationalen Fortschrittes' in dem Sinne von Quantifizierung und Mathematisierung
gesetzt. Anders als die 'Antiken', die in einem außer- oder überweltlichen Sein den
letzten Zweck der Welt gefunden hatten, konnten die 'Modernen', die von der
4
Selbständigkeit der Welt sprechen, die ursprüngliche Basis der Wissenschaft niemals in
jener Transzendenz suchen. 1
TPF
FPT
Der Entzauberungsvorgang im Bereich der Natur ist jedoch parallel zu dem
Säkularisierungsprozeß im Bereich der Religion, der Moral sowie der Kultur verlaufen:
Die Reformation setzte an die Stelle des Glaubens an die kirchliche Tradition die
unmittelbare Beziehung des Menschen zu Gott; das Gesetz, das von Gott gekommen
war, hat der Freiheit des Willens den Weg geebnet; bei der modernen Moral geht es um
die Anerkennung der Freiheit des Individuums und die Frage nach dessen
Verpflichtung; die Form der Kunst und deren Inhalt, wie z. B. bei der Romantik,
wurden absolut verinnerlicht. Die Moderne ist also eine Zeit, die ihre Kriterien nicht
von der Außenwelt oder der Vergangenheit übernehmen kann oder darf; vielmehr muß
sie ihre Normen allein aus sich selbst heraus generieren.
Die Erhebung des Ich in der Moderne zum philosophischen Prinzip der Weltdeutung
scheint also notwendig gewesen zu sein. Es ist daher kein Zufall, daß die Moderne das
Cogito in den Vordergrund stellte, um ihre Norm selbst schaffen zu können. In dieser
Hinsicht sagt Lacan über den Begriff des modernen Ich:
"Ich denke, also bin ich (cogito ergo sum), das ist nicht nur die Formel, in der
sich, auf dem historischen Gipfel einer Reflexion auf die Bedingungen von
Wissenschaft, die Verbindung zur Transparenz des transzendentalen Subjekts
von seiner existentiellen Bejahung her konstituiert. Vielleicht bin ich nur
Objekt und Mechanismus [...], sicher aber insofern ich das denke, bin ich –
absolut. Ohne Zweifel haben die Philosophen hier wichtige Korrekturen
angebracht, namentlich daß in dem, was denkt (cogitans), ich mich immer nur
als Objekt (cogitatum) konstituiere. Bleibt, daß durch diese extreme
Läuterung des transzendentalen Subjekts meine existentielle Bindung an
seinen Entwurf unumstößlich scheint zumindest in der Form seiner Aktualität,
und daß 'cogito ergo sum' ubi cogito, ibi sum über jeden Einwand erhaben
ist." 2
TPF
1
FPT
PT
Siehe zur Debatte der Antiken und Modernen H. R. Jauß, Ursprung und Bedeutung der Fortschrittsidee
TP
in der sogenannten 'Querelle des Anciens et des Modernes', in: H. Kuhn / F. Wiedmann (Hg.), Die
Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, München 1964, S. 51ff.
TP
2
PT
J. Lacan, Das Drängen des Buchstabens im Unterbewußtsein oder die Vernunft seit Freud, in: ders.,
Schriften II, N. Haas (Hg.), Olten, Freiburg 1975, S. 41f.
5
Das transzendentale Ich Kants, welcher die von Descartes gestellte Subjektfrage in der
Form des reinsten absoluten Selbstbewußtseins erneut behandelt, besteht in der Struktur
der Selbstbeziehung des Subjekts: Das Ich bezieht sich auf sich als Objekt zurück, um
sich wie in einem Spiegelbild, d. h. 'spekulativ', zu ergreifen. 3 Es ist wohl bekannt, daß
TPF
FPT
Kant diesen reflexionsphilosophischen Gesichtspunkt seinen drei Kritiken zugrundelegt.
Der Geltungsanspruch auf eine Sache soll daher nun nur vor dem obersten Gericht der
Vernunft gerechtfertigt werden. Nachdem die vereinheitlichende Macht der
metaphysischen Substanz, wie z. B. des Einen bei Plotinus oder Gottes bei den
christlichen Philosophen, vergangen ist, wird jedes Vermögen der Erkenntnis, der
moralischen Praxis sowie des ästhetischen Urteils in der Moderne auf eigene
Fundamente gestellt, ohne eine inhaltliche Einheit zwischen diesen Bereichen zu
schaffen, und dadurch versichert sich die kritisierende Vernunft nicht nur ihres eigenen
subjektiven Vermögens, sondern sie übernimmt auch die Rolle eines obersten Richters
gegenüber der Kultur im ganzen.
Auch Hegel sieht "das Große unserer Zeit" 4 in dem Prinzip der Subjektivität. Diesem
TPF
FPT
Prinzip folgen nach seiner Deutung alle Erscheinungen der Moderne wie z. B. die
Religion, die Moral, die Kunst und die Wissenschaft etc.
Neben den Philosophien des deutschen klassischen Idealismus scheinen aber auch fast
alle gegenwärtigen 'modischen' Philosophien, seien es die radikalen Vernunftkritiker
oder die Verteidiger der modernen Vernunft, damit einverstanden zu sein, daß die
Moderne vom Prinzip der Subjektivität beherrscht wird. Heidegger zum Beispiel, einer
der radikalen Subjektivitätskritiker, bestreitet nicht, daß die Subjektivität zum Prinzip
der Moderne erhoben wurde und zur absolut gewissen Grundlage aller Vorstellungen
wurde; mit dem Prinzip der Subjektivität verwandelt sich das Seiende im Ganzen in die
subjektive Welt und die Wahrheit in subjektive Gewißheit. Die Neuzeit bestimmt sich
dadurch, "daß der Mensch Maß und Mitte des Seienden wird. Der Mensch ist das allem
Seienden,
3
TP
PT
d.
h.
neuzeitlich
aller
Vergegenständlichung
und
Vorstellbarkeit
Habermas nennt den Versuch, den Ursprung des Bewußtseins im Selbstbewußtsein oder in der
Subjektivität zu finden und das Selbstbewußtsein mit dem Ich gleichzusetzen, den 'Mentalismus'. Mit
dem Mentalismus meint er zunächst die Bewußtseins- bzw. Subjektsphilosophie seit Descartes. Siehe J.
Habermas, Wege der Detranszendentalisierung. Von Kant zu Hegel und zurück, in: ders., Wahrheit und
Rechtfertigung, Frankfurt/M. 1999, S. 186ff.
TP
4
PT
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: ders., Werke in zwanzig
Bänden, E. Moldenhauer / K. M. Michel (Hg.), Frankfurt/M. 1986 (= TW), Bd. 20, S. 329.
6
Zugrundeliegende, das subjectum." 5 Auch für Foucault ist die Subjektivität das zentrale
TPF
FPT
Prinzip der Moderne. Er betrachtet in einer historischen Untersuchung den als das
Subjekt angesehenen Menschen bloß als eine Erfindung der modernen Zeit, "deren
junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das
baldige Ende." 6 Der Mensch als das Subjekt ist nach ihm keine ursprüngliche Kategorie
TPF
FPT
der Philosophie, sondern nur eine Erfindung.
Die Moderne wird also als eine Zeit betrachtet, die von der Subjektivität, dem
Selbstbewußtsein, der Reflexion oder der Vernunft etc. bestimmt wird. Die Subjektivität
oder die sich auf sich selbst beziehende Vernunft, die mit der Emanzipation von
mythischer, theologischer und metaphysischer Weltbetrachtung in den Vordergrund tritt,
übernimmt die Aufgabe der Synthetisierung von allen gegebenen Objekten oder die der
Weltdeutung, und allein auf Basis dieser Vernunft wird die Freiheit des Menschen und
dessen Fortschritt garantiert. Anders gesagt, die moderne subjektive Vernunft verbreitet
den aufklärerischen Glauben, daß nur die auf der Vernunft beruhenden Urteile und
Handlungen die Triebfedern des Fortschrittes sind, mit denen man eine glückliche
Zukunft und eine emanzipierte Gesellschaft erreichen kann. Und dieser Glauben schien
durch den modernen Rationalisierungsvorgang erfüllt werden zu können, der sich in
dem sogenannten 'Projekt der Aufklärung' entwickeln sollte. Dies ergibt sich daraus,
daß die enorme Entwicklung der Technologie, die auf die 'erkenntnistheoretische
Rationalität' angewiesen ist, den Menschen von der Natur emanzipiert und ihn
gleichzeitig ökonomisch-materiell reicher gemacht hat als je zuvor.
Aber das Problem ist hier, daß parallel zu diesem beeindruckenden technischen
Fortschritt heutzutage viele sozialpathologische Erscheinungen entstanden sind, die das
Leben des Menschen selbst gefährden, wie z. B. die ökologische Krise, die Furcht vor
militärischen
Zerstörungspotentialen,
Kernkraftwerken,
Atommüll
sowie
Genmanipulation etc. Diese negativen Seiten der Modernisierung stellen sich der
ursprünglichen Idee der Aufklärung entgegen, die auf eine Gesellschaft der vom
Zustand des Unwissens befreiten, reifen Menschen abzielt. Das Projekt der Aufklärung,
das in der Emanzipation des Menschen von aller Art der Unterdrückung mit Hilfe der
Rationalität besteht, sperrte den Menschen aber letztlich erneut in ein neues
Unterdrückungssystem ein. Dieses Herrschaftssystem ist nichts anderes, wie M. Jay
5
PT
M. Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, Pfullingen 1989, S. 61.
TP
TP
6
PT
M. Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1971.
S. 462.
7
schreibt, als "eine säkularisierte Version der religiösen Überzeugung, Gott sei es, der die
Welt beherrsche." 7 Aus dieser Sicht formuliert er das paradoxe Resultat der
TPF
FPT
Modernisierung wie folgt:
"Trotz ihres Anspruchs, die Mythen hervorbringende Verwirrung durch die
Einführung rationaler Analyse überwunden zu haben, war die Aufklärung
selbst einem neuen Mythos zum Opfer gefallen." 8
TPF
FPT
Das Problem der Modernität ruft heutzutage eine philosophische Reflexion gegenüber
diesen historisch-gesellschaftlichen pathologischen Erscheinungen hervor. 9 Im Kern der
TPF
FPT
gegenwärtigen Kritik an der Modernität liegt der Begriff der Subjektivität oder der
subjektiven Vernunft. Horkheimer und Adorno drücken z. B. in ihrem gemeinsamen
Werk Dialektik der Aufklärung die große Sorge um den in der Zeit des Faschismus in
Europa, des Totalitarismus in der Sowjetunion und der Massenkultur u. a. in
Nordamerika erscheinenden Untergang der 'wahren klassischen Solidarität' aus und
bezeichnen die Aufklärung in dieser Hinsicht als 'Massenbetrug'. 10 Ihnen zufolge steht
TPF
FPT
die Neigung der Massen zum Gehorsam in der Gegenwart in engem Zusammenhang mit
der Herrschafts- oder Unterdrückungsstruktur, die in der von der instrumentalen
Vernunft hergeleiteten modernen Arbeitsethik enthalten ist:
"Technische Rationalität heute ist die Rationalität der Herrschaft selbst. Sie
ist der Zwangscharakter der sich selbst entfremdeten Gesellschaft." 11
TPF
FPT
Die Autoren dieses Werkes zielen darauf ab zu zeigen, daß die modernen Menschen
wegen der Herrschaft der autoritären technischen Gesellschaft an einer "falschen
7
TP
M. Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für
PT
Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt/M. 1976, S. 305.
8
PT
Ebd.
TP
9
TP
Vgl. I. Fetscher, Aufklärung über Aufklärung, in: A. Honneth / T. McCarthy / C. Offe / A. Wellmer
PT
(Hg.), Zwischenbetrachtung. Im Prozeß der Aufklärung. J. Habermas zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M.
1989, S. 657ff.
10
PT
M. Horkheimer / Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Th. W. Adorno, Gesammelte Schriften,
TP
Bd. 3, R. Tiedemann (Hg.), Frankfurt/M. 1981, S. 141ff.
TP
11
PT
A.a.O., S. 142.
8
Identität von Allgemeinem und Besonderem" 12 leiden, deren Ursprung im mit Descartes
TPF
FPT
beginnenden Dualismus von Subjekt und Objekt liegt.
Das
Problem
der
Moderne
resultiert
also
daraus,
daß
sie
mit
dem
Säkularisierungsvorgang die Autonomie und die Schöpferkraft des Subjekts übermäßig
in Anspruch genommen hat. Die Entwicklung der technischen Wissenschaft
verdinglicht die Natur und macht gleichzeitig den Menschen zum Gegenstand
instrumentaler Nützlichkeit. Indem sich das Wissen in den entwickelten Industriestaaten
mit der unterdrückenden Technik identifiziert, dient es den herrschenden Gruppen. Die
Aufklärung, welche die Autonomie des Menschen betonte, führte damit paradoxerweise
dazu, den Menschen der technikorientierten Wissenschaft gegenüber gehorsam zu
machen und vor allem seine Geistigkeit auf ein vollständig von dem Naturgesetz
abhängiges bloßes Ding zu reduzieren. Dieses Problem erklären G. Lukács mit dem
Begriff der 'Verdinglichung' und die Autoren von Dialektik der Aufklärung mit dem der
'formalen' oder der 'instrumentalen' Rationalität. Diese kritischen Begriffe wurden also
eingeführt, um, wenn man es so nennen will, die 'Paradoxie der Rationalisierung' zu
beschreiben.
Dieses Problem war schon bei Max Weber ein zentrales Thema. Er begreift die
gesellschaftlichen und geschichtlichen Vorgänge unter dem Rationalitätsaspekt. Bei ihm
bedeutet die Rationalität zunächst eine intellektuelle sinnhafte Erfaßbarkeit; 13 die
TPF
Menschheit
entwickelt
Systeme,
um
alles,
was
dem
Menschen
FPT
begegnet,
ordnungsmäßig anzuschauen und dadurch von der Furcht vor der Zufälligkeit und dem
Chaos befreit zu werden. Weber versteht daher alle menschlichen Systeme als Ausdruck
der Rationalität.
Wenn er aber den Rationalisierungsprozeß der Moderne auf den Begriff einer
bestimmten, d. h. 'universalgeschichtlichen' oder 'universalistischen' Rationalität
bezieht, meint er mit der Rationalität vor allem die mathematischen oder logischen
Sinnzusammenhänge. Das bedeutet, daß in der Moderne die 'Zweckrationalität' oder die
instrumentelle Rationalität überwiegt, die in der Wahl der effektivsten Mittel besteht,
um
einen
gegebenen
Zweck
zu
erreichen.
Weber
unterscheidet
diesen
Rationalitätsbegriff vor allem von der Wertrationalität, die z. B. im Mittelalter
vorherrschend war. Er beschreibt den Unterschied zwischen beiden Rationalitäten wie
12
PT
A.a.O., S. 141.
TP
TP
13
PT
Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, J. Wickelmann
(Hg.), Bd. 1, Tübingen 1976, S. 2.
9
folgt: ''Rein wertrational handelt, wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen
handelt im Dienst seiner Überzeugung von dem, was Pflicht, Würde, Schönheit,
religiöse Weisung, Pietät, oder die Wichtigkeit einer 'Sache', gleichviel welcher Art,
ihm zu gebieten scheinen. […]. Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck,
Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie
die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen
Zwecke gegeneinander rational abwägt.'' 14
TPF
FPT
Die Rationalisierung der Moderne bedeutet also die Verbreitung der Zweckrationalität,
d. h. die Verbreitung der Gewißheit, daß ''man, wenn man nur wollte, es jederzeit
erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte
gäbe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch
Berechnen beherrschen könne.'' 15 Aus diesem Grund nennt Weber den Vorgang der
TPF
FPT
modernen Rationalisierung den 'Entzauberungsprozeß'.
Die wesentlichen Kennzeichen der modernen Gesellschaftsform, in der sich die
universalistische Rationalität verkörpert, sind nach Weber das kapitalistische
Wirtschafts- sowie das bürokratische Verwaltungssystem. Er begreift diese Systeme als
Ergebnisse eines 'universalgeschichtlichen' Rationalisierungsprozesses. 16 Das Problem
TPF
FPT
ist aber, daß diese rationalen Systeme, entgegen ihrer eigentlichen Absicht, zu den die
Menschheit unterdrückenden Instrumenten, zur 'seelenlosen Maschinerie' geworden
sind. Über diese Paradoxie der modernen Rationalisierung' schreibt er wie folgt:
''Der Puritaner [sc. der moderne Mensch] wollte Berufsmensch sein, [...].
Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben
übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann,
half sie an ihrem Teile mit daran, jenen mächtigen Kosmos der modernen,
an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanischmaschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung erbauen, der
heute den Lebensstil aller Einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren
14
A.a.O., S. 12f.
TP
PT
15
TP
PT
M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in: ders, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, J.
Winckelmann (Hg.), Tübingen 1988, S. 594.
16
TP
PT
Siehe zu dieser Problematik J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (= TkH), Bd. 1,
Frankfurt/M. 1987, S. 207ff.
10
werden, [...] mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht
bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.'' 17
TPF
FPT
Der moderne Rationalismus bringt, wie Weber sagt, letztlich ''die letzten Menschen''
hervor, die bloß ''Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz'' sind. 18
TPF
FPT
Das Problem bei Webers Analyse der Rationalität liegt aber darin, daß seine
Untersuchung mit der düsteren und resignierten Diagnose der gegenwärtigen Zeit endet,
ohne eine rationale Lösung anzugeben
TPF
19
FPT
. Aus diesem Grund wird Weber
unterschiedlich beurteilt; mal wird er als ein Sohn der Aufklärung angesehen, weil er
unter dem Rationalitätsaspekt die geschichtlichen Vorgänge untersucht,20 mal steht er in
TPF
FPT
Verdacht, eine 'nostalgische Soziologie' zu etablieren, weil er im Vergleich zur
Wertrationalität die Zweckrationalität sehr stark kritisiert hat 21 und mal wird er mit dem
TPF
generationstypischen
dramatisiert hatte.'' 22
TPF
Nihilismus
verbunden,
den
FPT
''Nietzsche
so
eindrucksvoll
FPT
Nun scheint es für die gegenwärtige 'modische' Philosophie eine notwendige Aufgabe
zu sein, auf das Problem der Rationalisierung irgendwie zu reagieren, das M. Weber
ohne Lösung hintergelassen hat. Es handelt sich dabei also um die Frage, worauf sich
die Kritik der Rationalität richten muß. Die Antwort auf diese Frage bestimmt den Ton
der konkurrierenden Philosophien.
17
PT
M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen, 1963 S. 203. Hervorhebung im
TP
Original.
18
PT
A.a.O., S. 204.
TP
19
PT
Vgl. K. Löwith, Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz, Stuttgart 1969, S.
TP
7 und W. Mommsen, Max Weber: Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt/M. 1974, S. 135.
20
PT
A. Wellmer, Reason, Utopia and the Dialectic of Enlightment in: R. J. Bernstein (Hg..), Habermas and
TP
Modernity, Cambridge 1985, S. 40.
21
PT
B. S. Turner, Max Weber: From History to Mordernity, London 1992, S. 134.
TP
TP
22
PT
TkH 1, S. 336. Habermas deutet diese nihilistische Neigung Webers als ein Resultat aus seiner
reduktionistischen Tendenz: Obwohl Weber die Ausdifferenzierung der rationalen Geltungen zu der
Wahrheit, der Richtigkeit und der Authentizität bzw. den Polytheismus der Werte mit Recht als
Kennzeichen der Moderne erkannt hat, analysiert er die gesellschaftliche Rationalisierung allein innerhalb
des eingeschränkten Standpunktes der Zweckrationalität, so daß der Geltungsanspruch der
zweckrationalen Wahrheit alle anderen Geltungsansprüche verdrängt hat. Also liegt der Kern der
Habermasschen Kritik an dem Weberschen Rationalitätsbegriff in einer Diskrepanz zwischen seiner
Darstellung des Rationalitätsbegriffs der Moderne und dem Rationalitätsbegriff, mit dem er das Problem
der gesellschaftlichen Rationalisierung analysiert. Siehe TkH 1, S. 207.
11
2. Gegenwärtige Versuche, das Problem der modernen
Philosophie zu überwinden.
Nach A. Wellmer gibt es zwei große Denkrichtungen, die es heutzutage ermöglichen,
sowohl die zur absoluten Gewalt gewordene moderne Subjektivität wissenschaftlich zu
kritisieren als auch nach neuen Alternativen zu suchen: einerseits die Psychoanalyse
und andererseits sprachphilosophische Kritik des Subjekts. 23
TPF
FPT
Die Psychoanalyse, die von S. Freud entwickelt wurde, geht davon aus, daß die
Menschen nicht primär rationale Wesen sind, sondern von ihren Trieben gesteuert
werden, die das mächtigere Unbewußte bestimmt. Wegen dieser unbewußten
Triebkräfte und Motive kann sich das menschliche Subjekt nicht in der Weise erkennen,
wie es in der klassischen Autonomievorstellung angenommen wurde. Aus diesem
Grund zweifelt die Psychoanalyse an der ''Möglichkeit vollständiger Durchsichtigkeit
menschlicher Handlungsvollzüge'' und an der ''Idee von Autonomie des Subjekts im
Sinne der Kontrollierbarkeit des eigenen Tuns''. 24
TPF
FPT
Die strukturelle Linguistik, die mit F. Saussure angefangen hat, geht davon aus, daß die
individuelle Rede vollständig von einem schon gegebenen System sprachlicher
Bedeutungen abhängig ist. Wegen der Abhängigkeit des sprechenden Subjekts vom
System der Sprache kann das menschliche Subjekt nicht in der Weise sinnkonstitutiv
oder bedeutungsschöpfend sein, wie es vor allem in der Transzendentaphilosophie
angenommen wurde. Aus diesem Grund stellte die strukturelle Linguistik ''die
Möglichkeit individueller Sinnkonstitution'' und ''die Idee von Autonomie im Sinne der
Autorschaft des Subjekts'' 25 in Frage.
TPF
FPT
Diese beiden Denkrichtungen, die sich durch ihre Entdeckung des Unbewußten
einerseits und des aller Intentionalität vorausliegenden Faktums des sprachlichen
Bedeutungssystems andererseits auszeichnen, richten sich also gegen die klassische
Vorstellung der Subjektivität, d. h. gegen die Idee der vollständigen Autonomie des
Subjekts. Diese wissenschaftlichen Ergebnisse wirken heutzutage in verschiedenen
wissenschaftlichen Bereichen. Auch in dem Bereich der Philosophie sind viele
Diskussionen über diese beiden Positionen geführt werden. Man kann diese
23
PT
A. Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt/M.
TP
1985, S. 48ff.
24
PT
Ebd.
TP
TP
25
PT
Ebd.
12
philosophischen
Diskussionen,
wie
es
A.
Honneth
tut,
in
drei
Varianten
zusammenfassen: a) eine Radikalisierung der dezentrierenden Tendenzen, b) die
entschlossene Beibehaltung des klassischen Autonomieideals und gleichzeitig die
paradoxe Anerkennung der Ergebnisse jener Dezentrierungen, c) eine Rekonstruktion
von Subjektivität besonders durch die Idee der Intersubjektivität. 26
TPF
FPT
Die Vertreter der ersten Position gehen davon aus, daß die negativen Ergebnisse der
Moderne unmittelbar von der modernen Vernunft und sogar vom rationalistischen
Denken überhaupt ausgegangen sind. Sie engagieren sich daher sehr darin, den
'Terrorismus' der Aufklärung und des Humanismus zu entlarven, die beide von der
subjektiven Vernunft geleitet werden. Sie vertreten also einen Anti- oder Irrationalismus
und behaupten, daß die Vernunft eigentlich nicht autonom sei, sondern von ihrem
Anderen, z. B. der Macht (Foucault) und der dem Logos grundlegenden schweigenden
Schrift (Derrida), heimlich geleitet oder begleitet wird.
Die Vertreter der zweiten Position gehen davon aus, daß die negativen Ergebnisse der
Moderne nichts mit der modernen Vernunftidee zu tun haben oder aus einer
inkonsequenten Vernunftanwendung resultieren. Sie zweifeln nicht an dem Kantischen
Ideal, daß die Vernunft der oberste Richter bei der Erkenntnis, der Handlung sowie dem
ästhetischen Urteil sei. Sie vertreten daher einen starken rationalistischen Optimismus,
der davon ausgeht, daß die Probleme der Aufklärung durch die Entwicklung der auf der
modernen Rationalität basierenden, technikorientierten Wissenschaft überwunden
werden können.
Die Vertreter der letzten Position akzeptieren zwar die Kritik, daß die negativen
Ergebnisse der Aufklärung aus dem Wesen der modernen, besser gesagt, der
instrumentellen Vernunft resultieren. Aber sie setzen sich trotzdem nicht mit dem
Begriff der Vernunft selbst auseinander, sondern behaupten, daß das Projekt der
Aufklärung, d. h. der Emanzipationsprozeß von der z. B. die Menschen
unterdrückenden Tradition, durch die rationale Rekonstruktion von Subjektivität
weitergeführt werden kann. Das Paradox der Aufklärung besteht ihnen zufolge darin,
daß die Vernunft im Rationalisierungsvorgang der Moderne zu eng bestimmt wird:
Obwohl die vernünftigen Werte in der Moderne berechtigterweise ausdifferenziert
worden seien, würden nur die wissenschaftlich-technisch orientierten Werte als etwas
wirklich Vernünftiges angesehen. Daher gehen sie davon aus, daß die Aufklärung durch
26
TP
PT
A. Honneth, Dezentrierte Autonomie. Moralphilosophische Konsequenzen aus der modernen
Subjektkritik, in: ders., Das Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2000, S. 238f.
13
die Vergrößerung des Vernunftgebietes all jene verschiedenen Werte in sich
einschließen kann. Die Idee der 'Intersubjektivität' steht im Zentrum ihrer Philosophie.
Nach dieser Idee ist die Subjektivität nicht der Anfang des philosophischen Denkens,
sondern nur ein Resultat, das erst durch die Interaktion mit dem Anderen rekonstruiert
wird. Für diese Philosophie werden die subjektübergreifenden Mächte, wie z. B. das
Unbewußte und die Sprache, von vornherein als Konstitutionsbedingungen der
Individualisierung von Subjekten angesehen, und die persönliche Freiheit oder
Selbstbestimmung von Individuen wird nicht als jenen Mächten Entgegengesetzes,
sondern als bestimmte Organisationsformen der kontingenten, jeder individuellen
Kontrolle
entzogenen
Kräfte
verstanden.
Im Folgenden
werden
diese
drei
philosophischen Bewegungen etwas näher betrachtet.
2.1. Der Übergang zur Postmoderne
Die philosophische Bewegung, die die Psychoanalyse Freuds und die strukturelle
Linguistik Saussures in seine eigene Philosophie konsequent integriert, ist die
sogenannte Postmoderne. Sie begann ihre philosophische Kariere in Frankreich und
steht in der Gegenwart im Zentrum der Modernitätsdebatte. Die Einflüsse dieser zwei
Wissenschaften auf die Postmoderne werden deutlich in einer Formel Lacans: ''die
Psychoanalyse [entdeckt] im Unbewußten […] die ganze Struktur der Sprache.'' 27
TPF
FPT
Eine Kernthese des Postmodernismus ist, daß die sozialpathologischen Erscheinungen
der Gegenwart nicht bloß das Resultat eines inkonsequenten Gebrauches der Vernunft
sind, sondern durchaus aus dem rationalen Denken selbst resultieren. Denn die Vernunft,
welche grundsätzlich von einer Trennung von Subjekt und Objekt ausgehe, rechtfertige
die Subsumtion des einen unter den anderen und damit eine Herrschaftsstruktur. Der
Anti- oder Irrationalismus ist aus Sicht dieser Bewegung der einzige Ausweg, die
sozialpathologischen Erscheinungen der Gegenwart zu bewältigen.
Diese Schlußfolgerung findet man bei allen postmodernen Philosophen. J.-F. Lyotard z.
B. sieht, daß sich das vernünftige Denken in der Moderne über die moderne
TP
27
PT
J. Lacan, Schriften II, a.a.O., S. 19. Allerdings betont Lacan, daß die Sprache bei ihm fast nichts mit der
Sprache in der Linguistik zu tun hat. Zu diesem Unterschied siehe Michel Arrivé, Linguistics and
Psychoanalysis. Freud, Saussure, Hjelmslev, Lacan and others, Amsterdam, Philadelphia 1992,
besonders S. 121ff.
14
Wissenschaft hinaus bis zum Metadiskurs erweitert, der um ihre Legitimation willen in
Anspruch genommen wird. Dieser Metadiskurs ist nichts anderes als eine große
Erzählung bzw. eine Metaerzählung, die versucht, die Pluralität der Welt und der
Geschichte auf bestimmte Universalbegriffe, wie z. B. Humanität, zu reduzieren. Zu den
Metaerzählungen gehören 'die Dialektik des Geistes', 'die Hermeneutik des Sinns', 'der
Emanzipationsdiskurs
des
vernünftigen
oder
arbeitenden
Subjekts'
etc.
Die
Metaerzählungen sind also die durch das rationale Denken vereinheitlichenden,
umfassenden Weltanschauungen. Die moderne Wissenschaft ist daher durch das
Kriterium der radikalen Vereinfachung gekennzeichnet. Lyotard kritisiert die Ökonomie
der Vereinfachung wie folgt:
''Die Anwendung dieses Kriteriums [s.c. der Vereinfachung] auf alle unsere
Spiele geht nicht ohne Schrecken vor sich, weich oder hart: 'Wirkt mit, seid
kommensurabel, oder verschwindet'!'' 28
TPF
FPT
Aus dieser Sicht kann das moderne Wissen in drei Punkten wie folgt zusammengefaßt
werden: 1) die Übertragung der Legitimation der fundamentalistischen Ansprüche an
Metaerzählungen, 2) die notwendige Maximierung der Legitimation und die
Ausschließung des Nichtlegitimen und 3) das Verlangen nach einer homogenen
wissenschaftlichen und moralischen Vorschrift. 29
TPF
FPT
Im Gegensatz dazu ist das postmoderne Wissen nach Lyotard ''die Skepsis gegenüber
den Metaerzählungen''; 30 es verwirft die 'großen Erzählungen' und vertritt die
TPF
FPT
Heterogenität statt der Homogenität, die Pluralität statt der Einheit etc. 31 In dieser
TPF
FPT
Hinsicht lehnt der Postmodernismus alle Arten das Vernunft-Denken und die Reinheit
der Vernunft oder deren Absolutheit ab und konzentriert sich stattdessen auf die
Forschung über die 'Randbereiche' der Vernunft. Die Vertreter dieser Position wollen,
wie Foucault programmatisch sagt, ''die Geschichte der Grenzen schreiben, [...] mit
denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt'', 32 wie z. B. die
TPF
FPT
Geschichte des 'Wahnsinns' und der 'Sexualität' bei M. Foucault und die der vom Logos
benachteiligten 'Schrift' bei Derrida. Sie wollen damit die nicht vernünftigen Elemente,
28
PT
J.–F. Lytord, Das postmoderne Wissen, Wien 1999, S. 15.
TP
29
PT
Vgl. S. Best / D. Kellner, Postmodern Theory, New York 1991, S. 165.
TP
30
PT
J.–F. Lytord, Das postmoderne Wissen, a.a.O., S. 14.
TP
31
PT
Vgl. S. Best / D. Kellner, Postmodern Theory, a.a.O., S. 165.
TP
TP
32
PT
M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1969, S. 9. Hervorhebung im Original.
15
die die reine Vernunft unbemerkt begleiten, in den Vordergrund stellen, wie z. B. die
'Macht' und 'das Andere der Vernunft' statt der Vernunft, die 'Zufälligkeit' statt der
'Notwendigkeit' und die 'Differenz' statt der 'Identität' etc.
In seinen sozusagen nach der 'archäologischen' Methode geschriebenen frühen Büchern,
wie z. B. Wahnsinn und Gesellschaft und Die Ordnung der Dinge etc., will Foucault
den Terror der Vernunft gegenüber dem Nichtvernünftigen aufzeigen. Die Archäologie
richtet den Blick auf die Sinnesfundamente, die noch nicht sprachlich formuliert sind,
und auf die Art und Weise, in der innerhalb eines Diskurses die jeweilige Geltung von
Wahrheit und Falschheit festgelegt wird. Sein wissenschaftliches Ziel ist, nachzuweisen,
daß die Wahrheitssuche immer zahlreiche Wirklichkeitsbereiche ausschließe und daß
ihr Ablauf notwendig den Willen zur Wahrheit verdecke.
''Der wahre Diskurs, den die Notwendigkeit seiner Form vom Begehren
ablöst und von der Macht befreit, kann den Willen zur Wahrheit, der ihn
durchdringt, nicht anerkennen; und der Wille zur Wahrheit […] ist so
beschaffen, daß die Wahrheit, die er will, gar nicht anders kann, als ihn zu
verschleiern.'' 33
TPF
FPT
In seiner Forschung über den von der Vernunft verdrängten Wahnsinn will Foucault
zeigen, wie die Diktatur oder der Monolog der Vernunft in der europäischen Geschichte
entstanden ist. Nach ihm war hybris bei den Griechen nicht ein Gegenteil des Logos
oder der Vernunft 34 und wurde bis zum 16. Jahrhundert noch nicht streng vom Begriff
TPF
FPT
der Vernunft getrennt. Der Wahnsinn wurde also bis dahin als ein Spiegel angesehen,
der die Schwächen der Vernunft ironisch entlarvte. Aber erst im 17. Jahrhundert begann
man nach der erkenntnistheoretischen Wende der Philosophie bei Descartes den
Wahnsinn von der Vernunft auszuschließen. Die Philosophie Descartes' gilt daher als
ein entscheidender Wendepunkt in der Vernunftgeschichte.
Descartes sucht nach einem archimedischen Punkt für philosophische Gewißheit. Zu
diesem Zweck zweifelt er zunächst an allem, was in seinen Gedanken vorhanden ist: er
bezweifelt erstens die Wahrheit der sinnlichen Urteile, zweitens die Differenz zwischen
dem Traum und der Realität und schließlich zweifelt er sogar an der Gültigkeit der
mathematischen Wahrheiten, da man sich vorstellen kann, daß auch diese Wahrheiten
33
PT
M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses, München 1974, S. 10f.
TP
TP
34
PT
Vgl. M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, a.a.O., S. 9.
16
von irgendeinem 'bösartigen Teufel' manipuliert werden könnten. Jene ersten zwei
Stufen bestehen in dem Zweifel, der sich auf die Erkenntnis der Erfahrungswelt bezieht.
Weil auch der Wahnsinn zu falschen Annahmen über die Wirklichkeit führt,
identifiziert Foucault die Form des Zweifels, die jene ersten zwei Stufen einschließt, mit
dem Wahnsinn. Jene ersten zwei Stufen weisen nach Foucault auf das hin, was wirklich
passieren kann, während die letzte Stufe eine Veränderung der mathematischen Gesetze
nur in der Vorstellung möglich ist. Aus diesem Grund wird der Wahnsinn von der
Vernunft bzw. von dem Selbstbewußtsein ausgeschlossen. Descartes gilt daher als
derjenige Denker, der den Weg für den Triumph der den Wahnsinn ausschließenden
Vernunft eröffnete.
Neben der cartesianischen philosophischen Wende gibt es nach Foucault zwei
gesellschaftsgeschichtlich auffällige Ereignisse, die von großer Bedeutung in der
Vernunftgeschichte sind: die große Internierungswelle der Armen um die Mitte des 17.
Jahrhunderts und die Umwandlung dieser Internierungslager in die psychiatrischen
Einrichtungen am Ende des 18. Jahrhunderts. Beide Ereignisse markieren die Punkte, in
denen eine Verstärkung der Herrschaft der Vernunft erkannt werden könne. Indem sich
die Vernunft von ihren heterogenen Elementen abgrenzt und alles zum Objekt macht,
was ihr begegnet, verstärkt sie ihre Alleinherrschaft. Der Sieg dieser reglementierenden
Vernunft findet sich in allen modernen Organisationsformen: in Fabriken, Kasernen,
Schulen sowie Kadettenanstalten etc. Die Vernunft unterwirft nun nicht nur den
Wahnsinn, sondern auch die Bedürfnisnatur des Einzelnen und die Gesellschaft im
Ganzen.
Indem das zur allgemeinen Vernunft erhobene Subjekt alles objektiviert und kontrolliert,
verliert es nach Foucault alle bloß intuitiven Verbindungen mit seiner Umwelt und reißt
alle Brücken für die intersubjektive Verständigung ab. Die anderen Subjekte werden zu
den nur beobachteten oder bearbeiteten bloßen Objekten. So deutet Foucault das
'Paradox der Rationalisierung' als ein zwangsläufiges Resultat des rationalistischen
Denkens.
Während Foucault die Entwicklung der modernen Vernunft archäologisch darstellt, hält
Derrida das moderne rationalistische Denken bloß für eine Variation des
abendländischen metaphysischen Denkens überhaupt. Daher richtet sich seine Kritik,
radikaler als Foucaults, auf die gesamte europäische Denkweise. Er kritisiert Foucault
darin, daß dieser noch der europäischen Denktradition und sogar dem modernen
Dualismus verhaftet bleibe. Anders als Foucault trennt Derrida den griechischen Logos
17
nicht von der cartesianischen Vernunft und hält den Logosbegriff nicht für so
umfassend, daß er die Unvernunft, z. B. die hybris, in sich einschließt. Die Vernunft
habe vielmehr seit der griechischen Zeit nur eine einzige Form:
''Unsere ganze europäische Sprache, die Sprache all dessen, was an dem
Abenteuer der abendländischen Vernunft von nah oder fern teilgenommen
hat, ist die immense Delegierung des Plans, den Foucault in der Gestalt der
Erfassung oder der Objektivierung des Wahnsinns definiert. Nichts in dieser
Sprache und niemand unter denen, die sie sprechen, kann der historischen
Schuld entgehen.'' 35
TPF
FPT
Obzwar es in der abendländischen Tradition philosophische Bewegungen gegeben habe,
die sich gegen die Vernunft gerichtet haben, sieht Derrida in solchen Herausforderungen,
wie z. B. in der Romantik, – da die Sinnlichkeit mit der Vernunft zusammenwächst, –
eine posteuropäische Denkweise. Solche Herausforderungen seien bloß ''die in der
Ordnung denunzierte Ordnung'' 36 und ''die Revolution innerhalb der Vernunft gegen die
TPF
Vernunft'':
FPT
37
TPF
FPT
''Da sie nur innerhalb der Vernunft wirken kann, sobald sie spricht, hat die
Revolution gegen die Vernunft also immer die begrenzte Tragweite dessen,
was man genau in der Sprache des Ministeriums des Inneren eine
Agitation nennt. Man kann zweifellos nicht eine Geschichte oder gar eine
Archäologie gegen die Vernunft schreiben, denn trotz des Anscheins ist
der Begriff der Geschichte stets ein rationaler Begriff gewesen.'' 38
TPF
FPT
Von dieser Perspektive her ist auch die Forschung Foucaults über den Wahnsinn keine
Ausnahme. Seine Archäologie, die sich mit etwas Stillschweigendem befaßt, was
außerhalb des Ausgesprochenen liegt, gerät in den Widerspruch, den Wahnsinn, der sich
35
PT
J. Derrida, Cogito und Geschichte des Wahnsinns in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M.
TP
1972, S. 60. Hervorhebung im Original.
36
PT
Ebd.
TP
37
PT
A.a.O., S. 61.
TP
TP
38
PT
Ebd. Hervorhebung im Original.
18
nicht aussagen kann, selbst aussagen zu lassen. 39 Das ist nur 'eine interne Revolution',
TPF
FPT
die innerhalb der Kategorie der Vernunft von der Vernunft sowie dem Wahnsinn
spricht. 40
TPF
FPT
Derrida sieht in allen abendländischen Philosophien seit Platon bloß eine Metaphysik,
die ausgehend von der Universalität des Logos die Welt in eine Einheit bringt. Selbst
die Phänomenologie und der Strukturalismus, welche das metaphysische Denken stark
kritisiert haben, entziehen sich nach ihm dieser Denkform nicht. Nach der
Phänomenologie wird die Bedeutung durch die Intentionalität des Bewußtseins
konstituiert. Auch der Strukturalismus, der eine konstitutive Rolle des transzendentalen
Subjekts verneint, versucht lediglich, in der Syntax oder in der grammatischen Struktur
der Sprache einen Archetyp des Denkens, also eine metaphysische Bestimmung der
Wahrheit zu finden, die ''mehr oder weniger unmittelbar nicht zu trennen [ist] von der
Instanz eines Logos oder einer von ihm abstammend gedachten Vernunft''. 41
TPF
FPT
Derrida deutet also das ganze abendländische Denken als Ausdruck des Logos. Der
'Logos' unterscheidet sich in der Antike vor allem vom Mythos, von der Meinung
(doxa) und der Wahrnehmung (aistheis) und bedeutet zunächst 'Aussage' und 'Wort' und
ferner 'Verhältnis', 'Bericht', 'Proportion', 'Erklärung', 'Beweisführung', 'Vernunft',
'Darlegung' etc. 42 Derrida betont, daß der Logos ursprünglich das gesprochene Wort
TPF
FPT
bedeutete, und unterscheidet ihn daher von der Schrift. Während diese unabhängig von
der Anwesenheit des Autors oder Sprechers eine stille Dauerhaftigkeit besitzt, setzt das
Wort die Anwesenheit des Sprechers voraus und wird als Ereignis verstanden, das im
Augenblick erscheint und gleichzeitig verschwindet. Das Wort besteht also als ein
Ereignis in der Gleichzeitigkeit zwischen Sprechen und Hören. 43
TPF
FPT
Bezüglich der Problematik des Logos ist der Ausgangspunkt Derridas die folgende
philosophiegeschichtliche Tatsache: das Wort, die Stimme sowie der Gehörsinn hatten
39
PT
Derrida formuliert dies wie folgt: ''Diese Archäologie behauptete und verzichtete gleichzeitig darauf,
TP
den Wahnsinn selbst auszusagen. Der Ausdruck 'den Wahnsinn selbst aussagen' ist in sich
widersprüchlich. Den Wahnsinn auszusagen, ohne ihn in die Objektivität zu verbannen, heißt ihn sich
selbst aussagen zu lassen. Nun ist der Wahnsinn in seinem Wesen das, was man nicht sagt.'' A.a.O., S. 71.
40
PT
A.a.O., S. 65.
TP
41
PT
J. Derrida, Grammatologie, Frankfurt/M. 1974, S. 24.
TP
42
PT
Siehe den Artikel 'Logos' in: J. Ritter / K. Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie,
TP
Basel, Stuttgart (= HWPh), Bd. 5, Sp. 491ff.
TP
43
PT
Zur Charakteristik des Wortes als Ereignisses, das sich von der Schrift unterscheidet, siehe Walter I.
Ong, Oralität und Literalität: Die Technologisierung des Wortes, Darmstadt 1987, besonders das dritte
Kapitel Die Psychodynamik der Oralität, S. 37ff.
19
die Priorität gegenüber der Schrift und dem Gesichtssinn. Daß Platon im Phaidros im
Gegensatz zum Dialog Sokrates', der durch den lebendigen Austausch der Stimme
'lebendiges Wissen' herstellen könne, die Schrift nur eine 'tote Aufzeichnung' nennt, ist
eines der ersten, geschichtlich berühmten Beispiele für diese philosophiegeschichtliche
Tatsache. Außerdem liegt der Grund, daß er die Schriftsteller wie die Sophisten
behandelt, darin, daß sie sich nur für die Aktenbewahrung interessierten, nicht für die
Liebe zur Wahrheit. Die Schrift hat nichts mit der Stimme der inneren Seele zu tun. Sie
liegt einfach außerhalb der Seele.
Auch Hegel, der als letzter Metaphysiker der Philosophiegeschichte angesehen wird,
entzieht sich nach Derrida dieser abendländischen Denktradition nicht. Der Grund, daß
er in seiner Ästhetik den Gehörsinn für den höchsten ideellen Sinn hält, 44 liegt darin,
TPF
FPT
daß er ''nicht den praktischen, sondern den theoretischen Sinnen zugehört und selbst
noch ideeller ist als das Gesicht''. 45 Während z. B. der Gesichtssinn noch vom
TP F
FPT
angeschauten Gegenstand abhängt, vernimmt der Gehörsinn ''das Resultat jenes inneren
Erzitterns des Körpers, durch welches nicht mehr die ruhige materielle Gestalt, sondern
die erste ideellere Seelenhaftigkeit zum Vorschein kommt.'' 46 Der Ton wird durch ein
TPF
FPT
Aufheben des räumlichen Zustandes und das mit der Reaktion des Körpers erscheinende
Aufheben jenes Aufhebens, also durch die zweifache Negation erzeugt. Er entspricht
deswegen der inneren Subjektivität, die ''an und für sich etwas Ideelleres ist als die für
sich real bestehende Körperlichkeit.'' 47
TPF
FPT
Von daher bezeichnet Derrida die gesamte Wissenschaft Europas einerseits als den
'Stimmen- oder Logozentrismus', weil sie von der Priorität des Wortes und des Logos
ausgeht, und andererseits als 'die Metaphysik der Präsenz', weil sie auf der reinen
Anwesenheit des Sprechens oder des Wortes basiere, während sich die Schrift auf die
Abwesenheit beziehe. Auch die moderne Bewußtseinsphilosophie, welche von der
Anwesenheit und Deutlichkeit des Bewußtseins ausgehe, gehöre zu dieser Kategorie:
''Das Privileg der Präsenz als Bewußtsein [vermochte] sich nur mittels der
ausgezeichneten Kraft der Stimme zu etablieren.'' 48
TPF
44
TP
PT
FPT
J. Derrida, Der Schacht und die Pyramide. Einführung in die Hegelsche Semiologie, in: ders.,
Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 85ff., besonders 102ff.
45
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, in: TW, Bd. 15, S. 134.
TP
PT
46
Ebd.
TP
PT
TP
47
Ebd.
PT
TP
48
PT
J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der
Philosophie Husserls, Frankfurt/M. 1979, S. 67.
20
Warum setzt sich Derrida mit dem Begriff des Logos auseinander? Er sieht, wie schon
erläutert, das Wesen des Logos in der Gleichzeitigkeit des 'sich-sprechen-Hörens':
''Die Vernunft entbirgt sich somit selbst. Die Vernunft ist [...] der Logos, der
sich in der Geschichte erzeugt. Er durchquert das Sein im Hinblick auf sich
selbst, in der Ab-Sicht, sich selbst, das heißt als Logos, sich zu erscheinen,
sich selbst zu benennen und sich selbst zu hören. Er ist Sprechen als
Selbstaffektion: ist das Sich-selbst-sprechen-hören. Er tritt aus sich hinaus,
um sich in sich selbst, in der 'lebendigen Gegenwart' seines Sich-selbstgegenwärtigseins wieder zurückzunehmen.'' 49
TPF
FPT
Der Logos ist bei sich selbst und in der nächsten Nähe mit sich selbst. Er bleibt
deswegen völlig in dem reinen Selbstbezug. Derrida bezieht diesen sich-sprechenhörenden, autoaffektiven Logos auf den Gedanken des Monologs oder der Diktatur der
Vernunft, welche ursprünglich alle Beziehungen auf anderes ablehnt. Während die
Schrift, in der sich die Zeit durch die Verzögerung des Sprechmomentes zum Raum
macht, bis zu einem lebendigen Lesen ein totes Zeichen bleibt, beharrt das Sprechen
immer in seiner Präsenz.
Wie in seiner Kritik am Wort und am Logos angedeutet, schlägt Derrida als Alternative
für diesen 'narzißtischen' Logozentrismus die 'Grammatologie' vor, die als 'die Lehre
von der Schrift' übersetzt werden kann. 50 Die Schrift kann zwar nur durch den
TPF
FPT
Vergleich mit dem Wort untersucht werden, aber jene ist nach Derrida ursprünglicher
als dieses. Anders gesagt, die Grammatologie zielt darauf ab, zu erhellen, daß die
Schrift die Grundlage ist, die den Logos lebendig machen kann und durch welche die
Bedeutungen formuliert werden können. Er sagt in einem Interview über die
Grammatologie folgendes:
''Ich würde mit einem Wort sagen, daß sie [sc. die Grammatologie] die
Wissenschaft festschreibt und ent-grenzt; sie muß die Normen der
Wissenschaft in deren eigener Schrift wirken lassen, in freier und doch
49
PT
J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, a.a.O., S. 255.
TP
TP
50
PT
Derrida befaßt sich hier nicht mit der Schrift, die als eine sekundäre Funktion der Stimme gedacht wird,
d. h. mit der Grammatik der Sprache oder mit der Logik ihrer Verwendung, sondern mit der Wissenschaft
der Schrift selbst.
21
strenger Weise; also, noch einmal, sie markiert und lockert gleichzeitig die
Grenze, die das Feld der klassischen Wissenschaftlichkeit umschließt.'' 51
TPF
FPT
Diese Passage bietet aber eine Möglichkeit an, die Grammatologie wieder auf das
logozentrische Denken, z. B. auf die Transzendentalphilosophie Kants bzw. die
Ursprungsphilosophie
zu
beziehen,
welche
die
Möglichkeitsbedingungen
der
Wissenschaft untersucht. Die Kritik von Habermas an Derrida steht in der Tat in dieser
Tradition. Derrida bleibt nach ihm trotz seines Versuches, die sogenannte
'temporalisierte Ursprungsphilosophie' zu überwinden, noch in den Bahnen einer
Fundamentalphilosophie:
''Als Teilnehmer am philosophischen Diskurs der Moderne erbt Derrida die
Schwächen
einer
Metaphysikkritik,
die
von
der
Intention
der
Ursprungsphilosophie nicht loskommt. Trotz des veränderten Gestus
betreibt auch er am Ende nur eine Mystifizierung handgreiflicher
gesellschaftlicher Pathologien; auch er entkoppelt das wesentliche, nämlich
dekonstruierende Denken von der wissenschaftlichen Analyse und landet
bei der leerformelhaften Beschwörung einer unbestimmten Autorität.'' 52
TPF
FPT
Daß Derrida die mystische Charakteristik der Metaphysik erbt, wegen der die
sozialpathologischen Erscheinungen nicht wissenschaftlich analysiert werden könnten,
ist also der Kern der Kritik von Habermas an Derrida. Diese Kritik an Derrida zeigt, daß
der postmoderne Versuch, den Ursprung der (modernen) Rationalität im irrationalen
oder antirationalen Bereich zu finden, paradoxerweise mit der Bestätigung des
transzendentalen Schemas enden kann. Die Nachfolger des modernen Subjektivismus
gehen daher von der Unentbehrlichkeit der Transzendentalität aus und wollen eben
deswegen durch eine Erneuerung der transzendentalen Subjektsphilosophie das Problem
der Moderne lösen. Ein Beispiel dafür können wir in der Arbeit von Luc Ferry und
Alain Renaut sehen.
51
TP
J. Derrida, Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy
PT
Scarpetta, Wien 1986, S. 81.
52
TP
PT
J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1996 (=PDM), S. 213f.
Hervorhebung im Original.
22
2.2. Die Erneuerung des Begriffs der transzendentalen Vernunft
Die zweite Antwort auf die wissenschaftlichen Ergebnisse der Psychoanalyse und der
strukturellen Linguistik ergibt sich als eine Gegenbewegung zum Postmodernismus mit
der konsequenten Beibehaltung des klassischen Autonomieideals. Diese Position geht
davon aus, daß das erkennende und handelnde Subjekt auf seine weltbildende
Subjektivität als den maßgeblichen Horizont der Selbstauslegung zurückgehen soll.
Diesem Gedanken nach leidet die Subjektkritik der Postmodernen, deren Betrachtung
der modernen Subjektivität sich nur auf die Kontingenz reiner Selbsterhaltung des
Subjekts oder den Begriff der instrumentellen Vernunft beschränkt, trotz ihres 'radikalen
Pathos' an einem 'Radikalitätsdefizit' in der Argumentation. L. Nagl, einer der Vertreter
dieser Position, kritisiert die Postmodernisten in diesem Sinne:
"[...] meist endet der 'dekonstruktivistische' Eifer zeitgenössischer
Subjektkritiker genau dort, wo die (selbstreferentielle) Untersuchung
derjenigen Kritikmittel unvermeidlich würde, welche die rhetorischen
Angriffe auf 'das Subjekt' erst möglich machten." 53
TPF
FPT
Der Kern dieser Kritik besteht darin, daß die dekonstruktivistischen Subjektkritiker, um
sich einem lesenden Publikum verständlich zu machen, "unsuspendierbare Teile
desjenigen Vernunftgebrauchs als funktionsfähig" voraussetzen,
TPF
54
FPT
den sie zu
diskreditieren versuchen. Es geht daher bei dieser Position darum, die nicht gänzlich zu
dekonstruierende Vernunft wieder aufzuwerten.
Eines der wichtigen Bücher, das in dieser Absicht geschrieben wurde, ist das Buch
Antihumanistisches Denken: Gegen die französischen Meisterphilosophen von Luc
Ferry und Alain Renaut, 55 das in den 80er Jahren, d. h. in der Zeit erschienen ist, in der
TPF
53
FPT
PT
L. Nagl, Zeigt die Habermassche Kommunikationstheorie einen 'Ausweg aus der Subjektsphilosophie'?,
TP
in: M. Frank / G. Raulet / W. Reijen (Hg.), Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt/M. 1988, S. 346.
54
PT
Ebd.
TP
TP
55
PT
Titel der Originalausgabe: La pensee 68. Essai l’anti-humanisme contemporain, Paris 1985. Habermas
beurteilt in einem Interview diese philosophische Arbeit von Ferry positiv, der gegen die Postmoderne die
Kantische Subjektsphilosophie zu rekonstruieren versucht: "Seine politische Philosophie zeigt, daß die
Produktivität in der jüngeren Generation nicht erschöpft ist – und sich freigemacht hat von
23
die Postmoderne in ihrer vollen Blüte war. In diesem Buch setzen sich die Autoren
einerseits mit Hilfe einer erneuten Deutung der Kantischen Subjektsphilosophie, die
einer der Hauptangriffsziele der Postmodernisten ist, mit den Postmodernen auseinander
und halten zugleich andererseits an der Idee der Autonomie des Subjekts fest.
Sie unterscheiden zunächst die 68-Bewegung vom 68er-Denken, das den unmittelbaren
Anfang des 80er-Jahre-Individualismus ausmache. 56 Dabei untersuchen sie die Frage,
TPF
FPT
ob die 68-Bewegung, wie es das 68er-Denken tut, antihumanistisch gelesen werden
kann, und wenn es nicht so ist, warum das '68er-Denken' diese Bewegung als eine
antihumanistische Bewegung ansieht, und sie gehen zuletzt auf die Frage ein, wie die
Idee der modernen Subjektivität u. a. bei Kant verstanden werden muß.
Wie in dem Titel ihres gemeinsamen Buches angedeutet, sind Ferry und Renaut der
Ansicht, daß die 68-Bewegung nicht als ein unmittelbarer Anfang des 80er-JahreIndividualismus verstanden werden darf, der den Postmodernismus als seine Ideologie
erzeugt, sondern im Rahmen einer traditionell humanistischen Bewegung gedeutet
werden sollte. Das postmoderne Denken, d. h. das 68er-Denken besteht in der
Verteidigung des Menschen gegen das den Menschen unterdrückende System, genauso
wie die Mai-Bewegung. Der zentrale Unterschied zwischen ihnen liegt aber darin, daß
jenes die Emanzipation des Menschen vom System mit der Kritik an der Subjektivität
gleich setzt, die sich besonders im deutschen Idealismus verkörpere, während diese das
den Menschen unterdrückende System durch eine erneute Deutung der Subjektivität
überwinden will. Von daher wird die moderne subjektive Philosophie, welche die
Tradition des modernen Humanismus begründet und fortgeführt haben sollte, vom 68erDenken als ein wichtiger Angriffspunkt angesehen.
In der Metaphysik der Subjektivität, welche im System Hegels ihren Höhepunkt erreicht,
wird das Subjekt als vollkommen abgeschlossen gedacht. Die auf ein System
ausgerichtete Metaphysik kann also ihrem Wesen nach nichts anderes tun, als die auf
neuphilosophischen Berührungsängsten vor den teutonischen Meisterdenkern." J. Habermas, Untiefen der
Rationalitätskritik, in: ders., Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1996 (= NU), S. 137.
TP
56
PT
Als das '68er-Denken' bezeichnen Ferry und Renaut eine Gruppe von Autoren der chronologisch den
Mai-Ereignissen nahstehenden 'antihumanistischen' Werke. Dazu gehören z. B. Die Ordnung der Dinge
1966, Die Archäologie des Wissens 1969 von Foucault, Für Marx 1965, Lenin und die Philosophie und
Über die Beziehungen von Marx zu Hegel von Althusser, Die Schrift und die Differenz 1967,
Grammatologie 1967, Fines hominis 1968 von Derrida, Ecrits 1966 von Lacan, Heritiers 1964, La
Reproduction von Bourdieu und Passeron und Difference et repetition 1969, Logique du sens 1969 von
Deleuze.
24
der Abgeschlossenheit des Subjekts basierende Weltsicht herzubringen, die letztlich zu
einer Verdinglichung und Instrumentalisierung der anderen Subjekte führt. Im
Gegensatz zu der Vorstellung von der Abgeschlossenheit des Subjekts, die wahre
Freiheit verhindert, ist die Dimension der Erschlossenheit des Menschen eine
unentbehrliche Bedingung für die Autonomie des Subjekts. Von daher ist die Idee der
modernen Autonomie des Subjekts bloß eine 'Illusion', wenn sie auf dem
abgeschlossenen Subjekt basiert. L. Ferry und A. Renaut fassen die Logik der Kritik des
68er Denkens an dem Subjekt wie folgt zusammen:
"Wenn die Autonomie als tatsächlich und umfassend verstanden werden
könnte, dann ist klar, daß das so gesetzte (absolute) Subjekt gar nicht anders
kann, als vollkommen abgeschlossen zu sein, ohne ein es determinierendes
Außen und bar jeder Öffnung auf eine irgendwie geartete Andersheit." 57
TPF
FPT
Die Kritik von Ferry und Renaut an dem 68er-Denken richtet sich also gegen dessen
Behauptung, daß Begriffe wie 'Humanismus', 'Individualismus' und 'Metaphysik der
Subjektivität' homogen seien und aus der (modernen) Vernunft resultierten. Sie sind
durchaus damit einverstanden, daß das systemorientierte metaphysische Denken oder
die Abgeschlossenheit der Metaphysik von dem allein auf der Erschlossenheit des
Menschen beruhenden Humanismus weit entfernt sei und daß sich die moderne
Philosophie der Subjektivität zur Metaphysik der Subjektivität entwickelt habe und
dadurch beim Gedanken einer Abgeschlossenheit des Menschen angelangt sei. Aber sie
behaupten dennoch, daß es nicht zwingend sei, die Philosophie der Subjektivität zu
einer Metaphysik der Subjektivität weiter zu entwickeln, und daß eine Philosophie der
Subjektivität daher auch heute eine Bedeutung hat.
Was verstehen Ferry und Renaut unter dem metaphysischen Subjekt, das einen
illusionären Humanismus hervorrufe? Sie betrachten es, Heidegger folgend, der die
Metaphysik im Sinne der Seinsvergessenheit kritisiert, unter drei Gesichtspunkten:
Erstens: die metaphysische Subjektivität wird in der Erkenntnistheorie gedacht als
"Zentrum einer als ihrer selbst einsichtigen und vollkommen rational vorgestellten Welt
eines allwissenden Bewußtseins", 58 wie sie sich in der cartesianischen Philosophie zeigt.
TPF
57
TP
PT
FPT
L. Ferry / A. Renaut, Antihumanistisches Denken. Gegen die französischen Meisterphilosophen,
München 1987, S. 216.
TP
58
PT
A.a.O., S. 218.
25
Zweitens: das metaphysische Subjekt wird in der praktischen Philosophie bestimmt als
Vernunft, die den Gegenstand praktisch beherrschen will, wie es die praktische
Philosophie von Kant und Fichte vertritt. "Für die Philosophie des Willens ist das
Handeln der Menschen, zum Beispiel das geschichtliche Geschehen, in letzter Instanz in
der Intention des Subjekts begründet. [...] Diese Sichtweise läßt die Dimension des
Geheimnisses, die jedes Geschehen charakterisiert, zugunsten einer erschöpfenden
Begründung des Geschehens in der Subjektivität verschwinden." 59 Nach Heidegger
TPF
FPT
vereinigen sich das erkenntnistheoretische, das praktischphilosophische und das
metaphysischen Subjekt in dem absoluten Subjekt bei Hegel, das bekanntlich die
Versöhnung des Willens mit der Intelligenz darstellt.60
TPF
FPT
Drittens: das metaphysische Subjekt wird als Wille zum Willen definiert, der nur als
'Beherrschung um der Beherrschung willen' existiert, ohne sich einen äußeren Zweck zu
setzen. Von daher bezieht sich der Wille hier nur auf sich selbst. In diesem Willen sieht
Heidegger eine Art von 'instrumenteller' Vernunft, die "niemals auf den Endzweck,
sondern nur auf die Mittel reflektiert" in dem Sinne, daß sie "jedes Ziel an sich leugnet
und Ziele nur zuläßt als Mittel, um sich willentlich zu überspielen." 61
TPF
FPT
Diese Charakteristiken des von Heidegger kritisierten metaphysischen Subjekts fassen L.
Ferry und A. Renaut im Folgenden zusammen:
"Die Täuschung dieses Subjektes besteht darin, daß es sich nicht mehr als
zeitliches und endliches Wesen denkt, sondern als außerzeitliches und
absolutes Wesen." 62
TPF
FPT
Daher suchen sie eine Möglichkeit eines auf der Idee der Subjektivität basierenden und
zugleich nicht-individualistischen sowie nicht-metaphysischen Humanismus. Und sie
sehen diese Möglichkeit in der Schematismus-Theorie Kants verwirklicht.
Kant entwickelt die Schematismustheorie in der Kritik der reinen Vernunft, um die
Antinomie des Cartesianismus und des Empirismus aufzulösen. Während die
Cartesianer von der Existenz allgemeiner eingeborener Ideen ausgehen, sind die
Empiristen der Meinung, daß die Vorstellung einer allgemeinen Idee aus der Erfahrung
59
PT
A.a.O., S. 219.
TP
60
PT
Siehe Hegel, Enzyklopädie I, § 234, Zusatz, in: TW, Bd. 8, S. 387.
TP
61
PT
M. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 89.
TP
TP
62
PT
L. Ferry / A. Renaut, a.a.O., S. 220.
26
abgeleitet ist. Die Schematismustheorie Kants zielt daher darauf ab, die Relativierung
der Wahrheit als eine bloße Überzeugung bei den Empiristen und die abstrakte
Universalität der Wahrheit bei den Rationalisten zu vermeiden. Das Schema wird also
als eine Synthese von Kategorie und Zeit, d. h. von dem Begriff und der Zeit, gedacht.
Dabei vollzieht sich diese Synthese in der Einbildungskraft, welche das Vermögen ist,
"einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen". 63
TPF
FPT
Dabei geht es darum, aufzuzeigen, wie die Besonderung und die Verzeitlichung der
Begriffe oder der Kategorien in einem Bewußtsein entstehen, ohne daß sie ihre
Universalität und Apodiktizität verlieren. Dafür definiert Kant zunächst die Begriffe als
Schemata, d. h. nicht als allgemeine Vorstellungen, sondern als allgemeine methodische
Anleitungen zur Konstruktion der Objekte. Der Unterschied zwischen den Empiristen
und Kant zeigt sich anhand des Beispiels eines Dreiecks. Bei den Empiristen gilt
folgendes:
"Jedes Mal, wenn ich mir ein Dreieck mit seinen verschiedenen
mathematischen Eigenschaften vorstelle, bringe ich mir unvermeidlich in
der Zeit meines Bewußtseins ein besonderes Dreieck, ein Dreieck von
besonderer Gestalt und besonderen Ausmaßen vors Bewußtsein." 64
TPF
FPT
Im Gegensatz zur skeptischen Schlußfolgerung der Empiristen, die die allgemeinen
Ideen auf die psychologische Vorstellung reduzieren, ist es bei Kant so,
"daß das Schema des Dreiecks nichts anderes ist als eine Reihe von
Operationen, die konkret und in der Zeit auszuführen sind, um mit Lineal
und Kompaß ein Dreieck zu zeichnen." 65
TPF
FPT
Gerade in dieser Beständigkeit und Universalität der Konstruktionsmethode eines
Dreiecks besteht die Möglichkeit der Wissenschaft und nicht des Glaubens.
L. Ferry und A. Renaut sehen in dieser Schematismus-Theorie Kants das Bild des nicht
abgeschlossenen Subjekts, das die Begriffe und die Zeit sowie die Allgemeinheit und
die Besonderheit miteinander vereinigt und dadurch einen objektiven Sinn konstituiert.
63
PT
I. Kant, 'Einbildungskraft', in: ders., Kritik der reinen Vernunft, Sachregister, Hamburg 1971, S. 791.
TP
64
PT
L. Ferry / A. Renaut, a.a.O., S. 225.
TP
TP
65
PT
A.a.O., S.226.
27
Dieses Subjekt unterscheidet sich deutlich vom absoluten Subjekt, das nichts anderes tut,
als den Bildungsprozeß des Geistes nur im Nachhinein darzustellen.
Ferry und Renaut weisen darauf hin, daß Heidegger die Idee des Kantischen Subjekts
auf seinen Begriff des 'Daseins' bezieht. Er stützt sich vor allem auf die feste
Verbindung der schematisierenden Tätigkeit mit der Einbildungskraft bei Kant, welche
das Vermögen ist, sich Gegenstände auch in ihrer 'Abwesenheit' vorzustellen. Hier
erkennt Heidegger die Ähnlichkeit zwischen den schematisierten Kategorien und dem
'ontologischen Vorverständnis', d. h. einer 'allgemeinen Definition der Seiendheit'.
Damit besteht nach ihm der Begriff als Schema bei Kant nicht mehr in der bloßen
Vorstellung, sondern in einer sinnkonstituierenden Tätigkeit. Allein das, was
schematisiert, hat Sinn. Von diesem Standpunkt aus erklärt sich, warum für Kant das
'reine Absolute', das alle mögliche Erfahrung übersteigt und für dessen Erfassung kein
Schematismus möglich ist, kein sinnvoller Gegenstand der theoretischen Philosophie ist.
Trotz dieser Interpretation Heideggers unterscheiden L. Ferry und A. Renaut den
Begriff 'Dasein' bei Heidegger und den der Subjektivität bei Kant voneinander. Denn
das Dasein hat zwar eine Erschlossenheit zu dem Sein und dem Seienden (ontologische
Differenz), aber es enthält keine Autonomie in sich, die eine Fähigkeit ist, den
objektiven Sinn zu konstituieren. Das Dasein konstituiert nicht, sondern legt den Sinn
von Sein aus. 66
TPF
FPT
In diesem Sinne hat es zwar eine Offenheit, aber seine Hauptbestimmung ist nicht mehr
Autonomie, sondern Gelassenheit. Heidegger fängt also nach ihnen mit der These der
Überwindung der Metaphysik an, aber endet letztlich mit der 'Gestalt eines neuen
Dogmatismus'. Diese Denkweise Heideggers verschärft sich nach der sogenannten
'Kehre'. Hier untersucht Heidegger niemals die Bedingungen, unter denen sich der
Mensch als Subjekt des Schematismus seine Endlichkeit aneignen kann. Hier wird die
ontologische Differenz als Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden gedacht,
ohne zu berücksichtigen, wie sie vom Dasein wahrgenommen wird. Von diesem
Standpunkt aus sehen L. Ferry und A. Renaut den wesentlichen Mangel der
Heideggerschen Phänomenologie im Folgenden:
"Die Dimension eines Subjekts, das Herr seiner selbst und der Welt ist, die
das metaphysische Subjektverständnis impliziert, wird aufgrund der
'Entdeckung' der ontologischen Differenz ganz und gar in den zu
TP
66
PT
A.a.O., S. 224.
28
überwindenden Bereich der Illusionen verwiesen. Aus dem Heideggerschen
Denken heraus kann die Idee der Autonomie legitimerweise keinen
angemessenen Status erhalten." 67
TPF
FPT
Man kann auch in Kants Begriff der Subjektivität einen Ansatz erkennen, der eine
kritische Betrachtung der ontologischen Differenz ermöglichen würde. Aber Kant
beschäftigt sich nicht mit diesem Problem, vielmehr fragt er nach den Bedingungen der
Möglichkeit für eine legitime Rolle der metaphysischen Ideen. Von daher ist für Kant
eine ontologische Metaphysik grundsätzlich bedeutungslos, die sich wegen der
Abgeschlossenheit ihres Systems auf dem Begriff des Beherrschens beziehen kann.
Aber "sobald man ihr einen Wahrheitsstatus beilegt, kann sie in der Eigenschaft als
regulatives Reflexionsprinzip für die menschliche Praxis sowohl im wissenschaftlichen
wie auch im ethisch-politischen Bereich einen Sinnhorizont abgeben." 68
TPF
FPT
L. Ferry und A. Renaut behaupten, daß es nicht logisch zwingend sei, die
Dekonstruktion der Metaphysik zu einer Dekonstruktion des Humanismus zu erweitern,
der von der Autonomie des Subjekts ausgeht, obwohl die Dekonstruktion des
metaphysischen Subjekts eine Möglichkeit des offenen Subjekts eröffnet, das einen
authentischen Humanismus begründen könne. Auch die Philosophie Heideggers ist in
diesem Sinne nach L. Ferry und A. Renaut problematisch. Das Problem ist, daß es bei
ihm keine konstitutive Autonomie des Subjekts gibt, d. h. die Dekonstruktion der
Metaphysik und die der Autonomie des Subjekts fallen für ihn zusammen. Auch das
68er-Denken, das der späte Heidegger als eine Quelle seines Denkens betrachtet, macht
den gleichen Fehler. Die 68ier kultivieren gemeinsam "unsere Epoche in Gestalt dieses
'gleichgültigen Ich, dem es an Willen mangelt'" 69 . L. Ferry und A. Renaut beenden ihr
TPF
FPT
Buch hinsichtlich dieser 'Regression' der Postmodernen mit folgender Aussage, wobei
sie Kant zitieren:
"Zumindest aber müßte es paradox und problematisch erscheinen, daß das,
was sich als postmodern ausgibt, indem es einer Idee vom Menschen, die
doch der eigentliche Beitrag der Moderne war, jeden Sinn entzieht, ganz
merkwürdigerweise die Gestalt einer Regression annimmt, die erneut das
67
PT
A.a.O., S. 229.
TP
68
PT
A.a.O., S. 230.
TP
TP
69
PT
Vgl. A.a.O., S. 233.
29
Ideal 'einer Natur, die einem Willen [...] unterworfen ist', durch das
postmoderne Ideal 'einer Natur, welcher der Wille unterworfen ist' 70 ,
TPF
ersetzt." 71
TPF
Die
FPT
FPT
subjektphilosophische
Denkrichtung
geht
also
davon
aus,
daß
die
sozialpathologischen Probleme der Moderne nicht aus dem Wesen der modernen
Subjektivität stammen, sondern aus der inkonsequenten Anwendung der Vernunft
resultieren. Es gibt aber eine andere Denkrichtung, die diese subjektphilosophische
Position stark kritisiert. Sie nimmt die Kritik an der modernen subjektiven Vernunft auf,
ohne gleichzeitig die Möglichkeit eines vernünftigen Denkens zu bestreiten. In dem
Zentrum des Versuches, beide Faktoren in Erwägung zu ziehen und gleichzeitig eine
neue Alternative innerhalb der Kategorie der Rationalität zu finden, steht der Begriff der
Intersubjektivität.
2.3. Die Wende zur Intersubjektivitätstheorie
Seitdem die Psychoanalyse und die Sprachwissenschaft die Autonomie des Subjekts
sowie die moderne Rationalität in Frage gestellt haben, wurde es in jüngerer Zeit eines
der wichtigsten sozial- und moralphilosophischen Probleme zu erkunden, in welchem
Verhältnis
der
Einzelne
und
die
Gesellschaft,
die
Subjektivität
und
die
Gesellschaftlichkeit sowie das Subjekt und das Andere zueinander stehen – ein
Verhältnis, das eine moderne Variante der alten metaphysischen Frage nach dem
Verhältnis zwischen Einem und Vielen sein könnte. Sowohl für diejenigen, die von der
absoluten Autonomie des vernünftigen Subjekts sprechen, als auch für die gegenteilige
Position, die die Autonomie des Subjekts bloß als einen Schein ansieht, scheint diese
Frage leicht zu beantworten sein. Denn die erste Position kann in dem auf der Idee der
Vollkommenheit der Vernunft beruhenden extremen Individualismus und die zweite in
einem das Individuum durch und durch unter das Ganze subsumierenden extremen
Totalitarismus leicht ihren Niederschlag finden.
Man kann aber einen Einwand gegen diese beiden Positionen erheben, denn sie basieren
auf dem epistemologischen sowie praktischen Schema der Trennung von Subjekt und
70
PT
I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, K. Vorländer (Hg.), Hamburg 1990, S. 53.
TP
TP
71
PT
L. Ferry / A. Renaut, a.a.O., S. 233.
30
Objekt und können daher nur "eine falsche Identität von Allgemeinem und
Besonderem" 72 hervorrufen. Für die, die das oben genannte philosophische Schema in
TPF
FPT
Frage stellen, scheint jene philosophische Frage nicht leicht beantwortet werden zu
können. Denn sie dürfen weder die vollkommene Autonomie der Subjektivität
behaupten, noch diese bloß als einen Schein ansehen, vielmehr müssen sie einen dritten
vermittelnden Weg einschlagen. Anders gesagt, sie müssen ein paradoxes Problem, d. h.
die Aufnahme der Kritik an der modernen Subjektivität einerseits und die Erhaltung des
Begriffes der individuellen Autonomie andererseits, widerspruchslos miteinander in
Einklang bringen.
TPF
73
FPT
Um dieses Problem zu bewältigen, brauchen sie ein
epistemologisch und praktisch ganz anderes Schema als das traditionelle Schema der
Trennung von Subjekt und Objekt. Die Intersubjektivität ist einer der von ihnen
vorgeschlagenen zentralen Begriffe.
Die Intersubjektivität wurde von Husserl philosophisch eingeführt, um einen
Solipsismus seiner auf dem transzendentalen Ich beruhenden frühen Phänomenologie
dadurch zu vermeiden, daß er "alle Formen des Miteinander mehrerer transzendentaler
oder mundaner Ich" sowie die objektive Welt untersucht, bei denen die "polyzentrische
Intersubjektivität" herrscht. 74 Die Philosophen, welche in diesem Begriff eine neue
TPF
FPT
philosophische Fragestellung sehen und ihn sogar zum Prinzip der Philosophie erheben,
verstehen
die
Einführung
der
Intersubjektivität
als
einen
revolutionären
Paradigmenwechsel, durch den man die Einschränkung der modernen Subjektivität
überwinden und gleichzeitig den philosophischen Anarchismus des Postmodernismus
vermeiden kann. Sie gehen davon aus, daß das subjektphilosophische Schema der
Trennung von Subjekt und Objekt sowie von Subsumierendem und Subsumiertem für
die gegenwärtige Herrschaftsstruktur und die aus dieser Struktur resultierenden
negativen Erscheinungen verantwortlich ist und daß dieses Schema daher zu allererst
aufgehoben werden muß. Das Schema der Intersubjektivität wird als das Verhältnis von
Subjekt und Subjekt (S-S) bezeichnet. Der Paradigmenwechsel vom S-O zum S-S
72
TP
PT
M. Horkheimer / Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 141.
73
TP
PT
In
diesem
Zusammenhang
besteht
nach
A.
Honneth
eine
der
Hauptaufgaben
der
Intersubjektivitätstheorie darin, den Entstehungsprozeß der moralischen Autonomie des Einzelnen
philosophisch zu deuten. Er geht also davon aus, daß die Autonomie nicht vorgegeben ist, sondern durch
bestimmte Prozesse hergestellt wird. A. Honneth, Das Andere der Gerechtigkeit, a.a.O., S. 239f., S. 245ff.
TP
74
Vgl. K. Held, 'Intersubjektivität' in: HWPh, Bd. 4, Sp. 521.
PT
T
31
Schema wird für "einen qualitativen Sprung" und "einen revolutionären Bruch" 75 mit
TPF
FPT
der Vergangenheit gehalten. In diesem Zusammenhang schreibt E. Düsing:
"Dieser Bruch ist nämlich ein Abbruch der klassischen Tradition eines
humanistischen Bildungsbegriffs und ein Umbruch im Verständnis des
Menschen, der nunmehr in seiner metaphysischen Ortlosigkeit radikal als
rein gesellschaftliches Wesen aufgefaßt wird, als ein kommunikatives
Sinnenwesen, das im Medium gemeinschaftlicher Wir-Erfahrung zu sich
selbst gebracht werden muß und das die Realität der Welt erst vermittels
rationaler Diskurse zu erfassen vermag." 76
TPF
FPT
Aus demselben Grund beurteilt Habermas die Ablösung des Bewußtseinsparadigmas
und den Paradigmenwechsel zur Intersubjektivität als "die eigentliche philosophische
Leistung unserer Epoche". 77 So erhebt sich die Intersubjektivität zum Leitbegriff der
TPF
FPT
Philosophie bei denen, die einerseits die Grenze der modernen Subjektphilosophie
überwinden und andererseits das Projekt der Moderne, d. h. die Emanzipation des
Menschen durch die Rationalität, weiterführen wollen.
Es gibt zwar viele Konzeptionen der 'Intersubjektivität', 78 aber die behavioristische
TPF
FPT
Konzeption Meads, eines Sozialpsychologen, wird als eine zentrale Form der
Intersubjektivität angesehen. 79 Er sieht das Ziel der Psychologie darin zu erklären, wie
TPF
75
P
P
FPT
E. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein. Behavioristische, phänomenologische und
idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel, Köln 1986, S. 2.
76
Ebd.
P
P
77
NU, S. 134..
P
P
P
78
E. Düsing teilt die Intersubjektivitätstheorie in drei Typen ein nach dem Kriterium, welcher Faktor bei
P
P
dem Individuum oder dem Subjekt einerseits und der Gesellschaft oder dem Anderen andererseits betont
wird: 1. Die behavioristische Intersubjektivitätstheorie wie z. B. bei H. Mead, die vom "Primat einer sich
selbst formierenden Gesellschaft vor der Bildung selbstgewusster Individuen" in dem Sinne spricht, daß
die Individualität des Einzelnen "rein von außen her, gesellschaftlich und gattungsgeschichtlich
konstituiert" ist. 2. Die phänomenologische Intersubjektivitätstheorie wie z. B. bei A. Schütz, die vom
"Primat der Subjektivität vor der Gesellschaft" in dem Sinne spricht, daß die Intentionalität des reinen Ich
als
Ordnungsschema
interpersonaler
Beziehungen
angesehen
wird.
3.
Die
idealistische
Intersubjektivitätstheorie wie z. B. bei Fichte und Hegel, die von "der korrelativen Konstitution von
Selbstbewußtsein und interpersonalem Sein" spricht. E. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein,
a.a.O., S. 6ff.
P
79
P
J. Habermas, H. Joas und A. Honneth etc. sehen in Meads Theorie einen bahnbrechenden Fortschritt
P
für die Intersubjektivitätstheorie: H. Joas, Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von
32
ein Aktor seine Identität oder Subjektivität erreicht. Sein Ausgangspunkt ist, daß die
Identität eines Individuums nur durch seine Interaktion mit dem Anderen, besonders
durch 'den Kampf um Anerkennung' möglich ist. 80 Diese Position bedeutet vor allem,
TPF
FPT
daß er jede transzendentale Abgeschlossenheit des Subjekts ablehnt, die von den
Subjektivitätstheoretikern als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung aufgefaßt wird.
Seine Auseinandersetzung mit der psychologischen Methode Cooleys zeigt, daß er
keine Form einer transzendentalen Fähigkeit des Subjekts anerkennt.
Cooley wollte die Interaktion oder die soziale Anlage des Menschen mit Hilfe des
psychologischen Begriffs 'sympathetic introspection' erklären. 81 Er ist der Ansicht, daß
TPF
FPT
das Selbstbewußtsein der Individuen durch die 'imagination' dessen zustande kommt,
wie die anderen sie sehen. 82 Der Kernpunkt seiner Theorie liegt also darin, daß die
TPF
FPT
Realität sowohl der gesellschaftlichen Verbindung als auch des individuellen
Selbstbildes nur in wechselseitigen Introjektionen besteht, welche die Mitglieder eines
Gemeinwesens aneinander vornehmen. Also spielt für ihn die Einbildungskraft bei der
Entwicklung des Selbstbewußtseins eine entscheidende Rolle. Bei der Kritik Meads an
Cooley geht es darum, daß seine Theorie noch auf ''einem gewissen Subjektivismus'' in
dem Sinne basiert, daß sie ''eine schon weit ausgebildete und in sich relativ
G. H. Mead, Frankfurt/M. 1980, J. Habermas, Individualisierung durch Vergesellschaftung. Zu G. H.
Meads Theorie der Subjektivität, in: ders., Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988, S. 187ff. und
A. Honneth, Anerkennung und Vergesellschaftung: Meads naturalistische Transformation der
Hegelschen Idee, in: ders., Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte,
Frankfurt/M. 1994, S. 114ff. Nach Honneth z. B. bietet die Theorie Meads "die geeignetsten Mittel" an,
mit denen man die idealistische Intersubjektivitätsidee des jungen Hegel, welche sich in der Form des
Kampfs um Anerkennung entwickelt, naturalistisch, d. h. wissenschaftlich rekonstruieren kann. A.
Honneth, a.a.O., S. 114f.
80
P
P
Diese Ansicht verdankt sich dem Mead-Studium Honneths. Der Ausgangspunkt seiner Mead-Lektüre
P
ist wie folgt: Meads Sozialpsychologie "versucht den Kampf um Anerkennung zum Bezugspunkt einer
theoretischen Konstruktion zu machen, mit der die moralische Entwicklung von Gesellschaft erklärt
werden soll." A. Honneth, a.a.O., S. 114.
81
Über die Kritik Meads an Cooley siehe u. a. seinen Artikel Cooleys Beitrag zum soziologischen Denken
P
P
in Amerika (1930), in: G. H. Mead, Gesammelte Aufsätze, H. Joas (Hg.), Bd. 1, Frankfurt/M. 1987, S.
329-345..
P
82
P
Siehe die folgenden Schriften von Cooley, die die 'sympathetic imagination' als Grundlage für die
P
Fähigkeit der Rollenübernahme behandeln: Ch. H. Cooley, Human Nature and the social Order, New
York 1902 und ders., Social Organisation, New York 1909..
P
33
P
abgeschlossene psychische Realität'' 83 voraussetzt, die bei Mead erst durch die sozialen
TPF
FPT
Interaktionen entsteht.
Der Gedanke, daß die Identität eines Individuums durch die Interaktion zwischen
Subjekten entsteht, führt außer der Ablehnung jeder Transzendentalität eines Subjekts
zu einer neuen Bestimmung des Psychischen, das den Gegenstand der Psychologie
ausmacht. Das Psychische ist eine innere Erfahrung des Subjekts, die entsteht, wenn
dem Subjekt ein ungewöhnlicher Gegenstand begegnet. Das Subjekt reflektiert dabei
auf sich selbst und dadurch kann sein Selbstbewußtsein oder seine Identität gebildet
werden. Dieser Gedanke unterscheidet sich vor allem von der sogenannten
'funktionalistischen' Psychologie, die behauptet, daß das 'Psychische' durch die Reaktion
des Subjekts auf den Reiz des Objektes entsteht; wenn ein Subjekt einer neuen Situation
begegnet, die unter die bislang geltenden Situationsdeutungen nicht subsumiert werden
kann und in der deswegen seine Handlung gestört wird, macht es eine Erfahrung, in der
seine Vorstellung von der übrigen Wirklichkeit getrennt wird. Die funktionalistische
Psychologie nennt diese innere Erfahrung des Subjekts das 'Psychische'.
In dem Gedanken, daß der Bewußtseinszustand des auf den Reiz des Objektes
reagierenden Subjekts als Psychisches bestimmt wird, bleibt allerdings noch ein Kern
der modernen Subjektsphilosophie erhalten, der in dem Schema der Trennung von
Subjekt und Objekt besteht. Hierbei geht es nur um die Anpassung an das Objekt bzw.
die Herrschaft dem Objekt gegenüber, nicht um die Interaktion. Die Störung einer
Handlung des Subjekts kann nach dieser Psychologie nicht durch die Aktivität des
eigenen Ich, sondern durch ''eine schärfere Bestimmung der Objekte'' aufgelöst werden,
welche den Reiz bilden. 84 Der Kern der Kritik Meads besteht also darin, daß es sich bei
TPF
FPT
dieser Psychologie nur um die kreative Anpassung an eine falsch eingeschätzte Realität,
nicht um die Selbstreflexion des Subjekts handelt.
Mead ist dagegen der Meinung, daß man einen ganz anderen Handlungstypus braucht
als dieses instrumentelle Schema, um den Entstehungsvorgang der Identität eines
Aktors zu verstehen, nämlich das Schema einer Interaktion zwischen Subjekten. Wenn
ein Subjekt vom Anderen nicht anerkannt wird oder seine interaktionäre Beziehung zum
Anderen verletzt wird, erscheint nach ihm das 'Psychische', durch welches das Subjekt
83
P
E. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein, a.a.O., S. 42. Außerdem siehe dazu G. Mead,
P
Coolys Beitrag zum soziologischen Denken, a.a.O., besonders S. 332ff.
P
84
P
G. H. Mead, Soziales Bewußtsein und das Bewußtsein von Bedeutungen, in: ders., Gesammelte
P
Aufsätze, Bd. 1, a.a.O., S. 218.
34
auf sich selbst reflektiert und ferner seine Identität bildet. Dieser Gedanke setzt voraus,
daß ein Subjekt fähig ist, bei einer anderen Person ein Reaktionsverhalten auszulösen.
Nur durch diese Fähigkeit vermag das Subjekt ein Wissen von der intersubjektiven
Deutung seiner Handlungen herzustellen. Nur aus dieser 'exzentrischen Perspektive'
kann ich ein Bild von mir selbst gewinnen und somit zu einem Bewußtsein meiner
Identität gelangen. Während der Erfolg einer instrumentalen Handlung von der richtigen
Bestimmung der betroffenen Dinge abhängt, führt erfolgreiches Sozialverhalten ''auf ein
Gebiet, in dem das Bewußtsein eigener Haltungen zur Kontrolle des Verhaltens anderer
verhilft.'' 85
TPF
FPT
Der Kampf um Anerkennung, welcher bei Mead das Psychische hervorruft, enthält in
sich zwei Momente: erstens die Unentbehrlichkeit der Anerkennung durch die Anderen,
d. h. die Unentbehrlichkeit der Sozialisation eines Individuums; zweitens die
Möglichkeit des Konfliktes zwischen dem Subjekt und dem Anderen und die der
Änderung des Anderen, um dann den Wunsch jenes Subjekts anzuerkennen, d. h. das
Recht des Individuums zu vergrößern. Mead berücksichtigt also mit dem Gedanken des
Kampfs um Anerkennung die Identität eines Individuums unter den beiden
Gesichtspunkten der Sozialisation sowie der Individuierung.
Die Sozialpsychologie Meads fokussiert sich nun darauf zu deuten, wie ein Individuum
vergesellschaftlicht und gleichzeitig individualisiert wird. Um diesen Prozeß zu erhellen,
geht Mead vor allem davon aus, daß das Subjekt aus zwei Bestandteilen besteht: dem
'Ich' und dem 'Mich'. Das 'Ich' ist die Instanz eines Subjekts, die für dessen spontane
Tätigkeit verantwortlich ist und jedem konkreten Bewußtseinsinhalt vorausgeht. Es ist
also ein Reservoir an psychischen Energien, das jedes Subjekt mit einer Vielzahl von
unausgeschöpften Identitätsmöglichkeiten ausstattet.
''Das 'Ich' kann deshalb niemals als ein Objekt im Bewußtsein existieren. Aber
es ist eben der Gesprächscharakter unserer inneren Erfahrung, eben der
Vorgang, in dessen Verlauf wir auf unsere eigene Rede antworten, der ein
'Ich' impliziert, das hinter der Bühne auf die Gebärden und Symbole antwortet,
welche in unserem Bewußtsein auftreten.'' 86
TPF
85
FPT
A.a.O., S. 219.
P
P
86
P
G. H. Mead, Der Mechanismus des sozialen Bewußtseins, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, a.a.O.,
P
S. 240.
35
Das 'Ich' Meads ist also mit dem transzendentalen Ich Kants vergleichbar, das ''sich nie
selbst in den Blick bekommt''. 87 In dieser Hinsicht nennt Mead es ''ein fiktives 'Ich'''. 88
TPF
FPT
TPF
FPT
Das 'Mich' ist dagegen die Instanz des Subjekts, die die sozialen Normen beherbergt,
durch die ein Subjekt sein Verhalten gemäß den gesellschaftlichen Erwartungen
kontrolliert. Es ist also das Mich, in dem das Subjekt das Bild, das andere Personen von
ihm haben, verinnerlicht.
''Solch ein 'Mich' ist also keine frühe Formation, die dann in die Körper
anderer Menschen projiziert und ejiziert wird, um ihnen die Fülle
menschlichen Lebens zu verleihen. Es ist eher eine Übertragung aus dem
Gebiet sozialer Objekte auf das amorphe, unorganisierte Gebiet dessen, was
wir als innere Erfahrung bezeichnen. Durch die Organisation dieses
Objektes, der Ich-Identität, wird dieses Material seinerseits organisiert und
in Form des sogenannten Selbstbewußtseins unter die Kontrolle eines
Individuums gebracht.'' 89
TPF
FPT
Mead erklärt mit Hilfe der Begriffe des 'Ich' und des 'Mich' den Individuierungs- und
Sozialisationsprozeß eines Individuums, d. h. das Problem der Entstehung der Identität,
und ferner die Änderung der sozialen Normen selbst.
Er erläutert in seiner Schrift Geist, Identität und Gesellschaft die Sozialisation eines
Individuums, d. h. die Entwicklung eines Subjekts zum 'Mich', anhand der Analyse des
Wachstumsvorganges des Kindes, der in zwei Stufen unterteilt werden kann: der Stufe
des 'Play' und des 'Game'. Auf der Stufe des Play kommuniziert das Kind mit sich selber
durch die Imitation des Verhaltens eines konkreten Interaktionspartners und das im
eigenen Handeln darauf komplementäre Reagieren; auf der Stufe des Game, in dem das
Kind die eigene Rolle in dem funktional organisierten Handlungszusammenhang
wahrnehmen muß, repräsentiert es aber in sich die Verhaltenserwartungen aller seiner
Mitspieler. Das Kind wird als Spieler ''von den Annahmen über die voraussichtlichen
Handlungen der eigenen Spieler'' bestimmt, 90 und seine Handlungen werden durch die
TPF
FPT
Handlungen der Mannschaft kontrolliert. Das Kind muß also während des Game die
87
P
Ebd.
P
88
P
P
Ebd.
89
A.a.O., S. 239.
P
P
P
90
G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1973, S. 196.
P
36
Haltung aller anderen Beteiligten in sich repräsentieren. Bei dieser Stufe stößt jeder
Spieler deswegen ''auf ein 'anderes', das eine Organisation der Haltungen all jener
Personen ist, die in den gleichen Prozeß eingeschaltet sind''. 91 Während es bei der ersten
TPF
FPT
Stufe um das konkrete Verhaltensmuster einer sozialen Bezugsperson geht, geht es bei
der zweiten um die sozial generalisierten Verhaltensmuster einer ganzen Gruppe, die
das Handeln aller Mitglieder kontrollieren. Der Übergang des Kindes zum
Heranwachsenden bedeutet also seine Verinnerlichung der sozialen Handlungsnormen
eines 'verallgemeinerten Anderen'. Durch die Unterscheidung zwischen der Stufe des
Plays und des Games wird folglich deutlich, daß die Sozialisation eines Kindes
überhaupt in seiner Verinnerlichung von Handlungsnormen besteht, die aus der
Generalisierung
der
Verhaltenserwartungen
aller
Gesellschaftsmitglieder
hervorgegangen sind. Von daher funktioniert die Kategorie des 'verallgemeinerten
Anderen' für Mead als ein begriffliches Bindeglied zwischen dem engeren familiären
Bereich der Play-Phase und dem weiteren gesellschaftlichen Umfeld der Game-Phase.
Allerdings macht die Sozialisation des Kindes oder die Verinnerlichung des
verallgemeinerten Anderen noch nicht seine eigene Identität aus, weil diese vor allem
etwas mit der Einzigartigkeit eines Individuums zu tun hat. Wenn das Mich als eine
Verinnerlichung der sozialen Normen und das Ich, wie Honneth sagt, ''als die
Sammelstätte all der inneren Impulse'' aufgefaßt wird, ''die in den unwillkürlichen
Reaktionen auf soziale Herausforderungen'' 92 entstehen, anders gesagt, wenn jenes den
TPF
FPT
allgemeinen Willen, dieses den individuellen Willen spiegelt, steht beides in einem
Spannungsverhältnis, das zum Konflikt zwischen dem Subjekt und seiner sozialen
Umwelt führen kann. Aus diesem Grund ist die Identität eines Subjekts nicht bloß eine
Verinnerlichung
der
Perspektive
des
verallgemeinerten
Anderen.
Dieses
Spannungsverhältnis trägt auch viel zur Änderung des verallgemeinerten Anderen oder
der moralischen Normen einerseits und zur Verstärkung der Individualität andererseits
bei.
Es wurde bereits erwähnt, daß die Forderungen des Ich eines Subjekts nur in einem
Gemeinwesen realisiert werden können, in dem ihm ein Anspruch auf die Realisierung
des entsprechenden Wunsches zusteht. Aber wenn ein Subjekt in sich allerdings
Handlungsimpulse verspürt, deren Realisierung durch die rigiden sozialen Normen
verhindert wird, d. h. diese bis dahin intersubjektiv geltenden Normen also in Zweifel
91
P
Ebd..
P
P
92
P
A. Honneth, Kampf um Anerkennung, a.a.O., S. 131.
P
37
gezogen werden, setzt sich das Ich mit den sozialen Normen auseinander, um seinen
Wunsch zu realisieren. Diese Auseinandersetzung setzt eine zukünftige Gesellschaft
voraus, die die Stelle des 'generalisierten Anderen' des existierenden Gemeinwesens
einnehmen wird und in der die individuellen Ansprüche präsumtiv Zustimmung finden
werden. Auf diese Weise wird zwischen dem ununterbrochenen Forderungen des Ich
und dem sozialen Lebensprozeß eine systematische Verbindung hergestellt, die sich auf
eine erweiterte Anerkennung der Rechten der Individuen richtet. Mead begreift die
moralischen Abweichungen des Ich als eine zivilisierende Kraft in der Geschichte der
Menschheit.
Das wissenschaftliche Ergebnis Meads kann wie folgt zusammengefaßt werden: 1) die
Idee der transzendentalen Subjektivität ist erfahrungswissenschaftlich sinnlos, 2) die
Identität eines Individuums wird sowohl durch seine Sozialisation als auch durch seine
Individuierung produziert, und 3) die sozialen Normen entwickeln sich historisch in die
Richtung einer Erweiterung der Rechte des Individuums.
38
II. Der Ausgangspunkt von Habermas: die Weiterführung
des Projektes der Aufklärung um der sittlichen Totalität
willen.
Habermas hat in einem Interview einmal gesagt, daß sein Hauptanliegen in der
"Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne" 1 bestehe. Dies enthält seine
TPF
FPT
eigene Antwort auf jene These der Paradoxie der Rationalisierung, die eben die Kritiker
der Moderne vertreten: je mehr sich die Vernunft durchsetze, desto unmenschlicher
würden die Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die "Versöhnung der mit
sich selber zerfallenen Moderne" bedeutet bei Habermas, "ohne Preisgabe der
Differenzierungen, die die Moderne sowohl im kulturellen wie im sozialen und
ökonomischen Bereich möglich gemacht haben, Formen des Zusammenlebens" zu
finden, "in denen wirklich Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhältnis
treten." 2
TPF
FPT
Habermas versucht dieses Problem aus der Perspektive der dritten Position, also
mithilfe der Intersubjektivitätstheorie zu lösen. Er ist daher weder einverstanden mit den
Verteidigern der modernen Vernunft, die sagen, die Paradoxie der Moderne resultiere
aus der inkonsequenten Anwendung der modernen Vernunft, noch stimmt er den
radikalen Vernunftkritikern zu, die behaupten, die Unmenschlichkeit stamme
unmittelbar aus dem Wesen der Vernunft selbst; vielmehr steht er auf der Seite des
dritten Wegs, der das Projekt der Aufklärung durch den Begriff der Intersubjektivität
weiterführen will. Dieser Weg basiert im Grunde auf dem Optimismus der Vernunft
bzw. auf dem Gedanken des Fortschrittes der Geschichte, aber er setzt gleichzeitig die
Erkenntnis voraus, daß die Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die mit dem Fortschritt
der Geschichte entstanden ist, eine Entfremdung des Menschen und Konflikte in der
Gesellschaft verursachen kann. Darüber hinaus geht diese Position von der Kritik aus,
daß der gegenwärtige Pessimismus letztlich zu einer 'neuen Unübersichtlichkeit' führt,
weil er diese Entfremdung und diese Konflikte nicht löst, sondern unmittelbar zu einer
Ablehnung des vernünftigen Denkens führt.
Anders als die ersten beiden im letzten Kapitel besprochenen Positionen ist Habermas
der Meinung, daß die gegenwärtigen pathologischen Erscheinungen daraus resultieren,
1
PT
NU, S. 202.
TP
TP
2
PT
Ebd.
39
daß man die Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die der Ausdifferenzierung der
Vernunft in der Moderne entspricht, mit dem einheitlichen oder subjektivistischen
Vernunftbegriff wieder in eine substanzielle Einheit bringen wolle. Er versucht
deswegen durch die Umgestaltung der monologischen und subjektivistischen in eine
intersubjektive Vernunft das Kernproblem der Moderne, nämlich den Subjektivismus
innerhalb des ursprünglichen Projekts der Moderne, zu überwinden:
"Die kognitiv-instrumentelle Vereinseitigung des modernen Begriffs der
Rationalität spiegelt die objektive Vereinseitigung einer kapitalistisch
modernisierten Lebenswelt. [...] Wenn das Paradigma des Bewußtseins
durch das der Verständigung abgelöst wird, können geduldige Analysen das
in unsere kommunikativen Alltagshandlungen eingebaute Potential einer
unverkürzten Rationalität wieder sichtbar machen." 3
TPF
FPT
Mit Sicherheit meint er mit dem Begriff einer 'verkürzten' Rationalität die Subjektivität,
die als das Prinzip der Moderne gilt. Diese entspricht allerdings der Kantischen
Aufteilung der Vernunft, die als letzter Richter in jedem Bereich der objektivierenden
Erkenntnis, der moralischen Einsicht und der Kraft des ästhetischen Urteils fungiert.
Habermas sieht den Subjektivismus als eine Form der Moderne an, in der die
ausdifferenzierte Welt mithilfe der subjektivitstischen, instrumentellen Vernunft
substanziell wiedervereinigt wird. Er identifiziert ihn nicht mit der Moderne selbst.
Er unterscheidet sich von den Subjektivsten dadurch, daß er nach einer "prozeduralen
Einheit" 4 zwischen den ausdifferenzierten Welten sucht, nicht nach einer substanziellen.
TPF
FPT
Der Subjektivismus ist nach ihm nicht die von dem Prinzip der Subjektivität logisch
abgeleitete Moderne selbst, sondern nur deren Erscheinung, und zwar eine 'verkürzte'
Form der Moderne. Wie gesagt, sowohl bei den Vernunftverteidigern als auch bei den
radikalen Vernunftkritikern liegt das Problem darin, daß sie beide den Subjektivismus
und die Moderne miteinander identifizieren. Aber die philosophische Aufgabe ist es
nach Habermas, den auf dem Bewußtseinsparadigma basierten Subjektivismus zu
überwinden, um die gegenwärtigen pathologischen Erscheinungen zu vermeiden.
3
PT
J. Habermas, Untiefen der Rationalitätskritik, in: NU, S. 136f.
TP
TP
4
PT
Ebd.
40
"Vermutlich wird man einmal in der Ablösung des Bewußtseinsparadigmas
die eigentliche philosophische Leistung unserer Epoche sehen." 5
TPF
FPT
Dieser Gedanke von Habermas geht vor allem von seiner Bestimmung des Begriffs der
'Moderne' aus.
TP
5
PT
A.a.O., S. 134.
41
1. Die Bedeutung der Moderne
Die Moderne bezeichnet normalerweise eine Epoche, die sich von der Spätscholatistik
bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erstreckt. Man benutzt also den Begriff der Moderne,
um die sich von dem Mittelalter unterscheidende neue Zeit zu bezeichnen. Die
Aufklärung befindet sich somit in der Mitte dieses Zeitraums in dem Sinne, daß sie den
Geist der Moderne am besten verkörpert. Habermas folgt aber bezüglich des Begriffes
der Moderne einer bestimmten Auffassung, die die Moderne nicht bloß auf einen
bestimmten Zeitraum, sondern auf eine 'Mode' des Denkens bezieht, die darin besteht,
die eigene Zeit als einzige neue Zeit anzusehen. Nach dieser Auffassung erhält die
'Moderne' ''die Konnotation des lediglich zeitlich Jüngeren, das qualitativ nicht zu
bestimmen ist, sich aber negativ abhebt gegen eine frühere Epoche, die nicht nur
vergangen ist, sondern deren Maßstäbe entweder nicht mehr erfüllbar sind oder nicht
mehr gelten können.'' 6 Aus dieser Position hat also die 'Modernität' wenigstens drei
TPF
FPT
Eigenschaften: die geschichtsphilosophische Blickrichtung, die 'Selbstkritik' und die
Selbstschöpfung des Maßstabes.
Erstens zur geschichtsphilosophischen Blickrichtung: 'Moderne' und 'Mode' leiten sich
von dem gleichen Wortstamm ab und deshalb besitzen sie einige wesentliche
gemeinsame Bestimmungen. Die wesentlichen Eigenschaften der Mode erkennt man
vor allem bei einem Vergleich der Mode mit der Klassik. Im Gegensatz zu der Klassik,
die als zeitloses Vorbild der Kunst gilt, besteht die Mode in einer augenblicklichen
Schönheit. Gerade in dieser Hinsicht sieht Baudelaire in dem als Experten für das
flüchtige Pläsier des Augenblicks angesehenen Dandy einen Prototyp der Mode. Das
Wesen des Dandytums ist nach ihm, "von der Mode das loszulösen, was sie im
Geschichtlichen an Poetischem, im Flüchtigen an Ewigem enthalten mag." 7
TPF
6
FPT
PT
R. Piepmeier, Modern, die Moderne, in: HWPh, Bd. 6, Sp. 54.
TP
Wie Baudelaire sehen J. Habermas und J. F. Lyotard die Moderne oder die Modernität zunächst nicht als
den Zeit- oder den Epochenbegriff an, sondern erklären sie im Zusammenhang mit einer 'Mode' des
Denkens. Aber sie benutzen diesen Begriff in einer ganz anderen Richtung; während Habermas das
Wesen der Begriffe von 'Mode' und 'Moderne' in der Möglichkeit der kontinuierlichen Selbständerung
oder -erneuerung sieht, bezieht Lyotard die Moderne auf eine große Erzählung, die nichts anderes ist als
eine durch das rationale Denken vereinheitlichte, umfassende Weltanschauung. Vgl. J.–F. Lytord, Das
postmoderne Wissen, a.a.O., S. 14f.
TP
7
PT
Ch. Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: ders., Gesammelte Schriften, M. Bruns (Hg.),
Darmstadt 1982, Bd. 4, S. 284.
42
Die Mode, die im Flüchtigen nach einer Ewigkeit der Schönheit sucht, ist also der
ästhetische Ausdruck einer Tätigkeit, sich ewig in die Vergangenheit zu verschieben
und gleichzeitig sich in ein Neues umzuwandeln. In diesem Punkt sieht Baudelaire die
Gemeinsamkeit der Mode und der Modernität:
"Er [sc. der Dandy] sucht jenes Etwas, das ich mit Verlaub als die
'Modernität' bezeichnen will: denn es bietet sich kein besseres Wort, um die
in Rede stehende Idee auszudrücken." 8
TPF
FPT
Die Mode besteht in der 'Ewigkeit im Augenblick', und diese Bestimmung besitzt auch
die Modernität. 9 Das ist der Grund, warum Baudelaire als einer der ersten Denker gilt,
TPF
FPT
der die Moderne unmittelbar im Zusammenhang mit der 'Mode' zu begreifen versucht.
Wenn man diese ästhetische Bestimmung der Mode oder der Modernität auf die
Geschichte anwendet, ist die Modernität oder die Moderne der Vorgang, seine eigene
Zeit von der Vergangenheit zu unterscheiden und sie dadurch als etwas ganz Neues zu
bestimmen. Habermas nimmt dies als eine der wesentlichen Bestimmungen der
Moderne auf. Das wird in der folgenden Passage deutlich:
''Eine Gegenwart, die sich aus dem Horizont der neuen Zeit als die
Aktualität der neuesten Zeit versteht, muß den Bruch, den jene mit der
Vergangenheit
vollzogen
nachvollziehen.'' 10
TPF
hat,
als
kontinuierliche
Erneuerung
FPT
Habermas bleibt aber bei dieser Bestimmung nicht stehen. Er will die Moderne mit der
Hilfe der begriffsgeschichtlichen Analyse Kosellecks näher charakterisieren. Koselleck
zeigt, wie der Begriff der Moderne schon einen geschichtsphilosophischen Blick
impliziert, d. h. wie er den eigenen Standort aus dem Horizont der Geschichte im
Ganzen reflexiv vergegenwärtigt:
8
PT
Ebd.
TP
9
TP
Habermas ist aus diesem Grund mit der Meinung von Jauß einverstanden, der die avantgardistische
PT
Kunst, die die ewige Schönheit nur in der Vermummung des Zeitkostüms enthüllt, als eine typische
Kunstform der Modernität ansieht. Siehe dazu PDM, S. 17 und H. R. Jauß, Literarische Tradition und
gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M.
1970, S. 11ff.
TP
10
PT
PDM, S. 15.
43
''Die 'Neuzeit' verleiht der gesamten Vergangenheit eine weltgeschichtliche
Qualität. Damit aber gewann die Neuheit der jeweils sich ereignenden und
als neu reflektierten Geschichte einen fortschreitend sich steigernden
Anspruch auf die ganze Geschichte. [...] Wurden erst einmal in der eigenen
Geschichte neue, bisher vermeintlich nie gemachte Erfahrungen registriert,
so ließ sich auch die Vergangenheit in ihrer grundsätzlichen Andersartigkeit
begreifen. Das führte dazu, daß gerade im Horizont des Fortschreitens die
Zeitalter in ihrer Eigenart zum Ausdruck kommen mußten. Diagnose der
neuen Zeit und Analyse der vergangenen Zeitalter korrespondierten
miteinander.'' 11
TPF
FPT
Der geschichtsphilosophische Blick gehört im Bezug auf den Begriff der Moderne zu
deren wesenhafter Bestimmung, wie Habermas von Koselleck lernt. Um eine Zeit als
die 'Zeit der Geburt' sowie als die des Übergangs zu einer neuen Periode auffassen zu
können, braucht man notwendig einen bestimmten Gesichtspunkt, durch welchen diese
Zeit relativiert werden kann: einen geschichtsphilosophischen Blick. Die Gegenwart
von der Vergangenheit zu unterscheiden und darüber hinaus sich selbst als etwas Neues
oder Modernes zu sehen, ist nach Habermas nichts anderes als die Charakteristik der
Modernität selbst, weil sie "die Gegenwart als einen Übergang" charakterisiert, "der
sich im Bewußtsein der Beschleunigung und in Erwartung der Andersartigkeit der
Zukunft verzehrt." 12 Ihr Wesen ist es also, im Augenblick die Ewigkeit z. B. in Form
TPF
FPT
der Schönheit zu erfassen, d. h. einen ewigen Augenblick darzustellen, durch den das
Jetzt von der Vergangenheit und das Selbst von dem Anderen unterschieden werden, so
daß die Moderne sich somit als etwas Neues verstehen kann.
Neben diesem Aspekt der Abgrenzung von der Vergangenheit hat der Begriff der
Moderne für Habermas einen zweiten Aspekt: die 'Selbstkritik'. Wie oben angedeutet,
ist der Begriff 'modern' kein statischer Begriff, der sich selbst als die ewige Neuigkeit
ansieht, sondern ein bewegender, der sich selbst ebenfalls als der Zeit und damit auch
der Vergänglichkeit unterworfen versteht. Anders gesagt, weil das Wort 'modern' oder
'neu' nach wie vor die Möglichkeit in sich trägt, auch sich selbst als etwas dereinst
11
PT
R. Koselleck, Neuzeit. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft,
TP
Frankfurt/M. 1989, S. 327.
TP
12
PT
PDM, S. 15.
44
Vergangenes anzusehen, und somit auf die Offenheit der Zukunft verweist, ist bei
diesem Wort immer auch die Möglichkeit der Selbsterneuerung und der Selbstkritik
gegeben. Die Moderne enthält daher die Selbstkritik in sich und eröffnet sich damit eine
Möglichkeit, einen kritischen Abstand gegenüber sich selbst zu gewinnen. Habermas
schließt daran den Gedanken an, daß die Trennung der Moderne von sich bloß eine
Selbsttrennung ist, kein Übergang der Moderne zum Anderen. Also läßt sich die
Moderne als eine ewige Tätigkeit bestimmen, die die Momente des Augenblicks und
der Ewigkeit in sich trägt. In diesem Zusammenhang definiert Habermas die Moderne
wie folgt:
''Sie [sc. die Moderne] bewährt sich als das, was einmal klassisch sein wird;
klassisch ist nunmehr der Blitz des Aufgangs einer neuen Welt, die freilich
keinen Bestand haben wird, sondern mit ihrem ersten Auftritt auch schon
ihren Zerfall besiegelt.'' 13
TPF
FPT
Er folgert aus diesem Gedanken, daß nicht nur die positiven, sondern auch die negativen
Erscheinungen der Moderne zu den Produkten der Selbstausdifferenzierung der
Moderne gehören und daß darüber hinaus auch die Überwindung der modernen
pathologischen Erscheinungen nur innerhalb der Moderne möglich ist.
Hier kommt ein drittes Merkmal der Moderne hinzu, das sich aus dem
geschichtsphilosophischen und selbstreflexiven oder -kritischen Standpunkt ergibt: die
Selbstschöpfung des Maßstabes der Moderne. Die geschichtsphilosophischen und
selbstkritischen Momente der Moderne sind bei Habermas unmittelbar damit verbunden,
daß die Richtung oder das Telos der Kritik und der Änderung nicht von einer äußeren
Macht oder einem äußeren Vorbild, sondern von sich selbst her bestimmt wird. Wegen
ihrer Selbstbezüglichkeit muß die Moderne ihren Maßstab und ihre Normativität in sich
selbst finden. Habermas beschreibt den Charakter einer Begründung der Moderne aus
sich selbst im folgenden Zitat:
''Die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr
Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus
sich selber schöpfen. Die Moderne sieht sich, ohne Möglichkeit der
Ausflucht, an sich selbst verwiesen. Das erklärt die Irritierbarkeit ihres
TP
13
PT
A.a.O., S. 18.
45
Selbstverständnisses, die Dynamik der ruhelos bis in unsere Zeit
fortgesetzten Versuche, sich selbst festzustellen.'' 14
TPF
FPT
Anders gesagt, die begriffsgeschichtlich untersuchte Moderne sieht ''sich dazu verurteilt,
ihr Selbstbewußtsein und ihre Norm aus sich selbst zu schöpfen.'' 15
TPF
FPT
Habermas nimmt folglich die Bestimmungen über die Moderne oder Modernität auf, die
schon in den Untersuchungen Baudelaires und Kosellecks angedeutet sind: der
geschichtsphilosophische Gesichtspunkt, die Selbstkritik und die Selbstschöpfung des
Maßstabes. Diese Bestimmungen werden in der Habermasschen Theorie aufgenommen,
damit er behaupten kann, daß die Moderne nicht aufgehoben, sondern ewig erneuert
werden kann und deshalb das Projekt der Moderne innerhalb der Moderne weitergeführt
werden muß. Dieser Ausgangspunkt von Habermas unterscheidet ihn grundsätzlich vor
allem von den sogenannten Postmodernisten, die von der Aufhebung der Moderne und
gleichzeitig vom Übergang zur Postmoderne sprechen, da das Projekt der Moderne
schon erschöpft sei.
Nach Habermas begehen die postmodernen Denker einen Fehler, wenn sie die
subjektzentrierte Vernunft oder die 'Modernisierung' verallgemeinern. Ihr Irrtum besteht
also darin, daß, obwohl sich ihre Kritik in Wirklichkeit gegen eine entfremdete Form
der Vernunft richtet, nicht gegen die Vernunft selbst oder die Moderne selbst, sie sich
verhalten, als ob sie die Vernunft und die Moderne selbst behandeln bzw. kritisieren
würden. Genauer gesagt, ihre Kritik an der Moderne steht nur in Zusammenhang mit
dem Begriff der 'Modernisierung', nicht mit dem der Moderne selbst. Den Begriff der
Modernisierung, den Max Weber eigentlich in Bezug auf die Rationalität eingeführt
hatte, haben seine Nachfolger aus dem Kontext der Moderne gelöst und zu einer
allgemeinen Modernisierungstheorie entwickelt. Diesen Vorgang beschreibt Habermas
wie folgt:
''Sie [sc. die Modernisierungstheorie] löst die Moderne von ihren
neuzeitlich-europäischen Ursprüngen ab und stilisiert sie zu einem
raumzeitlich neutralisierten Muster für soziale Entwicklungsprozesse
überhaupt. Sie unterbricht zudem die internen Verbindungen zwischen der
Moderne und dem geschichtlichen Zusammenhang des okzidentalen
14
PT
A.a.O., S. 16.
TP
TP
15
PT
NU, S. 129.
46
Rationalismus in der Weise, daß die Modernisierungsvorgänge nicht mehr
als Rationalisierung, als eine geschichtliche Objektivation vernünftiger
Strukturen begriffen werden können.'' 16
TPF
FPT
Habermas geht freilich davon aus, daß gerade diese Modernisierungstheorie die
Voraussetzungen für den Ausdruck 'Postmoderne' geschaffen habe:
''Denn
im
Augenblick
einer
evolutionär
verselbständigten,
einer
selbstläufigen Modernisierung kann der sozialwissenschaftliche Beobachter
umso eher von jenem begrifflichen Horizont des westlichen Rationalismus,
in dem die Moderne entstanden ist, Abschied nehmen. Wenn aber die
internen Verknüpfungen zwischen dem Begriff der Moderne und dem aus
dem Horizont der abendländischen Vernunft gewonnenen Selbstverständnis
der Moderne erst einmal aufgelöst sind, lassen sich die gleichsam
automatisch weiterlaufenden Modernisierungsprozesse von der distanzierten
Warte eines postmodernen Beobachters aus relativieren.'' 17
TPF
FPT
In diesen Zitaten wird deutlich, inwiefern sich Habermas von den postmodernen
Denkern unterscheidet. Er akzeptiert zwar einerseits die Kritik der Postmodernisten an
der Vernunft und der Modernität. Aber er zeigt gleichzeitig ihren Irrtum, der in der
Verallgemeinerung eines besonderen Falls, also darin besteht, daß sie, wie gesagt, die
subjektzentrische Vernunft als die Vernunft überhaupt und die Modernisierung als die
Moderne überhaupt ansehen. 18
TPF
16
PT
PDM, S. 10.
TP
17
PT
A.a.O., S. 11.
TP
18
TP
FPT
PT
Die Habermassche Kritik an den Postmodernisten wird im 4. Abschnitt dieses Kapitels behandelt.
47
2. Die Bedeutung der Aufklärung
Habermas behauptet, daß seine wissenschaftliche Aufgabe in der Weiterführung 'eines
Projektes der Aufklärung' bestehe. Diese Behauptung kennzeichnet ein Vertrauen in die
Vernunft, das ihn mit der Aufklärung verbindet. Habermas will zum Ausdruck bringen,
daß die Aufklärung in dem philosophischen Diskurs der Moderne zwar stark kritisiert
wird, aber daß die gegenwärtigen negativen Erscheinungen ohne Radikalisierung der
Aufklärung nicht beseitigt werden können. Die folgende Aussage von Habermas faßt
diesen Gedanken gut zusammen:
''Die religiösen Kräfte der sozialen Integration sind infolge eines
Aufklärungsprozesses erlahmt, der so wenig rückgängig gemacht werden
kann, wie er willkürlich produziert worden ist. Der Aufklärung ist die
Irreversibilität von Lernprozessen eigen, die darin begründet ist, daß
Einsichten nicht nach Belieben vergessen, sondern nur verdrängt oder durch
bessere Einsichten korrigiert werden können. Deshalb kann die Aufklärung
ihre Defizite nur durch radikalisierte Aufklärung wettmachen.'' 19
TPF
FPT
Für Habermas ist der Begriff der Aufklärung eng mit dem Begriff der Modernität
verbunden. Wenn man die Moderne in einer bestimmten geschichtsphilosophischen
Hinsicht als einen Vorgang der 'Selbsterneuerung' definiert, wird diese Definition in der
Idee der Aufklärung besonders deutlich verkörpert. Die Antwort auf die Frage 'Was ist
die Aufklärung?' wie die Antwort auf das Modernitätsproblem machen daher einen
Kern des gegenwärtigen Modernitätsdiskurses aus. Das ist der Grund, warum sich die
Teilnehmer an der Diskussion über die Modernität meistens auf Kants Überlegungen
zur Aufklärung beziehen. 20
TPF
FPT
Daß die Aufklärung zu einem der wichtigsten Themen der gegenwärtigen
wissenschaftlichen Diskurse wird, liegt daran, daß der optimistische Vernunftbegriff
19
PT
PDM, S. 104f.
TP
TP
20
PT
In diesem Zusammenhang schreibt Habermas folgendes: "Hölderlin und der junge Hegel, Marx und die
Junghegelianer, Baudelaire und Nietzsche, Bataille und die Surrealisten, Lukács, Merleau-Ponty, die
Vordenker eines westlichen Marxismus überhaupt, nicht zuletzt Foucault selbst - alle arbeiten sie an der
Zuspitzung jenes modernen Zeitbewußtsein, das mit der Frage 'Was ist Aufklärung?' in die Philosophie
Einzug gehalten hat". J. Habermas, Mit dem Pfeil ins Herz der Gegenwart. Zu Foucaults Vorlesung über
Kants 'Was ist Aufklärung?', in: NU, S. 129.
48
der Aufklärung heutzutage gescheitert zu sein scheint. Auch Habermas betrachtet, wie
Hegel und die Postmoderne, den Vorgang der modernen Aufklärung sehr kritisch.
Hegel hat schon die Aufklärung als eine 'Reflexionsphilosophie' definiert, die nur eine
auf der Trennung von Subjekt und Objekt beruhende Pseudo-Einheit hervorrufe. Die
Aufklärung nimmt nach Hegel zwar "dem Volk seine Vorurtheile" 21 und gibt ihm
TPF
FPT
dadurch die Gelegenheit der Emanzipation von dem Aberglauben und der traditionellen
Autorität, aber sie ist für ihn bloß eine 'eitle' Erhebung des kalten Verstandes über die
als Kraft der lebendigen Einheit angesehene Vernunft. 22 Die Kritik an der Aufklärung
TPF
FPT
besteht also bei Hegel darin, daß sie nur einen neuen 'Dogmatismus' mit sich bringt.
Die Postmodernisten kritisieren die Aufklärung noch viel radikaler. Jeden Versuch, die
Differenz in eine Einheit zu bringen, lehnen sie ab. Sie verstehen die gegenwärtigen
Bedrohungen, die die gesamte Menschheit vernichten könnten, z. B. die atomare
Hochrüstung und die zunehmende Umweltzerstörung durch das industrielle Wachstum
etc., als unmittelbare Resultate der Aufklärung. Daher sehen sie die vereinigende
Fähigkeit
der
Vernunft
als
'Repression'
an.
Was
ihnen
hinsichtlich
wissenschaftlichen Aufgabe übrig bleibt, ist also, wie I. Fetscher sagt, 23
TPF
21
der
FPT
die
PT
G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke. Die Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften (Hg.)
TP
(=GW), Bd. 1. Frühe Schriften I, F. Nicolin / G. Schüler (Hg.), Hamburg 1989, S. 95.
22
PT
Vgl. G. W. F. Hegel, Kritisches Journal der Philosophie, in: GW, Bd. 4, H. Buchner / O. Pöggeler
TP
(Hg.), Hamburg 1968, S. 125.
TP
23
PT
I. Fetscher faßt drei Reaktionen auf den gegenwärtigen Skeptizismus gegenüber der Aufklärung wie
folgt zusammen: 1. Die konservative Tradition (Oswald Spengler, Ernst Jünger und Arnold Gehlen etc.):
Diese Position geht davon aus, daß, da der aufklärerische Fortschritt verhängnisvoll ist, die Emanzipation
nur durch asketische Ideale verwirklicht werden kann. "Sie besteht in der Wahrung 'stoischer
Gelassenheit' angesichts einer Entwicklung des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts, der über
kulturelle Besonderheiten, ländliche Idyllen, überkommene Wertordnungen erbarmungslos hinweggeht."
I. Fetscher, Aufklärung über Aufklärung, in: A. Honneth / T. McCarthy / C. Offe / A. Wellmer (Hg.),
Zwischenbetrachtungen, Frankfurt/M. 1989, S. 668. 2. Die postmoderne Position (Odo Marquard) spricht
von der Toleranz gegenüber allen kulturellen Besonderheiten, weil die Geisteswissenschaften nichts mit
den Erkenntnisansprüchen "im Sinne der Theoriebildung, ja des argumentativ erzielten Konsenses" zu tun
haben, sondern als Beruhigungs- und Entspannungsmittel funktionieren. I. Fetscher, a.a.O., S. 669. 3. Die
Kritische und kommunikative Theorie (besonders bei Habermas): Anders als die zweite Position geht
Habermas davon aus, daß die Toleranz gegenüber der Vielheit und die Bereitschaft, den Konsens
erreichen zu wollen, voneinander unterschieden sind. Wenn diese Bereitschaft zum Konsens wirklich
ernst gemeint ist, kann sie sich nach ihm auf die Wahrheit und die Verbindlichkeit von Normen richten.
Habermas sieht die Möglichkeit des ungezwungenen Konsenses in der kommunikativen Vernunft
gegeben, d. h. die kommunikative Vernunft besteht in "der Bereitschaft, sich auf eine symmetrische
49
Geisteswissenschaften von "Erkenntnisansprüchen im Sinne der Theoriebildung, ja des
argumentativ erzielten Konsenses" zu befreien und im Namen einer 'Kultur der
Vieldeutigkeit' die "Toleranz gegenüber allen kulturellen Besonderheiten" gelten zu
lassen.
Habermas geht aber davon aus, daß die Toleranz gegenüber der Differenz niemals den
Verzicht auf die Bereitschaft des Subjekts bedeutet, einen Konsens erreichen zu wollen.
Dennoch kritisiert Habermas die Aufklärung sehr stark. Die aufgeklärte, instrumentelle
Vernunft habe zwar zur Emanzipation der Individuen von der traditionellen Autorität
beigetragen,
aber
sie
sei
vielfach
zu
einem
'neuen
Mythos',
d.
h.
zur
Selbstgeschlossenheit der instrumentellen Vernunft, oder zu "einer zur Totalität
aufgespreizten instrumentellen Vernunft" 24 geworden. Die auf instrumentelle Vernunft
TPF
FPT
gestützte Macht ist grenzenlos, so daß Menschen souverän, ohne Rücksicht auf Grenzen
mit der äußeren Natur wie mit der eigenen umgehen können. Aber in dem
Aufklärungsvorgang zeigt sich, daß die Vergrößerung und die Vertiefung von
naturwissenschaftlich-technischen Erkenntnissen, durch welche die Naturbeherrschung
der Menschen erleichtert werden kann, fast nichts mit der Herstellung freier
Lebensbedingungen für Menschen zu tun haben kann.
Es ist allerdings sehr merkwürdig, daß Habermas dort erneut von der Aufklärung spricht,
wo die Idee der Aufklärung völlig gescheitert zu sein scheint. Er fordert, daß "eine
bornierte Aufklärung über sich selbst aufgeklärt werden muß". 25 Denn die Aufklärung
TPF
FPT
ist, wie die Moderne, nichts anderes als eine Tätigkeit der Selbsterneuerung. In einem
Interview sagt er folgendes:
''Es geht um die Frage, [...] ob sich [...] das Projekt einer Befreiung aus
selbstverschuldeter Unmündigkeit schon definitiv erledigt hat.'' 26
TPF
FPT
Dies deutet an, daß er den Geist der Aufklärung und deren Wirklichkeit voneinander
unterscheidet und jenen erneut ins Leben zurückrufen will; die Wirklichkeit der
Aufklärung scheint ins 'Meer der Kontingenzen' zu fallen, in dem das Projekt der
Aufklärung, das in der Suche nach einer vernünftigen Einheit besteht, völlig vernichtet
Diskurs-Teilhabe an der auf diesem Wege erreichbaren konsensuellen Findung von Normen einzulassen".
I. Fetscher, a.a.O., S. 670.
24
PT
NU, S. 134.
TP
25
PT
J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988 (=ND), S. 135.
TP
TP
26
PT
NU, S. 134.
50
werden könnte. Aber es gibt gar keinen Grund, daß man den Geist der Aufklärung
aufgeben muß. Den Geist der Aufklärung findet Habermas vor allem bei Kant, der von
vielen Modernitätskritikern als die Person angesehen wird, die für ''eine bornierte
Aufklärung'' verantwortlich sei. Auch die gerade oben zitierte Aussage von Habermas
hat ihre Quelle in einer berühmten Schrift von Kant Beantwortung der Frage: Was ist
Aufklärung? von 1784.
''Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten
Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes
ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese
Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht im Mangel des Verstandes,
sondern der Entschließung des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines
anderen zu bedienen. Sapere aude! Hab Mut, dich deines eigenen
Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.'' 27
TPF
FPT
Außerdem schließt Kant in einem anderen Aufsatz von 1796 diese Aufklärung an das
'Selbstdenken' an.
''Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d.
i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu
denken, ist die Aufklärung.'' 28
TPF
FPT
Es ist hier auffällig, daß Kant die Aufklärung sowohl an den 'Mut' für die Befreiung aus
der selbstverschuldeten Unmündigkeit als auch an das 'Selbstdenken' anschließt. Dies
zeigt, daß Kant die Aufklärung nicht bloß in dem reinen Denken, d. h. in der 'res
cogitans', ansiedelt, sondern daß er auch den konkreten Menschen berücksichtigt. 29 Die
TPF
FPT
negativen Erscheinungen in der Realität deuten nach diesem Gedanken lediglich darauf
hin, daß die Menschen noch in der Unmündigkeit geblieben sind und insofern ihre
Selbstreflexion, d. h. der Aufklärungsvorgang weitergeführt werden kann und soll.
27
PT
I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), in: ders., Ausgewählte kleine Schriften,
TP
Hamburg 1969, S. 1. Hervorhebung im Original.
28
PT
I. Kant, Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1796), in; ders., Ausgewählte kleine Schriften, a.a.O.,
TP
S. 26. Hervorhebung im Original.
TP
29
PT
Diese Interpretation verdankt sich der oben behandelten Abhandlung von I. Fetscher. Siehe besonders I.
Fetscher, Aufklärung über Aufklärung, a.a.O., S. 654.
51
Habermas nimmt diesen Gedanken Kants als den Geist der Aufklärung auf, d. h. er geht
in diesem Zusammenhang davon aus, daß die Grundfrage einer sich selbst
vergewissernden Moderne unter den veränderten Bedingungen der Gegenwart
wiederholt werden soll.30 In dieser Hinsicht interpretiert er die Aufklärung nicht als eine
TPF
FPT
sich innerhalb der reinen Vernunft bewegende, sondern als eine den konkreten
gesellschaftlichen Zustand reflektierende Tätigkeit. Es handelt sich bei der Aufklärung
nach Habermas um die wechselseitige Beziehung zwischen der konkreten Wirklichkeit
der Menschen und der transzendentalen Fähigkeit der Vernunft. Habermas konkretisiert
diese Vorstellung in dem Ausdruck 'schwache Transzendentalität' oder 'HalbTranszendenz'. Diese Begriffe deuten an, daß sich die Aufgabe von Aufklärung und
vernünftigem Selbstdenken mit dem Wandel des Selbstverständnisses des Menschen,
mit der Erweiterung des Wissens 'über uns selbst' ändern können muß.
In der Frage nach der Aufklärung ist der Kern der Habermasschen Kritik an Kant, daß
dieser den Geist der Aufklärung nicht gründlich entwickelt habe. Obwohl 'der Ausgang
des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit' auf das konkrete Leben des
Menschen hinweist, endet Kant mit dem Selbstbezug der reinen Vernunft, der sich
später zur instrumentellen Vernunft im Sinne der Geschlossenheit der Vernunft und
daher deren Diktatur entwickeln wird. Zwischen intelligibler und empirischer Welt, mit
der alten metaphysischen Sprache gesagt, zwischen Form und Inhalt, liegt ein
unüberbrückbares transzendentales Gefälle. Der empirische Inhalt läßt sich durch die
vernünftige Form nicht erfassen und die intelligible Welt wird nur innerhalb des
Selbstbezugs der reinen Vernunft begriffen. "Dem transzendentalen Denken ging es um
einen festen Bestand an Formen, zu dem es erkennbare Alternativen nicht gibt." 31 Hier
TPF
FPT
gibt es keine letzte Instanz, einer vernünftigen Einsicht eine reale Geltung zu
garantieren.
Was Habermas hier vorhat, ist folglich, diese getrennten Welten in eine Einheit zu
bringen, d. h. die reale Gültigkeit einer vernünftigen Einsicht zu rekonstruieren. Um
diese Aufgabe zu erfüllen entwickelt er die Theorie des kommunikativen Handelns, die
auf der im engen Zusammenhang mit der Analyse der Umgangssprache stehenden
kommunikativen Vernunft basiert. Die kommunikative Vernunft darf deswegen weder
eine transzendentale Vernunft sein, die, da sie sich nur auf sich bezieht, keine wirkliche
Verbindlichkeit hat, noch darf sie eine bloße Fähigkeit des Menschen sein, die keinen
30
PT
Vgl. NU, S. 131.
TP
TP
31
PT
J. Habermas, Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen, in: ND, S. 179.
52
Bezug zur Realität ermöglicht. Sie ist vielmehr so beschaffen, daß sie sich auf ihr
Anderes, d. h. auf die Realität bezieht.
Habermas sieht in dem Phänomen der Sprache eine Möglichkeit einer derartigen
Vernunft, die sich auf die gegenseitige Verständigung richtet. Der Ausgangspunkt
seiner Theorie ist die Intuition, "daß in sprachliche Kommunikation ein Telos von
gegenseitiger Verständigung eingebaut ist." 32 Und er sagt in gleicher Hinsicht: "[...] für
TPF
FPT
alles, was innerhalb sprachlich strukturierter Lebensformen Geltung beansprucht, bilden
die Strukturen möglicher Verständigung ein Nicht-Hintergehbares." 33 Er ist also der
TPF
FPT
Meinung, daß das Projekt der Aufklärung, das alles der vernünftigen Prüfung unterwirft,
durch die sprachliche Wende ermöglicht wird.
Habermas ist hierbei von der Sprechakttheorie beeinflußt, die davon ausgeht, daß man,
um eine Sache oder Äußerung besser zu verstehen, nicht nur die Analyse der als wahr
oder
falsch
zu
beurteilenden
Propositionen
behandeln,
sondern
auch
die
Sprechsituationen berücksichtigen muß. Der Sprachpragmatik zufolge versteht man
einen Sprechakt, wenn man weiß, was ihn akzeptabel macht. Die Akzeptabilität wird
bei der Sprachpragmatik nicht im objektivistischen Sinne aus der Perspektive eines
Beobachters
definiert,
sondern
aus
der
performativen
Einstellung
der
Kommunikationsteilnehmer.
Habermas übernimmt von dieser Theorie vor allem die Aufteilung der Sprechakte in
einen propositionalen Inhalt und eine performative Kraft. 34 Jener steht in der Beziehung
TPF
FPT
auf Sachverhalte und kann mit Hilfe der klassischen Wahrheitssemantik als wahr oder
falsch beurteilt werden. Aber die performative Komponente, wie sie sich in der Form
von Befehlen, Aufforderungen, Behauptungen und Versprechen etc. zeigt, ist
unmittelbar auf die Kommunikation bezogen. Sie richtet sich an einen Adressaten und
konstituiert zwischen ihm und dem Sprecher eine kommunikative Beziehung. Ein
Sprecher sagt mit einem Sprechakt nicht nur etwas über etwas aus, sondern er
verdeutlicht zugleich auf einer kommunikativen Ebene den Status oder den
kommunikativen Modus seiner Äußerung. Er verdeutlicht gegenüber einem Ko-Subjekt,
ob er beispielsweise den propositionalen Inhalt als wahr behauptet oder ihn bestreitet,
ob er vom Adressaten fordert, daß dieser den Sachverhalt verwirklicht (Befehl,
32
PT
J. Habermas, Dialektik der Rationalisierung, in: NU, S. 173.
TP
33
PT
ND. 179f.
TP
TP
34
PT
Die nähere Betrachtung befindet sich in dem IV. Kapitel dieser Arbeit.
53
Aufforderung) oder selbst dafür einsteht, daß der genannte Sachverhalt zustande kommt
(Versprechen).
Habermas versucht diesen kommunikativen, prinzipiell hörerbezogenen Aspekt
sprachlicher Äußerungen terminologisch mit dem Begriff eines Geltungsanspruches
(auf die Wahrheit des propositionalen Bestandteils, die Rechtmäßigkeit der gewählten
illokutionären Rolle und die Wahrhaftigkeit seiner Äußerung) auszudrücken. So
verstanden ist der Sprechakt eine Art Angebot an den Hörer, der dieses akzeptieren oder
hinsichtlich der diversen Geltungsansprüche zurückweisen kann. Die performative
Komponente hat auch etwas mit den Möglichkeiten eines Einverständnisses zwischen
dem Sprecher und dem Hörer zu tun. Mit der Äußerung verdeutlicht der Sprecher
zugleich, auf welche Weise er mit dem Hörer ein Einverständnis über etwas erzielen
möchte, das durch den propositionalen Inhalt spezifiziert wird.
In der Sprechakttheorie sieht Habermas also die Möglichkeit einer rationalen
Verbindung zwischen empirischer und vernünftiger Wirklichkeit, mit seinen Worten,
eine Möglichkeit eines 'unverkürzten Begriffs der Vernunft', d. h. der Weiterführung des
ursprünglichen Projekts der Aufklärung. Dieser Theorie zufolge begleiten einerseits alle
wirklichen
Aussagen
die
kommunikativ-vernünftigen
Anforderungen
der
entsprechenden Geltungsansprüche, und andererseits bewegt sich die Kommunikation
immer um das rational motivierte Einverständnis des Sprechers und des Hörers. Mit
anderen Worten, es geht bei dem Sprechakt nicht um die Subjektivität, sondern um die
Intersubjektivität.
In diesem Sinne nennt Habermas den Begriff der kommunikativen Vernunft "einen
schwachen, aber nicht defaitistischen Begriff sprachlich verkörperter Vernunft." 35 Und
TPF
FPT
vom traditionellen 'emphatischen Vernunftbegriff' aus betrachtet, nach dem das Subjekt
die "Arbeit der weltbildenden Synthesis" leisten muß, 36 erscheint nach Habermas die
TPF
FPT
kommunikative Vernunft sogar als eine 'skeptische' Vernunft. Den Grund dafür, daß er
diesen 'emphatischen Vernunftbegriff' strikt ablehnt, gibt er im folgenden Zitat an:
"Eine Theorie, die uns die Erreichbarkeit eines Vernunftideals vorgaukelt,
würde hinter das von Kant erreichte Argumentationsniveau zurückfallen." 37
TPF
35
PT
ND, S. 182.
TP
36
PT
Ebd.
TP
TP
37
PT
A.a.O., S. 184.
54
FPT
Die Aufklärung hat längst in den Ideen der Emanzipation, d. h. des selbstbewußten
Lebens, der authentischen Selbstverwirklichung und der Autonomie seinen Ausdruck
gefunden. Die Theorie des kommunikativen Handelns, die er mit der sprachlichen
Wende erreicht hat, faßt Habermas mit Blick auf das Projekt der Aufklärung im
Folgenden zusammen:
''Aus der Analyse notwendiger Bedingungen von Verständigung überhaupt
läßt sich wenigstens die Idee einer unversehrten Intersubjektivität
entwickeln, die eine zwanglose Verständigung der Individuen im Umgang
miteinander ebenso ermöglichen würde wie die Identität eines sich
zwanglos mit sich selbst verständigenden Individuums. Unversehrte
Intersubjektivität ist der Vorschein von symmetrischen Verhältnissen freier
reziproker Anerkennung. Diese Idee darf aber nicht zur Totalität einer
versöhnten Lebensform ausgemalt und als Utopie in die Zukunft geworfen
werden; sie enthält nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die formale
Charakterisierung notwendiger Bedingungen für nicht antizipierbare
Formen eines nicht-verfehlten Lebens.'' 38
TPF
TP
38
PT
A.a.O., S. 185f.
55
FPT
3. Die Auseinandersetzung mit der subjektivistischen Vernunft
Habermas geht, wie die meisten Aufklärungskritiker, davon aus, daß die Bewußtseinsoder Subjektsphilosophie für die autoritären Züge einer 'bornierten Aufklärung'
verantwortlich ist. Die moderne Subjektivität, die als das sich auf sich beziehende
Subjekt bezeichnet wird, wird nur um den Preis der Objektivierung der äußeren wie der
eigenen inneren Natur gewonnen. Die Subsumtion eines Objekts unter das Subjekt ist
aber nichts anderes als ein Ausdruck eines überzogenen idealistischen Anspruches, der
in einer 'Selbstüberforderung und Hypostasierung' der Vernunft besteht. Denn die
Selbstbeziehung des Subjekts wird durch den ständigen Angriff der Objektivität gegen
das Subjekt entweder bezweifelt oder negiert. Gerade deswegen begreift Habermas die
Idee der modernen Subjektivität als eine "tiefgreifende Selbstillusionierung" der
Vernunft. 39
TPF
FPT
''Weil sich das Subjekt im Erkennen und Handeln, nach außen wie nach
innen, stets auf Objekte beziehen muß, macht es sich noch in den Akten, die
Selbsterkenntnis und Autonomie sichern sollen, zugleich undurchsichtig und
abhängig. Diese in die Struktur der Selbstbeziehung eingebaute Schranke
bleibt im Prozeß der Bewußtwerdung unbewußt. Daraus entspringt die
Tendenz zur Selbstverherrlichung und zur Illusionierung, d. h. zur
Verabsolutierung
Emanzipation.'' 40
TPF
der
jeweiligen
Stufe
der
Reflexion
und
der
FPT
Die 'tiefgreifende Selbstillusionierung' der bewußtseinsphilosophischen Vernunft besagt
also, daß diese trotz ihrer emanzipatorischen Befreiung von der substantiellen Autorität
am Ende paradoxerweise mit der Produktion einer anderen Autorität endet, die eine
'unangreifbarere Herrschaft der Rationalität' feststellt. Daraus ergibt sich, daß das
Projekt der Aufklärung durch das subjektphilosophische Paradigma nicht erreicht
werden kann trotz der Umdeutung und Erweiterung des Begriffs der Subjektivität bei
den Verteidigern der modernen Vernunft, wie z. B. bei D. Henrich, L. Ferry und M.
Frank. Aus diesem Grund bezweifelt Habermas, daß es möglich sei, vom Prinzip der
Subjektivität Maßstäbe gewinnen zu können, "die der modernen Welt entnommen sind
39
PT
PDM, S. 70.
TP
TP
40
PT
Ebd.
56
und gleichzeitig zur Orientierung in ihr, das heißt aber auch zur Kritik einer mit sich
selbst zerfallenen Moderne taugen". 41
TPF
FPT
Von daher ergibt sich für Habermas, der das Projekt der Emanzipation durch den
vernünftigen Diskurs weiter führen will, die schwierige philosophische Aufgabe, von
der Autonomie des Subjekts zu sprechen und gleichzeitig die Tatsache des Objektes
nicht zu negieren. Diese Aufgabe bezieht sich, sozialphilosophisch gesagt, auf die Frage,
wie es möglich ist, daß wir uns zugleich als selbstbewußte und autonom handelnde
Individuen denken können und uns doch eingebunden wissen in eine Form der
Gesellschaft, die gerade diese Entwicklung erst ermöglicht. Es ist also für Habermas vor
allem notwendig, die 'Begriffszwänge der Subjektsphilosophie' zu entschärfen, denen
das Subjekt wegen ihres Schemas der Trennung von Subjekt und Objekt begegnet.
Anders gesagt, der Ausgangspunkt seiner philosophischen Aufgabe ist die
Auseinandersetzung mit der Bewußtseinsphilosophie. Es geht nun darum zu sehen,
welche Inhalte diese Philosophie hat.
Das Problem der modernen Philosophie liegt nach Habermas darin, daß sich die
moderne Subjektivität trotz ihrer ursprünglichen Begrenztheit zum Prinzip der absoluten
Einheit erhebt. Es handelt sich deswegen z. B. bei dem modernen erkennenden Subjekt
um den Versuch, im Bewußtsein seiner endlichen Kräfte unendliche Kraft zu erlangen,
wie Kant in seiner Erkenntnistheorie zeige, welche in der Umdeutung des endlichen
Erkenntnisvermögens zu transzendentalen Bedingungen einer ins Unendliche
fortschreitenden Erkenntnis bestehe. 42 Habermas sieht eine typische Form des Begriffs
TPF
FPT
der Subjektivität in der Fichteschen Philosophie verwirklicht, deren Ausgangspunkt das
Sich-Setzen des absoluten Ich ist: Das Ich wird seiner selbst nur habhaft und setzt sich
selbst, ''indem
es […] ein Nicht-Ich setzt und dieses als das vom Ich Gesetzte
schrittweise einzuholen versucht.'' 43 Habermas bezieht diesen Akt des vermittelten SichTPF
FPT
Setzens auf drei verschiedene Aspekte, die von der Idee der Subjektivität bestimmt
werden: den Prozeß der Selbsterkenntnis, den Vorgang der Bewußtwerdung und den
41
PT
A.a.O., S. 31.
TP
42
PT
Habermas zitiert die folgende Aussage von Dreyfus und Rabinow über die Aporie der modernen
TP
Subjektivität: "Modernity begins with the incredible and ultimately unworkable idea of a being who is
sovereign precisely of being enslaved, a being whose very finitude allows him to take the place of God." J.
Habermas, a.a.O., S. 307.
TP
43
PT
A.a.O., S. 308.
57
Bildungsprozeß, also auf das Selbstbewußtsein, die Selbstbestimmung und die
Selbstverwirklichung. 44
TPF
FPT
Seine Kritik an der Subjektsphilosophie fokussiert sich daher auf diese drei Aspekte der
Subjektivität, die wegen des Schemas der Trennung von Subjekt und Objekt die drei
entsprechenden Gegensätze mit sich bringen. Habermas benennt die jenen Aspekten der
Subjektivität entsprechenden Gegensätze wie folgt: Der Gegensatz besteht 1) zwischen
dem Transzendentalen und Empirischen, 2) zwischen dem reflexiven Akt des
Bewußtmachens und dem reflexiv Uneinholbaren, Unvordenklichen, und 3) zwischen
dem apriorischen Perfekt eines immer schon vorausliegenden Ursprungs und dem
adventistischen Futur der noch ausstehenden Wiederkehr des Ursprungs. 45
TPF
FPT
1) Eine Illusion der Subjektphilosophie besteht in der Annahme, daß alle Gegenstände
objektiviert werden können. Diese Illusion resultiert daraus, daß die Subjektphilosophie,
sei es in der Erkenntnistheorie oder in der Praxis, vom Paradigma der Erkenntnis von
Gegenständen ausgeht, das als Denkmodell der Trennung von Subjekt und Objekt
bezeichnet wird. Das erkennende Subjekt objektiviert sich selbst sowie die Entitäten in
der Welt, also alles, was ihm begegnet. Das bedeutet, daß das Subjekt als "das
beherrschende Gegenüber zur Welt im ganzen" 46 betrachtet wird in dem Sinne, daß es
TPF
FPT
dem Gegenstand die Objektivität verleiht.
Das Problem ist hierbei, daß das Subjekt auch sich selbst objektiviert. Das Subjekt ist
hier nichts anderes als eine in der Welt 'vorkommende Entität'. Anders gesagt, in dieser
objektivierenden Einstellung erscheint das erkennende Subjekt nicht nur als eine
transzendentale Kraft, die die Erfahrung ermöglicht, sondern auch als ein bloßes Objekt
in der Welt. Das Subjekt wird also als Schöpfer der Objekte einerseits und als ein
Objekt in der Welt andererseits behandelt. Daher ist es bei der Subjektphilosophie eine
der wichtigsten philosophischen Aufgaben, das Verhältnis zwischen objektiviertem oder
empirischem und transzendentalem Subjekt zu klären.
Die Kritik von Habermas an der objektivierenden Einstellung ist, daß bei dem
erkennenden Subjekt eine unversöhnbare Verdoppelung "zwischen der extramundanen
Stellung des transzendentalen und der innerweltlichen des empirischen Ich" 47
TPF
FPT
unvermeidbar und darüber hinaus eine Vermittlung dazwischen nicht möglich ist.
44
PT
Ebd.
TP
45
PT
A.a.O., S. 307f.
TP
46
PT
A.a.O., S. 347.
TP
TP
47
PT
Ebd.
58
Dieser Gedanke geht davon aus, daß das Subjekt niemals eine Stellung des reinen
Beobachters, d. h. eine extramundane Stellung, haben kann, insofern es in der
Lebenswelt lebt, der es sich nicht entziehen kann.
Nach Habermas ist der einzige Weg, dieses Problem zu vermeiden, der
Paradigmenwechsel von der Erkenntnis von Gegenständen zur Verständigung zwischen
sprach- und handlungsfähigen Subjekten. Das sprech-handelnde Subjekt hat die
Perspektive der Beteiligten, die dadurch entsteht, daß diese auf die Handlungen und
Äußerungen ihrer Kommunikationspartner reagieren. Hier geht es also um die
performative Einstellung von Interaktionsteilnehmern, die durch die Koordinierung
ihrer Handlungspläne die intersubjektive Verständigung über etwas in der Welt suchen.
Die Interaktionsteilnehmer können während einer konkreten Beteiligung an einem
Diskurs bestimmte transzendentale Regel rekonstruieren, die von allen Subjekten
befolgt werden sollen.
Die performative Einstellung konkretisiert sich nach Habermas vor allem in den
rekonstruktiven Wissenschaften, in denen gelungene oder verzerrte Äußerungen von
Beteiligten an Interaktionen analysiert werden und dadurch das vortheoretische
Regelwissen von Subjekten explizit wird, während die objektivierende Einstellung in
der intuitiven Analyse des Selbstbewußtseins besteht. Habermas sieht u. a. in dem
genetischen Strukturalismus von Jean Piaget ein gutes Beispiel für die rekonstruktive
Wissenschaft. Nach Habermas kann die rekonstruktive und empirische Annahme in eine
Theorie zusammengefügt werden. 48 Bei solchen Rekonstruktionsversuchen handelt es
TPF
FPT
sich also nicht mehr um "ein Reich des Intelligiblen jenseits der Erscheinungen",
sondern um "das tatsächlich praktizierte Regelwissen, das sich in den regelrecht
generierten Äußerungen niederschlägt." 49 Von daher entsteht hier keine ontologische
TP
F
FPT
Trennung zwischen Transzendentalem und Empirischem.
2) Eine andere Illusion der Subjektphilosophie ist, daß das erkannte Objekt vollständig,
klar und deutlich im Bewußtsein vorhanden sein könne. Der Grund dieser Illusion liegt
in dem Wunsch des erkennenden Subjekts, alles nur dunkel Erkannte in vollständig
Begriffenes zu verwandeln. Es ist allerdings fraglich, ob ein reflexiv nicht aufklärbares,
immer schon gegebenes Sein vollständig transparent ins Bewußtsein übergehen kann.
Die Psychoanalyse Freuds beschäftigt sich mit dieser Frage: Dieser vertritt nicht nur die
48
PT
Vgl. J. Habermas, Rekonstruktive vs. verstehende Sozialwissenschaften, in: ders., Moralbewußtsein und
TP
kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983, 29ff.
TP
49
PT
PDM, S. 348.
59
These, daß das undurchsichtige Unbewußte niemals vollständig ins klare Bewußtsein
gehoben werden kann, sondern er behauptet auch, daß das Bewußtsein sogar nur eine
'Eisbergspitze' des Unbewußten sei. Die Psychoanalyse dreht daher das traditionelle
Verhältnis zwischen dem Bewußtsein und dem Unbewußten um.
Für Habermas ist die Psychoanalyse ein gutes Beispiel, das zeigt, daß die
Subjektphilosophie nicht umhinkann, in ein Spannungsverhältnis zwischen dem
Bewußten und dem Unbewußten zu geraten:
"Hier schwankt […] das subjektphilosophische Denken hin und her
zwischen der heroischen Anstrengung, An-Sich-Seiendes reflexiv in FürSich-Seiendes zu verwandeln, und der Anerkennung eines opaken
Hintergrundes, der sich der Transparenz des Selbstbewußtseins hartnäckig
entzieht." 50
TPF
FPT
Von daher besteht für die Subjektphilosophie ein unauflösbarer Gegensatz zwischen
'Selbsttransparenz und Opazität'. Wenn man akzeptiert, daß die Subjektphilosophie
dieses Problem nicht lösen kann, muß man, besonders wenn man die Aufklärung
verteidigen will, auf die Frage antworten, wie man 'den opaken Hintergrund' anerkennen
und gleichzeitig mit dem Licht der Vernunft erhellen kann.
Habermas geht hier wieder vom Verständigungsparadigma aus, durch das allein die
Vermittlung zwischen beiden Faktoren möglich ist. Die Verständigung zwischen den
Interaktionsteilnehmern geht innerhalb des Horizonts ihrer gemeinsamen Lebenswelt
vonstatten, der sie z. B. bei ihren Interpretationsanstrengungen konsentierte
Deutungsmuster entnehmen. Die Lebenswelt dient den Beteiligten mal als kultureller
Wissensvorrat, aus dem sie 'konsensfähige Interpretationen' gewinnen können, mal als
gesellschaftliche legitime Ordnung, in der sie eine Solidarität mit anderen erfahren
können, und mal als persönliche Kompetenz, ihre Identität behaupten zu können. So
bleibt die Lebenswelt den Teilnehmern als "ein intuitiv gewußter, unproblematischer
und unzerlegbarer holistischer Hintergrund im Rücken" 51 und kann daher nicht
TPF
FPT
thematisiert werden. Aus der Interaktionsperspektive erscheint jedes beteiligte Subjekt
nicht mehr als der mit Hilfe zurechenbarer Handlungen Situationen bewältigende
Urheber, sondern als das Produkt der kulturellen Überlieferungen, der solidarischen
50
PT
Ebd.
TP
TP
51
PT
Ebd.
60
Gruppen sowie der persönlichen Sozialisationsprozesse. 52 Die Lebenswelt ist für
TPF
FPT
Habermas nichts anderes als ein anderer Name für den opaken Hintergrund der
Interaktionen der sprech-handelnden Subjekte. Habermas bewahrt den Gedanken des
Unbewußten Freuds gerade in dem Begriff der Lebenswelt, in der sich die
Interaktionsteilnehmer bewegen.
Aber Habermas darf als Verteidiger des Projektes der Aufklärung bei diesem Resultat
nicht stehen bleiben, wenn er wirklich von einer Autonomie des Subjekts sprechen will.
Er lernt von der Psychoanalyse, wie die Selbstkritik die Autonomie eines Subjekts
wiederherstellen kann. Die Psychoanalyse zielt auf die Wiedergewinnung der
Selbständigkeit des Patienten ab. Dieser hebt durch die analytischen Gespräche mit dem
Arzt
seine
Pseudonatur
unbewußt
motivierter
Wahrnehmungsschranken
und
Handlungszwängen auf und gewinnt dadurch die Fähigkeit der Selbstkritik. Habermas
geht davon aus, daß, obwohl das Subjekt einerseits Produkt der Lebenswelt ist, es
andererseits die Reflexionsfähigkeit hat, gegebene Situation zu transzendieren. Die
Reflexion bedeutet hier daher nicht die vorsprachlich-einsame Reflexion des sich
objektivierend auf sich beziehenden Erkenntnissubjekts, sondern die Selbstbeziehung
des sprech-handelnden Subjekts, das sich im argumentativen Diskurs mit anderen auf
sich selbst bezieht. Daher richtet sich diese Reflexion immer nur gegen einzelne
Situationen, nicht gegen die Lebenswelt im Ganzen. Anders gesagt, die kommunikative
Reflexion ist eine Fähigkeit des Subjekts, bei jedem konkreten Diskurs bestimmte
Geltungen in Anspruch zu nehmen, die hier und jetzt erhoben werden und trotzdem
jeden lokalen Kontext transzendieren müssen, um das koordinationswirksame
Einverständnis der Interaktionsteilnehmer zu tragen. Dies bedeutet, daß die Beteiligten
an einer Argumentation wechselseitig Bedingungen einer idealen Sprechsituation
hinreichend erfüllen, jedoch gleichzeitig von den ausgeblendeten Motiven und
Handlungszwängen niemals vollständig abstrahieren können.
Habermas
ist
also
der
Meinung,
daß
innerhalb
des
intersubjektiven
Verständigungsparadigmas die subjektphilosophische Aporie zwischen Opazität und
Transparenz des Subjekts nicht entsteht. Anders als "hybride Theorien" der
Subjektphilosophie, "die Widersprüche gewaltsam auflösen", 53 gibt es bei Habermas
TPF
FPT
nur eine rationale Nachkonstruktion und eine methodisch durchgeführte Selbstkritik.
Jene "verschreibt sich dem Programm des Bewußtmachens, richtet sich aber auf
52
PT
A.a.O., S. 349.
TP
TP
53
PT
A.a.O., S. 350.
61
anonyme Regelsysteme und nimmt nicht auf Totalitäten Bezug". 54 Demgegenüber
TPF
FPT
bezieht sich diese "auf Totalitäten, jedoch in dem Bewußtsein, daß sie das Implizite,
Vorprädikative, Nichtaktuelle des lebensweltlichen Hintergrundes niemals ganz wird
aufklären können." 55
TPF
FPT
3) Die letzte Illusion der Subjektphilosophie, die Habermas kritisch behandelt, ist die
Idee einer causa sui in dem Sinne, daß das Subjekt in Bezug auf seine Handlungen und
in Bezug auf die Geschichte als eine ursprünglich schöpferische Kraft aufgefaßt wird.
Nach dieser Idee verursacht das Subjekt die Geschichte bewußt und absichtsvoll, d. h.
die Geschichte ist nichts anderes als ein Prozeß der Selbsterzeugung (sei es des Geistes
oder der Gattung). Aber die Machttheorie Foucaults z. B., die davon ausgeht, daß die
Geschichte von nicht-subjektiven oder nicht-vernünftigen Kräften bestimmt wird und
daher eine systematische oder einheitliche Auffassung über sie nicht möglich ist, stellt
die Rolle des Subjekts in Frage. Hier stellt sich die Frage, ob das Subjekt ein
ursprünglich schöpferischer Aktor ist oder ob es nur von fremden Kräften abhängig ist.
Habermas ist in diesem Zusammenhang der Meinung, daß die Subjektphilosophie den
Gegensatz von 'Ursprünglichkeit und Abhängigkeit' des Subjekts nicht auflösen kann.
Anders gesagt, sie schwankt hin und her "zwischen der Konzeption der Weltgeschichte
als eines Prozesses der Selbsterzeugung [des Subjekts] einerseits und andererseits der
Konzeption eines unvordenklichen Geschicks, das durch die Negativität von Entzug und
Entbindung die Macht des verlorenen Ursprungs fühlbar macht." 56 Also ist der
TPF
FPT
Gegensatz "zwischen der Scylla des Absolutismus und der Charybdis des
Relativismus" 57 ein unvermeidliches Schicksal der Subjektphilosophie.
TPF
FPT
Habermas versucht durch den Paradigmenwechsel zur Verständigung dieses Problem zu
lösen. Die verständigungsorientierte Geschichts- oder Gesellschaftstheorie rekonstruiert
nach ihm nicht nur die Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik, wie dies auch die
Systemtheorie mit dem Konzept des selbstgesteuerten Systems tut; sondern sie bleibt
sich darüber hinaus "ihres eigenen Entstehungszusammenhangs und ihres Standortes im
Kontext unserer Gegenwart bewußt." 58 Habermas sieht hier also den Grundgedanken
TPF
FPT
der Geschichts- oder Gesellschaftstheorie in der gewaltlosen Einheit der Totalität und
der Besonderheit.
54
PT
Ebd.
TP
55
PT
Ebd.
TP
56
PT
A.a.O., S. 351.
TP
57
PT
Ebd.
TP
TP
58
PT
Ebd.
62
63
4. Die Auseinandersetzung mit den radikalen Vernunftkritikern
Habermas' Bemühung, das Projekt der Aufklärung weiterzuführen, wird auch in seiner
Auseinandersetzung mit den radikalen Vernunftkritikern deutlich. Seine Kritik an
diesem Denken besteht vor allem darin, daß ihre Vernunftkritik nicht nur nicht radikal
genug sei, sondern daß ihre Kritik selbst noch dem bewußtseinsphilosophischen
Paradigma verhaftet bleibe. Sein Buch Der philosophische Diskurs der Moderne (1985)
wurde zunächst vor diesem Hintergrund geschrieben. Seine Kritik an den sogenannten
Postmodernisten ist in der folgenden Aussage zusammengefaßt:
"Jedenfalls können wir nicht a priori den Verdacht von der Hand weisen,
daß sich das postmoderne Denken eine transzendente Stellung bloß anmaßt,
während es den von Hegel zur Geltung gebrachten Voraussetzungen des
modernen Selbstverständnisses tatsächlich verhaftet bleibt." 59
TPF
FPT
In diesem Kapitel werden vor allem seine Auseinandersetzungen mit Derrida und
Foucault behandelt.
4.1. Die Kritik an der Grammatologie Derridas
Unter den Aufklärungskritikern herrscht Einigkeit darüber, daß sich die gegenwärtigen
sozialpathologischen Erscheinungen der Verbreitung der instrumentellen Rationalität
verdanken. Derrida bezieht diese Erscheinungen noch radikaler direkt auf das Wesen
des europäischen Denkens, d. h. auf die Idee des selbstbezogenen Logos. 60 Alle
TPF
FPT
sinnstiftenden Weltanschauungen oder Theorien, wie z. B. die abendländische
Metaphysik, sind nach ihm entgegen ihrer Behauptung gar nicht rein vernünftig, weil
die Vernunft jede Bedeutung nur dadurch konstituiere, daß sie andere Bestandteile des
Seins oder das 'Andere der Vernunft' von sich ausschließt oder unter sich subsumiert.
Derrida versucht aus der bedeutungsvollen Welt auszutreten und "auf einen Ort"
zuzugehen, "der weder ein Nicht-Ort noch eine andere Welt, weder eine Utopie noch
59
PT
PDM, S. 13.
TP
TP
60
PT
Siehe zu dieser Problematik den Abschnitt 2.1. des ersten Kapitels in dieser Arbeit.
64
ein Alibi ist." 61 Während er jene Welt der Bedeutung als 'Präsenz' bezeichnet, da sich
TPF
FPT
die Bedeutungen in sprachlichen Ausdrücken konkretisieren, bezeichnet er diesen neuen
Ort
als
ein
'wesentliches
Nichts'
oder
als
'die
reine
Abwesenheit'.
Die
bedeutungsstiftende Metaphysik überhaupt wird die 'Metaphysik der Präsenz' genannt,
weil die Bedeutung nichts anderes ist als das, was die Erfahrung und das Erlebnis des
menschlichen Bewußtseins sprachlich ausdrückt. Von daher bezieht sich die Seinswelt
auf eine Welt des Bewußtseins, des Sprechens, d. h. der Bedeutung. Aus diesem Grund
sieht Derrida 'die Präsenz' als Wesen des Logos, der zunächst als gesprochenes Wort
verstanden wird, und die Metaphysik der Präsenz als einen Logozentrismus an. Das
gesprochene Wort ist ein 'Geschehen', das nur im Augenblick, d. h. in der reinen
Präsenz erscheint und gleich verschwindet, während die von Derrida als Gegensatz des
Wortes verstandene 'stillschweigende Schrift' als die Abwesenheit bezeichnet wird. Die
Reinheit des Erlebnisses, die in der Konstitution des Sinnes im Augenblick des
Sprechens, d. h. in dem 'Sich-Sprechen-Hören' besteht, ist für Derrida nichts anderes als
'die Selbstaffektion' des Logos.
"Er [sc. der Logos] durchquert das Sein im Hinblick auf sich selbst, in der
Ab-Sicht, sich selbst, das heißt, als Logos, sich zu erscheinen, sich selbst zu
benennen und sich selbst zu hören. Er ist Sprechen als Selbstaffektion: ist
das Sich-selbst-sprechen-hören. Er tritt aus sich hinaus, um sich in sich
selbst, in der 'lebendigen Gegenwart' seines Sich-selbst-gegenwärtigseins
wieder zurückzunehmen." 62
TPF
FPT
Der Kern der Kritik Derridas an der europäischen Philosophie ist also, daß, insofern
diese in der Suche nach der Bedeutung bestehe, sie nur ein Ausdruck des
autoaffektionären Logozentrismus oder der 'Metaphysik der Präsenz' sei. Dieser
Gedanke läßt sich am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit Husserl gut verdeutlichen.
Derridas Husserl-Lektüre fokussiert sich auf die Deutung seines 'Evidenzbegriffes der
Wahrheit'. Husserl geht davon aus, daß sich 'die Krisis der europäischen
Wissenschaften', d. h. die Verbreitung der den Sinnverlust des Lebens rechtfertigenden
Wissenschaften dem naturalistischen Forschungsverhalten verdankt. Er will daher durch
die Wiederherstellung der Subjektbezogenheit der Wahrheit diese Krisis bewältigen.
61
PT
J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, S.17. Hervorhebungen im Original.
TP
TP
62
PT
A.a.O., S. 255.
65
Aber damit die Philosophie eine 'strenge Wissenschaft' sein kann, auf die er abzielt, darf
die Subjektbezogenheit der Wahrheit nicht eine psychische und bloß subjektive
Gewißheit haben, sondern sie muß objektiv sein. Husserls Phänomenologie versucht als
eine 'strenge Wissenschaft' deshalb, eine objektive Gültigkeit der Erfahrung des
transzendentalen Subjekts zu garantieren. Husserl sieht in dem intendierenden Akt des
transzendentalen Subjekts eine Möglichkeit 'der idealen Objektivität', d. h. der idealen
Identität des intendierenden Subjekts (der Noesis) und des intendierten Objekts (der
Noema). 63
TPF
FPT
'Die Bedeutung' ist für Husserl ein anderer Name für diese ideale Objektivität, weil sie
an sich jenseits aller Verkörperungen existiert und zugleich als reines Phänomen
erscheint. Die Evidenz der Wahrheit ergibt sich also für Husserl in der
Übereinstimmung des bedeutungsintendierenden Aktes mit dem bedeutungserfüllenden
Akt sowie in der Übersetzbarkeit der subjektiven Intention in den sprachlichen
Ausdruck. Seine folgende Aussage spiegelt diesen Gedanken wider:
"Dies zeigt klärlich der Umstand, daß […] jeder subjektive Ausdruck, bei
identischer
Festhaltung
der
ihm
augenblicklich
zukommenden
Bedeutungsintention, durch objektive Ausdrücke ersetzbar ist." 64
TPF
FPT
Husserl gelangt durch eine Analyse des inneren Zeitbewußtseins zu dem Evidenzbegriff
der Wahrheit.
65
TPF
FPT
Nach ihm verdankt sich jede momentane oder sprachlich
auszudrückende Wahrnehmung einer in Begriffen der 'Protention und Retention'
untersuchten Struktur der Wiederholung. Die Intuition, durch die die einfache Präsenz
eines ungeschiedenen, mit sich identischen Gegenstandes, d. h. das Wahrheitsgeschehen,
hervorgerufen wird, besteht im strengen Sinne aus dem Zeitbewußtsein des Vor- und
Rückblicks. Das 'augen-blickliche' Erleben ist also nur möglich dank einem Akt der
Vergegenwärtigung des Subjekts, die Wahrnehmung dank einem reproduzierenden
Wiedererkennen.
Trotz seiner Andeutung, daß die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft in
einem Zeitfluß liegen und sich deshalb nicht in verschiedene Zeitpunkte zerteilen
63
PT
E. Husserl, Logische Untersuchungen, in: ders, Husserliana XIX/1, U. Panzer (Hg.), Den Haag 1984, S.
TP
97.
64
PT
A.a.O., S. 95.
TP
65
TP
PT
Dies behandelt Derrida besonders in seiner Abhandlung Das Zeichen und der Augen-Blick, in: ders.,
Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt/M. 1979, S. 115ff.
66
können, fundiert er die Wissenschaft in einem absoluten Ursprung. Dieser ist bei ihm
ein ganz bestimmter Begriff des 'Jetzt', der Präsenz als Punktualität des Moments, in
dem die Intuition und Erfahrung des Bewußtseins in eins fallen. In der Phänomenologie
weist die Idee der ursprünglichen Präsenz immer auf diesen 'Quellpunkt' zurück. Trotz
der Kontinuität des Zeitflusses haben nach Husserl ''die Ablaufsmodi eines immanenten
Zeitobjekts einen Anfang [...], sozusagen einen Quellpunkt. Es ist derjenige Ablaufmodi,
mit dem das immanente Objekt zu sein anfängt. Er ist charakterisiert als Jetzt.'' 66 Der
TPF
FPT
Grund, daß Husserl zwar die Notwendigkeit der Momente der Andersheit (z. B. der
Vergangenheit und der Zukünftigkeit) beim Wahrheitsgeschehen erkannt hat, aber
dennoch an der gegenwärtigen Wahrnehmung, der Reinheit des Erlebnisses oder der
bloßen Gegenwärtigkeit der Bedeutung festhält, liegt nach Derrida in der
logozentristischen Neigung Husserls, die die europäische Metaphysik im ganzen
durchaus beherrsche. Die Privilegierung des Jetzts zeigt nach Derrida, daß Husserl noch
in der Tradition der 'Metaphysik der Präsenz' steht.
''[...]
philosophieimmanent
sind
keinerlei
Privilegierung der Jetzt-Präsenz möglich.''
TPF
Einwände
gegen
diese
67
FPT
Der Kern der Kritik Derridas an Husserl ist, daß dieser nicht anerkenne, daß sich die
gegenwärtige Wahrnehmung einem reproduzierenden Erkennen und sich die
Spontaneität des lebendigen Augenblicks der Differenz des zeitlichen Abstandes und
dem Moment der Andersheit verdanken, d. h. daß die in der Intuition vorhandene
Einheit in der Tat nichts anderes als etwas Zusammengesetztes und Produziertes ist.
Als eine alternative Wissenschaft schlägt Derrida die 'Grammatologie' vor, die vor
allem anerkennt, daß der scheinbar absoluten, ursprünglichen Gegenwart schon eine
zeitliche Differenz vorausgeht und ferner diese Differenz für die Reinheit der
gegenwärtigen Bedeutung konstitutiv ist. Derrida geht onto-semiologisch von der
Unterscheidung des Wortes und der Schrift aus. Jenes existiert als ein 'Geschehen', das
mit dem Erscheinen verschwindet, während diese als das existiert, was auf das ZumWort-Werden, d. h. auf die Vergegenwärtigung wartet. Ist jenes die 'Präsenz', dann ist
diese die 'Abwesenheit'. Die Erhebung der Schrift zum wissenschaftlichen Gegenstand
66
PT
E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, in: ders., Husserliana X, R. Boehm
TP
(Hg.), Den Haag 1966, S. 27.
TP
67
PT
J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, a.a.O., S. 117.
67
bedeutet also, daß Derrida in der Stellvertreterfunktion des in der Abwesenheit
vorhandenen
Zeichens
ein
geeignetes
Modell
sieht,
das
die
Struktur
der
Vergegenwärtigung sowie die Ursprünglichkeit des Anderen erhellen kann.
In der Tradition der europäischen Wissenschaft ist die Schrift dem Wort untergeordnet
wegen des Gedankens, daß jene nur ein die Laute nachahmendes sekundäres Signifikant
sei. Dieser Gedanke findet sich schon in der Philosophie des Aristoteles:
''Es sind also die Laute, zu denen die Stimme gebildet wird, Zeichen der in
der Seele hervorgerufenen Vorstellungen, und die Schrift ist wieder ein
Zeichen der Laute.'' 68
TPF
FPT
Diese Tradition erstreckt sich bis hin zu F. de Saussure, der als Begründer einer
strukturalistischen Semiologie einen großen Einfluß auf die Entstehung der
Grammatologie Derridas ausübt. Saussure sieht die Semiologie als einen Teil der
Psychologie an, wie es die europäische wissenschaftliche Tradition tut, in der das
Zeichen als ein Abbild der Laute der Seele gilt. In dieser Hinsicht ist das Wort bereits
eine Einheit von Sinn und Laut, Vorstellung und Stimme, oder wie er es ausdrückt, von
Signifikat und Signifikant. Dies ist der Grund, warum er nur 'das gesprochene Wort' als
Gegenstand seiner Linguistik aufnimmt.
''Nicht die Verknüpfung von geschriebenem und gesprochenem Wort ist
Gegenstand der Linguistik; sondern nur das letztere, das gesprochene Wort
allein ist ihr Objekt.'' 69
TPF
FPT
Die Grammatologie wertet in der Zeichenlehre die Rolle der Schrift auf, die seit dem
Anfang der philosophischen Geschichte in den 'Randbereich' der Philosophie gedrängt
wurde. 70 Es geht daher bei der Grammatologie um den Versuch zu erörtern, wie die
TPF
FPT
Schrift, nicht das Wort, der zentrale Ausgangspunkt der Sprachwissenschaft werden
kann. Das Medium der Schrift beseitigt nach Derrida die Aura des Wahrheitsgeschehens
und schafft damit Platz für einen gewissen spielerischen Umgang mit der Wahrheit. Die
68
PT
Aristoteles, Lehre vom Satz. Kategorien. (Organon I/II), Philosophische Bibliothek, Bd. 8, 9, Hamburg
TP
1974, S. 95.
69
PT
F. Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967, S. 28.
TP
TP
70
PT
Der Titel seines berühmten Werkes Randgänge der Philosophie (Original: Marges de la philosophie)
von 1988 drückt dieses Problembewußtsein aus.
68
Schrift existiert unabhängig vom Geist des Autors und vom Atem des Adressaten
ebenso wie von der Präsenz der besprochenen Gegenstände und ermöglicht damit eine
wiederholbare Lektüre eines Textes in beliebig wechselnden Kontexten. Das Wesen der
Schrift besteht für Derrida also in ihrer absoluten Lesbarkeit, die nur durch eine
Abstraktion der lebendigen Bezüge des gesprochenen Wortes möglich ist. ''Jedes
Graphem [sc. jede Schrift] ist seinem Wesen nach testamentarisch.'' 71
TPF
FPT
Die Schrift bietet für Derrida folglich die Möglichkeit, durch die Fixierung von
sprachlichen Inhalten zeitliche und räumliche Abstände zu überwinden und die
Bedeutung der Präsenz zu reproduzieren oder das Erlebnis wiederholt zu ermöglichen.
Er nennt besonders die jeder nachträglichen Fixierung von Lautgestalten vorausliegende
Schrift die 'Urschrift', die trotz der völligen Abwesenheit eines Subjekts und über seinen
Tod hinaus die Entzifferbarkeit eines Textes ermöglicht und seine Verständlichkeit in
Aussicht stellt. Jede Interpretation der Welt wird nur durch die welterschließende
Funktion der Urschrift ermöglicht. Aber die Urschrift erscheint selbst nicht in der Welt,
sie hinterläßt nur in der Verweisungsstruktur der erzeugten Texte ihre Spur.
Die 'Differenz' Derridas unterscheidet sich vom Begriff der Differenz z. B. der
Hegelschen Logik, der dort zusammen mit seinem Gegenteil – dem Begriff der Identität
– erörtert wird. In diesem klassischen Verständnis wird die Differenz der Identität
untergeordnet. Deswegen sucht Derrida einen neuen Namen, der sein Verständnis der
Differenz
ausdrücken
kann.
Das
französische
Verb
'différer'
hat
zwei
Grundbedeutungsrichtungen: 72 'suspendieren', 'verzögern' etc. im zeitlichen Sinne und
TPF
FPT
zugleich 'Anderssein' im räumlichen Sinne. Aber das französische Substantiv dieses
Verbs 'différence' hat nur die letzte Bedeutung. Weil Derrida die zeitliche Differenz
stärker betonen will, muß er einen neuen Begriff kreieren: 'différance', der dadurch
entsteht, daß ein 'a' an die Stelle des 'e' gesetzt wird. Mit diesem Begriff will er sowohl
den räumlichen als auch den zeitlichen Sinn der Differenz zum Ausdruck bringen. Es
gibt bei der Aussprache keinen Unterschied zwischen 'différence' und 'différance'. Der
Unterschied zeigt sich nur in der Schrift. Der Kern der Logik der 'différance' liegt
gerade darin, daß der Unterschied zwischen beiden Begriffen nicht durch den Laut, der
'die Intimität und Durchsichtigkeit' oder 'die absolute Nähe des Ausdrucks' sein soll,
71
PT
J. Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 120. Diese Passage erinnert die Differenz des Seins und des
TP
Seienden bei Heidegger.
TP
72
PT
Siehe J. Derrida, Die différance, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, besonders 33f. und
ders., Grammatologie, a.a.O., S. 44.
69
sondern allein durch die Schrift zu erkennen ist. Eben in dieser Hinsicht kann man die
Grammatologie als Logik der Différance bezeichnen.
"Sie [sc. die Différance] ermöglicht die Artikulation des gesprochenen
Wortes und der Schrift - im geläufigen Sinne -, wie sie auch den
metaphysischen Gegensatz zwischen Sinnlichem und Intelligiblem und,
darüber hinaus, zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat, zwischen
Ausdruck und Bedeutung fundiert." 73
TPF
FPT
Nach Habermas ist es allerdings fraglich, ob diese Grammatologie die europäische
Metaphysik wirklich überwindet oder ob sie nicht vielmehr noch hinter den Zeitpunkt
zurückkehrt, an dem "einst Mystik in Aufklärung umgeschlagen ist." 74 Er ist also der
TPF
FPT
Ansicht, daß Derrida zwar mit der Kritik der transzendentalen Stellung des Logos
anfängt, aber daß er dann der Schrift dieselbe transzendentale Rolle zuweist und diese
für ihn eine anonyme, geschichtsstiftende Produktivität hat. Daher ist sein Denken noch
einem Fundamentalismus verhaftet, dem er eigentlich entgehen wollte. Der Kern der
Habermasschen Kritik an Derrida ist also, daß dieser als neue Autorität die Schrift sieht
und sich damit letztlich nicht von dem metaphysischen Denken unterscheidet:
"Trotz des veränderten Gestus betreibt auch er [sc. Derrida] am Ende nur
eine Mystifizierung handgreiflicher gesellschaftlicher Pathologien; auch er
entkoppelt das wesentliche, nämlich dekonstruierende Denken von der
wissenschaftlichen
Analyse
und
landet
bei
der
leerformelhaften
Beschwörung einer unbestimmten Autorität. Dies allerdings ist [...] die
Autorität einer [...] Schrift." 75
TPF
FPT
Diese Kritik von Habermas wird besonders relevant in Hinblick auf die Verbindung der
Grammatologie mit der jüdischen Mystik. Er bezieht sich auf Derridas positive
Aufnahme der jüdischen, mystischen Tradition und sieht eine Verwandtschaft des
Begriffs der Schrift mit der jüdischen Thora. 76 Die jüdische Mystik besteht nach
TPF
73
PT
J. Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 110.
TP
74
PT
PDM. S. 218
TP
75
PT
A.a.O., S. 214
TP
76
TP
FPT
PT
Um seine These der Verwandtschaft der Schrift Derridas mit der Thora zu bestätigen, bezieht sich
Habermas auf die Derrida-Interpretation von S. Handelmann. Siehe die Anmerkung von PDM, S. 217f.
70
Derrida im Gedanken der Abwesenheit Gottes und dem Thorazentrismus. 77 Nach dieser
TPF
FPT
Tradition führt der direkte Kontakt des Menschen mit dem Heiligen zum Wahnsinn.
Gott muß daher abwesend sein, um die Menschen zu schützen. Die Thora wurde also als
die Präsenz des abwesenden Gottes verstanden. Derrida zitiert einen von E. Levinas
überlieferten Ausspruch des Rabby Elizer zustimmend:
"Wären alle Meere voller Tinte, alle Teiche mit Schreibrohren bepflanzt,
wären Himmel und Erde aus Pergament und übten alle Menschen die
Schreibkunst aus, sie vermöchten die Thora nicht auszuschöpfen, die ich
studiert habe; wird doch die Thora selbst dadurch nur um so vieles weniger
als das Meer weniger wird, in das eine Federspitze getaucht ward." 78
TPF
FPT
Derrida will mit diesem Zitat die Unfixierbarkeit der Wahrheit und zugleich die
absolute Interpretationsmöglichkeit der Thora zeigen. Ein Grundgedanke der jüdischen
thorazentristischen Tradition ist folglich, daß sich die Wahrheit nicht in einer
wohlumschriebenen Menge von Aussagen vollständig zeigt und daß die Möglichkeiten,
die Thora zu interpretieren, unausschöpflich sind.
Dieser thorazentristische jüdische Gedanke unterscheidet sich vor allem von der
paulinischen christlichen Tradition, in der die Thora und deren Interpretationen als "tote
Buchstaben" gelten (2. Korinther, 3, 6) und dem lebendigen Geist der unmittelbaren
Gegenwart Christi unterlegen sind. Ein Ziel der Mission des Paulus war deshalb die
Überwindung der jüdischen Tradition, die dem Buchstaben verhaftet sei und den
lebendigen 'Logos' der christlichen Offenbarung nicht erfassen könne.
77
PT
Genau so wie der Schriftsteller in seinen Schriften nicht anwesend ist, ist Gott in seinen Geschöpfen
TP
nicht anwesend. Er hinterläßt darin nur seine Spur: "Abwesenheit des Schriftstellers ebenfalls. Schreiben
heißt sich zurückzuziehen. Nicht in sein Zelt, um zu schreiben, sondern von seiner Schrift selbst. Weit
von seiner Sprache entfernt auf eine Sandbank zu laufen, sie zu emanzipieren und ihr den Ort zu räumen,
sie allein und entblößt ihres Weges gehen zu lassen. Die Rede sich selbst zu überlassen. Dichter zu sein,
heißt die Rede sein zu lassen. Sie ganz von allein sprechen zu lassen, was sie nur in der Schrift zu tun
imstande ist. […] Die Schrift zu lassen, heißt nur da zu sein, um ihr den Durchgang zu lassen, um das
durchscheinende Element ihres Ausgehens zu sein: alles und nichts. Im Hinblick auf das Werk ist der
Schriftsteller alles und nichts zugleich. Wie Gott auch." J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, a.a.O., S.
109. Hervorhebung im Original.
TP
78
PT
J. Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 31.
71
Habermas sieht im Begriff der 'Schrift' Derridas dieselbe Funktion, die die rabbinische
Thora hat. Ist das gesprochene Wort Präsenz, dann ist die [Ur-]Schrift eine abwesende
Präsenz, die die Gegenwärtigkeit der gesprochenen Worte und die sinnvollen
Interpretationen ermöglicht. Die Schrift erschließt daher die absolute Lesbarkeit und die
wiederholte Interpretationsmöglicheit. 79
TPF
FPT
Die Dekonstruktion Derridas dient deswegen nach Habermas, entgegen seiner eigenen
Absicht, der Wiederherstellung des Diskurses über Gott, der schon mit dem Anfang der
Moderne seine zentrale Bedeutung verloren hat. Die folgende Aussage ist das Fazit
seiner Derrida-Lektüre:
"Derridas grammatologisch eingekreistes Konzept einer Urschrift [...]
erneuert den mystischen Begriff der Tradition als eines hinhaltenden
Offenbarungsgeschehens. Die religiöse Autorität behält nur solange ihre
Kraft, wie sie ihr wahres Antlitz verhüllt und dadurch die Entzifferungswut
der Interpreten anstachelt. Die inständig betriebene Dekonstruktion ist die
paradoxe Arbeit einer Traditionsfortsetzung, in der sich die Heilsenergie
einzig durch Verausgabung erneuert. Die Arbeit der Dekonstruktion läßt die
Schutthalde der Interpretationen, die sie abtragen will, um die verschütteten
Fundamente freizulegen, immer weiter anwachsen." 80
TPF
FPT
4.2. Die Kritik an der Archäologie und Genealogie Foucaults
Das 'Paradox der Rationalisierung' verdankt sich nach Foucault dem Wesen der
modernen Vernunft selbst, d. h. deren monologischer, diktatorischer Form. Die
Diskurse, die von der modernen Vernunft geleitet werden, wie z. B. die
Geisteswissenschaften, sind nach ihm allein dadurch gekennzeichnet, daß die Vernunft
ihr Anderes, wie z. B. den 'Wahnsinn', von sich ausschließt. Daher enthalten diese
Diskurse eine Art 'Ausschließungsmechanismus' in sich. Foucault geht deswegen davon
aus, daß sich das Wesen des Ausschließenden durch die Erkenntnis des
79
TP
PT
Darin liegt der Grund, warum Derrida die Welt nicht als ein Buch versteht, das systematisch
konstituiert und abgeschlossen ist, sondern als einen Text, der jeder Interpretation offen ist. Siehe Derrida,
Das Ende des Buchs und der Anfang der Schrift, in: ders., Grammatologie, a.a.O., S. 16ff.
TP
80
PT
PDM, S. 216. Hervorhebung im Original.
72
Ausgeschlossenen erhellt und daß das Wesen der Geisteswissenschaft darum nur vom
Standpunkt des Anderen der Vernunft aus betrachtet und nicht aus der Innenperspektive
der Geisteswissenschaften, d. h. mit der diskursiven Vernunft erfaßt werden kann.
Die 'Archäologie' in seiner frühen und die 'Genealogie' in seiner späten Zeit folgen
dieser Grundüberzeugung. Die Archäologie untersucht eigentlich die frühe Geschichte
der Menschheit, indem man die stummen Monumente einer Vorzeit ausgräbt, die
wissenschaftlich noch nicht erhellt wurden. Foucault führt diese Archäologie für die
Analyse und Kritik der modernen Geisteswissenschaften ein, die von der Idee der
Selbstbezogenheit der Vernunft ausgingen. Er entlarvt also in seinem Werk Archäologie
des Wissen, daß die vernunftgeleiteten modernen Geisteswissenschaften völlig von
sinnlosen Fundamenten, d. h. von dem Anderen der Vernunft abhängen. Er geht also,
wie Habermas sagt, "an die Ursprungsorte jener anfänglichen Verzweigung von
Wahnsinn und Vernunft" zurück, "um im Gesprochenen das Ungesagte zu
dechiffrieren." 81
TPF
FPT
"Man müßte mit aufmerksamem Ohr sich jenem Geraune der Welt zuneigen
und versuchen, die vielen Bilder, die nie in der Poesie ihren Niederschlag
gefunden haben, die vielen Phantasmen wahrzunehmen, die nie Farben des
Wachzustandes erlangt haben." 82
TPF
FPT
Die Archäologie Foucaults zielt darauf ab, die angebliche Reinheit der Vernunft zu
enttarnen. Er geht dafür in seinem Buch Wahnsinn und Gesellschaft zum
Entstehungspunkt der modernen Vernunft zurück und untersucht deren geschichtliche
Trennung vom Wahnsinn sowie deren allmähliche Monologisierung. Er erforscht diese
Vorgänge nicht in der Vernunft-, sondern in der Wahnsinnsgeschichte wegen seiner
archäologischen These, daß die Vernunft ihr genuines Gesicht in ihrem Anderen
verstecke.
Foucault unterscheidet bezüglich der Geschichte des Wahnsinns drei epochale
Einschnitte voneinander: die Renaissance, die Klassik (von der Mitte des 17. bis zum
Ende des 18. Jahrhunderts) und die Moderne seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Seit
der Renaissance wurde der Wahnsinn als etwas Tragisches und Seherisches verstanden,
das die Schwächen der Vernunft ironisch entlarven könne. Die große Internierungswelle
81
PT
PDM, S. 282.
TP
TP
82
PT
M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, a.a.O., 1969, S. 13.
73
um die Mitte des 17. Jahrhunderts weist aber darauf hin, daß sich die bisherige Ansicht
über den Wahnsinn schon verändert hat. Die Wahnsinnigen wurden in Anstalten zur
Internierung untergebracht genau so wie die Armen, die Arbeitslosen und die
Sträflinge. 83 Am Ende des 18. Jahrhunderts veränderten sich die Ansichten über den
TPF
FPT
Wahnsinn noch einmal stark: die Wahnsinnigen wurden als Kranke angesehen, die
medizinisch betreut werden müssen. Aus diesem Grund wurden die vielen
Internierungslager in dieser Zeit in psychiatrische Einrichtungen umgewandelt.
Foucault bringt diese beiden gesellschaftsgeschichtlichen Ereignisse in Verbindung mit
der
Vernunftgeschichte;
das
erste
bezieht
sich
auf
die
Entstehung
der
Subjektphilosophie, die mit Descartes angefangen hat, und das zweite auf die
Weiterführung der Subjektphilosophie, wie sie in der Kantischen Philosophie formuliert
ist. Diese beiden Ereignisse zeigen die allmählich steigende Herrschaft des Monologs
der Vernunft, indem diese ihre heterogenen Elemente von sich abgrenzt oder alles, was
ihr begegnet, zum Objekt macht.
Habermas kritisiert die archäologische Methode in zwei Punkten: Erstens bemängelt er,
daß bei Foucault das Verhältnis zwischen den Theorien (den Geisteswissenschaften)
und der Praxis (den gesellschaftsgeschichtlichen Ereignissen) nicht erläutert wird. Nach
ihm beantwortet die Archäologie nicht die Frage, "ob die einen die anderen steuern; ob
ihr Verhältnis als Basis und Überbau oder eher nach dem Modell kreisförmiger
Kausalität oder als Zusammenspiel von Struktur und Ereignis gedacht werden soll". 84
TPF
FPT
Habermas fragt sich zweitens, ob nicht die Forschung Foucaults über den Wahnsinn als
eine 'Revolution gegen die Vernunft innerhalb der Vernunft' angesehen werden muß, d.
h. ob nicht die Forschung der Wahnsinnsgeschichte ein vernünftiger Diskurs ist. 85 Nach
TPF
FPT
ihm wirft Foucaults Geschichtsschreibung die methodische Frage auf, "wie eine
Geschichte der Konstellationen von Vernunft und Wahnsinn überhaupt geschrieben
werden kann, wenn sich die Arbeit des Historikers doch ihrerseits im Horizont der
Vernunft bewegen muß." 86 Seine archäologische Geschichtsbeschreibung geht also, wie
TPF
83
FPT
PT
Foucault berichtet, daß im 17. Jahrhundert von den Pariser Einwohnern mehr als 1% in den großen
TP
Häusern zur Internierung mehrere Monate eingeschlossen war. Vgl. M. Foucault, Wahnsinn und
Gesellschaft, a.a.O., S. 71f.
84
PT
PDM, S. 285.
TP
85
PT
Es wurde bereits erwähnt, daß dies ein entscheidender Kritikpunkt Derridas an Foucault war. Siehe J.
TP
Derrida, Die Schrift und die Differenz, a.a.O., S. 61.
TP
86
PT
PDM, S. 290.
74
Honneth sagt, von "selbstwidersprüchlichen Hypothesen darüber [aus], wie die
historische Herausbildung von Wissenssystemen zu explizieren sei". 87
TPF
FPT
In diesem Zusammenhang beschäftigt sich Habermas mit dem Übergang Foucaults von
der Archäologie zur Genealogie, d. h. von der Diskursanalyse zur Machttheorie. 88 Um
TPF
FPT
einerseits das Verhältnis zwischen dem Wissen und der Praxis zu erhellen und
andererseits einen viel radikaleren antiwissenschaftlichen Diskurs zu ermöglichen,
braucht Foucault eine neue Methode: die genealogische, die untersucht, wie die
Diskurse konstituiert werden und verschwinden, indem sie die Genesis der geschichtlich
variablen Geltungsbedingungen bis in die institutionellen Wurzeln hinein verfolgt.
Diese institutionelle Wurzel ist bei Foucault die 'Macht', die sich hinter den
wissenschaftlichen Diskursen versteckt. Macht ist hier nicht ein fixierbares Vermögen,
eine dauerhafte Eigenschaft eines individuellen Subjekts oder einer sozialen
Gruppierung, sondern ein prinzipiell wandelbares Element der strategischen
Auseinandersetzungen zwischen Subjekten. Also ist sie in den strategischen
Handlungen der Subjekte allgegenwärtig vorhanden. Für Foucault, der auch die
Kommunikation zwischen Subjekten als eine Art der strategischen Handlung versteht,
sind alle Handlungen nichts anderes als Machtphänomen:
"Die Macht kommt von unten, d. h. sie beruht nicht auf der allgemeinen
Matrix einer globalen Zweiteilung, die Beherrscher und Beherrschte
einander entgegengesetzt und von oben nach unten auf immer beschränktere
Gruppen und bis in die letzten Tiefen des Gesellschaftskörpers ausstrahlt.
Man muß eher davon ausgehen, daß die vielfältigen Kraftverhältnisse, die
sich in den Produktionsapparaten, in den Familien, in den einzelnen
Gruppen und Institutionen ausbilden und auswirken, als Basis für
weitreichende und den gesamten Gesellschaftskörper durchlaufende
Spaltungen dienen." 89
TPF
87
FPT
A. Honneth, Kritik der Macht, Frankfurt/M. 1989, S. 168.
TP
PT
88
TP
PT
Auch Foucault scheint schon die Grenze seiner archäologischen Methode zu kennen. Über den
Übergang zur Machttheorie sagt er in einem Interview wie folgt: "Dort, wo Wahnsinn und Gesellschaft
und Die Ordnung der Dinge zusammentreffen, befand sich unter zwei sehr unterschiedlichen
Gesichtspunkten dieses zentrale Problem der Macht, das ich noch ziemlich schlecht herausgeschält hatte."
M. Foucault, Wahrheit und Macht. Interview von Allessandro Fontatana und Pasquale Pasquino, in:
ders., Despositive der Macht, Berlin 1978, S. 21.
TP
89
PT
M. Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 1977, S. 115.
75
Nach Foucault hängen die wissenschaftlichen Diskurse vollständig von einem
antiwissenschaftlichen Moment, nämlich der Macht ab. Während sich die Archäologie
auf den Gegensatz zwischen Vernunft und Nichtvernunft (z. B. Wahnsinn) bezieht,
wobei diese beiden Faktoren auf der gleichen Ebene liegen, hat die Genealogie das
Verhältnis von Wissen und Macht als Hauptgegenstand, wobei die Macht
fundamentaler ist als das Wissen.
In seinem Buch Überwachen und Strafen (1976) analysiert Foucault das Verhältnis der
Humanwissenschaften zur Macht. Die Untersuchung von 'Überwachen und Strafen', die
sich mit der Unterdrückung des Anderen durch die herrschende Macht beschäftigt, geht
von der Gewißheit aus, daß sich aus der Position der unterdrückten Seite – d. h. aus der
Perspektive der 'Gegenmacht' – eine über die herrschende Ansicht hinausgehende,
erweiterte Perspektive gewinnen läßt. Er unterscheidet in diesem Buch das klassische
Zeitalter und die Moderne in Hinblick auf die jeweilige Form des Strafvollzugs.
Während es bei dem dem Absolutismus entsprechenden klassischen Zeitalter um die
körperlichen Qualen des Verbrechers ging, ist die freiheitsentziehende Kerkerstrafe in
der Moderne die leitende Form des Strafvollzugs. Dies ist der Grund, warum Foucault
die Moderne die Zeit der 'Geburt des Gefängnisses' nennt.
Das Gefängnis, das als eine Einrichtung angesehen wird, die sowohl die körperliche als
auch die seelische Kontrolle der Häftlinge erleichtert, findet seine idealtypische Form
vor allem in dem von Bentham entworfenen 'Panopticon'. Dieses ist so angelegt, daß die
Menschen, die im Außenring sind, vollständig gesehen werden können, ohne jemals
selbst etwas zu sehen, und die, die im Zentralraum sind, alles sehen, ohne je gesehen zu
werden. 90
TPF
FPT
Am Ende des 18. Jahrhunderts verbreitete sich diese Form der Überwachung, die in den
Gefängnissen ausgeübt wurde, rasch in allen gesellschaftlichen Bereichen, z. B. in
Manufakturen und Arbeitshäusern, in Kasernen und Schulen sowie in Hospitälern etc.
Die Humanwissenschaft verlängert hier nur, wie Habermas sagt, "auf sublime Weise
den normalisierenden Effekt dieser Körperdisziplinen bis ins Innerste der szientifisch
vergegenständlichten, zugleich in ihre Subjektivität hineingetriebenen Personen und
Populationen". 91 Der im 'Panopticon' vorherrschende objektivierende, kontrollierende
TPF
90
FPT
PT
Siehe zur Beschreibung des Panopticon M. Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976, S.
TP
259.
TP
91
PT
PDM, S. 319.
76
und alles durchdringende Blick findet also auf einer subtileren Ebene in dem
vernünftigen Subjekt seinen Ausdruck, das in seiner monologischen Einsamkeit andere
Subjekte
nur
in
der
Form
von
Beobachtungsobjekten
behandelt.
Die
Humanwissenschaft stellt daher ihrem Wesen nach bloß ein Amalgam aus Macht und
Wissen dar.
Nach Habermas beruht die von dem Macht-Wissens-Paradigma ausgehende Genealogie
auf drei Reduktionen: 92 1) auf der Reduktion des Sinnverständnisses des an Diskursen
TPF
FPT
beteiligten Interpreten auf die objektive Erklärung von Diskursen; 2) der Reduktion der
Geltungsansprüche auf funktionalistische Machtwirkungen; 3) der Reduktion des
Sollens auf naturalistisches Sein. Habermas bezweifelt aber, ob die internen Aspekte der
Bedeutung, der Wahrheitsgeltung und des Wertens durch die extern erfaßbaren Aspekte
von Machtpraktiken restlos verstanden werden können. 93
TPF
FPT
1) Um eine objektive Wissenschaft oder, besser gesagt: eine Metawissenschaft zu sein,
muß die Genealogie nach Foucault eine Beobachterperspektive einnehmen. Dies ist der
Grund, warum er bei einer Theoriekonstitution die Rolle des praktischen
Zusammenhanges betont. Nur aus der praktischen Perspektive kann von der Objektivität
einer Wissenschaft als einer Theorie gesprochen werden. Wegen ihrer hermeneutischen
Methode könne aber die moderne Humanwissenschaft nach Foucault nicht objektiv sein,
denn das Selbstverständnis des Interpreten beziehe sich immer auf einen
Traditionszusammenhang.
Habermas geht aber davon aus, daß auch die genealogische Geschichtsbeschreibung
selbst nicht wissenschaftlich objektiv sein kann, entgegen der Absicht von Foucault, der
als ein radikaler Historist dennoch für sein eigenes Anliegen wissenschaftliche
Objektivität beansprucht. Foucault gelingt nach Habermas einerseits bloß ein Vergleich
der verschiedenen Mechanismen der Macht, ohne daß er eine einzelne Machtform als
Ganze aus sich heraus erklären könne; andererseits zeige sich auch bei Foucault die
Abhängigkeit seiner eigenen Genealogie von einem bestimmten hermeneutischen
Horizont, der zum Beispiel in seiner implizit auf die Gegenwart bezogenen Einteilung
der Epochen deutlich werde. Habermas schreibt dazu folgendes:
92
PT
A.a.O., S. 325ff.
TP
TP
93
PT
A.a.O., S. 325.
77
"Foucault ist sich der Aporie eines Vorgehens, das objektivistisch sein will
und zeitdiagnostisch bleiben muß, bewußt, ohne darauf eine Antwort zu
geben." 94
TPF
FPT
2) Die verschiedenen Geltungsansprüche lassen sich nicht denken ohne die Idee der
Autonomie oder der Allgemeinheit der Vernunft vorauszusetzen. Die genealogische
Reduktion dieser Geltungsansprüche auf die Machtinteressen impliziert also die
Ablehnung der Autonomie der Vernunft. Indem die Genealogie die sich in der Form des
lokalen, marginalen oder alternativen Wissens versteckende Gegenmacht, z. B. 'die
Geschichte des Gefängnisses', auf das Niveau 'gelehrter Kenntnisse' hebt, gewinnt sie
nach Foucault eine allgemeinere Perspektive, in der sich die Abhängigkeit aller
Geltungsansprüche von der Macht erkennen lasse.
Habermas steht dieser These jedoch sehr kritisch gegenüber, weil jede Gegenmacht
ebenfalls nur eine andere Form der Macht ist, die nach ihrem Sieg lediglich einen
weiteren Machtkomplex bildet, der erneut eine Gegenmacht hervorruft. Die Genealogie
teilt also ihr Schicksal mit der Humanwissenschaft, die sie kritisiert: beide führen zu
einem Relativismus:
"So schlägt der Versuch fehl, die genealogische Geschichtsschreibung mit
ihren eigenen Mitteln vor dem relativistischen Selbstdementi zu bewahren.
Indem sich die Genealogie ihrer Herkunft aus der Allianz des gelehrten mit
dem disqualifizierten Wissen innewird, findet sie nur bestätigt, daß die
Geltungsansprüche von Gegendiskursen nicht mehr und nicht weniger
zählen als die machthabenden Diskurse - auch sie sind nichts als die
Machtwirkungen, die sie auslösen." 95
TPF
FPT
3) Die Genealogie will durch eine streng deskriptive Beschreibung, anders gesagt, durch
die Reduktion des Sollens auf das Sein eine wertfreie Geschichtsschreibung erreichen.
Sie soll sich von der Parteilichkeit distanzieren, die darin besteht, bestimmten Diskursund Machtformen den Vorzug zu geben. Es gibt für Foucault deswegen keine 'richtige
Seite'. Daß die Begründung einer Wertfreiheit an sich nicht wertfrei ist, zeigt sich aber
nach Habermas schon in Foucaults engagierten gelehrten Abhandlungen. Er erinnert
94
PT
A.a.O., S. 326f.
TP
TP
95
PT
A.a.O., S. 330.
78
daran, daß sich Foucault als Dissident versteht, der dem modernen Denken und der
humanistisch verkleideten Disziplinarmacht Widerstand leistet. 96 Seine Kritik an
TPF
FPT
Foucault läßt sich also wie folgt zusammenzufassen: Habermas fragt sich erstens auf der
formalen Ebene, ob nicht die Genealogie selbst, die die Machtformen, die den
Diskursen zugrunde liegen, untersucht, genealogisch untersucht werden sollte, oder
anders gesagt, ob sie nicht einer bestimmten Macht dient. Er kritisiert also den
performativen Widerspruch der Genealogie:
"Foucault gewinnt diesen Boden freilich nur dadurch, daß er im Hinblick auf
seine eigene genealogische Geschichtschreibung nicht genealogisch denkt
und
die
Herkunft
unkenntlich macht." 97
TPF
seines
transzendental-historischen
Machtbegriffs
FPT
Zweitens geht Habermas inhaltlich davon aus, daß sich die Subjektphilosophie durch
den Begriff der Macht nicht überwinden läßt, weil dieser Begriff das "Repertoire der
Bewußtseinsphilosophie selber" bloß wiederhole. 98 In der Bewußtseinsphilosophie kann
TPF
FPT
das Subjekt nach Habermas nur zwei Beziehungen zum Objekt haben: erstens eine
durch die Wahrheit von Urteilen bestimmte kognitive Beziehung, zweitens eine durch
den Erfolg von Handlungen bestimmte praktische Beziehung. Die Macht ist hierbei bloß
das Einwirken auf Objekte, um erfolgreich zu handeln. Die Wahrheit der Urteile, die in
den Handlungsplan eingehen, ist also für die Bewußtseinsphilosophie eine
entscheidende Bedingung für den Handlungserfolg.
Foucault kehrt aber nach Habermas dieses Verhältnis von Wahrheit und Macht einfach
um: anstelle von einer Abhängigkeit der Macht vom Wissen auszugehen, geht er
lediglich von einer Abhängigkeit des Wissens von der Macht aus. 99 Bei dieser
TPF
FPT
Umkehrung liegt immer noch das subjektphilosophische Paradigma zugrunde, bei dem
es um die Trennung von Subjekt und Objekt und um die Subsumtion des einen unter das
andere geht. Das ist der Grund, warum für Habermas der Begriff der Macht bei Foucault
denselben Platz einnimmt wie der Begriff differánce bei Derrida, der dazu führt, daß die
Grammatologie zu einer Ursprungsphilosophie bzw. zu einer subjektphilosophischen
96
PT
Vgl. a.a.O., S. 331.
TP
97
PT
A.a.O., S. 316.
TP
98
PT
A.a.O., S. 322f.
TP
TP
99
PT
Vgl. a.a.O., S. 323.
79
Metaphysik wird. 100 Die folgende Aussage ist das Resultat von Habermas' FoucaultTPF
FPT
Lektüre:
"Die Genealogie ereilt ein ähnliches Schicksal wie jenes, das Foucault den
Humanwissenschaften aus der Hand gelesen hatte. [...] Während die
Humanwissenschaften,
Foucaults
Diagnose
zufolge,
der
ironischen
Bewegung szientischer Selbstbemächtigung nachgeben und in einem
heillosen Objektivismus enden, besser: verenden, vollzieht sich an der
genealogischen Geschichtsschreibung ein nicht minder ironisches Schicksal;
sie folgt der Bewegung einer radikal historistischen Auslöschung des
Subjekts und endet in heillosem Subjektivismus." 101
TPF
100
PT
Vgl. a.a.O., S. 300.
TP
TP
101
PT
A.a.O., S. 324. Hervorhebung im Original.
80
FPT
III. Die Auseinandersetzung von Habermas mit Hegel und die
Ansätze der Idee der Intersubjektivität
Habermas betrachtet Hegel als den ersten Philosophen, der das Selbstverständnis der
Moderne philosophisch reflektiert, d. h. die Problematik der Modernität bewußt
untersucht hat, während andere Denker, wie z. B. Descartes und Kant, innerhalb des
Rahmens der Moderne philosophiert haben.1 Hegel bezeichnet die Moderne als 'die Zeit
TPF
FPT
der Entzweiung' des Ganzen oder des Lebens und sieht ihr philosophisches Prinzip im
Begriff der 'Subjektivität'. Die moderne Philosophie überhaupt, die von diesem Prinzip
ausgeht, ist nach Hegel deswegen nichts anderes als ein Produkt der entzweiten
Moderne. Es ist daher nicht überraschend, daß Hegel nach der Wiederherstellung des
Ganzen strebt
2
TPF
FPT
und sein erster Schritt zu dieser Wiederherstellung in der
Auseinandersetzung mit dem liegt, was die Entzweiung hervorgebracht bzw. vertieft hat.
Der junge Hegel nimmt an, daß die autoritären Systeme, wie z. B. die christliche
Religion, und sogar noch die subjektzentrierte Vernunft, wie z. B. die praktische
Vernunft Kants, Elemente sind, die das Leben als Ganzes zerstören.
Es ist nicht erstaunlich, daß Habermas sich auf den jungen Hegel bezieht, weil er
ebenfalls der Ansicht ist, daß das ursprüngliche Projekt der Moderne innerhalb des
Rahmens der Moderne weitergeführt werden kann und soll. Er untersucht vor allem die
Kritik des jungen Hegel an den 'autoritären Verkörperungen der subjektzentrierten
Vernunft', weil er in dieser Kritik eine neue Form der Rationalität, d. h. die Möglichkeit
der 'vereinigenden Macht einer Intersubjektivität', sieht, deren Begriff er zum Prinzip
einer neuen Philosophie erhebt. Bevor im folgenden die Hegel-Lektüre von Habermas
untersucht werden soll, wird zunächst das Anliegen des jungen Hegel dargestellt.
1
PT
Vgl. PDM, S. 26f.
TP
TP
2
PT
A.a.O., S. 377.
81
1. Die Anliegen des jungen Hegel: die Herstellung
der Lebenstotalität
Das Interesse des jungen Hegel konzentriert sich, wie gesagt, auf die Wiederherstellung
des lebendigen Lebens, das nichts anderes als das 'vernünftige Zusammenleben' ist. Dies
setzt voraus, daß die damalige Lebensform keine vernünftige Einheit bildet. Hegel
bezieht sich dabei vor allem auf die Trennung zwischen dem privaten und öffentlichen
Leben sowie auf den atomistischen Individualismus. Dieses gesellschaftlich-politische
Interesse des jungen Hegel führt zuerst dazu, die gesellschaftlich-historischen Elemente
ans Licht zu bringen, die das Leben zerstören. Seine Kritik an dem zerrissenen Leben
konzentriert sich auf die Kritik an dem Christentum und an der Kantischen Ethik. Denn
er sieht die Quelle dieser Zerstörung der Einheit des Lebens in dem christlichen
Glauben und in der Kantischen Ethik, die eigentlich das Christentum überwinden wollte,
weil beide die Zwei-Welten-Lehre voraussetzen: jenes den Himmel und die Erde, dieser
das Sollen und das Sein. Also steht das frühe Denken Hegels, das sich in der Kritik der
Positivität ausdrückt, im engen Zusammenhang mit der Wiederherstellung der Einheit
des Lebens.
1.1. Die Kritik des jungen Hegel an der Positivität
1.1.1. Die Kritik an der positiven Religion
Es ist ein Allgemeinplatz, daß die Problematik der Subjektivität, d. h. der Reflexion
sowie der Freiheit des Menschen erst seit der Renaissance zum wichtigen Gegenstand
der Philosophie wird. Dieses Urteil nimmt an, daß die Menschheit im christlichen
Mittelalter in einer Art Knechtschaft gefangen war und daß das Christentum dabei eine
entscheidende Rolle gespielt habe. Man geht dabei davon aus, daß beim Christentum
nur Gott absolut frei ist und alle anderen Lebewesen inklusive des Menschen von ihm
vollständig abhängig sind. Eben deswegen ist es nicht erstaunlich, daß die Moderne, die
von der Selbständigkeit oder der Selbsttätigkeit des Menschen spricht, mit der
Auseinandersetzung mit dem Christentum begonnen hat. Aus diesem Grund bezeichnete
Max
Weber
den
Modernisierungsvorgang
'Säkularisierungsprozeß'.
Der junge Hegel steht in der Linie dieser Tradition:
82
als
'Entzauberungsvorgang'
und
"Ausser frühern Versuchen blieb es unsern Tagen vorzüglich aufbehalten, die
Schäze, die an den Himmel verschleudert worden sind, als Eigentum der
Menschen, wenigstens in der Theorie, zu vindiciren, aber welches Zeitalter
wird die Kraft haben, dieses Recht geltend zu machen und sich in den Besiz
zu setzen?" 3
TPF
FPT
In dieser Äußerung zeigt sich, daß auch Hegel ein Kind der Moderne ist, welche die
Emanzipation des Menschen von der Autorität sowie der Knechtschaft einerseits und
eine innerweltliche Einheit andererseits sucht. Nach Hegel, der, wie Spinoza und
Hölderlin, von dem 'hen kai pan' (innerweltliche Einheit) ausgeht, spielt die ZweiWelten-Lehre des Christentums bei dem Problem der modernen Spaltung eine
entscheidende Rolle. Von daher ist es nicht erstaunlich, daß er in jungen Jahren – wie
viele andere Denker seiner Zeit auch – versucht, das Christentum zu überwinden.
'Positivität' gehört zu einem der wichtigsten kritischen Begriffe des jungen Hegel. Daß
das Christentum auf einem 'positiven' Glauben basiert, ist der Kern seiner Kritik.
Ursprünglich leitet sich 'positiv' von dem lateinischen ponere ab, das als 'setzen',
'stellen' oder 'legen' etc. übersetzt werden kann. 4 Dieses lateinische Wort wurde in zwei
TPF
FPT
Bedeutungsrichtungen benutzt: Zum einen bedeutete es nicht das, was von Natur aus ist,
sondern das, was durch Setzung oder Kunst konstituiert ist, zum anderen war es ein
grammatischer Terminus, der eine nicht abgeleitete Wortform, z. B. die Grundform
eines Adjektivs bezeichnet. In der Neuzeit wurde allerdings das Wort positivus vor
allem in drei Bedeutungsrichtungen benutzt: Erstens bedeutete es constitutum, als
Gegenbegriff zu naturalis, zweitens 'seiend' oder 'affirmativ', als Gegenbegriff zu
negativus, und letztlich realis, als Gegenbegriff zu cogitatus. Hegel benutzt das Wort
'positiv' in seiner jüngeren Zeit vor allem in der ersten Bedeutungsrichtung: "eine
positive Religion wird der natürlichen entgegengesetzt", 5 während er das Wort später in
TPF
der zweiten Bedeutung gebraucht.
TPF
3
FPT
PT
G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 372.
TP
4
PT
Siehe J.-G. Blühdorn, Positiv, Positivität, in: HWPh, Bd. 7, Sp. 1106ff.
TP
5
PT
G. W. F. Hegel, Neufassung des Anfangs (1800), in: TW, Bd. 1, S. 217.
TP
6
TP
FPT
6
PT
In der Logik steht das 'Positive' dem 'Negativen' gegenüber. Aber diese beiden Elemente bestimmt Hegel
als eine Wesensbestimmung, die als Resultat der Selbstbewegung der Reflexion hervorgebracht wird, d. h.
sie sind nichts anderes als "die selbständig gewordenen Seiten des Gegensatzes" oder "absolute Momente
83
Was den Begriff der Positivität betrifft, nennt Hegel den Glauben, der die Spaltung
verursacht und verfestigt, oder besser gesagt, der nur eine falsche Einheit hervorruft,
den 'positiven Glauben'. In einem Fragment von 1795/96, das von Nohl als Positivität
der christlichen Religion betitelt wurde, sagt er über diesen Glauben:
"Ein positiver Glauben, ist ein solches System von religiösen Säzen, das für
uns deswegen Wahrheit haben soll, weil es uns geboten ist von einer
Autorität […]. In diesem Begrif kommt vors erste ein System religiöser Säze,
oder Wahrheiten vor, die, unabhängig von unserm Fürwahrhalten, als
Wahrheiten angesehen werden sollen, die wenn sie auch keinem Menschen
nie bekannt, von keinem Menschen nie für wahr gehalten worden wären,
dennoch Wahrheiten blieben, und die insofern häufig objektive Wahrheiten
genannt werden, - diese Wahrheiten nun sollen auch Wahrheiten für uns,
subjektive Wahrheiten werden." 7
TPF
FPT
In einem anderen kurzen Fragment von 1797 sagt er weiter:
"Positiv wird ein Glaube genannt, in dem das Praktische theoretisch
vorhanden ist – das ursprünglich Subjektive nur als ein Objektives, eine
Religion, die Vorstellungen von etwas Objektivem, das nicht subjektiv
werden kann, als Prinzip des Lebens und der Handlungen aufstellt." 8
TPF
FPT
Der 'positive' Glaube ist also ein autoritärer Glaube, in welchem religiöse Gesetze als
bloß objektives Wissen entleert und rein formalisiert werden und damit die subjektiven
und praktischen Momente des Glaubens vollständig aufgehoben werden. 9 Aus diesem
TPF
FPT
Grund identifiziert Hegel die positive Religion auch mit der 'objektiven' Religion, die
sich der subjektiven Religion entgegensetzt. 10 Positivität kann daher, wie Lukács sagt,
TPF
FPT
des Gegensatzes". (Hegel, GW, Bd. 11. Wissenschaft der Logik, F. Hogemann / W. Jaeschke (Hg.), S.
273.) Damit verschwindet die absolute Unabhängigkeit jedes Momentes.
7
PT
G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 352.
TP
8
PT
G. W. F. Hegel, Entwürfe über Religion und Liebe (1797/1798), in: TW, Bd, 1, S. 239.
TP
TP
9
PT
Siehe J.-G. Blühdorn / Ch. Jamme, Positiv,Positivität, in: HWPh, Bd. 7, Sp. 1112f.
TP
10
PT
Hegel vergleicht die subjektive Religion mit den Lebewesen in der Natur selbst, die objektive mit den
ausgestopften Tieren im naturwissenschaftlichen Kabinett. Denn die objektive Religion läßt sich in ein
84
als "eine tote Objektivität" 11 definiert werden, in der keine subjektive Selbsttätigkeit und
TPF
FPT
TP
PT
Freiheit, d. h. keine moralische Autonomie des Subjekts erlaubt wird.
Eine der augenfälligsten Eigenschaften der positiven Religion ist nach Hegel, daß diese
die "bürgerliche und politische Freiheit" des Menschen als "Koth gegen die
himmlischen Güter und Genuß des Lebens" 12 verachtet. Hier liegt aber das Problem
TPF
FPT
darin, daß das mangelnde Interesse dieser Religion für die Freiheit oder Knechtschaft
eines Volkes und seiner Bürger zur Mißachtung der politisch gemeinsamen, d. h.
republikanischen Idee und letztendlich zur stillschweigenden Zustimmung zum
Despotismus führt. In diesem Sinne ist die positive Religion eine Privatreligion, die als
öffentliche Religion ungeeignet ist. 13 Die positive Religion privatisiert also alle
TPF
FPT
öffentlichen Beziehungen, d. h. sie reduziert alle bürgerlichen Verhältnisse höchstens
auf die Brüderschaft. In diesen Verhältnissen herrscht nicht die heroische Handlung für
die gemeinsame Idee vor, sondern die egozentrische für die eigenen Interessen
gegenüber der Gesellschaft, und der Staat funktioniert bloß als eine "Staatsmaschine",
die existiert, um die Interessen der Einzelnen zu sichern 14 : "nach Vertilgung aller
TPF
FPT
politischen Freiheit [ist] alles Interesse an einem Staate […] verschwunden", und "der
Zweck des Lebens [ist] nur auf Erwerbung des täglichen Brodtes mit mehrerer oder
wenigerer Bequemlichkeit oder Überfluß […] eingeschränkt." 15
TPF
FPT
Hierbei ist auffällig, daß Hegel den Zweck der Religion auf die Politik bezieht. Er geht
davon aus, daß der private Lebensbereich erst im Rahmen des öffentlichen Bereichs
sinnvoll ist und die wahre Religion beide Faktoren des Lebens bzw. die Individualität
System bringen, in einem Buche darstellen, während "subjektive Religion Lebendig [ist], Wirksamkeit im
Innern des Wesen und Thätigkeit nach aussen." G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 88.
11
PT
G. Lukács, Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie, Neuwied und Berlin
TP
1967, S. 115. Dies ist der Grund, warum Lukács den Begriff der Positivität des jungen Hegel
begriffsgeschichtlich nicht an den Begriff der Positivität des späten Hegel, welcher der Gegenbegriff der
Negativität ist, sondern an den Begriff der 'Entäußerung' bzw. der 'Entfremdung' anschließt.
12
PT
G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 182.
TP
13
PT
A.a.O., S. 138ff.
TP
14
PT
Siehe a.a.O., S. 369. In der Kritik des jungen Hegel an der christlichen Religion kann man deutlich den
TP
Einfluß Rousseaus erkennen. Nach Rousseau ist das Christentum eine Religion, welche das Entstehen
eines zivilen und öffentlichen Geistes verhindert. Denn es faßte die Menschen vor allem als Kinder
Gottes und deshalb mehr als Brüder einer himmlischen Heimat denn als Bürger einer Nation auf. Siehe R.
Finelli, Mythos und Kritik der Formen. Die Jugend Hegels (1770-1803), Frankfurt/M., Berlin 2000, S.
80ff.
TP
15
PT
G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 376.
85
und die Allgemeinheit lebendig vereinigt. In seiner Frankfurter Zeit beschreibt Hegel
vor diesem Hintergrund die Rolle der Religion wie folgt:
"Dies Bedürfnis, das Subjektive und Objektive, die Empfindung und die
Forderung derselben nach Gegenständen, den Verstand durch die Phantasie
in einem Schönen, einem Gotte zu vereinigen, dies Bedürfnis, das höchste
des menschlichen Geistes, ist der Trieb nach Religion." 16
TPF
FPT
Er sieht in der griechischen und frührömischen Religion eine Urform der wahren
Religion. Die Vorzüge der griechischen und frührömischen Religion liegen nach ihm in
deren Öffentlichkeit und in deren Versuch, innerweltliche Ideen zu realisieren, während
bei der positiven christlichen Religion ein mangelndes Interesse für den öffentlichen
Bereich und eine Flucht in die übernatürliche bzw. außervernünftige Welt vorhanden sei.
Hegel bestimmt zu dieser Zeit das Prinzip der öffentlichen Religion wie folgt:
"I. Ihre Lehren müssen auf der allgemeinen Vernunft gegründet seyn.
II. Phantasie, Herz und Sinnlichkeit müssen dabei nicht leer ausgehen.
III. Sie muß so beschaffen seyn, daß sich alle Bedürfnisse des Lebens – die
öffentlichen StaatsHandlungen daran anschließen –" 17
TPF
FPT
Es ist bemerkenswert, daß er die Phantasie bzw. die Sinnlichkeit gleichberechtigt neben
die Vernunft stellt. Daß das Christentum positiv ist, liegt somit daran, daß es nicht nur
die Vernunft, sondern auch die freie Phantasie vollständig vernichtet, die von der Natur
des Menschen entstanden ist.
"Das Christenthum hat Walhalla entvölkert, die heiligen Hayne umgehauen,
und die Phantasie des Volks als schändlichen Aberglauben, als ein
teufelisches Gift ausgerottet und uns dafür die Phantasie eines Volks
gegeben, dessen Klima dessen Gesezgebung, dessen Kultur, dessen
Interesse uns fremd, dessen Geschichte mit uns in ganz und gar keiner
Verbindung ist." 18
TPF
16
PT
G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 406.
TP
17
PT
G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 103.
TP
18
TP
FPT
PT
G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 359.
86
Die Auseinandersetzung des jungen Hegel mit der positiven Religion erinnert uns an die
Kritik Kants an der christlichen Religion. Im 3. und 4. Kapitel der Religion innerhalb
der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), das als erstes Werk Kants bekannt ist, für das
sich Hegel begeistert hat, 19 verallgemeinert Kant die katholizismuskritischen Begriffe
TPF
FPT
Luthers, wie z. B. 'Religionswahn', 'Fetischdienst oder -glauben', 'Tempeldienst',
'Pfaffentum' ect., um dann den sogenannten 'statutarischen' Glauben zu kritisieren.
Dabei hat die Statutarität bei Kant fast denselben Sinn wie die Positivität des jungen
Hegel. Die Kritik des jungen Hegel an der positiven Religion wiederholt in vielen
Fällen bis ins kleinste die Kritik Kants an dem statutarischen Glauben.
Aber diese Ähnlichkeit macht den jungen Hegel nicht zu einem Kantianer. 20 Zwar hat
TPF
FPT
seine Auffassung der Religion eine Ähnlichkeit mit der Kantischen in dem Sinne, daß er
den Inhalt der Religion in der Subjektivität, u.a. in der Moralität sieht, aber seine Kritik
an der Positivität enthält etwas in sich, das sich mit der Kantischen Kritik nicht in
Einklang bringen läßt. Dieser Unterschied wird später noch augenfälliger. Das Adjektiv
'kalt', das Hegel zu dieser Zeit häufig benutzt hat, wie es sich z. B. in den Äußerungen
'kalte Vernunft', 'kalte Erkenntnisse', 'kalter Verstand', 'kaltes Abstraktum', 'kaltes
Nachdenken' sowie 'kalte Überzeugung' etc. vorkommt, zielt nicht nur auf das
Christentum, sondern stillschweigend auch auf die Vernunftreligion Kants.
Kant und der junge Hegel sind sich darin einig, daß die Fehler der christlichen Religion
in einer "unerlaubten Verallgemeinerung eines Besonderen" liegt, 21 d. h. beim
TPF
FPT
Christentum in dem Glauben an eine Person, Christus, nicht an das Allgemeine. Aber
19
PT
Vgl. W. Kaufmann, Kant und die Religion, in: ders., Hegel. A Reinterpretation, Garden City, New
TP
York 1978.
20
PT
Es herrscht in der Forschung Einigkeit darüber, daß der Berner Hegel (1793-96) auf der Linie des
TP
strengen Kantianismus stand und der Frankfurter Hegel (1797-1800) dagegen als ein starker Kantgegner
angesehen wird. Als Beweis dafür wird angeführt, daß jener das Wesen der Religion in der Moralität sah,
während dieser von der Idee des Lebens ausging. Aus dieser Perspektive wird ein radikaler Bruch
zwischen dem Berner und dem Frankfurter Hegel behauptet. Siehe M. Bondeli, Vom Kantianismus zur
Kantkritik. Der junge Hegel in Bern und Frankfurt, in: M. Bondeli / H. Linneweber-Lammerskitten (Hg.),
Hegels Denkentwicklung in der Berner und Frankfurter Zeit, München 1999, S. 31-51. Es scheint mir
allerdings viel plausibler zu sein, daß Hegel auch in seiner Berner Zeit, wie oben angedeutet, eine
umfassendere Vernunftidee im Sinn hatte als Kant. Denn es darf nicht übersehen werden, daß nicht nur
Kant, sondern auch Hölderlin, Goethe, Schiller etc. einen großen Einfluß auf den jungen Hegel ausgeübt
haben. Zu dieser Problematik siehe das I. Kapitel von W. Kaufmann, Hegel. A Reinterpretation, a.a.O.
TP
21
PT
R. Finelli, Mythos und Kritik der Formen, a.a.O., S. 89.
87
während Kant von der Möglichkeit spricht, durch die Trennung der moralischen Lehre
Jesu von der Person Jesu selbst bzw. durch die Entpersonalisierung des christlichen
Glaubens diese Religion in eine Moralreligion umzuwandeln, geht Hegel nicht von
dieser Möglichkeit aus. Aber noch wichtiger als dieser konkrete Unterschied zwischen
ihnen ist, daß Kant den Bereich der Religion oder Moral von dem des Staates
unterscheidet und jenen über diesen stellt, da es sich bei jenem Bereich um die
Selbstbestimmung des Subjekts handelt, die die Selbständigkeit der Vernunft bedeutet.
Im Gegensatz dazu kritisiert Hegel die Privatisierung der Religion als einen Verfall und
als positiv.
Dieser Unterschied zwischen Kant und Hegel hat nach Lukács seinen Grund in der
Verschiedenheit des Subjektbegriffs 22 ; während es bei jenem um den Begriff des
TPF
FPT
einzelnen Subjekts geht, geht es bei diesem um den des kollektiven Subjekts (z. B. Volk,
Staat, Gemeinschaft etc.). Aus diesen unterschiedlichen Vorstellungen des Subjekts läßt
sich erklären, warum Hegel kein Interesse für die Lehre vom radikal Bösen entwickelt
hat, die einen Kern der Moralphilosophie Kants ausmacht. Für Kant ist die äußere
Freiheit des Menschen nichts anderes als die "Unabhängigkeit von eines anderen
nötigender Willkür". 23 Die innere Freiheit besteht darin, daß der Mensch, sofern er als
TPF
FPT
moralisches Wesen dem Befehl der praktischen Vernunft folgt, frei ist. Im Gegensatz
dazu bedeutet das Nachgeben des Willens gegenüber einem sinnlichen Reiz, anders
gesagt, die Unterordnung der moralischen Ordnung der Beweggründe unter den
Beweggrund der Eigenliebe und ihrer Neigungen für ihn nichts anderes als die
Ablehnung der Freiheit. Gerade in der Möglichkeit, die Ordnung der Beweggründe zu
verkehren, also in der formal-transzendentalen Bedingung der Verwirklichung jeder
unmoralischer Tatsache, liegt der Hang zum Bösen. Kant betrachtet also dieses Böse als
einen angeborenen und natürlichen Hang des Menschen, von der Befolgung des
Moralgesetzes abzusehen.
22
PT
Lukács sagt in diesem Kontext folgendes: "Wir müssen aber darauf aufmerksam machen, daß das
TP
Subjekt, das Hegel eigentlich meint, nicht mit dem Kantischen moralischen Subjekt identisch ist; es ist
vielmehr stets etwas Gesellschaftlich-Geschichtliches. […] Denn der Inhalt seiner Konzeption […] ist der
Zusammenfall von moralischer Autonomie des einzelnen Subjekts mit der demokratischen Kollektivität
des ganzen Volkes." G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., S. 53. In demselben Sinne betont Günter Schulte,
daß "das Rätsel der singulären und unauffindbaren Subjektivität" bei Kant entscheidend sei. G. Schulte,
Immanuel Kant, Frankfurt/M. 1991, S. 10.
TP
23
PT
I. Kant, Die drei Kritiken in ihrem Zusammenhang mit dem Gesamtwerk, zsgf. von R. Schmidt,
Stuttgart 1975, S. 392.
88
Dagegen vertritt Hegel, wie Rousseau, die Meinung, daß das Böse nicht im Inneren bzw.
in der Natur der Menschen wohnt, sondern vor allem von den politischen und
kulturellen Einrichtungen hervorgerufen wird, welche falsche Autoritäten und
Hierarchien erzeugen. 24 Dieser Gedanke ergibt sich eben daraus, daß er sich nicht nur
TPF
FPT
auf den einzelnen Menschen als Subjekt, sondern vielmehr auf ein Volk als Ganzes
bezieht. Er betrachtet also das Böse nicht als anthropologisches oder psychisches
Element, sondern als gesellschaftliches und historisches Phänomen. Dies bedeutet, daß
er das Problem nicht in der Wahl zwischen dem Bösen und dem Guten, zwischen der
Willkür und der sie transzendierenden Fähigkeit der Vernunft sieht, sondern in den
geschichtlichen Ereignissen eines Volkes. Dies ist der Grund, warum Hegel den
historischen Vorgang untersucht, wie ein politisches, kulturelles System objektiviert
worden ist, bzw. wie eine positive Autorität (z. B. einer Religion) entstanden ist. 25
TPF
FPT
Von daher ist es nicht einfach, den jungen Hegel in der Kantischen Tradition zu
deuten. 26 Ein Grund dafür liegt m. E. darin, daß der Ausgangspunkt des Denkens des
TPF
FPT
jungen Hegel sein Interesse an der politisch-gesellschaftlichen Reform oder an der
Revolution war und nicht ein Interesse an der reinen Philosophie. Es ist bekannt, daß
sich Hegel für die Französische Revolution sehr begeistert und zeit seines Lebens mit
24
Rousseau geht davon aus, daß das Böse im Menschen nicht dieselbe Substanz ist und deswegen nicht
TP
PT
denselben Wert hat, wie die 'natürliche Güte'. Es gehört nicht zum Wesen des Menschen, sondern nur zu
seinen möglichen Beziehungen in der Gesellschaft und in der Geschichte. Jean-Jacques Rousseau, Lettere
a C. de Beaumont, in: Euveres complètes, Paris 1964, IV, S. 967. Siehe zu den verschiedenen Aspekten
des Verhältnisses zwischen Rousseau und Hegel H.F. Fulda / R.-P. Horstmann (Hg.), Rousseau, die
Revolution und der junge Hegel, Stuttgart 1991.
25
TP
PT
Hegel behandelt dieses Thema besonders in dem Fragment Unterschied zwischen griechischer
Phantasie und christlicher positiver Religion von 1796: "Die Verdrängung der heidnischen Religion
durch die christliche ist eine von den wunderbaren Revolutionen, deren Ursachen aufzusuchen den
denkenden Geschichtsforscher beschäftigen muß. Den grossen, in die Augen fallenden Revolutionen muß
vorher eine stille, geheime Revolution in dem Geiste des Zeitalters vorausgegangen seyn, die nicht jedem
Auge sichtbar, am wenigsten für die Zeitgenossen beobachtbar und ebenso schwer mit Worten
darzustellen, als aufzufaßen ist. Die Unbekanntschaft mit diesen Revolutionen in der Geisterwelt macht
dann das Resultat anstaunen." G. W. F. Hegel, GW, Bd.1, S. 365f.
26
TP
PT
Nach Semplici hat der junge Hegel trotz seiner Kantischen Überzeugungen wegen seiner Erkenntnis
des radikalen Bösen schon in seiner frühen Zeit eine Rousseausche Neigung: "Mit der Zurückweisung der
Theorie des radikalen Bösen nähert sich Hegels Jesus mehr der Profession als der Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft an". S. Semplici, Das Leben Jesu und das Problem des Bösen: Kant oder
Rousseau?, in: H.F. Fulda / R.-P. Horstmann (Hg.), Rousseau, die Revolution und der junge Hegel, a.a.O.,
S. 139.
89
ihrer philosophischen Deutung beschäftigt hat. 27 Der junge Hegel hat in dieser
TPF
FPT
Revolution den Anfang des realen Endes der christlichen dualistischen Welt einerseits
und die Möglichkeit der Verwirklichung des aufklärisch-demokratischen Ideals
andererseits gesehen. Aus diesem Grund hat er, wie gesagt, die Überwindung des
Christentums als ersten Schritt für sein wissenschaftliches Ziel angesehen. Seine Kritik
am Christentum zeichnet sich daher durch die bewußte Übereinstimmung mit allen
Lehren aus, die sich im Rahmen des Säkularisierungsprozesses mit der christlichen
Religion auseinandergesetzt haben. Dies zeigt sich darin, daß seine alternativen
Religionsbegriffe, wie z. B. 'Volksreligion' 28 , 'Vernunft- oder Moralreligion', 'natürliche
TPF
FPT
Religion' sowie 'schöne Religion', trotz ihrer verschiedenen philosophischen Kontexte
für ihn jeweils nur als andere Namen für die subjektive Religion fungieren, die im
Gegensatz zur objektiven oder positiven Religion steht.29 Hegel nimmt also zu dieser
TPF
FPT
Zeit die bereits weit fortgeschrittene ausdifferenzierte Entwicklung der Säkularisierung
27
PT
Die Äußerungen der Hegelforscher über das Verhältnis des jungen Hegel zur Französischen Revolution
TP
sind folgende: Lukács geht davon aus, daß die "tiefste Quelle" seiner Ablehnung der positiven Religion in
"seiner Begeisterung für die Revolution" liege, Hegels Gedanken sich "auf der Grundlage der
Entwicklungen der Französischen Revolution" entwickelt hätten und er "sein ganzes Leben lang
unerschütterlich an dem Gedanken der historischen Notwendigkeit dieser Revolution" festgehalten habe.
G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., S. 44f. Nach Ritter ist Hegels Philosophie "bis in ihre innersten
Antriebe hinein Philosophie der Revolution". J. Ritter, Hegel und die Französische Revolution, in: ders.,
Metaphysik und Politik, Frankfurt/M. 1977, S. 209. Habermas zufolge hat Hegel "die Revolution zum
Prinzip seiner Philosophie" erhoben. J. Habermas, Hegels Kritik der Französischen Revolution, in: ders.,
Theorie und Praxis, Frankfurt/M. 1971, S. 128. Pöggeler sieht Hegels "System als die entscheidende
Antwort auf die Revolution" an. J. Pöggeler, philosophie und revolution beim jungen hegel, in:
Enciclopedia 72, Arti Grafice Marchesi-Roma 1971, S. 229.
28
PT
Herder versucht den starren Gegensatz zwischen natürlicher und positiver Religion zu überwinden. Die
TP
wahre reformierte Religion müsse sowohl eine natürliche Religion als auch eine Völkerreligion und eine
Religion der Erfahrung sein. Siehe W. Jaeschke, Religion, in: HWPh, Bd. 8, Sp. 673ff.
TP
29
PT
Der Begriff der 'Volksreligion' stammt insbesondere aus der Herderschen, der der 'Vernunftreligion' aus
der Kantischen, der der 'natürlichen Religion' aus der Rousseauschen und der der 'schönen Religion' aus
der Schillerschen Religionsphilosophie. Dies ist der Grund, warum es nicht einfach ist, zu entscheiden, in
welcher philosophischen Tradition Hegel steht. Während man ihn häufig in die rationalistische Tradition
eingeordnet, deutet ihn z. B. N. Hartmann vor dem Hintergrund einer irrationalistischen Tradition: "Man
könnte hier mit vollem Recht von einer tiefen Irrationalität der Hegelschen Begriffe sprechen. […], so
könnte man mit größerem Recht vom Irrationalismus sprechen als von seinem Rationalismus." N.
Hartmann, Die Philosophie des Deutschen Idealismus, Berlin, New York 1974, S. 255. R. Kroner geht
noch viel weiter, wenn er schreibt: "Hegel ist ohne Zweifel der größte Irrationalist, den die Geschichte der
Philosophie kennt." R. Kroner, Von Kant bis Hegel, Bd. 2, Tübingen 1977, S. 271.
90
der Religion nicht ausreichend zur Kenntnis, wohingegen Kant der Säkularisierung der
Religion eine entgültig rationalistische Form (Vernunftreligion) gegeben hat.
In seiner weiteren philosophischen Entwicklung wird jedoch seine Position
differenzierter. Es ist daher kein Zufall, daß er zunächst auch die Kantische
Moralphilosophie überwinden wollte. In seiner Frankfurter Zeit setzt er sich nicht nur
mit dem Christentum, sondern auch zum ersten Mal ausdrücklich mit der Kantischen
Philosophie auseinander.
1.1.2. Die Kritik an der positiven Moralphilosophie Kants
In seiner Frankfurter Schrift Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1798/1800)
zielt Hegel auf eine grundsätzliche Kritik an dem Christentum, da es dessen Schicksal
sei, keine wahre Einheit des Lebens erreichen zu können. Außerdem setzt er sich an
vielen Stellen dieser Schrift bewußt mit der Kantischen Ethik auseinander und kommt
zu dem Schluß, daß diese sogar dem Christentum unterlegen sei. Die Kantische Ethik
war zu seiner Zeit einer der wichtigsten philosophischen Diskurse, und sie ist nach
Hegel die Aufhebung des Christentums. Hegel versucht in dieser Schrift den Geist
dieser Ethik und deren Wesen zu erfassen.
Hegel hält das Judentum für eine Urform der Positivität insofern, als es die moralische
Autonomie des Subjekts vollständig vernichte und sich nur um die Kategorie der
Legalität bewege, die in der "Befolgung des Buchstabens des Gesezes" 30 besteht. Kant
TPF
FPT
ersetzt diese Kategorie durch den Begriff der Moralität, um die Selbstbestimmung des
Subjekts wiederherstellen zu können. Hegel fragt sich aber, ob die Kantische Moralität
eine Beendigung der Legalität sein kann. Diese Kritik geht von dem Gedanken aus, daß
die Kantische Ethik bloß ein Spiegel ihrer Zeit sei, die sich durch den atomistischen
Individualismus auszeichne, der für Hegel ein Symbol der entzweiten Gesellschaft ist.
Mit anderen Worten bestätigt auch die Kantische Moralphilosophie diese Entzweiung
und erhebt sie sogar zum Prinzip der Philosophie.
Mit welchen Punkten der Kantischen Ethik setzt sich Hegel auseinander? Kant
entwickelt den kategorischen Imperativ, das höchste Moralgesetz, indem er das
Urteilskriterium für die moralische Rechtfertigung in der Vereinbarkeit der
Handlungsmaximen der einzelnen Menschen findet. Er konstruiert also in der rein
geistigen Sphäre des kategorischen Imperativs "ein Idealbild der modernen
TP
30
PT
G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 284.
91
Gesellschaft", 31 in dem die bedingungslose Hingabe an die geistige, nicht mehr der
TPF
FPT
Welt der Phänomene angehörende Pflicht konfliktfrei und harmonisch funktioniert. Alle
Gegensätze und Widersprüche in der modernen Gesellschaft reduzieren sich nun auf
den Gegensatz des sinnlichen und des moralischen Menschen, des 'homo phaenomenon'
und 'homo noumenon'. Wenn das Leben des Menschen vollkommen den Forderungen
des Sittengesetzes entsprechen würde, würde es in der Gesellschaft keinerlei Konflikte
oder Widersprüche geben. Die philosophische Konzeption dieser moralischen Sphäre
wird nur dadurch möglich, daß alle moralischen Probleme der modernen Gesellschaft in
formale Forderungen der praktischen Vernunft umgewandelt werden. Dieser Gedanke
setzt die Allgemeinheit der Moral voraus, die für Kant das Hinausgehen des Sollens
oder des Befehls der praktischen Vernunft über das individuelle und zufällige
Bewußtsein bedeutet.
Aber nach Hegel drücke die Kantische Ethik nichts anderes aus als eine gewaltsame
Herrschaft einer leeren und abstrakten Allgemeinheit gegenüber der alltäglichen
Erfahrung des Individuums, weil jene Allgemeinheit, die nur innerhalb des Bereichs des
von der Wirklichkeit abstrahierten Denkens möglich ist, sich auch in der Realität
durchsetzen wolle. Das Thema der Kollisionen der Pflichten zeigt dieses Problem sehr
deutlich. Kant spricht von einer harmonischen Welt, in der der Widerstreit der Pflichten
nicht entsteht:
"Ein Widerstreit der Pflichten [...] würde das Verhältnis derselben sein,
durch welches eine derselben die andere [ganz oder zum Teil] aufhöbe. - Da
aber Pflicht und Verbindlichkeit überhaupt Begriffe sind, welche die
objektive praktische Notwendigkeit gewisser Handlungen ausdrücken und
zwei einander entgegengesetzte Regeln nicht zugleich notwendig sein
können, sondern, wenn nach einer derselben zu handeln es Pflicht ist, so ist
nach der entgegengesetzten zu handeln nicht allein keine Pflicht, sondern
sogar
pflichtwidrig:
so
ist
eine
Verbindlichkeiten gar nicht denkbar."
TPF
31
Kollision
von
Pflichten
und
32
FPT
PT
Siehe zur 'ethischen Gesellschaft' Kants I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen
TP
Vernunft, K. Vorländer (Hg.), Hamburg 1990, S. 101ff.
TP
32
PT
I. Kant: Metaphysik der Sitten, K. Vorländer (Hg.), Hamburg 1959, S. 27. Ähnlich äußert sich auch
Fichte zu dieser Frage. Er betrachtet das Problem konkreter als Kant, indem er nicht mehr von einer
Kollision der Pflichten überhaupt, sondern von der Kollision zwischen den Verpflichtungen der
Menschen sich selbst und anderen gegenüber spricht. Es ist aber ersichtlich, daß dies nur eine etwas
92
Hegel hält die Kantische Moralphilosophie, die nur innerhalb des rein geistigen
Gebietes gilt und daher nicht auf den realen Widerstreit der Pflichten antworten kann,
für eine formalistische Morallehre. Er steht dagegen in der Denktradition, die die
Unumgänglichkeit der gesellschaftlichen Konflikte anerkennt und sogar diese als
Beweggründe des Lebens ansieht. Er betrachtet die formalistische Morallehre Kants als
eine Degradierung der realen Notwendigkeit zu einer Zufälligkeit. 33 Hegel geht also
TPF
FPT
davon aus, daß die wirklichen Forderungen der Moral einander widerstreiten können
und daher der Widerspruch in der Gesellschaft oder der Widerstreit zwischen Menschen
als substantiell anerkannt werden muß.
Den Moralisten, der nicht nur die lebendige Wirklichkeit nicht erklären kann, sondern
sie versteinert, nennt Hegel den spekulativen Moralist, dessen Eigenschaften er wie
folgt beschreibt:
"Der spekulative Moralist […] macht eine philosophische Beschreibung der
Tugend, - seine Beschreibung muß deduziert, es muß [in] ihr kein
Widerspruch sein; eine Beschreibung einer Sache ist immer die vorgestellte
andere Formulierung desselben Problems ist, und Fichte gelangt dabei sachlich zu genau demselben
Resultat wie Kant: "Es ist kein Widerstreit zwischen der Freiheit vernünftiger Wesen überhaupt: d. h. es
widerspricht sich nicht, daß mehrere in derselben Sinneswelt frei seien. [...] Ein Widerstreit nicht
zwischen dem Freisein überhaupt, sondern zwischen bestimmten freien Handlungen vernünftiger Wesen
entsteht nur dadurch, daß einer seine Freiheit rechts- und pflichtwidrig, zur Unterdrückung der Freiheit
eines anderen gebrauche." J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der
Wissenschaftslehre (1798), Hamburg 1963, §24, S. 297.
TP
33
PT
Aus diesem Grund ist die Auffassung von Lukács über die Positionsdifferenz zwischen Kant und Hegel
m. E. völlig richtig: "Der Gegensatz zwischen Kant und Hegel besteht [...] darin, daß Kant die
gesellschaftlichen Inhalte der Moral ununtersucht läßt, sie ohne historische Kritik hinnimmt und aus den
formalen Kriterien des Pflichtbegriffs, aus der Übereinstimmung des Inhalts des Imperativs mit sich
selbst die moralischen Forderungen abzuleiten versucht, während für Hegel jede einzelne moralische
Forderung nur einen Teil, nur ein Moment eines lebendigen, sich in ständiger Bewegung befindlichen
gesellschaftlichen Ganzen bildet. Für Kant stehen also die einzelnen Gebote der Moral isoliert
nebeneinander, als angeblich zwingende logische Folgen eines einheitlichen überhistorischen und
übergesellschaftlichen Vernunftprinzips; für Hegel sind sie Momente eines dialektischen Prozesses, die in
diesem Prozeß miteinander in Widerspruch geraten, durch das lebendige Wechselspiel dieser
Widersprüche einander gegenseitig aufheben, im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung absterben
oder in veränderter Form und mit verändertem Inhalt wieder auftauchen." G. Lukács, Der junge Hegel,
a.a.O., S. 207f.
93
Sache; hält er diese Vorstellung, den Begriff, an das Lebendige, so sagt er,
das Lebendige soll so sein, - zwischen dem Begriff und der Modifikation
eines Lebendigen soll kein Widerspruch sein als der allein, daß jener ein
Gedachtes, dieses ein Seiendes ist. Eine Tugend in der Spekulation allein ist,
und ist notwendig, d. h. ihr Begriff und das Gegenteil kann nicht sein, es ist
keine Veränderung, kein Erwerb, kein Entstehen, kein Vergehen in ihr als
Begriff; aber dieser Begriff mit dem Lebendigen zusammengehalten soll
sein - die Tugend als Modifikation des Lebendigen ist entweder, oder ist
auch nicht, kann entstehen und vergehen. Der spekulative Moralist kann
sich also wohl hinreißen lassen, in eine warme Betrachtung des
Tugendhaften und des Lasterhaften zu verfallen; aber seine Sache ist
eigentlich nur, mit dem Lebendigen den Krieg [zu] führen, gegen dasselbe
zu polemisieren, oder nur ganz kalt seine Begriffe zu kalkulieren." 34
TPF
FPT
Das Problem ist, daß der Moralist, wie Kant, jedes gesellschaftliche Verhältnis auf das
Paradigma von Pflichterfüllung oder –verletzung bzw. das gesellschaftliche Leben des
Menschen auf den Kampf des vernunftmäßig Moralischen gegen das bloß Sinnliche
bezieht und daher den Reichtum des Lebens und dessen Vielfältigkeit nicht begreifen
kann.
"Ein Mann, der den Menschen in seiner Ganzheit wiederherstellen wollte,
konnte einen solchen Weg unmöglich einschlagen, der der Zerrissenheit des
Menschen nur einen hartsinnigen Dünkel zugesellt. Im Geiste der Gesetze
handeln konnte ihm nicht heißen, aus Achtung für die Pflicht mit
Widerspruch der Neigungen handeln." 35
TPF
FPT
Die Moralität Kants, die von der Entgegensetzung zwischen Pflicht und Neigung, dem
Geistigen und dem Sinnlichen oder dem Sollen und dem Sein ausgeht, führt letztlich zur
Herrschaft des ersten über das zweite, d. h. zur "Unterjochung des Einzelnen unter das
Allgemeine" bzw. zum "Sieg des Allgemeinen über sein entgegengesetztes
Einzelnes." 36 Bei der Kantischen Ethik ist der Mensch bloß "Sklave gegen einen
TPF
34
PT
G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 337. Hervorhebung im Original.
TP
35
PT
A.a.O., S. 324.
TP
36
TP
FPT
PT
G. W. F. Hegel, Grundkonzept zum Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 299.
94
Tyrannen, und zugleich Tyrann gegen Sklaven." 37 Insofern sie "die Form des
TPF
FPT
Gesetzes" 38 in sich enthält oder sich von der Herrschaftsstruktur nicht befreit, kann sie
TPF
FPT
die Positivität nicht überwinden, weil die Gesetze, seien es bürgerliche oder moralische,
"natürliche Beziehungen des Menschen in der Form von Geboten ausdrücken." 39 Hegel
TPF
FPT
widerspricht daher der Kantischen Ethik entschieden:
"Durch diesen Gang ist aber die Positivität nur zum Teil weggenommen [denn
das Pflichtgebot ist eine Allgemeinheit, die dem Besonderen entgegengesetzt
bleibt, und dieses ist das Unterdrückte, wenn sie herrscht. (von Hegel
gestrichen)]; und zwischen dem tungusischen Schamanen […] und dem seinem
Pflichtgebot Gehorchenden ist nicht der Unterschied, daß jene sich zu Knechten
machten, dieser frei wäre; sondern daß jener den Herrn außer sich, dieser aber
den Herrn in sich trägt, zugleich aber sein eigener Knecht ist; für das Besondere,
Triebe, Neigungen, pathologische Liebe, Sinnlichkeit, oder wie man es nennt,
ist das Allgemeine notwendig und ewig ein Fremdes, ein Objektives; es bleibt
eine unzerstörbare Positivität übrig, die vollends dadurch empörend wird, daß
der Inhalt, den das allgemeine Pflichtgebot erhält, eine bestimmte Pflicht, den
Widerspruch eingeschränkt und allgemein zugleich zu sein enthält und um der
Form der Allgemeinheit willen für ihre Einseitigkeit die härtesten Prätentionen
macht. Wehe den menschlichen Beziehungen, die nicht gerade im Begriff der
Pflicht sich finden, der, sowie er nicht bloß der leere Gedanke der
Allgemeinheit ist, sondern in einer Handlung sich darstellen soll, alle anderen
Beziehungen ausschließt oder beherrscht." 40
TPF
FPT
Die Grenze der Kantischen Ethik liegt also darin, daß diese nicht den lebendigen
Menschen berücksichtigt, sondern die Moral für den lebendigen Menschen zu etwas
Totem macht, indem sie das wirkliche Leben aus der Ethik ausschließt und es durch
lebensfremde Gebote unterjocht, und daß sie den Menschen infolgedessen nur als einen
"Geizigen" behandelt, "der sich immer Mittel zusammenscharrt und bewahrt, ohne je zu
genießen." 41
TPF
37
PT
A.a.O., S. 302.
TP
38
PT
A.a.O., S. 338.
TP
39
PT
A.a.O., S. 321.
TP
40
PT
A.a.O., S. 323.
TP
41
TP
FPT
PT
A.a.O., S. 307f.
95
In der Frankfurter Zeit steht die Auseinandersetzung Hegels mit der Kantischen Ethik,
die in seiner Berner Zeit keine zentrale Rolle gespielt hat, im Vordergrund. Diese auf
die Ethik beschränkte Kritik erweitert sich allerdings in der Jenenser Zeit zu einer
Polemik gegen die Kantische Philosophie überhaupt. Diese Polemik kommt in der
Kritik der sogenannten Reflexionsphilosophie zum Ausdruck, die eigentlich in einer
Zeitkritik besteht.
1.2. Die Kritik des jungen Hegel an der Reflexionsphilosophie
Die Jenaer Schriften Hegels werden in der Gegenwart besonders stark rezipiert, weil sie
systematischer sind als seine früheren Werke und konkreter als seine späteren Werke, so
daß man durch diese Schriften sowohl den historischen Entwicklungsprozeß seiner
Gedanken als auch die Darstellungen des späten Hegels besser verstehen kann.
Besonders wichtig sind Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der
Philosophie (1801), Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der
Subjektivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische und
Fichtesche Philosophie (1802), System der Sittlichkeit (1802/3), Ueber die
wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen
Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschaften (1803) und
Jenenser Systementwürfe I, II (1803/4, 1805/6). In den ersten beiden Schriften, auf die
ich mich hier beschränken werde, übt Hegel eine umfangreiche und systematische
Kritik an der sogenannten Reflexionsphilosophie.
Hegel geht davon aus, daß der Mensch erst mit der Moderne als das aus sich heraus
denkende und handelnde Subjekt auf der Bühne der Geschichte erscheint, d. h. daß
seiner Ansicht nach die Subjektivität in der Moderne zum Prinzip nicht nur der
Philosophie, sondern auch der gesamten Lebenswelt wurde. Die Selbstbeziehung in der
Erkenntnis (Reflexion) und die Selbstbestimmung in dem Handeln (Freiheit) gehören zu
den wesentlichen Bestimmungen der Subjektivität.
Er sieht aber die Grenze der modernen Philosophie in deren erkenntnistheoretischem
Schema. Im Prozeß der Säkularisierung das Erkenntnisvermögen des Menschen zu
untersuchen scheint unentbehrlich zu sein. Die Erkenntnis setzt einerseits die Trennung
von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt voraus. Andererseits ist sie ein
Vermögen, das Objekt ins Subjekt aufzunehmen und dadurch zu bearbeiten und zu
96
'versubjektivieren', d. h. das erkennende Subjekt kehrt in der Reflexion auf ein Objekt
zugleich wieder zu sich zurück. Also handelt es sich beim Erkennen um die absolute
Trennung zwischen Subjekt und Objekt einerseits und um die absolute Abhängigkeit
des Objektes vom Subjekt andererseits. Das erkennende Subjekt ist zwar endlich, da es
außer sich das Objekt hat, aber es verabsolutiert sich selbst in dem Sinne, daß es das
Objekt bearbeitet und subjektiviert. Gerade in dieser erkenntnistheoretischen Wende
besteht das Hauptmerkmal der modernen Philosophie.
Allerdings ist es problematisch, die Erkenntnistheorie zur Philosophie überhaupt zu
erweitern. Der Jenenser Hegel kritisiert diese Erweiterung unter dem Namen der
'Reflexionsphilosophie'. Der Kern seiner Kritik an dieser Philosophie besteht darin, daß
diese, wie die Erkenntnistheorie, nur im 'Vorhof der Philosophie' bleibe, weil sie dem
leeren S-O-Schema verhaftet sei. Von daher ließen sich in ihr die Selbstbeweglichkeit
und die unendliche Geistigkeit des Objektes niemals begreifen.
'Reflexion' ist ein Terminus aus der Optik und meint eigentlich 'zurückbeugen'. Er
wurde später im philosophischen sowie umgangssprachlichen Bereich mit der Metapher
des Sich-Spiegelns, d. h. mit der Selbsterkenntnis und mit dem Selbstbewußtsein,
verbunden. 42 Bei der modernen Philosophie, die die Subjektivität als Prinzip hat, geht es
TPF
FPT
bei der Reflexion um die Struktur der Selbstbeziehung des erkennenden Subjekts, das
sich auf sich als Objekt 'zurückbeugt', um sich wie in einem Spiegelbild zu begreifen.
Das erkennende Subjekt zeichnet sich durch die Selbstverabsolutierung des endlichen
Subjekts aus und kann daher von Natur aus die geistige Unendlichkeit des Gegenstandes
nicht begreifen; vielmehr sieht es im Gegenstand nur eine endliche Dinglichkeit. Dies
bedeutet bei Hegel folgendes:
"Es ist gerade durch ihre Flucht vor dem Endlichen, und das Festseyn der
Subjectivität, wodurch ihr das Schöne zu Dingen überhaupt, der Hayn zu
Hölzern, die Bilder zu Dingen, welche Augen haben und nicht sehen, Ohren, und
nicht hören und, wenn die Ideale nicht in der völlig verständigen Realität
genommen werden können als Klötze und Steine, zu Erdichtungen werden, und
jede Beziehung auf sie als wesenloses Spiel oder als Abhängigkeit von Objecten
und als Aberglauben erscheint." 43
TPF
42
TP
L. Zahn, Reflexion, in: HWPh, Bd. 8, Sp. 396ff.
PT
43
TP
FPT
PT
G. W. F. Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der
Vollständigkeit ihrer Formen, als Katische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie, in: GW, Bd. 4,
97
Die Reflexionsphilosophie, die ihre Geltung nur im Rahmen der Erkenntnistheorie
haben könnte, besteht daher im 'endlichen Erkennen von Endlichkeiten'. Hegel hält sie
daher für einen "Idealismus des Endlichen", 44 der niemals eine lebendige, d. h. geistige
TPF
FPT
und unendliche Einheit zwischen Subjekt und Objekt bzw. Endlichem und Unendlichem
hervorbringen könne.
Er hält vor allem den subjektiven Idealismus von Kant und Fichte für ein typisches
Muster dieser Philosophie. Subjektiver Idealismus wird, wie auch in der Logik, als eine
Vorstellung definiert, "als ob im Gegenstand nichts sey, was nicht in ihn hineingelegt
werde", so daß man "in der Analyse die Thätigkeit des Erkennens allein für einseitiges
Setzen nimmt, jenseits dessen das Ding-an-sich verborgen bleibt." 45 Die Objektivität
TPF
FPT
der Dinge wird bei Kant nur durch die Kategorien des Verstandes sowie die
Anschauung der Sinnlichkeit, d. h. durch das endliche Subjekt, garantiert. Diese
Vorstellung setzt eine epistemologische Gewißheit voraus, daß das Subjekt der einzige
Schöpfer der phänomenalen Welt ist und diese Welt durch das transzendentale Ich
konstruiert wird; die Erkenntnis wird hier durch die Anwendung der transzendental
bestimmten Schemata auf die Gegenstände erzeugt; die objektive Welt ist nichts
anderes als ein Produkt des Monologs des transzendentalen Subjekts, d. h. ein von der
Selbstbeziehung des Subjekts Hervorgebrachtes. Von daher ist das Objekt für das
Subjekt bloß "ein subjektives Subjektobjekt". 46 Die Objekt-Erkenntnis ist letztlich
TPF
FPT
nichts anderes als die Selbsterkenntnis des Subjekts.
Auch Fichte überwindet nach Hegel den Kantischen Idealismus nicht, weil auch bei ihm
die Einheit der Welt nur innerhalb des reinen Bewußtseins konstituiert wird. Dies drückt
sich nach Hegel bei Fichte so aus, "daß die höchste Synthese, die das System aufzeigt,
ein Sollen ist." 47 Das Ich "producirt in dem unendlichen Progreß des verlängerten
TPF
FPT
Daseyns endlos Theile von sich, aber nicht sich selbst in der Ewigkeit des sich selbst
Jenaer Kritische Schriften, H. Buchner / O. Pöggeler (Hg.), Hamburg 1968, (=Glauben und Wissen) S.
317.
44
PT
A.a.O., S. 322.
TP
45
PT
G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik II, Die subjektive Logik, in: GW, Bd. 12, F. Hoggemann / W.
TP
Jaeschke (Hg.), Hamburg 1981, S. 203.
46
PT
G. W. F. Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, in: GW, Bd.
TP
4, a.a.O., (=Differenzschrift), S. 6f.
TP
47
PT
A.a.O., S. 45.
98
Anschauens als Subjekt-Objekt." 48 Das Nicht-Ich bzw. die Natur hängt vollständig von
TPF
FPT
der Setzung des Ich ab. Das Setzen eines Objekts verwandelt sich aber "in ein - der
freyen Thätigkeit absolut entgegensetztes – sich selbst beschränken." 49 Die Natur, die
TPF
FPT
vom absoluten Ich gesetzt wird, ist bei Fichte nichts anderes als etwas Totes, das keine
eigenen Beweggründe besitzt.
Diese erkenntnistheoretische Struktur liegt auch seiner praktischen Philosophie
zugrunde. Bei der praktisch-philosophischen Antwort auf die Frage nach dem
Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft z. B. erscheint die Gesellschaft nur als ein
Gegenstand, der keine eigenen Beweggründe hat und sogar die Freiheit des Menschen
verhindert, welche ein zentrales Thema seiner Philosophie ist. Für Fichte, der mit dem
Begriff der absoluten Ich-Identität eine 'Philosophie der Freiheit' entwirft, ist die
Freiheit des Menschen außerhalb der Gesellschaft, d. h. nur innerhalb des Willens des
Menschen möglich. Derartige Gesellschaftskonzeptionen, die – wie Fichte – einen
solchen atomistischen Ausgangspunkt haben, kritisiert Hegel wie folgt: 50
TPF
FPT
"Wenn die Gemeinschaft der Vernunftwesen wesentlich ein Beschränken
der wahren Freyheit wäre, so würde sie an und für sich die höchste
Tyrannei seyn." 51
TPF
FPT
Bei dem subjektiven Idealismus, dessen Ausgangspunkt das endliche Einzelne als
Subjekt ist, scheint der Kampf zwischen dem die Freiheit suchenden Ich und der sie
beschränkenden Gesellschaft daher unvermeidbar zu sein. Ein solcher Konflikt
zwischen Individuum und Gesellschaft ist nach Hegel eine notwendige Folge, wenn die
moderne Subjektivität zum Prinzip der Philosophie erhoben wird, weil diese "isolierte
Reflexion" 52 ein Prinzip der Entzweiung darstellt.
TPF
FPT
Hegel geht allerdings davon aus, daß die Erhebung der isolierten Reflexion oder der
Subjektivität zum Prinzip der Philosophie Ausdruck einer entzweiten Zeit ist. Er hält die
Subjektivität also nicht nur für das Prinzip des subjektiven Idealismus, sondern auch für
48
A.a.O., S. 48.
TP
PT
49
Ebd.
TP
PT
50
TP
PT
Darin, daß Hegel eine kollektive Gesellschaftskonzeption hat, während Hobbes und Fichte eine
atomistische haben, sieht Honneth einen entscheidenden Unterschied zwischen beiden Positionen. Vgl. A.
Honneth, Kampf um Anerkennung, a.a.O., besonders das 1. Kapitel.
51
PT
G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 55.
TP
TP
52
PT
A.a.O., S. 16.
99
das der Zeit selbst. Das ist der Grund, warum er sowohl Kant und Fichte als auch Jacobi
als Reflexionsphilosophen angesehen hat. 53 Im Gegensatz zu Kant geht Jacobi in der
TPF
FPT
Erkenntnistheorie weder von einer Priorität der Vernunft oder der Reflexion noch von
einer vernünftigen Begreifbarkeit des Seins aus. Er trennt das Objekt und auch das
Absolute vom Denken oder dem Subjekt und setzt das Absolute jenseits der Reflexion.
Hegel
bezeichnet
eine
solche
Trennung
als
ein
zentrales
Merkmal
der
Reflexionsphilosophie. Also kann eine Versöhnung beider Faktoren auch bei Jacobi
nicht stattfinden. Während es bei Kant und Fichte um eine "nur endliches denkende
Vernunft" 54 geht, geht es bei Jacobi um eine Vernunft, die "das Ewige nicht denken
TPF
FPT
kann". 55 Beide sind Ausdruck derselben Denktradition. Also spiegeln die Philosophien
TPF
FPT
sowohl von Kant und Fichte als auch von Jacobi trotz der Unterschiede im Detail die
damalige Reflexionskultur wider, die den absoluten Gegensatz vom Endlichen und
Unendlichen voraussetzt:
"Es ist also in diesen Philosophieen nichts zu sehen, als die Erhebung der
Reflexions-Cultur
zu
einem
System;
eine
Cultur
des
gemeinen
Menschenverstandes, der sich bis zum Denken eines Allgemeinen erhebt, den
unendlichen Begriff aber, weil er gemeiner Verstand bleibt, für absolutes Denken
nimmt und sein sonstiges Anschauen des Ewigen und den unendlichen Begriff
schlechthin auseinander läßt." 56
TPF
FPT
Die Reflexionskultur ist also bei Hegel nichts anderes als eine Kultur einer entzweiten
Zeit, und die Reflexionsphilosophie ist eine Philosophie, die diese Entzweiung
theoretisch rechtfertigt. Bei dieser Philosophie findet eine wahre Vereinigung des
Gegensatzes niemals statt, weil "das wahrhaft Absolute ein absolutes Jenseits im
Glauben oder im Gefühl und nichts für die erkennende Vernunft" ist.57 Die Kritik an der
TPF
FPT
Reflexionsphilosophie richtet sich deswegen auch gegen den damaligen Zeitgeist,
53
PT
Siehe zum Verhältnis des jungen Hegel zu Jacobi H.-J. Gawoll, Glauben und Positivität. Hegels frühes
TP
Verhältnis zu Jacobi, in: M. Bondeli / H. Linneweber-Lammerskitten (Hg.), Hegels Denkentwicklung in
der Berner und Frankfurter Zeit, a.a.O., S. 87-104.
54
PT
G. W. F. Hegel, Glauben und Wissen, S. 322.
TP
55
PT
Ebd.
TP
56
PT
A.a.O., S. 322f.
TP
TP
57
PT
A.a.O., S. 383.
100
welcher den nicht spekulativen, d. h. der wahren Vereinigung des Gegensatzes
unfähigen Verstand 'bis zum Denken eines Allgemeinen' erhebt.
Indem
die
Reflexionsphilosophie
den
Verstand
verabsolutiert,
erhält
die
Mannigfaltigkeit einer in sich zerfallenen Welt "einen objectiven Zusammenhang und
Halt, Substantialität, Vielheit und sogar Wirklichkeit und Möglichkeit", - "eine
objective Bestimmtheit, welche der Mensch hin-sieht und hinauswirft." 58
TPF
FPT
In der Reflexionskultur, deren Wesen in der Verabsolutierung und Verselbständigung
der zerstörerischen Kraft der Reflexion liegt, sieht Hegel daher eine Verwandlung der
Emanzipation, die das Ziel der Moderne war, in Unfreiheit. Aus diesem Grund nennt
Hegel die reflexionsphilosophische Vereinigung eine 'falsche Identität':
"Eine falsche Identität ist das Kausal-Verhältniß zwischen dem Absoluten
und seiner Erscheinung, denn diesem Verhältniß liegt die absolute
Entgegensetzung zum Grunde. […]
die Vereinigung ist gewaltsam, das
eine bekommt das andre unter sich; das eine herrscht, das andre wird
bottmäßig; Die Einheit ist in einer nur relativen Identität erzwungen, die
Identität, die eine absolute seyn soll, ist eine unvollständige." 59
TPF
FPT
1.3. Die Idee der Lebenstotalität beim jungen Hegel
Für Hegel ist es die einzige Aufgabe der Philosophie, das Absolute zu begreifen. Er geht
davon aus, daß diese Aufgabe durch die moderne Vernunft, den Verstand oder die
isolierte Reflexion nicht erfüllt werden kann, da sie auf dem Geist der Trennung
basieren. Das Absolute darf für ihn nicht jenseits des Endlichen vorhanden sein, weil es
in dem Fall von dem Endlichen begrenzt würde und insofern ein Beschränktes wäre.
Aber es ist gleichzeitig nach der Definition kein Endliches. Es muß daher als das
betrachtet werden, was die Endlichkeit und Unendlichkeit in sich umfaßt. 60 Das
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Absolute darf allerdings dabei nicht als Substanz oder als Objekt begriffen werden, weil
es sich in diesem Fall in eine Schranke der Bedingtheit setzt. Vielmehr muß es als
58
PT
A.a.O., S. 330.
TP
59
PT
G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 32.
TP
TP
60
PT
Hegel entwickelt diesen Gedanken in der Logik unter dem Thema von negativer Unendlichkeit und
affirmativer bzw. wahrer Unendlichkeit.
101
Subjekt begriffen werden wie bei Schelling: "Indem ich es als Objekt festhalten will,
tritt es in die Schranken der Bedingtheit zurück. Was Objekt für mich ist, kann nur
erscheinen; sobald es mehr als Erscheinung für mich ist, ist meine Freiheit vernichtet.
[…] Soll ich das Unbedingte realisieren, so muß es aufhören, Objekt für mich zu sein.
Ich muß das Letzte, das allem Existierenden zugrunde liegt, das absolute Sein, das in
jedem Dasein sich offenbart, als identisch mit mir selbst, mit dem Letzten,
Unveränderlichen in mir denken." 61 So ist das Absolute identisch mit dem Ich, das
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nichts anderes als das sich bewegende Subjekt ist, d. h. sich als Endliches erscheinen
läßt und von daher wieder zu sich zurückkommt. In diesem Punkt stimmt Hegel mit der
Philosophie der Subjektivität überein.
Der junge Hegel findet die jenem Absoluten entsprechende Vorstellung im Begriff des
Lebens. Das Leben gehörte zu seiner Zeit z. B. bei Jacobi, bei Fichte und auch bei
Schelling zu einem der wichtigsten philosophischen Begriffe; bei Jacobi und auch bei
Fichte wird das Leben als Prinzip des Bewußtseins aufgenommen; Schelling versteht
das Leben als die organische Tätigkeit des Lebendigen bzw. der Natur überhaupt. Auch
Hegel geht von einem lebendigen Organismus aus und erweitert den Begriff des Lebens,
so daß er alles Sein im allgemeinen und die Geschichte der menschlichen Gesellschaft
im besonderen umfaßt. Ein Lebewesen besteht als ein Organismus aus verschiedenen
Gliedern. Jedes Glied existiert zwar unabhängig von den anderen Gliedern, aber es trägt
im allgemeinen zum Leben jenes Lebewesens bei. Also besteht das Leben bei Hegel aus
verschiedenen Individuen und besonderen Teilen, deren Sein nur darin liegt, Glieder des
Ganzen zu sein. Ein Lebewesen ist daher nichts anderes als eine unendliche Bewegung,
in der es sich zum Endlichen entwickelt, darin wieder zu sich zurückkehrt und dadurch
bei sich bleibt. Die Bestimmungen des jungen Hegel über das Leben, die aus
widersprüchlich aussehenden Termini zusammengesetzt werden, wie z. B. "der
Zusammenhang des Unendlichen und des Endlichen" 62 , "die Vereinigung von Körper
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und Geist" 63 , "ein unendlich Endliches, ein unbeschränkt Beschränktes" 64 sowie "die
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Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung"
65
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etc. spiegeln gerade diesen
Gedanken wider. Hegel wollte, von diesem Charakter des Lebens ausgehend, die
Entwicklung aller Vorgänge des menschlichen Lebens deuten. Er versteht das
61
PT
F. W. J. Schelling, Werke, M. Schröter (Hg.), Jena 1926, Bd. 1, S. 108.
TP
62
PT
G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in : TW, Bd. 1, S. 378.
TP
63
PT
A.a.O., S. 414.
TP
64
PT
A.a.O., S. 420.
TP
TP
65
PT
A.a.O., S. 422.
102
menschliche Leben als das, was in den gesellschaftlichen sowie geschichtlichen
Bereichen sich zum Gegenstand macht oder sich entzweit und danach wieder vereinigt.
Das Absolute zu begreifen – das ist seine einzige philosophische Aufgabe – ist daher,
"das Seyn in das Nichtseyn – als Werden, die Entzweyung in das Absolute – als seine
Erscheinung, – das Endliche in das Unendliche – als Leben zu setzen." 66 Entzweiung,
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welche als Erscheinung des Absoluten verstanden wird, ruft "das Bedürfniß der
Philosophie" 67 hervor. In dieser Hinsicht kann und muß der Begriff des Lebens, wie
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Kroner sagt, als "das geschichtliche Leben" 68 verstanden werden.
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Das Begreifen des Lebens verdankt sich nach Hegel der spekulativen Fähigkeit des
Menschen, d. h. der wahren Reflexion bzw. der vereinigenden Vernunft, nicht der
modernen subjektiven Vernunft bzw. der isolierten Reflexion. Die wahre Reflexion
sieht in der wirklichen Entzweiung eine Erscheinung des Absoluten und bezieht sich
daher direkt auf das Absolute. Wenn die erkennende Vernunft dabei eine Fähigkeit wäre,
die stets vollständig von dem Absoluten unterschieden wäre, würden das erkennende
Subjekt und das erkannte Objekt sich unvermittelt gegenüber stehen. Daher dürfen sich
die begreifende Vernunft und das begriffene Absolute nicht voneinander unterscheiden:
"[…] die Reflexion hat als Vernunft Beziehung auf das Absolute, und sie ist
nur Vernunft durch diese Beziehung; die Reflexion vernichtet insofern sich
selbst und alles Seyn und Beschränkte, indem sie es aufs Absolute bezieht;
zugleich aber eben durch seine Beziehung auf das Absolute hat das
Beschränkte ein Bestehen." 69
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Aus diesem Grund identifiziert der junge Hegel das Leben mit dem Geist bzw. der
Vernunft: "Das unendliche Leben kann man einen Geist nennen […], denn Geist ist die
lebendige Einheit des Mannigfaltigen […]." 70 Also sind für Hegel das Leben und der
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Geist nur verschiedene Worte für das Absolute: jenes akzentuiert die objektive Seite des
66
PT
G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 16.
TP
67
PT
A.a.O., S. 14.
TP
68
PT
R. Kroner, Von Kant bis Hegel, Bd. 2, a.a.O., S. 145.
TP
69
PT
G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 16f.
TP
TP
70
PT
G. W. F. Hegel, Systemfragment von 1800, in: TW, Bd. 1, S. 421.
103
Absoluten und dieses im Gegenteil dessen subjektive Seite. Von daher ist es
gerechtfetigt, das Absolute Hegels mit dem "Leben des Geistes" 71 zu identifizieren.
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Die Kritik des jungen Hegel an der Positivität und der Reflexionsphilosophie läßt sich
nun vom Standpunkt des Lebens deuten. Die Positivität, die einer der wichtigsten
kritischen Begriffe des Berner und Frankfurter Hegels ist, bedeutet die Aufhebung der
Subjektivität bzw. der moralischen Autonomie des Subjekts. In dem positiven System
bewegt man sich im Bereich der Legalität und dabei ist eine gesetzliche
Herrschaftsstruktur übermächtig. Außerdem kann auch die Moralität Kants die
Positivität nicht aufheben, weil sie auf der Herrschaft des Sollens gegenüber dem Sein
basiert. Diese Positivität, sei es aus der Legalität oder aus der Moralität, bedeutet vom
Standpunkt des Lebens her nichts anderes als eine Zementierung der Trennung des
Lebens.
In der Frankfurter Zeit wurde das Leben zu einem Hauptgegenstand der Hegelschen
Philosophie. Zu dieser Zeit hat er das Problem der fehlenden Einheit des Lebens
besonders im Zusammenhang mit dem Begriff des 'Schicksals' betrachtet. Hegel sieht z.
B. das Judentum als eine Urform der Positivität an, weil der Geist des Judentums die
Einheit des Lebens zerstört und diese Trennung festschreibt. Hegel versteht die
Trennung des Lebens als die 'Zerreißung des Zusammenlebens' unter den Menschen. In
dieser Hinsicht betrachtet er den Akt Abrahams, der das Schicksal der Juden bestimmte:
"Der erste Akt, durch den Abraham zum Stammvater einer Nation wird, ist
eine Trennung, welche die Bande des Zusammenlebens und der Liebe
zerreißt, das Ganze der Beziehungen, in denen er mit Menschen und Natur
TP
71
PT
R. Kroner, Von Kant bis Hegel, Bd. 2, a.a.O., S. 145. Allerdings erkennt Hegel nach und nach, daß
'Geist' und 'Leben' kategorisch unterschieden sind. Denn er verwendet immer häufiger statt des
Lebensbegriffs den Begriff des Geistes als Hauptgegenstand seiner Philosophie. Dies bedeutet den
Übergang von seiner frühen romanistischen, lebensphilosophischen Ausrichtung zu einem objektiven
Idealismus. Aber Dilthey hält nach Rodi den Lebensbegriff des jungen Hegel bis zuletzt als eine für seine
Philosophie konstitutive Kategorie fest, um "den Strukturzusammenhang zwischen Selbst und Milieu"
bezeichnen zu können. Anders gesagt, 'Leben' und 'Geist' sind weder austauschbare Begriffe noch
aufeinander reduzierbar: "Dieser Lebensbegriff wird durch den des objektiven Geistes nicht ersetzt,
sondern vielmehr ergänzt, indem die Geschichtlichkeit des Lebenszusammenhanges durch die Teilhabe
des subjektiven Lebens an den Strukturen des überindividuellen 'Mediums von Gemeinsamkeiten' (=
objektiver Geist) dargetan wird." F. Rodi, 'Der Rhythmus des Lebens selbst'. Hegel und Hölderlin in der
Sicht des späten Dilthey, in: ders., Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20.
Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1990, S. 57.
104
bisher gelebt hatte; diese schönen Beziehungen seiner Jugend (Jos. 24, 3)
stieß er von sich." 72
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Die jüdische Geschichte sei nichts anderes als ein Vorgang, in welchem der erste Akt
Abrahams auf den ganzen Bereich des Lebens erweitert wurde. Alles, was als die
Eigenschaften des Judentums bezeichnet werden, z. B. die Trennung von Gott und dem
Menschen, den Juden und den anderen Völkern sowie dem Geist und der Natur etc., die
gesetzliche Beziehung zwischen beiden Elementen und die Herrschaftsstruktur, ist nach
Hegel das bloße Resultat des 'Geistes der Trennung' Abrahams. Solch eine tragische
Entwicklung nennt Hegel das 'Schicksal'. Dieser Begriff bezeichnet also eine tragische
Notwendigkeit der Geschichte, welche bei der Zerstörung des Zusammenlebens entsteht,
gegenüber der der Einzelne machtlos ist, und welcher er sich unterwerfen muß. 73 Erst
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unter dem Gesichtspunkt des Schicksals wird das zerrissene Leben selbst als ein Leben
angesehen, während es in der Hinsicht des Gesetzes nichts anderes als ein 'Nicht-Leben'
ist. 74 Hierin liegt der Unterschied zwischen dem Leben und dem Gesetz.
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Dieser Gedanke spiegelt wider, daß allein das Leben das sich rein auf sich selbst
beziehende einzige Subjekt ist, das heißt, daß das Leben sogar bei einem starren
positiven System nicht auf die gesetzlichen Beziehungen reduziert werden kann und das
Leben somit über das positive Gesetz hinausgeht. Dies gilt nicht nur für die positive
Religion, welche das Leben nur in legalen Beziehungen betrachtet, sondern auch für die
Kantische Ethik, welche das Leben nach dem Moralgesetz beurteilt. Das Gesetz sollte
nach Hegel als eine 'lebendige Modifikation der Menschennatur' vom Menschen
bestimmt werden und nicht umgekehrt den Menschen bestimmen, das Gesetz sollte zum
Menschen und nicht der Mensch zum Gesetz gehören. 75 Dies ist der Grund, warum das
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Gesetz von Natur aus notwendig ein positives Element enthält:
"Da sie [s.c. die Gesetze] natürliche Beziehungen des Menschen in der Form
von Geboten ausdrücken, so besteht die Verirrung in Ansehung derselben
darin, wenn sie entweder ganz oder zum Teil objektiv werden. Da Gesetze
Vereinigungen Entgegengesetzter in einem Begriff sind, der sie also als
72
PT
G. W. F. Hegel, Der Geist des Judentums, in: TW, Bd. 1, S. 277.
TP
73
PT
Vgl. Steven B. Smith, Hegels Critique of Liberalism, Chicago 1991, S. 50.
TP
74
PT
Vgl. Hegel, Der Geist der Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 400.
TP
TP
75
PT
A.a.O., S. 318.
105
Entgegengesetzte läßt, der Begriff aber selbst in der Entgegensetzung gegen
Wirkliches besteht, so drückt er ein Sollen aus." 76
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Das Leben, das in der Form des Gesetzes erscheint, sei es bürgerliches oder moralisches
Gesetz, wird dadurch versteinert. Jenes, das von "einer fremden Macht" stammt,
schränkt "die Entgegensetzung Lebendiger gegen Lebendige" ein, während dieses, das
von einer inneren Macht stammt, "die Entgegensetzung einer Seite, einer Kraft eines
Lebendigen gegen andere Seiten, andere Kräfte eben desselben Lebendigen"
einschränkt. 77 Weil sie beide aber trotz dieses Unterschiedes auf der Trennung des
TPF
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Sollens und des Wirklichen und der daraus entstehenden Herrschaftsstruktur basieren,
enthalten sie von Anfang an den Keim der Positivität in sich.
Hegel erhellt den Unterschied des reinen Lebens vom gesetzlichen Leben vor allem
durch die Analyse der Art und Weise, wie das Phänomen des Verbrechens behandelt
wird. Indem das Gesetz den Verbrecher für die Verletzung des Lebens eines anderen
straft, füllt es sein 'Fehlendes' und seine 'Lücke', welche durch das Verbrechen
entstanden ist. 78 Hier erscheinen das Gesetz als Allgemeines und der Verbrecher als
TPF
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Besonderes, das sich jenem unterwerfen muß. Hegel sagt über die Notwendigkeit der
dem Verbrecher gegebenen Strafe folgendes:
"Die Strafe ist Wirkung eines übertretenen Gesetzes, von dem der Mensch
sich losgesagt hat, aber von welchem er noch abhängt und welchem, weder
der Strafe noch seiner Tat, er nicht entfliehen kann. Denn da [der] Charakter
des Gesetzes Allgemeinheit ist, so hat der Verbrecher zwar die Materie des
Gesetzes zerbrochen, aber die Form, die Allgemeinheit bleibt, und das
Gesetz, über das er Meister geworden zu sein [glaubte], bleibt, erscheint
aber seinem Inhalt nach entgegengesetzt, es hat die Gestalt der dem vorigen
Gesetz widersprechenden Tat; der Inhalt der Tat hat jetzt die Gestalt der
Allgemeinheit und ist Gesetz; diese Verkehrtheit desselben, daß es das
Gegenteil dessen wird, was es vorher war, ist die Strafe - indem sich der
Mensch vom Gesetz losgemacht hat, bleibt er ihm noch untertan; und da das
76
PT
A.a.O., S. 321.
TP
77
PT
A.a.O., S. 321f. Hervorhebung im Original.
TP
TP
78
PT
A.a.O., S. 340.
106
Gesetz als Allgemeines bleibt, so bleibt auch die Tat, denn sie ist das
Besondere." 79
TPF
FPT
Das Problem ist aber hier nach Hegel, daß die Notwendigkeit des Gesetzes nicht dessen
Anwendungsnotwendigkeit, also nicht eine wirkliche Notwendigkeit, sondern nur eine
begriffliche ist. Das Gesetz setzt die Trennung zwischen dem Begriff und dem
Wirklichen sowie dem Sollen und dem Sein voraus, die niemals aufhebbar ist und daher
keine wahre Einheitskonzeption hervorbringen kann:
"Die Notwendigkeit des Verdienens der Strafe steht fest, aber die Übung der
Gerechtigkeit ist nichts Notwendiges, weil sie als Modifikation eines
Lebendigen auch vergehen, eine andere Modifikation eintreten kann; und so
wird Gerechtigkeit etwas Zufälliges." 80
TPF
FPT
Der Geist des Gesetzes will zwar das Leben bis in die letzten Teile hinein gesetzlich
bestimmen, um solche Zufälligkeit zu vermeiden, aber das Netz des trockenen Gesetzes
kann die sittliche Totalität des Lebens nicht umfassen. Die Kritik Hegels an Fichte geht
von diesem Hintergrund aus. Fichte, der in seiner Ethik alles zu reglementieren und alle
Regeln aus dem Wesen der Philosophie a priori zu deduzieren versucht, bestimmt sogar,
wie durch Vorschriften die Fälschung von Wechseln und Geld vermieden werden könne,
mit welchem Paß die Menschen versehen sein müssen, wie dieser Paß ausgestellt sein
müsse usw. 81 Hegel wertet diese Art und Weise von Fichte, das Handeln sorgsam durch
TPF
FPT
ein Gesetzbuch zu bestimmen, als einen "Preißcourant" 82 ab.
TPF
FPT
Als einen Gegenbegriff der Strafe, deren Notwendigkeit nur in der Ebene des Rechts
gilt, hat Hegel einen anderen Begriff, nämlich den des Schicksals, mit dem die wirkliche
Notwendigkeit der Strafe erklärt werden kann. Die Strafe als Schicksal ist eine Qual, die
der Verbrecher oder der Schuldner in den realen Lebensvorgängen erleidet. Hegel sieht
das Leben, wie erwähnt, als 'Zusammenleben' an. Er versteht daher die Verletzung des
Lebens oder das Verbrechen als Zerstörung des Zusammenlebens oder der sittlichen
79
PT
A.a.O., S. 341f.
TP
80
PT
Ebd.
TP
81
PT
Siehe Hegels Anmerkung 1 in der Differenzschrift, S. 56f.
TP
TP
82
PT
G. W. F. Hegel, Ueber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der
praktischen Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschften, in: GW, Bd. 4, a.a.O.,
(=Naturrechtschrift), S. 449.
107
Prinzipien. Wer das Leben eines anderen vernichtet, verletzt nicht nur das Andere,
sondern auch sich selbst, weil er durch sein Verbrechen das Zusammenleben zerstört, in
dem sein Leben besteht. Daher scheint es unentbehrlich zu sein, daß der Verbrecher
wegen seines Tuns einen Schmerz empfindet: "Vernichtung des Lebens ist nicht ein
Nicht-Sein desselben, sondern seine Trennung, und die Vernichtung besteht darin, daß
es zum Feinde umgeschaffen worden ist." 83 Dieser Schmerz ist also Strafe als Schicksal,
TPF
FPT
d. h. die Strafe, die das Leben sich selbst auferlegt.
Weil dieses Schicksals allerdings ein Schmerz des Lebens selbst ist, der mit dessen
Trennung anfängt oder dadurch entsteht, daß das Leben seine Zerstörung als Trennung
erkennt, ist hierin zugleich eine Möglichkeit für die Wiedervereinigung des Lebens
gegeben. Dieser Gedanke wird in der Jenaer Zeit wie folgt formuliert: "Entzweiung ist
der Quell des Bedürfnisses der Philosophie". 84 Z. B. kann die Askese der das
TPF
FPT
Abschneiden von dem ursprünglichen Leben erkennenden Wallfahrer in dieser Hinsicht
verstanden werden als ein Selbstheilungsprozeß des Lebens, um das zerstörte Leben
wiederherzustellen. 85
TPF
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Es wird hier klar, daß Hegel eine 'versöhnende Vernunft' entwirft, die sich von der
modernen Vernunft, vom Verstand, unterscheidet, welcher sich nur mit der äußeren
Kausalität der Objekte befaßt und daher keine wahre lebendige Vereinigung des
Gegensatzes zustandebringen kann. Er nennt diese Aufgabe die "Versöhnung des
Schicksals". 86 Die 'versöhnende Vernunft' setzt eine Fähigkeit des Subjekts voraus, das
TPF
FPT
Andere als eine unentbehrliche Bedingung für seine Existenz zu erkennen. Hegel sieht
im Begriff der 'Liebe', die er für die "Blüte des Lebens" 87 hält, eine Vorstellung dieser
TPF
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Vernunft, die sich später zur dialektischen Vernunft bzw. zum Begriff des Geistes
entwickelt. Er sagt in einem Berner Fragment über das Wesen der Liebe:
"die [s.c. Liebe hat] etwas analoges mit der Vernunft insofern - als die
Liebe in anderen Menschen sich selbst findet, oder vielmehr sich selbst
83
PT
G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in : TW, Bd. 1, S. 342.
TP
84
PT
G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 12. Hervorhebung im Original.
TP
85
PT
Vgl. G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 345. Hegel hat hier die griechische
TP
Tragödie im Sinn. Der Grund, daß der Protagonist der Tragödie sein Schicksal annimmt, welches "das
Bewußtsein des Bösen, den Schmerz verlängert und vervielfältigt" (ebd.), liegt in seiner Erkenntnis, daß
allein dieser Weg seinen Verlust ersetzen kann. Dies wird in seiner Jenaer Zeit noch deutlicher.
86
PT
A.a.O., S. 341.
TP
TP
87
PT
A.a.O., S. 308.
108
vergessend - sich ausser seiner Existenz heraussetzt, gleichsam in andern
lebt, empfindet und thätig ist – so wie die Vernunft als Princip
allgemeingeltender Geseze sich selbst wieder in jedem vernünftigen Wesen
erkennt, als Mitbürgerin einer intelligiblien Welt." 88
TPF
FPT
Und in der berühmten Schrift Liebe schreibt er wie folgt:
"Wahre Vereinigung, eigentliche Liebe findet nur unter Lebendigen statt,
die an Macht sich gleich und also durchaus füreinander Lebendige, von
keiner Seite gegeneinander Tote sind; sie schließt alle Entgegensetzungen
aus. […]. In der Liebe ist dies Ganze [s.c. die Mannigfaltigkeit des Lebens]
nicht als in der Summe vieler Besonderer, Getrennter enthalten; in ihr findet
sich das Leben selbst, als eine Verdoppelung seiner selbst, und Einigkeit
desselben; das Leben hat, von der unentwickelten Einigkeit aus, durch die
Bildung den Kreis zu einer vollendeten Einigkeit durchlaufen; der
unentwickelten Einigkeit stand die Möglichkeit der Trennung und die Welt
gegenüber; in der Entwicklung produzierte die Reflexion immer mehr
Entgegengesetztes, das im befriedigten Triebe vereinigt wurde, bis sie das
Ganze des Menschen selbst ihm entgegensetzte, bis die Liebe die Reflexion
in völliger Objektlosigkeit aufhebt, dem Entgegensetzten allen Charakter
eines Fremden raubt und das Leben sich selbst ohne weiteren Mangel findet.
In der Liebe ist das Getrennte noch, aber nicht mehr als Getrenntes,
[sondern] als Einiges, und das Lebendige fühlt das Lebendige." 89
TPF
FPT
Die Liebe, d. h. das Sich-im-Anderen-Finden drückt eine Bewegung des Subjekts aus,
in der dieses mittels des Anderen zu sich selbst zurückkehrt. In der Liebe ist die
Existenz des Anderen ein notwendiger Teil der Identität des Subjekts. In der Annahme,
daß die Selbstbeziehung des Subjekts nur durch seine Beziehung auf den Anderen
möglich ist, unterscheidet sich Hegel deutlich von der Reflexionsphilosophie, welche
von der Selbstbeziehung des reinen isolierten Subjekts ausgeht.
Es ist zwar in der Forschung noch umstritten, ob der junge Hegel die Liebe als ein Ideal
für die vereinigende Vernunft angesehen hat, da sich neben vielen positiven auch
88
PT
G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 101.
TP
TP
89
PT
G. W. F. Hegel, Entwürfe über Religion und Liebe, in: TW, Bd. 1, S. 245f.
109
zahlreiche negative Äußerungen über die Liebe bei Hegel finden, wie z. B. die These
zeigt, daß die Liebe als Gefühl das Problem der Unmittelbarkeit nicht überwinden
könne. Daß er in seinem späteren philosophischen System die Liebe als Einheitsprinzip
der Familie noch unter die verschiedenen sittlichen Gemeinschaften stellt, ist ein
Resultat der Systematisierung seines früheren Denkens. Aber man kann beim jungen
Hegel in dem Begriff der Liebe eine erste Ausprägung der Idee einer vereinigenden
Vernunft erkennen: die Notwendigkeit des Anderen für die Existenz oder für die
Identität des Subjekts wird ausdrücklich anerkannt. Habermas sieht in dieser
Konzeption den ersten philosophischen Versuch, eine Versöhnung der mit sich selbst
zerfallenen Moderne zu leisten, die auch Habermas als seine philosophische Aufgabe
ansieht. In dem folgenden Kapitel soll daher die Auseinandersetzung von Habermas mit
dem jungen Hegel untersucht werden.
110
2. Die Bedeutung des jungen Hegel für die Philosophie von
Habermas
- Eine intersubjektivitätstheoretische Interpretation des Begriffs des Lebens
Es wurde bereits erwähnt, daß Habermas die negativen Begleiterscheinungen der
Moderne als Ausdruck einer Selbstentzweiung der Moderne betrachtet und daß sein
wissenschaftliches Ziel daher "die Versöhnung der mit sich selber zerfallenen
Moderne" 90 ist. Er macht allerdings den sogenannten 'Mentalismus', der mit der
TPF
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erkenntnistheoretischen Wende Descartes' in die Philosophie eingeführt wurde, für
diese pathologischen Momente der Gegenwart verantwortlich. Der Mentalismus, der die
Objektivität der Welt durch die vorstellende Tätigkeit des erkennenden Subjekts
gewährleistet sieht, hat drei Grundannahmen. 91 Erstens: es gibt einen privilegierten
TPF
FPT
Zugang des erkennenden Subjekts durch Introspektion zu den eigenen, deutlichen und
unveränderlichen Vorstellungen, die als unmittelbar evidente Erlebnisse gegeben sind.
Zweitens: es ist möglich, durch die Überprüfung der subjektiven Vorstellungen in der
Erfahrung zu einem Wissen über die Objekte zu gelangen. Drittens: die
epistemologischen Aussagen über die Wahrheit werden auf subjektive Evidenz oder
Gewißheit zurückgeführt. Diese drei Grundannahmen beruhen wiederum auf drei
Dualismen: auf der Trennung zwischen Innen und Außen, zwischen der privaten und
der öffentlichen Sphäre sowie zwischen dem unmittelbar Gewissen und mittelbar
Gegebenen. Jede dieser Trennungen wirft die Frage auf, wie sich diese beiden Bereiche
jeweils zueinander verhalten.
Habermas ordnet die wichtigsten philosophischen Strömungen nach Descartes, wie z. B.
den Empirismus und den Rationalismus sowie den Realismus und den Idealismus,
allesamt dem Mentalismus zu; die ersten beiden suchen u. a. nach dem Ursprung des
Wissens und antworten darauf a posteriori bzw. a priori, während sich die letzten beiden
auch für eine kausale Erklärung des Wissens interessieren und die Entstehung der
Erkenntnis mit dem Schema der Rezeptivität bzw. der Spontaneität des menschlichen
Geistes erklären.
90
PT
NU, S. 202.
TP
TP
91
PT
Siehe J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung. Von Kant zu Hegel und zurück, in: ders.,
Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt/M. 1999, S. 190.
111
Er interpretiert die Philosophien von Peirce, Dilthey, Cassirer, Heidegger und
Wittgenstein in diesem Zusammenhang als eine Befreiung der Philosophie vom
Mentalismus und hält diesen Detranszendentalisierungsvorgang für die "interessanteste
Denkbewegung"
92
TPF
FPT
der Gegenwart. Detranszendentalisierung ist für ihn eine
philosophische Bewegung, die durch die Einordnung des transzendentalen Subjekts in
den sozialen Raum und in die historische Zeit den "Purismus der Vernunft" 93
TPF
FPT
überwinden will, der von der Selbstbeziehung der Vernunft ausgeht und daher das
Andere der Vernunft nicht in den Blick bekommt. Er sieht insbesondere Hegel
deswegen als den ersten Philosoph der Detranszendentalisierung an, weil dieser sich mit
der auf der Selbstbeziehung der Vernunft, d. h. auf der Reinheit der Vernunft
beruhenden Reflexionsphilosophie auseinandersetzt und dadurch ein neues, weniger
abstraktes Vernunftkonzept entwickelt, das aber dennoch die Dualismen der
Reflexionsphilosophie versöhnen kann. Diese Vernunft sei als eine Vernunft konzipiert,
die die Rationalität der Welt nicht negiere und gleichzeitig ihr Anderes anerkennen
könne. Dieses Vernunftkonzept findet vor allem im Begriff des Lebens seinen Ausdruck,
der besonders in Hegels Frankfurter Zeit von großer Bedeutung ist.
2.1. Die sozialphilosophische Bedeutung des Lebens beim jungen Hegel
Hegel faßt in seiner Zeit die Geburt eines neuen Zeitalters ins Auge, das über die
frühere autoritäre, d. h. positive Welt hinaus "einen qualitativen Sprung" 94 wagt. Die
TPF
FPT
folgende berühmte Passage spiegelt diesen Gedanken wider:
"Es ist […] nicht schwer, zu sehen, daß unsre Zeit eine Zeit der Geburt und
des Uebergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen
Welt seines Daseyns und Vorstellens gebrochen, und steht im Begriffe, es in
die
Vergangenheit
Umgestaltung."
92
hinab
zuversenken,
in
der
Arbeit
seiner
TPF
FPT
PT
A.a.O., S. 186.
TP
93
PT
Ebd.
TP
94
PT
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: GW, Bd. 9, W. Bonsiepen / R. Heede (Hg.),
TP
Hamburg 1980, S. 14.
95
TP
und
95
PT
Ebd.
112
Das wichtigste Merkmal der neuen Zeit besteht für ihn darin, daß der Begriff der
Subjektivität in den Vordergrund der Philosophie tritt – die Subjektivität, die die
Reflexion im epistemologischen (wie in der Philosophie Kants) und die Freiheit im
praktischen Sinne (wie in der Französischen Revolution) als Ziel hat. Die Moderne
besteht für ihn also in der Struktur der Selbstbeziehung des Subjekts, während sich die
vergangene Zeit durch die Abhängigkeit des Subjekts von irgendeiner Autorität, z. B.
von Gott auszeichnet. In der Rechtsphilosophie heißt es: "Das Prinzip der neueren Welt
überhaupt ist Freiheit der Subjektivität, daß alle wesentlichen Seiten, die in der geistigen
Totalität vorhanden sind, zu ihrem Recht kommend, sich entwickeln." 96 Aus diesem
TPF
FPT
Gedanken Hegels leitet Habermas vier Kennzeichnen der modernen Subjektivität ab: a)
Individualismus, b) Recht der Kritik, c) Autonomie des Handelns, d) schließlich die
idealistische Philosophie selbst. 97
TPF
FPT
Aber wir haben schon in seiner Auseinandersetzung mit der positiven Religion sowie
mit der Reflexionsphilosophie gesehen, daß Hegel seine Zeit gleichzeitig als eine Zeit
der Trennung betrachtet, die überwunden werden muß. Den Grund sieht er darin, daß
die moderne Subjektivität höchstens eine 'Metaphysik des Endlichen' erreichen kann,
die von dem erkenntnistheoretischen S-O Schema und von einer Herrschaft des
Subjekts ausgeht. Nach Hegel ist die Zeit dieser Herrschaft des Subjekts nichts anderes
als 'eine Zeit der Not':
"In der Not wird entweder der Mensch zum Objekt gemacht und unterdrückt,
oder muß er Natur zu einem Objekt machen und unterdrücken." 98
TPF
FPT
Um die Trennung der Zeit zu überwinden, konzipiert Hegel eine versöhnende Kraft im
Begriff des Lebens und der Liebe. Er sieht das Leben als einziges Absolutes an, das
nichts anderes als eine ewige Bewegung ist, sich zum Endlichen zu vergegenständlichen
und dadurch zu sich zurückzukehren. Und die Liebe wird als ein Modell der
versöhnenden Vernunft vorgeschlagen, das die Charakteristik dieses Lebens gut
verdeutlichen kann. In der Liebe findet sich das Subjekt im Anderen, d. h. es kehrt
mittels des Anderen zu sich selbst zurück. Die Liebe bedeutet daher die Notwendigkeit
96
PT
G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: TW, Bd. 7, S. 439.
TP
97
PT
PDM, S. 27.
TP
TP
98
PT
G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 318.
113
des Anderen für die Existenz und die Identität eines Subjekts bzw. die der Anerkennung
zwischen den Subjekten. Wir haben schon gesehen, daß Hegel in diesem
Zusammenhang sagt: "In der Liebe ist das Getrennte noch, aber nicht mehr als
Getrenntes, [sondern] als Einiges, und das Lebendige fühlt das Lebendige." 99
TPF
FPT
Dies ist der Grund, warum Hegel die Trennung Abrahams von seiner ursprünglichen
Gemeinschaft und von dem 'Band der Liebe' als die Wurzel der Positivität des
Judentums angesehen hat. 100 In dem positiven System verhält sich ein Entzweites oder
TPF
FPT
Endliches wie ein Ganzes, wie in der Kantischen Moralphilosophie, in der das endliche,
abstrahierte Subjekt verabsolutiert wird. Aus diesem Grund ist die Positivität, wie
erwähnt, als eine Zementierung des getrennten Lebens zu bestimmen. 101
TPF
FPT
Der Gedanke Hegels, daß das Subjekt nur im gesellschaftlichen Leben seine wahre
Existenz hat, unterscheidet sich vor allem von der traditionellen Gesellschaftstheorie, u.
a. von dem sogenannten atomistischen Gesellschaftsverständnis. 102 'Atomistisch'
TPF
FPT
bedeutet hier, daß die voneinander isolierten Subjekte die Grundlage der
Gesellschaftstheorie bilden. Nach Hegel wird in einer solchen Gesellschaftstheorie die
Gemeinschaft unter den Menschen bloß als eine von einem Anderen und Fremden
nachträglich hinzugefügte Organisation angesehen. Hegel betrachtet die formalistische
Philosophie von Fichte und die empirische Naturrechtslehre von Hobbes als Beispiele
einer solchen atomistischen Gesellschaftstheorie. Fichtes Gesellschaftstheorie ist
deswegen formalistisch, weil sie von den transzendentalen Begriffen der praktischen
Vernunft ausgeht, während die Naturrechtslehre von Hobbes insofern empirisch ist, als
sie von anthropologischen Bestimmungen der menschlichen Natur ausgeht, um eine
vernünftige Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu entwerfen.
Trotz dieser äußerlichen Unterschiede stimmen beide Theorien inhaltlich darin überein,
daß sie ''das Seyn des Einzelnen als das Erste und Höchste'' voraussetzen. 103 Bei der
TPF
FPT
atomistischen Sozialphilosophie ist die Gesellschaft mit Blick auf die Freiheit ein
TP
99
PT
G. W. F. Hegel, Entwürfe über Religion und Liebe, in: TW, Bd. 1, S. 246.
100
G. W. F. Hegel, Der Geist des Judentums, in: TW, Bd. 1, S. 277.
TP
PT
101
Vgl. den Abschnitt 1.3, Kapitel III dieser Abhandlung.
TP
PT
102
TP
PT
In Bezug auf diese Problematik siehe die folgenden Untersuchungen: A. Honneth, Kampf um
Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1994, L. Siep, Praktische
Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt/M. 1992, A. Wildt, Autonomie und Anerkennung. Hegels
Moralitätskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption, Stuttgart 1982 und E. Düsing, Intersubjektivität und
Selbstbewußtsein, Köln 1986.
TP
103
PT
G. W. F. Hegel, Naturrechtsschrift, S. 431.
114
notwendiges Übel, weil sie die Freiheit des Einzelnen einschränkt, um den Anderen bzw.
das Ganze zu schützen. Sie ist daher im strengen Sinne ein System, das die Freiheit
einschränkt. Ein konkretes Beispiel dieses Gedankens findet sich bei Hegel in seiner
Auseinandersetzung mit der Aufforderungstheorie bei Fichte und mit der Lehre vom
Gesellschaftsvertrag bei Hobbes.
In
seiner
Aufforderungstheorie
wollte
Fichte
zeigen,
daß
das
individuelle
Selbstbewußtsein und die Existenz des Anderen gleichursprünglich sind, oder, daß das
Du für die Bildung und vollkommene Selbstwerdung des Ich prinzipiell notwendig ist
und der Sinn der realen und anerkannten Existenz des Du im Bewußtsein des Ich
konstituiert wird. Fichte sagt in diesem Zusammenhang:
''Im wechselseitigen Auffordern zu freiem Handeln und in der simultanen
Begrenzung der eigenen Handlungssphäre zugunsten des Anderen bildet
sich zwischen Subjekten das gemeinsame Bewußtsein heraus, das im
Rechtsverhältnis dann zu objektiver Geltung gelangt.'' 104
TPF
FPT
Für Fichte scheint es notwendig zu sein, daß sich das personale Verhältnis zwischen
Subjekten zu einem Rechtsverhältnis entwickelt, in dem das Recht ein Allgemeines ist,
das zu einer Bedingung der Freiheit des Menschen wird. Diese Überlegungen von
Fichte führen daher bezüglich der Problematik der Freiheit zu dem folgenden
Widerspruch: Einerseits gilt die Freiheit als das höchste Ziel, andererseits muß die
Freiheit zugleich in der Gemeinschaft mit anderen um dieser Gemeinschaft willen
eingeschränkt werden. Das führt dazu, daß die Freiheit in der Gemeinschaft mit anderen
also zumindest partiell aufgegeben werden muß; obwohl die Freiheit ihrem Wesen nach
eigentlich alle Schranken überwinden sollte, kann sie nur eingeschränkt verwirklicht
werden. 105
TPF
FPT
Dasselbe Problem ergibt sich auch bei der Lehre vom Gesellschaftsvertrag bei Hobbes,
die Hegel unter dem Begriff des empirischen Naturrechts untersucht. 106 Hobbes hat das
TPF
104
FPT
PT
J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke,
TP
I.H. Fichte (Hg.), Bd. 3: Zur Rechts- und Sittenlehre, Berlin 1971, S. 1ff., hier: § 3 u. § 4.
105
PT
Vgl. E. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein a.a.O., S. 297.
TP
106
TP
PT
Um die Souveränität des Staates mit Blick auf die Vertragslehre zu begründen, nimmt Hobbes die
anthropologische Annahme von N. Machiavelli auf, daß die einzelnen Subjekte in einem permanenten
Zustand feindseliger Konkurrenz gegeneinander kämpfen. Im Vergleich zur Theorie Machiavellis, die
bloß auf einigen anthropologischen Annahmen basiert, ist aber die Theorie Hobbes insofern
115
menschliche Wesen als eine Art sich selbst bewegenden Automaten verstanden, das sich
vorsorglich um sein zukünftiges Wohlergehen bemüht; 107 dieses antizipierende
TPF
FPT
Verhalten entwickelt sich bei der Begegnung mit dem Anderen zur Form der
präventiven Machtsteigerung, die letztlich zu einem Krieg aller gegen alle führt; um
diesen Krieg zu beenden, braucht man eine politische Verfassung. Es ist daher die erste
Aufgabe der politischen Praxis, den stets drohenden Konflikt immer wieder neu zu
verhindern. Die Gesellschaft ist für Hobbes also nur dann möglich, wenn die Freiheit
der Einzelnen eingeschränkt wird.
Die Kritik des jungen Hegel an diesen beiden Theorien fokussiert sich darauf, daß die
Gesellschaft oder Gemeinschaft bei ihnen nachträglich eingeführt wird, um bestimmte
Konflikte zu vermeiden; in dieser Position wird die Gesellschaft oder die Gemeinschaft
nur als eine die menschliche Freiheit beschränkende Institution angesehen. Die
Gemeinschaft ist also bei der atomistischen Theorie nichts anderes als ''die höchste
Tirannei''. 108 Um die Gemeinschaft nicht nur als eine die Freiheit der Individuen
TPF
FPT
einschränkende Organisationsform zu verstehen, muß man in der Gesellschaftstheorie
einen ganz anderen Ausgangspunkt wählen, d. h. das Schema der Gegenüberstellung
zwischen dem Menschen und der Gemeinschaft bzw. den Anderen muß aufgehoben
werden, um die Gemeinschaft oder die Anderen nicht als Beschränkung der Freiheit der
Menschen verstehen zu müssen. Hegel geht, wie in seinem Begriff des Lebens als
Zusammenleben angedeutet, von der Denktradition aus, die das Wesen des
menschlichen Lebens auf die Gemeinschaft bezieht. Dies ist der Grund, warum er
bezüglich der Bestimmung des Menschen die Philosophie des Aristoteles ins Auge faßt,
in der die Gemeinschaftlichkeit als ein entscheidendes Wesen des Menschen bestimmt
wird. Er zitiert eine berühmte Passage von Aristoteles als Ausgangspunkt seiner
Überlegungen:
''das Volk ist eher der Natur nach, als der einzelne; denn wenn der einzelne
abgesondert nichts selbstständiges ist, so muß er gleich allen Theilen in
Einer Einheit mit dem Ganzen seyn; wer aber nicht gemeinschaftlich seyn
fortschrittlicher, als er mit Hilfe der erfolgreichen naturwissenschaftlichen Forschung Galileis und der
philosophischen Erkenntnislehre Descartes' jenen anthropologischen Annahmen ein wissenschaftliches
Fundament gibt. Vgl. A. Honneth, Kampf um Anerkennung, a.a.O., S. 16ff.
107
PT
Vgl. Th. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates,
TP
Neuwied 1966, S. 75.
TP
108
PT
G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 55.
116
kann, oder aus Selbstständigkeit nichts bedarf, ist kein Theil des Volks, und
darum entweder Thier oder Gott.'' 109
TPF
FPT
Dieses Zitat zeigt, daß der Ausgangspunkt einer neuen philosophischen Soziologie nicht
die Handlungen der isolierten Subjekte, sondern die sittlichen Verhältnisse sein muß, in
denen Subjekte gemeinschaftlich leben. Hegel setzt also die Sozialität des Menschen als
natürliche Basis der Gesellschaft voraus. In diesem Sinne muß die Freiheit nicht als Idee
des isolierten, für sich seienden Individuums, sondern als ein Allgemeines verstanden
werden.
''die Gemeinschaft der Person mit andern muß daher wesentlich nicht als
eine Beschränkung der wahren Freyheit des Individuums sondern als eine
Erweiterung derselben angesehen werden. Die höchste Gemeinschaft ist die
höchste Freyheit.'' 110
TPF
FPT
2.2. Die Idee der Intersubjektivität beim jungen Hegel
Aus diesem Grund läßt sich erklären, warum der junge Hegel das Leben von vornherein
als Zusammenleben versteht, warum er nicht den Mechanismus der Entstehung der
sittlichen Gemeinschaft, sondern die Art und Weise untersucht, wie die sittliche
Totalität, d. h. das Leben, von sich getrennt und wieder vereinigt wird, und warum er
sich nicht für den Kampf um die Selbsterhaltung zwischen Subjekten, der in dem
vorgesellschaftlichen Zustand stattfinden soll, sondern für die Konflikte innerhalb einer
Gesellschaft wie z. B. Verbrechen oder Kampf um Anerkennung interessiert.
Vor diesem Hintergrund analysiert Hegel den Begriff des Lebens, dessen Merkmale
sich besonders in der Analyse des Verbrechens und des daraus resultierenden Schicksals
zeigen, in der Habermas bereits 'Spuren einer kommunikativen Vernunft' erkennt. Das
Verbrechen und das Schicksal stehen also in einer engen Verbindung mit dem Begriff
des Lebens als Zusammenleben. Habermas deutet daher den Begriff des Lebens bei
Hegel als eine Form einer sittlichen Totalität, die ''einen gesellschaftlichen Zustand
109
PT
G. W. F. Hegel, Naturrechtsschrift, S. 467f. Hegel zitiert diesen Satz aus Aristoteles, Politik I. 2. Er
TP
sieht Aristoteles folgend den Menschen als ein soziales Wesen an.
TP
110
PT
G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 54.
117
bedeutet, in dem alle Glieder zu ihrem Recht kommen und ihre Bedürfnisse befriedigen,
ohne die Interessen anderer zu verletzen.'' 111 D. h. er interpretiert das Leben als eine
TPF
FPT
Gesellschaft, in der sich die Subjekte intersubjektiv verhalten können. Er sieht also in
der Vorstellung des Lebens bei Hegel ein Modell für eine zwangfreie Intersubjektivität.
Von dieser Position aus betrachtet, bedeutet das Verbrechen nicht nur die Verletzung
eines Anderen; vielmehr zerstört der Verbrecher auch sich selbst, weil er mit dem
Verbrechen zugleich die sittliche Totalität zerstört, die sein Wesen ausmacht. Aus der
Erfahrung der Negativität des Lebens kann daher eine Sehnsucht nach der
Wiedervereinigung des entzweiten Lebens entstehen. Daß die entzweite Gemeinschaft
erst dann versöhnt werden kann, wenn der Verbrecher im zerstörten Anderen die
Entzweiung seines eigenen Wesens erkennt, ist der Kern der sogenannten Dialektik des
Schicksals.
Habermas deutet diese Dialektik des Schicksals dahingehend, daß die Zerstörung des
Lebens nichts anderes als die Störung der intersubjektiven Anerkennungsverhältnisse ist
und daß in ihr die Subjekt-Objekt-Trennung als Spiegel dieser Störung zum Vorschein
kommt.
''Die Dynamik des Schicksals resultiert […] aus der Störung der
Symmetriebedingungen und der reziproken Anerkennungsverhältnisse eines
intersubjektiv konstituierten Lebenszusammenhangs, von dem sich der eine
Teil isoliert und damit auch alle anderen Teile von sich und ihrem
gemeinsamen Leben entfremdet. Dieser Akt des Losreißens von einer
intersubjektiv geteilten Lebenswelt erzeugt erst eine Subjekt-ObjektBeziehung. Diese wird als ein fremdes Element, jedenfalls erst nachträglich
in Verhältnisse eingeführt, die von Haus aus der Struktur einer
Verständigung
zwischen
Subjekten
-
und
nicht
Vergegenständlichung durch ein Subjekt gehorchen.'' 112
TPF
der
Logik
der
FPT
Also stellt Habermas sich eine symetrische intersubjektive Gemeinschaft vor, in der die
Herrschaftsstruktur in der Praxis keinen Platz einnehmen kann, die der S-O-Trennung
im epistemologischen Bereich entspricht. Diese Vorstellung zeigt, daß nach Habermas
für die Philosophie des jungen Hegel die Idee der Intersubjektivität zentral ist.
111
PT
PDM, S. 40.
TP
TP
112
PT
Ebd.
118
Ein Problem besteht allerdings nach Habermas darin, daß diese fruchtbare Idee vom
jungen Hegel in seinem System keinen geeigneten Platz einnimmt. Sie wurde in seiner
Berner und Frankfurter Zeit mit der Idee der Volksreligion verbunden, die jedoch keine
Wurzeln in der Moderne hat, sondern von dem Vorbild der griechischen Polis und der
urchristlichen Gemeinschaft abgeleitet ist. Wir haben schon gesehen, daß es nach
Habermas für die Selbstbezüglichkeit der Moderne wesentlich ist, daß sie ihre
Geltungskriterien niemals von irgendeiner anderen Zeit übernimmt. Dies ist der Grund,
warum er die Moderne auf den Begriff der Mode bezogen hat, der nicht in äußeren bzw.
klassischen Vorschriften, sondern im Augenblick eine ewige Schönheit sucht. 113 Wenn
TPF
FPT
Hegel die Moderne als eine qualitativ ganz neue Zeit bzw. als eine Zeit der Geburt
versteht, so hat er damit nach Habermas die Selbstbezüglichkeit der Moderne erkannt;
aber dadurch, daß er die Idee der idealen Gemeinschaft nach dem Vorbild einer
vergangenen Zeit entwirft, habe er die Leistung der Moderne verkannt, die ''ihr
Selbstbewußtsein durch eine Reflexion errungen [hatte], die den systematischen
Rückgriff auf solche exemplarischen Vergangenheiten verwehrte''. 114 In diesem Sinn
TPF
FPT
schreibt Habermas folgendes:
''Kurzum – eine noch so kraftvoll interpretierte Sittlichkeit von Polis und
Urchristentum kann nicht mehr den Maßstab abgeben, den sich eine mit sich
entzweite Moderne zu eigen machen könnte.'' 115
TPF
FPT
Die Kritik des jungen Hegel an der Subjektphilosophie führt also nach Habermas
paradoxerweise zugleich dazu, daß die Idee der Moderne als einer Zeit der Geburt nicht
ernst genommen wird.
Diese ambivalente Stellung des jungen Hegel zur Moderne verschwindet mit der
Entwicklung seines philosophischen Systems. Seine Philosophie gewinnt dadurch an
Kohärenz, daß er z. B. in seiner Jenaer Zeit auf den Begriff de Lebens verzichtet und
statt dessen seinem System die Entwicklung des Begriffs des Absoluten zugrunde
legt. 116 Aber in diesem System mußte er die fruchtbare Idee der Intersubjektivität
TPF
113
PT
Siehe zu dieser Problematik den 1. Abschnitt des II. Kapitels dieser Arbeit.
TP
114
PT
PDM, S. 42.
TP
115
PT
A.a.O., S. 43.
TP
116
TP
FPT
PT
Habermas ist der Meinung, daß sich diese Positionsänderung Hegels seinem Studium der politischen
Ökonomie verdankt. PDM, S. 43. Dies zeigt, daß er eine These von Lukács über den jungen Hegel
aufnimmt. Vgl. G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., 225ff. und 398ff.
119
aufgeben, die mit dem Begriff des Lebens gegeben ist, weil im Begriff des Absoluten
nur eine bloße Erweiterung der Idee der modernen Subjektivität gesehen wird, die in der
Selbstbeziehung des Subjekts besteht.
Wir haben schon gesehen, daß Hegel die Reflexionsphilosophie darin kritisiert, daß sich
in ihr das Subjekt trotz seiner Endlichkeit und Bedingtheit zum Absoluten erhebt.
Dieses Absolute setzt also den Gegensatz zwischen dem Bedingten und dem
Unbedingten voraus. Es scheint daher bei diesem Schema unausweichlich zu sein, daß
das Subjekt sein Objekt negiert. Das Subjekt als Absolutes bei Hegel geht dagegen von
der Idee der reinen, absoluten Selbstbeziehung aus, in der sowohl die Differenz als auch
die Einheit zwischen Endlichem und Unendlichem problemlos koexistieren.
Aber Habermas sieht in dieser Vorstellung des Absoluten bei Hegel nur eine
Erweiterung der Selbstbeziehung der abstrakten Reflexion bzw. der Subjektivität. Das
Hegelsche Absolute, das in dem ''Prozeß der Beziehung des Endlichen und Unendlichen
aufeinander'' bestehe, sei folglich nichts anderes als eine ''verzehrende Tätigkeit des
Zusichkommens selbst''. 117 Von daher ließe sich das Problem der Subjektphilosophie
TPF
FPT
durch diese Konzeption nicht lösen; Hegel setze ''die Mittel der Subjektphilosophie zum
Zweck einer Überwindung der subjektzentrierten Vernunft'' 118 ein.
TPF
FPT
Habermas' Kritik an Hegel besteht also darin, daß der junge Hegel seinen Begriff des
Absoluten nur dadurch gewinnt, daß er den Blickpunkt vom Individuum zur
Gesellschaft wendet, ohne dabei das Paradigma der Subjektivität zu überwinden. Statt
zur Reziprozität zwischen Subjekten überzugehen, löst Hegel das Problem der
Reflexionsphilosophie in einer Hierarchie zwischen dem Individuum und dem Ganzen
oder dem Einzelnen und der Gesellschaft auf, die sich durch die Priorität der
Gesellschaft oder des Staates vor dem Individuum auszeichnet. Dieser Gedanke
bestimmt seine Sozialphilosophie seit der Jenaer Zeit. Es ist daher eine notwendige
Folge, daß Hegel in der Rechtsphilosophie den Staat als 'höheres Subjekt' gegenüber der
individuellen Freiheit bevorzugt. Daher stimmt Habermas vollständig der Ansicht von
D. Henrich zu, wenn dieser über den starken Institutionalismus der Hegelschen
Staatsphilosophie sagt: ''Der einzelne Wille, den Hegel den subjektiven nennt, ist in die
117
PT
PDM, S. 46.
TP
TP
118
PT
Ebd.
120
Ordnung der Institutionen ganz eingebunden und überhaupt nur insofern gerechtfertigt,
als diese selbst es sind.'' 119
TPF
FPT
Der frühe Ansatz des jungen Hegel, der zu einer Konzeption der Staatsphilosophie hätte
führen können, in der die Einzelnen in der Allgemeinheit eines ungezwungenen
Konsenses auch gegenüber den Institutionen des Staates eine zentrale Rolle spielen,
scheiterte am Ende an dem starken Institutionalismus des späten Hegel, der von der Idee
der sich auf sich beziehenden absoluten Subjektivität ausgeht. Habermas ist in diesem
Zusammenhang der Meinung, daß eine bescheidene Form der Vernunft notwendig ist,
um Ansatz des frühen Hegel, d. h. die Idee einer wahrhaften Intersubjektivität der
ungezwungenen Willensbildung in einer Gemeinschaft zu verwirklichen. Dies ist der
Grund, warum er die die linguistische Wende in der Philosophie begrüßt.
Zusammengefaßt: Das Fazit der Auseinandersetzung mit Hegel ist für Habermas, daß
Hegel zwar eine fruchtbare Vernunftidee hatte, aber sie in seinem späteren System nicht
weiter verfolgt hat. Habermas, der die Ursache für die gegenwärtigen pathologischen
Probleme in der Idee der narzißtisch in sich gekehrten, d. h. hochmütigen Vernunft sieht,
ist vollkommen einverstanden mit Hegels Zeitdiagnose. Er versucht die von Hegel
aufgegebene bescheidene Vernunft zu verwirklichen, um einen Ausweg aus den
gegenwärtigen pathologischen Erscheinungen der Moderne zu finden. Er sieht eine
Möglichkeit für diesen Ausweg in der linguistischen Wende der Philosophie. 120
TPF
119
FPT
PT
D. Henrich, Einleitung, in: G. W. F. Hegel, Philosophie des Rechts: die Vorlesung von 1819/20 in
TP
einer Nachschrift, D. Henrich (Hg.), Frankfurt/M. 1983, S. 31.
120
TP
PT
Neben der Frankfurter Zeit Hegels versucht Habermas auch in den Jenaer Fragmenten des jungen
Hegel Ansätze einer Theorie der Intersubjektivität zu finden. Er weist darauf hin, daß Hegel in seiner
Jenaer Zeit die Sprache, die Arbeit (bzw. das Werkzeug) und die Familie (bzw. die Liebe) dem
subjektiven Geist untergeordnet hat; dies eröffnet eine Möglichkeit, den Geist als eine Form der
Verbindung von Subjekt und Objekt zu deuten, wobei erst durch den Bezug auf die Objekte das
Selbstbewußtsein konstituiert wird. Dieser Gedanke unterscheidet sich stark von dem Begriff des
Selbstbewußtseins der Reflexionsphilosophie, den Habermas eine 'narzißtische', transzendentale
Subjektivität nennt, weil er auf dem "reinen, sich auf sich selbst beziehenden Bewußtsein der
ursprünglichen Apperzeption" basiert. (J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 195).
Im Gegensatz dazu wird der Geist bei Hegel als eine Einheit zwischen Subjekt und Objekt konzipiert: "Es
muß eigentlich weder von einem solchen Subjekte noch Objekte die Rede sein, sondern vom Geiste."
(Jenaer Systementwürfe I, in: GW, Bd. 6, Hamburg 1986, S. 205). Habermas schreibt dazu: "Anstelle der
fruchtlosen Kontroversen der Erkenntnistheorie will Hegel die Diskussion auf jene 'Medien' lenken, die
die Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt bereits vor jeder aktuellen Begegnung strukturieren. Beide
Seiten, Subjekt und Objekt, sind Relata, die nur mit und in ihren Beziehungen zueinander existieren. [...]
Gleichwohl gebraucht Hegel den Terminus 'Geist' für die Medien von Sprache, Arbeit und Interaktion
121
[...]." (J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 195f.). Wenn das Subjekt in der Welt
als ein in den Weltzusammenhang eingelassenes Element vorhanden ist, dann kann es keine
philosophische Aufgabe des Subjekts sein, eine Kluft zwischen sich und einem von ihm separierten
Anderen zu überbrücken.
122
VI. Die linguistische Wende von Habermas: der Übergang
von der Subjektivität zur Intersubjektivität
Die bisherige Betrachtung hat ergeben, daß Habermas in der Auseinandersetzung des
jungen Hegel mit der positiven Religion und der Reflexionsphilosophie ein Vorbild für
die Vernunftkritik der gegenwärtigen philosophischen Diskurse sieht; Hegels
Ausgangspunkt
ist,
daß
die
sogenannte
Reflexionsphilosophie
wegen
ihres
epistemologischen Schemas der Trennung von S-O, das zur autoritären, 'positiven'
Einheit führt, die wahre Vernünftigkeit der Welt nicht adäquat in den Blick bekommt;
Hegel führt, um die Probleme der positiven Systeme und der Reflexionsphilosophie zu
vermeiden, die spekulative oder dialektische Vernunft ein, die das Schema von S-O
wieder auf das Subjekt bezieht, so daß die Beziehung als S-<S-O> schematisiert werden
kann. Die Reflexionsphilosophie ist nach ihm nur eine Philosophie der Aufklärung, die
"die Gemeinheit des Verstandes, und seine eitle Erhebung über die Vernunft
aus[drückt]". 1
TPF
FPT
Die Vernunftkritiken der gegenwärtigen philosophischen Diskurse wiederholen Hegels
Auseinandersetzung mit der Reflexionsphilosophie in dem Punkt, daß sie damit
einverstanden sind, daß sich die moderne Vernunft um das Denkschema von S-O
bewege und dieses Schema für die moderne Herrschaftsstruktur verantwortlich sei. Die
Unterschiede zwischen ihnen ergeben sich jedoch daraus, daß die einen aufgrund dieser
Diagnose die Vernunft insgesamt kritisieren, während die anderen die Vernunft zu
erneuern versuchen. Präziser formuliert: die radikalen Vernunftkritiker verstehen die
Vernunft überhaupt als eine Macht, die alles, was ihr begegnet, bloß als ein Objekt
unterwirft und nur eine autoritäre oder asymmetrische Einheit herstellt. Dieses Problem
läßt sich daher nach ihnen nur durch die Einführung des Anderen der Vernunft lösen; im
Gegensatz dazu ist Habermas, der an der Rolle der Vernunft festhält, der Ansicht, daß
die Vernunft, mit der sich die radikalen Vernunftkritiker auseinandersetzen, nur eine
verkürzte Form der Vernunft ist, nämlich die instrumentelle Vernunft.
Es gibt daher für Habermas keinen Grund, daß man die Vernunft überhaupt aufgeben
müsse. Vielmehr versucht er mit der Konzeption einer erweiterten Vernunft das
Problem der Moderne zu lösen. Er sieht sogar im Begriff des Anderen nur ein
TP
1
PT
G. W. F. Hegel, Kritisches Journal der Philosophie, in: GW, Bd. 4, S. 125.
123
"Spiegelbild der gewalthabenden" 2 Vernunft. Das Andere der Vernunft sei im Kern
TPF
FPT
"eine spontane, seinsgründende, stiftende, zugleich vitale und undurchsichtige
Gewalt", 3 also als eine unversöhnliche Macht. Aus dieser Sicht ist das Andere der
TPF
FPT
Vernunft selbstwidersprüchlich, weil die radikalen Vernunftkritiker über etwas
diskutieren, über das eigentlich nicht vernünftig diskutiert werden kann. Eine
Diskussion im Sinne eines Austausches der verständlichen bzw. rationalen Argumente
über das Andere der Vernunft ist nämlich letztlich gar nicht möglich:
"Konsequenterweise müßte ihre eigene Untersuchung im Anderen der
Vernunft einen der Vernunft schlechthin heterogenen Posten beziehen. Aber
was zählen noch Konsequenzen an einem Ort, welcher der vernünftigen
Rede a priori unzugänglich ist?" 4
TPF
FPT
Habermas betrachtet die Entstehung des Anderen der Vernunft in Zusammenhang mit
dem Normalitätsproblem der intersubjektiven kommunikativen Gesellschaft. Er geht
davon aus, daß die Rolle des Anderen um so größer wird, je unvernünftiger eine
Gesellschaft ist, d. h. je weiter eine Gesellschaft von der 'Normalität' entfernt ist. Aus
dieser Perspektive ist das Andere der Vernunft nur eine entfremdete innere und äußere
Natur. So erklärt sich, daß Habermas zustimmend H. und G. Böhme zitiert: "Das
Andere der Vernunft, das ist die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das
Begehren, die Gefühle." 5
TPF
FPT
Habermas ergänzt allerdings diese Äußerung dahingehend, daß das Andere nicht
vernunftlos, sondern eine Erscheinungsform 'verkehrter Vernunft' ist, während hingegen
Böhme behaupte, daß das Andere alles das sei, was sich die Vernunft nicht aneignen
könne. 6 Daß die Problematik des Anderen eines der zentralen Themen der Moderne war,
TPF
2
PDM, S. 360.
TP
PT
3
A.a.O., S. 356.
TP
PT
4
A.a.O., S. 353.
TP
PT
5
TP
FPT
H. Böhme / G. Böhme, Das Andere der Vernunft, Frankfurt/M. 1983, S. 13 und J. Habermas, PDM, S.
PT
357.
6
TP
PT
Dieser Gedanke zeigt, daß Habermas den Begriff der versöhnenden Vernunft des jungen Hegel
übernimmt. Er unterscheidet Hegel von den radikalen Vernunftkritikern, die der Vernunft keine
Versöhnung mit der Welt zutrauen: Hegel hat nach ihm "die Grenzziehungen der subjektzentrierten
Vernunft nicht als Ausgrenzungen, sondern als Entzweiungen interpretiert, und der Philosophie den
Zugang zu einer die subjektive Vernunft und deren Anderes in sich begreifenden Totalität zugemutet."
PDM, S. 354.
124
die von den Kritikern als Zeit der Subjektivität oder der Vernunft begriffen wird,
benutzt Habermas als einen weiteren Beleg für seine These. So entwickelte z. B. die
Romantik innerhalb einer neuen Form der Subjektivität das Konzept des Anderen und
wollte damit über die Grenze der aufklärischen bzw. instrumentellen Vernunft
hinausgehen. Im Anschluß an die oben zitierte Aussage sagt Habermas:
"Nun also sind es unmittelbar die vitalen Kräfte einer abgespaltenen und
unterdrückten subjektiven Natur; sind es jene in der Romantik wieder
entdeckten Phänomene des Traumes, der Phantasie, des Wahns, der
orgiastischen Erregung, der Ekstase; sind es die ästhetischen, leibzentrierten
Erfahrungen einer dezentrierten Subjektivität, die als Statthalter für das
Andere der Vernunft fungieren." 7
TPF
FPT
Dieser Äußerung liegt sein zentraler Gedanke zugrunde, daß selbst eine radikale
Vernunftkritik als ein letzter, sich selbst überbietender Akt der Vernunft, als ein Akt der
Selbstreflexion betrachtet werden muß. Habermas sieht also seine philosophische
Aufgabe darin, die verkehrte, eingeschränkte Vorstellung der 'Vernunft' zu berichtigen.
Er entwirft dafür "eine ausgreifendere, eine komprehensive Vernunft", 8 anstatt auf das
TPF
FPT
Andere der Vernunft zurückzugreifen. Er präzisiert diesen Gedanken einer
komprehensiven Vernunft mit Hilfe der von Peirce bis Austin und Searle entwickelten
Sprachpragmatik. Vor der Betrachtung dieser Sprachtheorie soll im folgenden die
Bedeutung der sprachphilosophischen Wende für das Denken von Habermas behandelt
werden.
7
PT
PDM, S. 357f.
TP
TP
8
PT
A.a.O., S. 352.
125
1. Die sprachphilosophische Wende im Habermasschen Denken
Eine der entscheidenden Bemühungen Habermas', um "die mit sich zerfallene Moderne
zu versöhnen" 9 , d. h. das Projekt der Aufklärung weiterzuführen, zeigt sich in seinem
TPF
FPT
Versuch, den Historischen Materialismus sprachphilosophisch zu rekonstruieren. Er
gibt hier dem Begriff der 'Rekonstruktion' eine bestimmte Bedeutung; während die
'Restauration' als "die Rückkehr zu einem Ausgangszustand" und die 'Renaissance' als
"die Erneuerung einer Tradition" verstanden werden, bedeutet die 'Rekonstruktion', "daß
man eine Theorie auseinandernimmt und in neuer Form wieder zusammensetzt, um das
Ziel, das sie sich gesetzt hat, besser zu erreichen." 10 Die neue Form hat für Habermas
TPF
FPT
etwas mit der gegenwärtigen Sprachphilosophie zu tun. Er betrachtet es also als eine
wichtige Aufgabe, mit Hilfe der gegenwärtigen Sprachphilosophie den von K. Marx
stammenden Historischen Materialismus zu rekonstruieren. In diesem Abschnitt soll
daher untersucht werden, was Habermas unter dem Historischen Materialismus versteht
und warum dieser umformuliert werden muß, um sein ursprüngliches Projekt zu erfüllen.
Bei seiner Auseinandersetzung mit dem Marxismus steht Habermas besonders unter
dem Einfluß von K. Korsch und G. Lukács, die sich beide mit dem von Engels
entwickelten sogenannten szientistischen orthodoxen Marxismus auseinandersetzen; 11
TPF
FPT
jener interpretiert den Marxismus weder als Philosophie noch als Wissenschaft, sondern
als eine Kritik; dieser entwickelt den Marxismus mit Hilfe der Hegelschen Philosophie
zu einer Theorie der Verdinglichung in der kapitalistischen Gesellschaft weiter.
Habermas trennt im Anschluß an Korsch und Lukács Marx von Engels: während in der
Theorie von Marx die Beziehung zwischen Theorie und Praxis sowie zwischen Arbeit
und Interaktion unklar bleibt, löst Engels diese Unklarheit durch eine naturalistische
Metaphysik des dialektischen Materialismus.
Marx versucht eigentlich, mit dem Begriff der 'Praxis' die Tradition der
theoriaorientierten 'scholastischen', spekulativen Philosophie zu überwinden, wie er es
9
TP
PT
NU, S. 202.
10
TP
J. Habermas, Historischer Materialismus und die Entwicklung normativer Strukturen, in: ders, Zur
PT
Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M. 1976, S. 9.
11
TP
PT
Es handelt sich dabei um das Werk Marxismus und Philosophie von K. Korsch und das Buch
Geschichte und Klassenbewußtsein von G. Lukács. Die Einflüsse dieser Marxisten auf Habermas werden
besonders in seinen frühen Arbeiten über den Marxismus deutlich, wie z. B. in dem Artikel Zwischen
Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik, in: J. Habermas, Theorie und Praxis, Frankfurt/M.
1971, S. 228-289.
126
in den Thesen über Feuerbach zum Ausdruck bringt. 12 Die Praxis, die nach ihm beim
TPF
FPT
gesellschaftlichen Reproduktionsvorgang eine entscheidende Rolle spielt, kann
allerdings einerseits als die Arbeit, bei der es um die materielle Produktion geht, und
andererseits als die Interaktion zwischen Menschen verstanden werden, bei der es sich
um eine die institutionelle Organisation der Gesellschaft stiftende, selbstgenerative
Tätigkeit der Menschheit handelt. Die Praxis als Arbeit meint dabei nichts anderes als
die Beziehung des Menschen zur Natur, die besonders seit der industriellen Revolution
ausgebeutet wird, während die Praxis als Interaktion die Beziehung zwischen den
Menschen meint, die besonders seit der Französischen Revolution eine für die Moderne
charakteristische Form angenommen hat. Die Idee der Praxis enthält also bei Marx
schon zwei Deutungen: eine technologische und zugleich eine institutionelle
Dimension; während die erste darin besteht, die Natur nach dem Willen des Menschen
zu beherrschen, ist die zweite Dimension der Praxis die gesellschaftliche Tätigkeit des
Menschen.
Das Buch Zur Kritik der Politischen Ökonomie (1859), in dem Marx die
Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse voneinander unterscheidet, liest
Habermas vor diesem Hintergrund. Die Produktivkräfte bezeichnen die Ebene der
instrumentellen Handlungen, die sich auf die Vergrößerung der Herrschaft gegenüber
der Natur richteten, während sich die Produktionsverhältnisse auf die Ebene symbolisch
vermittelter Formen sozialer Interaktion beziehen, zu denen insbesondere die Form der
sozialen Integration (Herrschaft) und die des sozialen Konflikts (Klassenkampf)
gehören.
Das Problem ist aber, daß Marx trotz seiner gründlichen Analyse der zwei
unterschiedlichen Bedeutungen der Praxis dazu neigt, die intersubjektiven Aktivitäten
(soziale
Interaktion)
wieder
auf
die
instrumentellen
Handlungen
(Arbeit)
zurückzuführen. Nach Habermas ist die Ursache dieser reduktionistischen Tendenz der
Marxschen Theorie die Tatsache, daß Marx zwar den Unterschied zwischen beiden
Handlungskategorien andeutet, aber daß seine Theorie letztlich alles auf eine Kategorie
zurückführt. Diese reduktionistische Tendenz kritisiert Habermas wie folgt:
''Die Befreiung von Hunger und Mühsal konvergiert nicht notwendig mit der
Befreiung von Knechtschaft und Erniedrigung, denn ein entwicklungs12
TP
PT
Siehe K. Marx, Thesen über Feuerbach, in: Marx Engels Werke, Bd. 3, Berlin 1962, S. 5ff. besonders
die erste, zweite, dritte, achte und neunte These.
127
automatischer Zusammenhang zwischen Arbeit und Interaktion besteht
nicht.'' 13
TPF
FPT
Also liegt im Historischen Materialismus bei Marx eine Ambiguität in dem Punkt, daß
Marx zwar die Wichtigkeit des Unterschiedes von Arbeit und Interaktion erkennt, er
aber dennoch die Kategorie der Interaktion der Arbeit unterordnet.
Engels überwindet diese Ambiguität mit Hilfe des dialektischen Materialismus, der die
Naturwissenschaft als methodologisches Vorbild hat. Für ihn ist die Dialektik ein
Bewegungsprinzip einer 'Substanz', nämlich der Materie, und er versucht mit Hilfe
dieser so verstandenen Dialektik ein monistisches Weltbild zu entwerfen, das Natur und
Gesellschaft gleichermaßen umfaßt. Nach dieser Auffassung ist das Bewußtsein nur ein
bloßes 'Abbild' der Materie. Innerhalb dieser Theorie ist daher nach Habermas keine
'Kritik' im echten Sinne möglich, die die (relative) Autonomie des Bewußtseins von der
materiellen Basis voraussetzt. 14 Die Anwendung dieses dialektischen Materialismus auf
TPF
FPT
die Kritik der Politischen Ökonomie bringt also eine Reduktion des Bewußtseins auf die
Materie und der Interaktion auf die Arbeit mit sich. In diesem Zusammenhang beurteilt
Habermas die sogenannte marxistische Orthodoxie, die den dialektischen Materialismus
Engels' dogmatisch übernimmt, wie folgt:
''Die Abhängigkeit des Bewußtseins vom gesellschaftlichen Sein wird zum
Spezialfall des allgemeinen ontologischen Gesetzes, demzufolge Höheres
vom Niederen, und schließlich alles vom 'materiellen Substrat' abhängt." 15
TPF
FPT
Der szientistische Materialismus von Engels widerspricht in dieser Hinsicht
fundamental der emanzipatorischen Absicht von Marx, aus der heraus er seine Theorie
eine 'Kritik', wie im Titel seines Buchs Kritik der Politischen Ökonomie, genannt hatte.
13
PT
J. Habermas, Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser 'Philosophie des Geistes', in:
TP
ders, Technik und Wissenschaft als 'Ideologie', Frankfurt/M. 1969, S. 46.
14
PT
A. Wellmer behauptet in diesem Zusammenhang, daß die Dialektik Engels wegen dieser Abhängigkeit
TP
des Bewußtseins von der Materie nur "einen Rückfall auf eine vorkantische Form der Ontologie" darstellt.
A. Wellmer., Kommunikation und Emanzipation. Überlegungen zur 'sprachanalytischen Wende' der
kritischen Theorie, in: U. Jaeggi / A. Honneth (Hg), Theorien des Historischen Materialismus,
Frankfurt/M. 1977, S. 471.
15
TP
PT
J. Habermas, Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus, in: ders.,
Theorie und Praxis, a.a.O., S. 396.
128
Habermas versucht diesen Gedanken von Engels dadurch zu überwinden, daß er die
Marxsche Unterscheidung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen
erneut hervorhebt. Sein Versuch, die Differenz zwischen technischem Fortschritt und
politischer Emanzipation oder die zwischen Wissenschaft und Kritik nicht zu
verwischen, schlägt sich in der Unterscheidung zwischen 'instrumentalem' oder
'zweckrationalem' einerseits und 'kommunikativem' Handeln andererseits nieder. Er
rekonstruiert damit die wechselseitig voneinander abhängigen historischen Prozesse der
beiden Kategorien. Den Unterschied zwischen beiden Formen der Handlung beschreibt
er wie folgt:
''Während das instrumentale Handeln dem Zwang der äußeren Natur
korrespondiert und der Stand der Produktivkräfte das Maß der technischen
Verfügung über Gewalten der Natur bestimmt, steht das kommunikative
Handeln in Korrespondenz zur Unterdrückung der eigenen Natur: der
institutionelle Rahmen bestimmt das Maß einer Repression durch die
naturwüchsige Gewalt sozialer Abhängigkeit und politischer Herrschaft. Die
Emanzipation von äußerer Naturgewalt verdankt eine Gesellschaft den
Arbeitsprozessen, nämlich der Erzeugung technisch verwertbaren Wissens
[…]; die Emanzipation vom Zwang der internen Natur gelingt im Maße der
Ablösung gewalthabender Institutionen durch eine Organisation des
gesellschaftlichen Verkehrs, die einzig an herrschaftsfreie Kommunikation
gebunden ist. Das geschieht nicht unmittelbar durch produktive Tätigkeit,
sondern durch die revolutionäre Tätigkeit kämpfender Klassen […]. Beide
Kategorien von gesellschaftlicher Praxis zusammengenommen ermöglichen,
was Marx, Hegel interpretierend, den Selbsterzeugungsakt der Gattung
nennt.'' 16
TPF
FPT
Habermas versucht mit dieser Kategorienunterscheidung vor allem den Begriff der
Interaktion in der sozialphilosophischen Hinsicht wiederaufzuwerten, der in Engels'
Marx-Deutung keine eigenständige Rolle mehr spielt.
Dieses Konzept trennt ihn von anderen Vertretern der Frankfurter Schule, die sich auch
mit dem szientistischen Materialismus sehr gründlich auseinandergesetzt und bei der
Entwicklung des Habermasschen Denkens eine große Rolle gespielt haben. Horkheimer
TP
16
PT
J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1991, S. 71f.
129
und Adorno z. B. sind der Meinung, daß das Maß der Industrialisierung dem der
Verdinglichung des Bewußtseins und dieses wiederum dem Maß der berechnenden
formalen Rationalität entspricht. Die Autoren der Dialektik der Aufklärung fassen also
die Umformung der äußeren Natur (Technologie, Industrie, Naturbeherrschung) und der
inneren Natur (Individualisierung, Repression, soziale Herrschaftsformen) als einen
einzigen Vorgang auf; die instrumentelle Vernunft drückt sich in der Entwicklung der
Industrie sowohl in der Natur als auch in der Gesellschaft in gleicher Art und Weise aus,
und der technische Fortschritt, der von dieser Vernunft geleitet wird, ist daher für die
gegenwärtigen pathologischen Erscheinungen bzw. für die Entfremdung der Menschen
direkt verantwortlich.
So identifizieren Horkheimer und Adorno den Industrialisierungsprozeß mit dem
Vorgang der Aufklärung, und die Kritik an jenem Prozeß ist daher mit der Kritik an der
Aufklärung identisch. Ihre Kritik an der Aufklärung wird daher zu einer umfassenden
Vernunftkritik, indem sie, was die Aufklärung mit dem Mythos machte, noch einmal
auf den Prozeß der Aufklärung im ganzen anwenden, d. h. sie wenden ihre Kritik nun
gegen die Vernunft als einzige Grundlage möglicher Geltungsansprüche. Sie
vernachlässigen dabei die geschichtliche Entstehung der Aufklärung. Was ihnen, die mit
der These des Umschlagens der Aufklärung in einen neuen Mythos das vernünftige
Denken als ganzes in Zweifel ziehen, übrig bleibt, ist nur ein geschichtlicher
Pessimismus. Daher ist Wellmer der Ansicht, daß ihre Kritische Theorie nicht mehr eine
rationale, d. h. vernünftige Form der Kritik ist, sondern ihre Legitimation aus einem
anderen Bereich gewinnen muß. 17
TPF
FPT
Habermas findet aber in ihrer Kritik an der Aufklärung ein Paradox, weil diese Kritik
"im Augenblick der Beschreibung noch von der totgesagten Kritik Gebrauch machen
muß. Das Totalitärwerden der Aufklärung denunziert sie mit deren eigenen Mitteln." 18
TPF
FPT
Dies bedeutet, daß die Vernunft nicht nur die instrumentelle Funktion, sondern auch die
Funktion der Kritik hat. Habermas vertritt also die These, daß die instrumentelle
17
PT
Wellmer ordnet ihre Kritik einer 'eschatologischen Kategorie' zu. Daß er die Frankfurter Schule mit
TP
diesem einen hoffnungsvollen Zukunftsoptimismus ausdrückenden religiösen Begriff charakterisiert,
verweist allerdings bei ihm auf einen philosophischen Pessimismus, weil dieser Begriff die
Vernachlässigung der kritischen Funktion der Vernunft deutlich machen soll. A. Wellmer,
Kommunikation und Emanzipation, a.a.O., S. 482. Diese Kritik an der Frankfurter Schule ergibt sich für
Habermas auch bei seiner Auseinandersetzung mit Benjamins Geschichtsphilosophie. J. Habermas,
Exkurs zu Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen, in: PDM, S. 21ff.
TP
18
PT
PDM, S. 144.
130
Vernunft nur eine Form der Vernunft ist und daß das Projekt der Aufklärung dadurch
weitergeführt werden kann, daß die kritische Funktion der Vernunft wiederhergestellt
wird, die zwar bei der Entstehung der Aufklärung eine entscheidende Rolle gespielt hat,
die aber mit der Erweiterung der instrumentellen Vernunft ihre Kraft verloren hat.
Der Historische Materialismus hat nach Habermas schon in seiner Unterscheidung von
Arbeit und Interaktion, von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen sowie von
'technischer' und 'praktischer' Vernunft noch den Ansatz der aufklärerischen Kritik
beibehalten, obzwar er die letzten Faktoren letztendlich auf die ersten reduziert hat. Die
Wiederherstellung der kritischen Rolle der 'praktischen' Vernunft oder die Erweiterung
des eingeschränkten Vernunftverständnisses zeigt eine Möglichkeit auf, den
Pessimismus der Kritischen Theorie zu vermeiden. Die Habermassche Unterscheidung
zwischen 'instrumentalem' und 'kommunikativem' Handeln deutet diese Möglichkeit an.
Wie
das
'kommunikative'
Handeln
schon
im
Namen
andeutet,
spielt
die
Sprachwissenschaft oder –philosophie für Habermas eine entscheidende Rolle, um die
kritische Funktion der Vernunft und eine rationale Betrachtung der Welt wieder zu
ermöglichen; wenn man die Ergebnisse der Sprachphilosophie auf die Handlungstheorie
anwendet, löst sich nicht nur die Ambiguität des Marxschen Historischen Materialismus
auf und wird das pessimistische Resultat von Horkheimer und Adorno vermieden,
sondern viele schwierige sozialphilosophische Fragen können dann auch rational
beantwortet werden. Habermas sieht eine Möglichkeit der Einbeziehung sprachlicher
Phänomene in die Philosophie in der Hermeneutik Diltheys gegeben. 19
TPF
FPT
Diltheys Hermeneutik unterscheidet sich vor allem vom Neukantianismus Rickerts, der
die Kantische Erkenntniskritik auf den Bereich historischer Erkenntnis auszuweiten
versucht. Dilthey bezweifelt, daß dieser Versuch erfolgreich sein kann. Denn die
Theorie des Kantischen Erkenntnissubjekts gilt nur im Bereich der Erscheinungswelt
bzw. der Naturwissenschaften, in dem die Methode der Erklärung von großer
Bedeutung ist. Anders gesagt, diese Theorie kann keine konstitutive Rolle im Bereich
der sozialen und geschichtlichen Wissenschaften spielen und daher ist für diesen
Bereich eine andere Theorie erforderlich. Der Grund dafür liegt darin, daß es in dem
Bereich der historischen Tatsachen immer die paradoxe Situation gegeben ist, daß das
die Konstitution der historischen Tatsachen erklärende transzendentale Subjekt
TP
19
PT
Siehe zur Auseinandersetzung von Habermas mit Dilthey besonders: J. Habermas, Diltheys Theorie des
Ausdrucksverstehens: Ich-Identität und sprachliche Kommunikation, in: ders., Erkenntnis und Interesse,
a.a.O., S. 178-203.
131
wiederum von diesen Tatsachen selber konstituiert wird. Weil das Konstituierende und
das Konstituierte im gesellschaftlich-historischen Bereich zusammenfallen, kann es in
diesem Bereich keine erklärende, beobachtende, d. h. objektive Instanz geben. Aus
diesem Grund ist Dilthey gegenüber Rickerts Anliegen sehr skeptisch.
Dilthey eröffnet für die Geisteswissenschaften bzw. die Sozialwissenschaften eine
andere Möglichkeit ihres Selbstverständnisses, in dem die Methode des Verstehens von
großer Bedeutung ist. Um das eigentümliche Verhältnis von Subjektivität und
Intersubjektivität sowie von 'Transzendentalem' und 'Empirischem' zu deuten, analysiert
Dilthey die Struktur umgangsprachlicher Kommunikation. Davon leitet er die
Besonderheit der Methode der 'Geisteswissenschaft' ab. Er geht davon aus, daß, da der
vorgegebene 'Eigensinn', den die sozialwissenschaftlichen Gegenstände und Daten
haben, 20 durch den symbolischen Zusammenhang einer Lebensform bestimmt wird, ihr
TPF
FPT
interner Bezug zur Gesamtheit einer Sprache berücksichtigt werden muß. Daher ist das
hermeneutische Verstehen bzw. die linguistische Analyse in diesem Bereich
unvermeidbar und wird sogar als die einzig adäquate Untersuchungsmethode angesehen.
Dies ist der Grund, warum Dilthey in seinen späteren Schriften von einer
psychologischen zu einer hermeneutischen Theorie der Geisteswissenschaften
übergegangen ist.
Trotz vieler wichtiger Einsichten ist Diltheys Hermeneutik nach Habermas noch
insofern problematisch, als das hermeneutische Verstehen keine Instanz darstellt, die die
Objektivität der Untersuchungsergebnisse der Geisteswissenschaften garantiert. Der
TP
20
PT
Ob das Verstehen bei der wissenschaftlichen Betrachtung der menschlichen Gesellschaft eine Rolle
spielt, ist immer noch umstritten; die positivistischen Gesellschaftstheoretiker behaupten, daß die
Sozialwissenschaft, um eine Wissenschaft zu sein, den Gegenstand mit objektiven Methoden, wie z. B.
Experiment, vergleichenden oder statistischen Studien, analysieren muß, nicht mit subjektiven Methoden,
wie z. B. Verstehen, während die hermeneutisch ausgerichteten Soziologen von der Unentbehrlichkeit des
Verstehens für die Gesellschaftsforschung sprechen. T. Abel, einer der Positivisten, schreibt: "Die
Operation des Verstehens […] erweitert weder unser Wissen, weil sie in der Anwendung des von
persönlicher Erfahrung schon gerechtfertigten Wissens besteht; noch dient sie als ein Mittel der
Verifikation. Die Wahrscheinlichkeit einer Korrelation kann nur durch objektive, experimentalische und
statistische Teste bestätigt werden". T. Abel, The Operation Called Verstehen (1948/49), in: H. Albert
(Hg.), Theorie und Realität: Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften,
Tübingen 1964, S. 188. Im Gegensatz dazu behauptet D. Leat, eine der Hermeneutiker, folgendes:
"Verstehen spielt eine integrale Rolle im Beweis jeder spezifisch soziologischen Generalisierung." D.
Leat, Das mißverstandene 'Verstehen' (1972), in: K. Acham (Hg.), Methodologische Probleme der
Sozialwissenschaften, Darmstadt 1978, S. 111.
132
Grund dafür liegt darin, daß Dilthey das Verstehen und die Erklärung voneinander
unterscheidet und die Objektivität nur der Ebene der Erklärung zuordnet. Es gibt also
bei der Hermeneutik keine externe Erklärungsinstanz jenseits der internen, für die
handelnden Individuen prinzipiell zugänglichen Sinnbeziehungen, durch welche die
Elemente einer Sprache miteinander verbunden sind. Es ist daher fraglich, ob innerhalb
der Diltheyschen Hermeneutik das Selbstverständnis der Handelnden ideologiekritisch
hinterfragt werden kann, wenn ihr Handeln entgegen ihrer Selbstdeutung in
Wirklichkeit durch andere, unbewußte, objektiv erklärbare Motive bestimmt wird.
Habermas sieht gerade in dieser Unzulänglichkeit den Grund, warum die Hermeneutik
über die Interpretation und das Verständnis des sogenannten 'Normalfalls' nicht
hinausgehen und auch keine Möglichkeit der Selbstkritik entwickeln kann. Die
hermeneutische Annahme, daß der Zusammenhang zwischen den sprachlichen
Äußerungen, dem leibgebundenen Ausdrucksverhalten und den Handlungen beim
kommunikativen Handeln in allen Bereichen der sozialen Interaktion konsistent und
einheitlich interpretierbar ist, ist aber nichts anderes als eine Verallgemeinerung des
'Normalfalls', weil es häufig vorkommt, daß Teile des sozialen Lebenszusammenhanges
für die Handelnden und Sprechenden selbst dort scheinbar verständlich sind, obwohl
faktische
Inkonsistenz
und
Widersprüche
im
System
umgangsprachlicher
Kommunikation vorhanden sind. 21 Als Ergebnis seiner Beschäftigung mit Dilthey hält
TPF
FPT
Habermas fest, daß Dilthey zwar einerseits durch seinen Bezug auf die Sprache und auf
das Verstehen den Dogmatismus des S-O Schemas überwunden hat, daß seine
Philosophie aber andererseits in einen Relativismus führt, weil er den erklärenden,
objektiven Ansatz der Naturwissenschaft im Bereich der Geisteswissenschaften ablehnt
bzw. stark einschränkt.
Habermas erkennt den außerhalb des Bereichs des normalen Verständnisses liegenden
sogenannten 'Grenzenfall' der Kommunikation als eine gesellschaftliche Tatsache an
TP
21
PT
Die Hermeneutik Diltheys gilt nach Habermas nur für den 'Normalfall' der Kommunikation, nicht für
den 'Grenzenfall', der der Gegenstand der von Habermas als 'Tiefenhermeneutik' angesehenen
Psychoanalyse ist. "Zwar hat Dilthey das psychologische Ausdrucksverstehen zugunsten des
hermeneutischen Sinnverstehens überwunden, 'an die Stelle des psychologischen Raffinements [ist] das
Verstehen geistiger Gebilde' getreten. Aber auch die auf den Zusammenhang von Symbolen gerichtete
Philologie bleibt auf eine Sprache eingeschränkt, in der sich bewußt Intendiertes ausdrückt. [...] Insofern
übernimmt die Philologie nur Hilfsfunktionen für eine unter normalen Bedingungen funktionierende
Kraft der lebensgeschichtlichen Erinnerung." J. Habermas, Selbstreflexion als Wissenschaft: Freuds
psychoanalytische Sinnkritik, in: ders., Erkenntnis und Interesse, a.a.O., S. 265.
133
und versteht ihn als ein Resultat einer Kommunikationsstörung, die die Möglichkeiten
der öffentlichen Kommunikation systematisch einschränkt. Die Inkonsistenz und
Unverständlichkeit sprachlicher Äußerungen müssen daher als Anzeichen einer
systematischen Einschränkung der Kommunikation verstanden werden, die nun einen
nur scheinbaren Konsens erzeugt, und zwar hinsichtlich der in einer Gesellschaft
allgemein als 'wahr' und 'gerecht' geltenden Überzeugungen und Normen. Solche
Überzeugungen und Normen sind aber häufig nicht das Resultat eines rationalen
Konsenses oder eines zwanglosen Lernprozesses. Man muß daher von der Möglichkeit
systematisch 'verzerrter' Kommunikation ausgehen, in der anerkannte Normen in
Wirklichkeit Machtinteressen verschleiern oder Machtansprüche legitimieren. Also
wäre die Anwendung Hermeneutik in den Sozialwissenschaften nur dann angemessen,
wenn die sozialen Lebenszusammenhänge immer schon der Norm gewaltfreier
intersubjektiver Verständigung entsprechen würden.
Der sprachphilosophisch verstandene Historische Materialismus untersucht die
Beziehung der vielfältigen Sprachspiele zu den von allen Sprachspielen vorausgesetzten,
aber zunächst verfehlten Normen. Denn nur durch diese Beziehung ist ein kritisches
Hinterfragen der in der Sprache verkörperten Sinnrelationen und der Selbstdeutungen
der Handelnden möglich. Durch diesen internen Bezug, den jede Gesellschaft zu der
Norm
der
gewaltfreien
Intersubjektivität
hat,
können
die
Geistes-
bzw.
Sozialwissenschaften die Selbstdeutung von Gruppen und Individuen hinterfragen und
sowohl deren Selbsttäuschungen als auch die 'rationale' Funktion des falschen
Bewußtseins erklären. Der neue Historische Materialismus beschäftigt sich also mit der
Analyse der Bedingungen der Möglichkeit einer normativen materialistischen
Gesellschafts- und Geschichtstheorie. Gerade in der Wiederherstellung der kritischen
Funktion
der
Vernunft
besteht
somit
die
Pointe
der
Habermasschen
sprachphilosophischen Transformation des Historischen Materialismus. Aus diesem
Grund beurteilt Wellmer diese 'linguistische Wende' wie folgt:
"Durch die 'linguistische Wende' der kritischen Theorie werden politische
und ökonomische Gewaltverhältnisse, d. h. Unterdrückung und Ausbeutung,
nicht etwa in grammatische Beziehungen aufgelöst; insofern sie vielmehr als
sprachlich vermittelte Beziehungen analysiert werden, werden sie als
134
Verhältnisse faßbar, die über sich selbst das Urteil sprechen: sie verdienen
es, zugrunde zu gehen." 22
TPF
FPT
Die Habermassche Kritik an dem szientistischen Materialismus sowie dem
hermeneutischen Verfahren ist aber gleichzeitig verbunden mit der Aufnahme beider
sich wechselseitig ergänzenden Methoden; jener ist für seine Theorie notwendig, um die
Abhängigkeit des geschichtlichen Sinns von den Subjekten erklären zu können, die die
Geschichte 'mit Willen und Bewußtsein' hervorbringen, und dieses ist auch notwendig,
um die Bedeutsamkeit jeder historischen Realität und also deren jeweils eigenen Bezug
zur Idee gewaltfreier Intersubjektivität deuten zu können.
Die sozialwissenschaftliche Analyse, die nach wissenschaftlicher Objektivität strebt, hat
daher wegen der Sinnhaftigkeit ihres Gegenstandbereiches nur innerhalb des jeweiligen
Sprachspiels ihre Gültigkeit. Der Historische Materialismus muß also diese Erkenntnis
praktisch ausarbeiten, d. h. er muß das instrumentelle und das kommunikative Handeln
voneinander unterscheiden und gleichzeitig ihre wechselseitige Beziehung analysieren.
Also ist auch innerhalb der Sozialwissenschaft die Objektivierung der sozialen Realität
möglich, die es für Dilthey nur im Bereich der Erklärung, also der Naturwissenschaft
geben kann. Das bedeutet erstens, daß die Sozialwissenschaft ein Wissen produziert, das
zum Zweck der sozialen Steuerung 'technologisch' genutzt werden kann, und zweitens,
daß sie eine Methode entwickelt, mit der man die Selbstinterpretation der
'objektivierten' Individuen hinterfragen und darüber hinaus den verborgenen Sinn, d. h.
die 'Tiefengrammatik' ihrer Interaktionen entschlüsseln kann. Mit der Analyse dieser
Tiefengrammatik lassen sich die Kommunikationsstörungen erkennen, die von der als
Ausdruck institutionalisierter oder verinnerlichter Gewaltverhältnisse verstandenen
'Oberflächengrammatik' der Sprache verborgen wurden. 23
TPF
Das
Ziel
der
sozialwissenschaftlichen
FPT
Objektivierung
ist
es,
hinter
der
Oberflächengrammatik eines Sprachspiels die soziale Gewalt sichtbar zu machen, die in
seinen tiefengrammatischen Beziehungen und Regeln verborgen ist. Dadurch dient sie
vor allem dem Interesse der Überwindung quasi-kausaler Mechanismen, d. h. einer
'Denaturalisierung' der Geschichte. Gerade darin liegt eine Möglichkeit, sowohl die
sozialen Gewaltverhältnisse aufzulösen als auch die individuelle Autonomie zu
22
PT
A. Wellmer, Kommunikation und Emanzipation, a.a.O, S. 492.
TP
TP
23
PT
Habermas ist also der Meinung, daß die Hermeneutik psychoanalytisch weiterentwickelt werden muß,
um die verborgenen Motive erkennen zu können.
135
erweitern, die nur unter der Bedingung einer herrschaftsfreien Kommunikation möglich
ist.
Solch eine 'kritische' Sozialwissenschaft bezieht sich auf Prozesse der Selbstreflexion,
die nicht technisch verwertbares, sondern 'praktisches' Wissen erzeugen. Dahinter steht
das Interesse an Emanzipation, das Habermas als eine ebenso unscheinbare wie
explosive Kraft im Prozeß der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ansieht. Das
emanzipatorische Interesse bildet sich mit der Entstehung der Sprache sowie mit dem
Aufbau symbolisch vermittelter sozialer Beziehungen aus. 24 Dieses Interesse leitet die
TPF
FPT
Erkenntnis des Historischen Materialismus und bezieht sich also gleichzeitig auf ein
praktisches Projekt. Es richtet sich also auf eine Emanzipation von allen Formen
sozialer Gewalt und Repression.
Das Ergebnis des Kapitels läßt sich also wie folgt zusammenfassen: die Hermeneutik
Diltheys kann trotz ihrer wichtigen sprachphilosophischen Einsichten keine objektive
Instanz anbieten, die die Gültigkeit der wissenschaftlichen Objektivierungen prüfen
kann, weil es sich bei ihr nur um das umgangsprachliche Verständnisproblem, also die
Deutung der 'Oberflächengrammatik' handelt. Sie kann sich dem Relativismus nicht
entziehen. Darüber hinaus haben diese Objektivierungen es nicht mit der Emanzipation
von Fremdbestimmung, sondern mit der Interpretation einer Welt zu tun, weil sie die
Möglichkeit einer systematisch verzerrten Kommunikation nicht in Betrachten ziehen.
Um eine Selbstkritik und -reflexion der Subjekte möglich zu machen, muß also nicht
nur die Umgangsprache sondern auch die als deren Norm angesehene 'Tiefengrammatik'
gedeutet werden.
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer sprachphilosophischen Transformation des
Historischen Materialismus, damit dieser eine wirklich 'kritische' Theorie sein kann, die
nicht bloß zu einer pessimistischen Weltsicht führt. Diese Transformation darf sich aber
nicht auf die kritische Übernahme der Diltheyschen hermeneutischen Methode
beschränken, weil bei ihr die Möglichkeit einer objektiven Erklärung verborgener
TP
24
PT
Wellmer erklärt diesen Begriff, der einerseits als eine anthropologische und andererseits als eine
sozialwissenschaftliche Kategorie verstanden wird, wie folgt: "Von einem Interesse an Emanzipation
dürfen wir deshalb sprechen, weil durch die Versprachlichung der Lebensprozesse Probleme symbolisch
vermittelter persönlicher und kollektiver Identität zu (Über-)Lebensproblemen werden; von einem
Interesse an Emanzipation aber deshalb, weil materielle Bedürfnisse und Interessen, sobald sie zu
sprachlich vermittelten Bedürfnissen und Interessen geworden sind, mit Notwendigkeit auf die Ideen der
Wahrheit und Gerechtigkeit sich beziehen." A. Wellmer, Kommunikation und Emanzipation, a.a.O., S.
497. Hervorhebungen im Original.
136
Handlungsmotive
fehlt.
Diese
Überlegungen
führen
bei
Habermas
zu
der
Unterscheidung zwischen instrumentalem und kommunikativem Handeln, die nicht
aufeinander reduziert werden können. Der auf dieser Unterscheidung beruhende
Historische Materialismus hat daher, wie Wellmer sagt, einerseits eine materialistische
Komponente, weil er "mit theoretisch nicht auflösbaren, empirisch zu erforschenden
Kontingenzen rechnet, die die Ausgangssituation, die Randbedingungen und die
Mechanismen sozialer Evolution bestimmen", und andererseits ein hermeneutisches
Element, weil er "mit dem Faktum einer durch Sprache, also durch einen internen
Bezug auf Wahrheit vermittelten Reproduktion der Gattung rechnet." 25
TPF
FPT
Die Kritische Theorie von Habermas wird daher mehr und mehr von der
Sprachphilosophie beeinflußt. Das bedeutet vor allem, daß er die von der Sprache
ausgehende Intersubjektivität zum Prinzip seiner Philosophie erhebt. Dies wird vor
allem in seiner späteren Philosophie seit der Theorie des kommunikativen Handelns
deutlich, die besonders auf der Sprachpragmatik von Austin beruht. 26
TPF
25
TP
A. Wellmer, a.a.O., S. 498. Ob diese Rekonstruktion noch ein Historischer Materialismus ist, ist
PT
umstritten; im Gegensatz zu Wellmer, der diese Rekonstruktion in der Linie des Historischen
Materialismus versteht, behauptet z. B. Rockmore: "Now, in the proposed refutation of the labor theory of
value, we saw that Habermas identifies problems leading him to renounce historical materialism as an
even possibly viable theory. […] it is reasonable to regard his own position, especially the theory of
communicative action, as an effort to achieve by other means what historical materialism only intended to
reach. […] Since Marx und Engels, one of its main themes has always been the relation of theory and
practice [Praxis]." Tom Rockmore, Habermas on historical materialism, Bloomington, Indianapolis 1989,
S. 147. Für ihn ist Habermas näher an Popper und Kolakowski, die den Kernpunkt des Historischen
Materialismus nicht in der Lehre vom Arbeitwert, sondern in der Deutung des Verhältnisses zwischen
Theorie und Praxis sehen und jene Theorie nicht als eine wissenschaftliche Hypothese ansehen, weil sie
nicht falsifiziert werden kann. Siehe zur Kritik Kolakowskis an der Marxschen Arbeitswertlehre L.
Kolakowski, Main Currents of Marxism. Its Rise, Growth and Dissolution, Oxford 1978, S. 329.
26
TP
PT
Habermas stellt seit seiner Theorie des kommunikativen Handelns alle Arten des Handelns der
Menschen, wie z. B. strategisches, normenreguliertes sowie dramaturgisches Handeln, als Formen der
sprachlich vermittelten Interaktionen darstellt; alle diese Handlungsweisen werden als Grenzenfälle des
kommunikativen Handelns angesehen. Anders gesagt, er verwendet die Sprachphilosophie zur Ablehnung
aller reduktionistischen Theorien.
137
2. Die Sprachpragmatik und die Theorie des
FPT
kommunikativen Handelns
2.1. Die Sprachpragmatik
Die Sprachtheorie wird gewöhnlich in die Bereiche Syntaktik, Semantik und Pragmatik
unterteilt; während die Syntaktik "die syntaktischen Beziehungen der Zeichen
zueinander unter Absehung von ihren Beziehungen zu Objekten und Interpreten", d. h.
die Beziehung eines Zeichens zu anderen Zeichen sowie einer sprachlichen Äußerung
zu anderen sprachlichen Äußerungen, 27 und die Semantik "die Beziehung der Zeichen
TPF
FPT
zu ihren Designaten und darum zu den Objekten, die sie denotieren oder denotieren
können", 28 d. h. die Beziehung eines Zeichens zu dessen Bedeutung sowie einer
TPF
FPT
sprachlichen Äußerung zu deren Gegenstand, untersucht, befaßt sich die Pragmatik mit
der "Beziehung der Zeichen zu ihren Interpreten," 29 d. h. mit der Sprechsituation, mit
TPF
FPT
der Intention sowie der Rolle der beteiligten Sprecher etc. In dieser Hinsicht behandelt
die Pragmatik einen umfassenderen Bereich als die Syntaktik und die Semantik.
Einer der wichtigsten Ausgangspunkte der Sprachtheorie, sei es die Wahrheitssemantik
seit Frege oder die Sprachpragmatik Austins, ist, daß jede konkrete Sprechhandlung die
Geltungsproblematik begleitet; jede Sprechhandlung enthält also die Momente des
Realen und zugleich des Transzendentalen, des Empirischen und gleichzeitig der
Idealität in sich. Die Äußerung: "Dies ist ein Kugelschreiber" z. B. ist insofern auf die
Wahrheitsfrage bezogen, als diese Äußerung entweder mit "Es ist wahr" oder mit "Es ist
nicht wahr" beurteilt werden kann. Anders gesagt, diese Aussage erhebt einen
Geltungsanspruch der Wahrheit. Dies bedeutet, daß bei einer sprachlichen Äußerung
zwar Faktizität und Geltung unterschieden sind, aber dennoch eine enge Beziehung
zwischen beiden existiert.
27
PT
Ch. W. Morris, Grundlagen der Zeichentheorie, München 1972, S. 32.
TP
28
PT
A.a.O., S. 42.
TP
TP
29
PT
A.a.O., S. 52.
138
Habermas beschäftigt sich besonders mit der von Austin entwickelten Theorie der
Sprechakte. 30 Austin setzt sich mit den herkömmlichen Sprachtheorien auseinander, die
TPF
FPT
angenommen haben, "das Geschäft von 'Feststellungen' oder 'Aussagen' [statements] sei
einzig und allein, einen Sachverhalt zu 'beschreiben' oder 'eine Tatsache zu behaupten',
und zwar entweder zutreffend oder unzutreffend." 31 Diese Theorien machen also nur
TPF
FPT
den als wahr oder falsch zu beurteilenden assertorischen Satz zum Gegenstand der
Sprachanalyse. Nach der Wahrheitssemantik dieser Theorien versteht man einen Satz,
wenn man weiß, wann dieser Satz wahr ist. Die Geltungsproblematik wird daher bei
dieser Theorie auf das Verhältnis der Sprache zur Welt als der Gesamtheit der
Tatsachen reduziert. Wegen der Identifizierung der Geltung mit der Aussagenwahrheit
entsteht ein Zusammenhang zwischen der Behauptung und der Geltung sprachlicher
Ausdrücke ausschließlich in der Tatsachen feststellenden Rede. 32
TPF
FPT
Austin geht aber davon aus, daß es verschiedene Geltungsansprüche gibt, die nicht auf
eine Bedeutungsebene zurückbezogen werden können. Eine der eigentümlichen
Charakteristiken seiner Sprachtheorie ist es, das Sprechen als eine Handlung zu
betrachten. Daher untersucht er besonders die Fälle, "in denen wir etwas tun, dadurch
daß wir etwas sagen", 33 wie dies z. B. bei Befehlen, Versprechen und Wünschen der
TPF
FPT
Fall ist. Solche Sprechakte, die er 'performative Äußerungen' nennt, 34 sind nicht die
TPF
FPT
Äußerungen, welche einen Sachverhalt beschreiben oder eine Tatsache behaupten und
deren Geltung deswegen in der Wahrheitsproblematik bereits entschieden ist, sondern
diejenigen Äußerungen, die zugleich eine 'Handlung' sind, die den Sprecher und den
Hörer auf bestimmte Weise verbinden. Ein Beispiel von ihm: "Ja! (ich nehme die hier
anwesende XY zur Frau)" ist eine performative Aussage, weil der Sprecher mit dieser
Aussage nicht eine Tatsache des Heiratens berichtet, sondern etwas tut, und zwar
heiratet. 35 Die Äußerung ist zugleich eine Tat, nämlich das Heiraten. Sie ist außerdem
TPF
FPT
nur in einem bestimmten Kontext, z. B. im Laufe der standesamtlichen Trauung
verständlich. Ein anderes Beispiel: der Satz: "die Katze ist auf der Matte" ist wahr,
30
TP
PT
Siehe zur Problematik der Anwendung der Sprechakttheorie auf die philosophischen Bereichen
besonders: K.-O. Apel, Die Logosauszeichnung der menschlichen Sprache. Die philosophische Tragweite
der Sprechakttheorie, Frankfurt/M. 1984.
31
PT
J. L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1998, S. 26.
TP
32
PT
Vgl. ND, S. 76.
TP
33
PT
J. L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, a.a.O., S. 35.
TP
34
PT
A.a.O., S. 29.
TP
TP
35
PT
A.a.O., S. 35.
139
wenn die Katze wirklich auf der Matte ist. Aber die Unbedingtheit der Bedeutung des
Gesagten verschwindet mit der Einsicht, daß dieser Geltungsanspruch vom explizit oder
implizit bestimmten Kontext eingeschränkt wird. Der oben eingeführte Satz enthält
implizit z. B. eine Äußerung der Art: "Hiermit bestätige ich, daß […]", die weder wahr
noch falsch ist, sondern durch die der Sprecher eine Handlung vollzieht, in diesem
Beispiel die Bestätigung eines Sachverhaltes. Dieser Teil der Rede setzt einen Hörer
voraus, der die soziale oder performative Bedeutung des 'Bestätigens' versteht. "Die
Katze ist auf der Matte" kann daher in diesem Fall als eine verkürzte Version von:
"Hiermit bestätige ich, daß die Katze auf der Matte ist" verstanden werden.
Die performative Einstellung, die man in einer konkreten Situation einnimmt, enthält
also die folgenden Voraussetzungen: 1) der Sprecher kommuniziert über etwas in der
Welt mit einer zweiten Person, 2) der potentielle Hörer, der sich als zweite Person
verhält, nimmt nicht eine Beobachterperspektive ein, von der aus er die Wahrheit oder
die Falschheit der Aussage beurteilen kann, sondern eine Teilnehmerperspektive, von
der aus er durch den Meinungsaustausch seine Position ändern kann, 3) Sprecher und
Hörer sehen sich als Mitglieder der historisch-kulturellen Welt einer konkreten
Sprachgemeinschaft an. Die performative Aussage setzt also voraus, daß der Sprecher
aus der Perspektive seines Partners sich selbst besser verstehen lernen kann, genauso
wie der Hörer umgekehrt sich die Perspektive des Sprechers aneignen kann, um von
ihm zu lernen.
Dabei stellt sich nun die Frage, unter welcher Bedingung eine Sprechhandlung
erfolgreich ausgeübt wird. Austin geht davon aus, daß, um zu wissen, ob z. B. ein
'Versprechen' tatsächlich erfüllt wurde, man nicht (nur) berücksichtigen muß, was die
Aussage des (Ver-)Sprechers ist, sondern auch, in welchen Umständen diese
Sprechhandlung getätigt wird. Er versucht die allgemeinen Eigenschaften des
Versprechens an Fällen zu verdeutlichen, in denen die Äußerung entsprechender Sätze
tatsächlich als ein Versprechen fungiert. Austin nennt folgende Bedingungen für den
Erfolg einer performativen Äußerung:
"(A.1) Es muß ein übliches konventionales Verfahren mit einem bestimmten
konventionalen Ereignis geben; zu dem Verfahren gehört, daß bestimmte
Personen unter bestimmten Umständen bestimmte Wörter äußern.
(A.2) Die betroffenen Personen und Umstände müssen im gegebenen Fall
für die Berufung auf das besondere Verfahren passen, auf welches man sich
140
beruft. (B.1) Alle Beteiligten müssen das Verfahren korrekt (B.2) und
vollständig durchführen." 36
TPF
FPT
Hierbei ist auffällig, daß er die 'Konvention' als einen wichtigen Maßstab für den Erfolg
einer Sprechhandlung ansieht. Dies bedeutet vor allem, daß die Bedeutung einer
Sprechhandlung einerseits nicht bloß auf einen psychischen oder geistigen Zustand des
Subjekts reduziert werden darf und daß andererseits jede Sprechhandlung "mindestens
zu einem gewissen Grade ein Mißerfolg" 37 sein kann. Mit anderen Worten, "die
TPF
FPT
Möglichkeit des Mißerfolgs", wie Culler sagt, ist "der performativen Äußerung inhärent
und Ausgangspunkt der Untersuchung." 38 Der (Miß-)Erfolg oder die Bedeutung einer
TPF
FPT
Sprechhandlung steht daher schon im engen Zusammenhang mit der Situation, in der
diese Sprechhandlung erfolgreich ist. Die Gültigkeit z. B. eines Versprechens hängt
vollständig von der Situation ab, die dem Hörer die Aussage des Sprechers als
Versprechen verständlich macht. Gerade in diesem Punkt ist jede Sprechhandlung
gleichzeitig gewissermaßen ein Mißerfolg, weil die Situation, in der man beurteilen
kann, ob eine Sprechhandlung erfolgreich ist, keine unveränderliche Konstante ist. Es
ist ein wichtiger Bestandteil der Sprechakttheorie, die wechselseitige Beziehung
zwischen der performativen Sprechhandlung und der Situation, in der diese
Sprechhandlung eine wahre Aussage ist, zu untersuchen. 39
TPF
FPT
Im Rahmen der Sprechakttheorie hat die Sprache, besser gesagt, die Sprechhandlung
drei Funktionen: die Darstellung der Sachverhalte, die Herstellung der Beziehungen zu
dem Adressaten und den Ausdruck der Intention eines Sprechers. Die Bedeutung eines
sprachlichen Ausdrucks muß also nicht nur im Zusammenhang mit dem darin Gesagten,
auf dessen Analyse sich die herkömmlichen Sprachtheorien konzentrieren, sondern auch
in Zusammenhang mit der Art seiner Verwendung im Sprechakt sowie mit dem mit ihm
Gemeinten analysiert werden.
In Hinblick auf die drei Funktionen einer Sprechhandlung unterscheidet Austin
zwischen dem lokutionären, dem illokutionären sowie dem perlokutionären Akt. Wie
gesagt, ist sein Ausgangspunkt, daß eine Äußerung zugleich eine Handlung ist. Er nennt
36
PT
A.a.O., S. 37 und 47.
TP
37
PT
A.a.O., S. 36.
TP
38
PT
J. Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Hamburg 1999, S.
TP
128.
TP
39
PT
Habermas erweitert diese Beziehung zwischen Sprechhandlung und Situation zu der Relation zwischen
dem Handeln des sprech-handelnden Subjekts und der Lebenswelt.
141
dabei die gesamte Handlung, etwas zu sagen, d. h. das Ganze des wirklich Gesagten den
lokutionären Akt. 40 Dieser Akt findet sich besonders im propositionalen Gebrauch der
TPF
FPT
Sprache, wie z. B. in der objektiven Darstellung des Sachverhaltes, in Berichten und in
Vorhersagen etc., die entweder wahr oder falsch sein können. Die lokutionäre
Äußerung hat also etwas mit dem zu tun, worüber man spricht. Die illokutionäre
Äußerung bezieht sich aber auf das, in welcher Form man etwas über einen Sachverhalt
sagt. Während die erste der Akt ist, daß man etwas sagt, ist die zweite der Akt, den man
vollzieht, indem man etwas sagt. 41 Dieser Akt findet sich besonders z. B. im
TPF
FPT
Versprechen und Befehlen etc., die eine Form der sozialen Beziehung zwischen den
Beteiligten etablieren. Bemerkenswerterweise geht Austin davon aus, daß der
illokutionäre Akt den performativen Sinn der Sprache am besten zum Ausdruck bringt.
Er sagt in diesem Zusammenhang: "Einen lokutionären Akt vollziehen heißt im
allgemeinen auch und eo ipso einen illokutionären […] Akt vollziehen." 42 Übrigens
TPF
FPT
spricht Austin ferner von einem dritten Sprachakt, der weder lokutionär noch
illokutionär ist und als Resultat der Rede gewisse Wirkungen auf die Gefühle,
Gedanken oder Handlungen der Adressaten intendiert oder hat. Er nennt diese
Handlung den perlokutionären Akt, der sich besonders z. B. in der Überredung, der
Überzeugung und der Besänftigung etc. findet. Während die lokutionäre die
Objektivität der Tatsache berichtet und die illokutionäre die intersubjektive oder soziale
Beziehung voraussetzt, drückt die perlokutionäre Äußerung die subjektiven Wirkungen
der Sprechhandlung aus.
Aus dieser Sicht gehören z. B. "Er hat gesagt, daß […]", in dessen Form der Sprecher
die Tatsache objektiv berichten will, zur Äußerung des lokutionären Aktes, "Er hat die
Meinung vertreten, daß […]", in dessen Form der Sprecher seine von seinem
Sprechpartner unterschiedene Position äußern will, zum illokutionären Akt, und "Er hat
mich überzeugt, daß […]", in dessen Form der Sprecher seine Position dem Adressaten
nahe bringen will, zum perlokutionären Akt. 43 Austin zeigt auch an einem anderen
TPF
FPT
Beispiel den Unterscheid dieser drei Sprechakte. Im perlokutionären Akt (C) kommen
der lokutionäre und illokutionäre Akt nur indirekt (C.a) oder überhaupt nicht (C.b) vor:
40
PT
J. L. Austin. Zur Theorie der Sprechakte, a.a.O., S. 112.
TP
41
PT
A.a.O., S. 117.
TP
42
PT
A.a.O., S. 116.
TP
TP
43
PT
A.a.O., S. 119.
142
"Akt (A), Lokution
Er hat zu mir gesagt: 'Das kannst du nicht tun!'
Akt (B), Illokution
Er hat dagegen protestiert, daß ich das täte.
Akt (C), Perlokution
(C.a) Er hat mir Einhalt geboten.
(C.b) Er hat mich davon abgehalten, mich zur Besinnung gebracht,
mich gestört." 44
TPF
FPT
Diese Einteilung der Sprechakte zeigt, daß ein Sprechakt nicht nur die objektive
Darstellungsfunktion der Sachverhalte, sondern auch die soziale, intersubjektive
Konvention sowie die subjektive Intention des Sprechers in sich enthält. Dies bedeutet
vor allem, daß nicht nur die Objektivität der Darstellung der Sachverhalte oder die
Wahrheit, sondern die soziale, normative Richtigkeit sowie die subjektive Authentizität
oder die Wahrhaftigkeit als Kriterien für die Geltungen eines Sprechakts fungieren.
Diese Einsicht unterscheidet sich daher besonders von der Wahrheitssemantik, die das
Wesen der Sprache nur in der Darstellungsfunktion der Sachverhalte, also in der
Wahrheitsproblematik sieht. Habermas sieht daher in dieser Sprechakttheorie eine
Möglichkeit, sich der Instrumentalisierung der Vernunft in der modernen Zeit entziehen
zu können, die in der Distanzierung des erkennenden Subjekts vom erkannten Objekt
besteht.
2.2. Die sprachpragmatische Deutung des Handelns
Um einen Ausweg "zwischen der Scylla des Absolutismus und der Charybdis des
Relativismus" 45 zu finden, untersucht Habermas die Sprachwissenschaft und u.a. die
TPF
FPT
Sprechakttheorie. Die Gründe dafür, daß Habermas diese Theorie analysiert, lassen sich
in drei Punkten zusammenfassen: 1) die sprachwissenschaftliche Voraussetzung, daß
jeden Sprechakt die Geltungsdimension begleitet, bedeutet, daß in jedem konkreten
Sprechakt Empirisches und Transzendentales sowie Konkretheit und Idealität
miteinander verbunden sind. Hierin sieht Habermas eine Möglichkeit, sowohl den
44
PT
A.a.O., S. 119.
TP
TP
45
PT
PDM, S. 351.
143
Relativismus des Empirismus als auch den Dogmatismus des Purismus der
transzendentalen Vernunft zu vermeiden. 2) Der Ausgangspunkt der Sprechakttheorie
ist die These, daß eine Äußerung zugleich eine Handlung ist. Hierin sieht Habermas
eine Möglichkeit des Übergangs von der Sprachtheorie zur Handlungstheorie. 3) Die
Einteilung der Sprache in drei Funktionen, die nicht auf eine Funktion reduziert werden
können, ist ein zentrales Ergebnis der Sprechakttheorie. Hierin sieht Habermas eine
Möglichkeit, den modernen 'Polytheismus der Werte' rational zu deuten.
Habermas wendet die wissenschaftlichen Ergebnisse der Sprechakttheorie auf die
Handlungstheorie an und entwickelt eine Theorie des kommunikativen Handelns. Nach
dieser Theorie ist selbst das nicht sprachliche Handeln eine sprachlich vermittelte
Handlung. Diese Handlung, die das kommunikative Handeln genannt wird, wird also als
Einheit von dem nicht-sprachlichen einfachen Handeln und dem Sprechakt angesehen.
Habermas unterscheidet diese Form der Handlung vor allem von dem Begriff der
Handlung der sogenannten Handlungstheorie, die nur zweckrationale Handlungen
analysiert.
Um die Charakteristik des kommunikativen Handelns deutlich zu machen, vergleicht
Habermas die sprachliche Äußerung mit dem nicht-sprachlichen, einfachen Handeln.
Dieses Handeln, wie es sich z. B. in der Arbeit und im Laufen etc. zeigt, ist darauf
gerichtet, "durch die Wahl und den Einsatz geeigneter Mittel gesetzte Ziele zu
realisieren." 46 Weil bei diesem Handeln die Zweck-Mittel-Beziehung ausschlaggebend
TPF
FPT
ist, wird es die Zwecktätigkeit oder das instrumentale Handeln genannt. Aus diesem
Grund wird das zweckrationale Handeln als handlungstheoretische Version der
Subjektphilosophie verstanden, die die erkenntnistheoretische Trennung von Subjekt
und Objekt voraussetzt und deren Handlungsmodell nichts anderes als ein
monologisches, instrumentales Handeln ist. Hierbei erscheinen das Subjekt als
Beobachter und das Objekt als beobachtet.
Dahingegen werden sprachliche Äußerungen, wie z. B. Befehle oder Geständnisse, die
nicht einen bestimmten Sachverhalt darstellen, als Akte verstanden, "mit denen sich ein
Sprecher mit einem anderen über etwas in der Welt verständigen möchte." 47 Sie
TPF
FPT
bestehen darin, daß der Sprecher nicht als Beobachter oder als eine dritte Person
fungiert, die den Gegenstand beobachtet, darstellt oder bearbeitet, sondern als ein
46
PT
ND, S. 63.
TP
TP
47
PT
Ebd.
144
Beteiligter, der nach der Intention einer Handlung des Gesprächpartners fragt und deren
Sinn versteht.
Habermas verdeutlicht den Unterschied zwischen beiden Handlungen mithilfe der
Sprachanalyse: 48 Er unterscheidet den Satz: "Er eilt über die Straße" von dem Satz:
TPF
FPT
"Lasse die Waffe fallen!" Sie sind ganz andere Typen der Äußerungen. Jener Satz ist
eine Darstellung meiner Beobachtung, daß ein Freund im Laufschritt die Straße
überquert. In dieser Darstellung zeigt sich, daß der Freund darauf abzielt, die andere
Straßenseite schnell zu erreichen. Aber warum er diese Tätigkeit ausführt, bleibt noch
interpretationsbedürftig. D. h. ob er z. B. seinen Zug nicht verpassen oder nicht zu spät
zur Vorlesung kommen möchte, ist in der Aussage nicht angegeben, und eine Deutung
seiner Motive hängt daher von der hypothetischen Interpretation des Beobachters ab.
Der Beobachter bleibt hier nur eine dritte Person, die den Handelnden beobachtet und
dessen Handlung objektiv darstellt. Diese Beobachterperspektive ist allerdings nichts
anderes
als
eine
Version
des
erkenntnistheoretischen
S-O-Schemas
der
Subjektphilosophie.
Der zweite Satz ist eine Befehlsaussage, die mir ein Freund macht. Wenn ich diese
Äußerung verstehe, dann weiß ich ziemlich genau, welche Handlung ich ausführen soll.
Diese Sprechhandlung bleibt nicht in demselben Sinne interpretationsbedürftig wie der
Laufschritt des vorbeieilenden Freundes, weil der illokutionäre Bestandteil dieses
Sprechaktes in der konkreten Kommunikation den Verwendungssinn des Gesagten
festlegt. In dem Punkt, daß die Sprechakte eine sich selbst interpretierende
selbstbezügliche Struktur, d. h. die Reflexivität der impliziten Selbstkommentierung
haben, unterscheiden sie sich von den nichtsprachlichen Handlungen. 49 Während das
TPF
FPT
Ziel der nichtsprachlichen Handlung, unabhängig von den Mitteln, als ein in der
objektiven Welt kausal zu bewirkender Zustand bestimmt wird, 50 richten sich die
TPF
FPT
Sprechakte auf illokutionäre Ziele, die nicht den Status eines innerweltlich zu
realisierenden Zwecks einnehmen und die ohne die ungezwungene Kooperation und
Zustimmung eines Adressaten nicht verwirklicht und nur mit Rekurs auf das Konzept
der Verständigung erklärt werden können, das dem sprachlichen Medium selbst
innewohnet. 51
TPF
48
PT
Siehe ND, S. 64.
TP
49
PT
A.a.O., S. 65.
TP
50
PT
A.a.O., S. 66.
TP
51
TP
FPT
PT
A.a.O., S. 67.
145
Dieses Beispiel zeigt, daß die Zwecktätigkeit bzw. das teleologische Handeln und die
Interaktion voneinander unterschieden werden müssen und nicht aufeinander reduziert
werden dürfen. Habermas versucht aber diese unterschiedlichen Handlungstypen unter
dem Begriff des 'kommunikativen Handelns' zu vereinigen, der als sprachlich
vermittelte Interaktion definiert wird. Diese Definition unterscheidet sich sowohl vom
'Objektivismus', der von der vorsprachlichen Realität oder von nicht sprachlichen
Handlungen ausgeht, als auch vom Strukturalismus, der davon spricht, daß nichts außer
der Welt der Sprache vorhanden ist.
Die Sozialwissenschaft hat im Grunde die Interaktion zwischen den Subjekten als ihren
Gegenstand. In diesem Punkt ist das Schema der Trennung von S-O ungeeignet für die
Erklärung
der
gesellschaftlichen
Erscheinungen.
Aber
die
traditionelle
Sozialwissenschaft hängt trotzdem vom Subjekt-Objekt-Schema ab, weil ihr
Handlungsbegriff
teleologischen
nach
Handelns
Habermas
ist,
nur
das
eine
eine
soziologische
Erweiterung
handlungstheoretische
Variation
des
des
erkenntnistheoretischen S-O-Schemas ist: das instrumental-strategische Handeln.
Dieses richtet sich vor allem auf die Realisierung eines Plans, der sich auf die
Situationsdeutung des Aktors stützt. 52 Bei diesem erfolgsorientierten Handeln geht es
TPF
FPT
um das Paradigma von Zweck und Mittel, so daß sich das Verhalten der
Interaktionsteilnehmer bei dem Ausführen ihrer Handlungspläne an der Maximierung
des Nutzens orientiert und daher egozentrisch ist. Die Orientierung an diesem
Handlungstyp findet besonders im Utilitarismus seinen Ausdruck.
Der Begriff des 'kommunikativen Handelns' trägt dazu bei, die Einseitigkeit der
Konzeption des instrumental-strategischen Handelns zu entlarven. Kommunikatives
Handeln zielt darauf ab, durch interpretierende Rollenübernahme oder durch
kooperative Deutungsprozesse "ein rational motiviertes Einverständnis" zwischen den
Akteuren herzustellen. 53 Dieses Handeln geht daher von der reziproken Beeinflussung
TPF
FPT
der Interaktionsteilnehmer aus. Die sprachlich vermittelte Interaktion setzt also die
Handlungskoordinierung zwischen Ego und Alter voraus, durch die die Akteure ihre
Handlungen auf eine bestimmte Weise aneinander anschließen und somit die Wahl
möglicher Handlungen eingeschränkt wird. Insofern ist kommunikatives Handeln in der
Tat eine auf der Intersubjektivität basierende Form des Handelns.
52
PT
Siehe J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns (=VE),
TP
Frankfurt/M. 1995, S. 575.
TP
53
PT
Ebd.
146
Im Übrigen nimmt aber dieses Handeln auch die weiteren performativen Ebenen der
Sprache
auf,
anders
als
die
bloße
Tatsachenbehauptung,
die
nur
auf
erkenntnistheoretische Wahrheit oder Falschheit abzielt. Denn wer etwas verspricht, der
versteht nicht nur seine Aussage, sondern fühlt auch in einer bestimmten Situation, daß
sein Versprechen erfüllt werden soll. Kommunikatives Handeln ist also ein Oberbegriff,
der auch alle Ziele und Folgen einer Handlung impliziert, die über das bloß sprachliche
Verständnis der Aussagewahrheit hinausgehen.
Die Problematik der Handlungskoordinierung ist bei der Interaktion besonders
deswegen unvermeidbar, weil die Verwirklichung von Plänen und Handlungszielen
eines Aktors in der Regel nur mit Hilfe der Handlungen anderer Aktoren durchgeführt
werden kann. Je nachdem, wie die Pläne und Handlungen des Alter an die Handlungen
des Ego angeschlossen werden, ergeben sich verschiedene Typen sprachlich
vermittelter Interaktion. Bei der Einteilung der Handlungstypen beruft sich Habermas
wieder auf die Theorie der Sprechakte. Ein Sprechakt hat, wie erwähnt, drei
Bestandteile: den lokutionären Akt, in dem die Sachverhalte objektiv dargestellt werden,
den illokutionären Akt, der die Art der intersubjektiven Beziehung zwischen Sprecher
und Hörer zum Ausdruck bringt, und den perlokutionären Akt, in dem sich die
Intention des Sprechers zeigt. Er wendet diese drei Bestandteile des Sprechaktes auf das
menschliche Handeln an und teilt es in teleologisches, normatives und dramaturgisches
Handeln ein. 54
TPF
FPT
1) Teleologisches (zielgerichtetes) Handeln zielt darauf ab, einen Zweck durch die
Wahl der in der gegebenen Situation erfolgversprechenden Mittel und deren
Anwendung zu realisieren, im Bereich der Interaktion nimmt es daher die Form des
strategischen
Handelns
an.
Bei
diesem
Handlungstyp
geht
es
daher
um
Nutzenmaximierung. Aus der Perspektive dieses Handlungsmodells erscheinen die
Akteure als erfolgsorientiert handelnde Subjekte, weil jeder von ihnen seinen
Interaktionspartner als Mittel für den jeweils eigenen Zweck betrachtet. Sie sind also als
einsame Subjekte aufeinander bezogen. Für diesen Standpunkt ist die Gesellschaft
nichts
anderes
als
eine
instrumentelle
Ordnung,
die
die
Handlungen
der
zweckrationalen Subjekte verbindet. Für diese strategischen Handlungen sind daher die
normativen Begriffe, wie z. B. Gerechtigkeit und Legitimation, "Fremdkörper". 55 Das
TPF
FPT
Problem ist aber, daß die soziale Ordnung auf Dauer nicht allein durch
54
PT
Siehe dazu TkH 1, S. 126ff. und VE, S. 575ff.
TP
TP
55
PT
VE, S. 577.
147
ineinandergreifende Interessen gewährleistet werden kann, wenn die Normativität bei
dieser Ordnung fehlt. Nach Habermas ist der Begriff der Normativität selbst bei einer
radikal strategischen Handlung unvermeidbar. Er geht also von der Notwendigkeit der
Normen für die soziale Ordnung aus. Daß P. Blau seine Theorie des Tauschhandelns
durch den Begriff der Gerechtigkeit und R. Darendorf seine Konflikttheorie durch den
Begriff der Legitimation ergänzen mußten, sieht er als eine Bestätigung seiner Theorie
an, daß eine gesellschaftliche Ordnung ohne normative Begriffe keinen Bestand haben
kann. Das Modell der strategischen Handlung spielt nach Habermas bei den
entscheidungs- und spieltheoretischen Ansätzen in Ökonomie, Soziologie und
Sozialpsychologie eine entscheidende Rolle.
2) Normatives Handeln bezieht sich nicht auf einen einsamen Aktor, der erst
nachträglich in eine Verbindung mit anderen Aktoren tritt, sondern auf Gruppen, die ihr
Handeln an gemeinsamen Werten orientieren. Die Befolgung der Normen wird von
allen Mitgliedern erwartet. Bei diesem Modell wird die soziale Ordnung als ein System
anerkannter Normen begriffen. Das Problem ist hierbei, daß die Individualität des
Einzelnen vollständig hinter der Erklärung der gesellschaftlichen Erwartungen
verschwindet. Jeder Aktor ist dem Großsubjekt der Gesellschaft untergeordnet und
daher gibt es keinen Raum für die Freiheit des einzelnen Aktors. 56 Nach Habermas liegt
TPF
FPT
dieses Modell besonders der Rollentheorie (Durkheim und Parsons) zugrunde.
3) Dramaturgisches Handeln bezieht sich nicht auf einen einsamen Aktor oder auf
Gruppen, sondern auf die expressive Selbstrepräsentation vor einem Publikum (z. B. bei
Goffman). Die Beteiligten können den öffentlichen Zugang zur jeweils eigenen
Subjektivität kontrollieren. Die Selbstrepresentation bedeutet deshalb "nicht ein
spontanes Ausdrucksverhalten, sondern die zuschauerbezogene Stilisierung des
Ausdrucks eigener Erlebnisse." 57 Das Problem besteht aber bei dieser Handlung darin,
TPF
FPT
daß bei der Theorie der dramaturgischen Handlungen gesellschaftliche Institutionen und
Normen keine Rolle spielen. Ist beim normativen Handeln der Aktor gleichsam
'übersozialisiert', da sein Handeln vollständig den gesellschaftlichen Erwartungen
entspricht, so ist im Gegensatz dazu bei der Theorie des dramaturgischen Handelns der
Aktor 'untersozialisiert', da er keine Normen befolgt und den anderen Aktoren stets
etwas vormacht. Dieses dramaturgische Handlungsmodell findet nach Habermas bei
einigen phänomenologisch geprägten Interaktionsbeschreibungen Verwendung.
56
PT
A.a.O., S. 581.
TP
TP
57
PT
Ebd.
148
Bei dieser Einteilung der Handlungen ist auffällig, daß Habermas nicht nur normatives
und dramaturgisches, sondern auch teleologisches (bzw. instrumentales oder
strategisches) dem kommunikativen Handeln zuordnet. Ebenso wie der Kern seiner
Kritik an der modernen Philosophie in der Erhebung der instrumentellen Vernunft zur
Vernunft überhaupt liegt, fokussiert sich gleichfalls seine Kritik an der modernen
Handlungstheorie besonders auf die Erhebung des instrumentalen bzw. strategischen
Handeln zum Handeln überhaupt. Diese Erhebung ist nach ihm nur eine
Verallgemeinerung eines Besonderen. Aus der Perspektive der Theorie des
kommunikativen Handelns haben die drei oben erwähnten Handlungstypen jedoch
allein innerhalb des Begriffs des kommunikativen Handelns ihre Gültigkeit. Also
müssen diese drei Handlungstypen nur als Grenzfälle des kommunikativen Handelns
verstanden werden, weil sie alle die interagierenden, sprachfähigen Subjekte
voraussetzen. In jenen drei Grenzfällen kommt jeweils nur eine der vielfältigen
Funktionen der Sprache zum Zuge: bei der teleologischen bzw. strategischen Handlung
funktioniert die Sprache nur als Instrument für eine Verständigung der Aktoren, die
jeweils ihre eigenen Zwecke im Auge haben. Hier verliert die Sprache ihre
Bindungskraft zwischen den Beteiligten im hohen Maß und funktioniert nur als
Informationsmedium, weil die assertorischen Sprechakte bei diesem Handlungstyp
überwiegen, die im Modus der Wahrheit bzw. der Nützlichkeit operieren; bei dem
normativen Handlungstyp funktioniert die Sprache als bloßes Aussprechen eines schon
vorhandenen normativen Einverständnisses, das sich besonders in dem sittlichen und
praktischen Wissen einer Gesellschaft ausdrückt. Bei einer Bewertung dieser
Handlungen geht es um die soziale Angemessenheit bzw. um die normative Richtigkeit
der Handlung; bei dem dramaturgischen Handlungstyp dient die Sprache nur der
Selbstdarstellung der Subjekte, und eine Bewertung dieser Handlungen bezieht sich
daher auf die vorhandene oder fehlende Wahrhaftigkeit der Selbstdarstellung.
Wenn diese drei Handlungstypen als Grenzenfälle des kommunikativen Handelns
verstanden werden, müssen die Geltungsansprüche der drei Handlungen, d. h. die
Wahrheit bzw. die Nützlichkeit, die soziale bzw. normative Richtigkeit und die
Wahrhaftigkeit im Rahmen der Kategorie der Verständigung interpretiert werden. Die
Kommunikationsbeteiligten "nehmen nicht mehr gerade hin auf etwas in der objektiven,
149
sozialen oder subjektiven Welt Bezug, sondern relativieren ihre Äußerungen an der
Möglichkeit, daß deren Geltung von anderen Aktoren bestritten wird." 58
TPF
FPT
Beim Begriff des kommunikativen Handelns gibt es drei aufeinander nicht reduzierbare
Handlungstypen, und jeder von ihnen hat seinen eigenen Geltungsanspruch. Es handelt
sich daher bei der menschlichen Gesellschaft nicht nur um eine Welt der Objekte, die
uns in der Einstellung eines Beobachters begegnet, sondern auch um eine Welt der
Normen, die wir in der Einstellung eines Beteiligten befolgen oder verletzen können.
Wenn normatives und expressives Handeln nicht auf strategisches Handeln reduzierbar
sind und wenn man annimmt, daß die normative Richtigkeit und die subjektive
Wahrhaftigkeit
wahrheitsanaloge
Geltung
haben,
wird
deutlich,
daß
die
bewußtseinsphilosophische Wahrheitsauffassung zu eng bzw. stark verkürzt ist, für die
sich die Wahrheit über die Welt in der Summe der durch wahre assertorische
Propositionen ausgedrückten Tatsachen erschöpft.
Die Theorie des kommunikativen Handelns ist also ein Resultat der Auseinandersetzung
mit der Einseitigkeit des Begriffs des instrumentalen Handelns, der als Gegenstand der
Handlungstheorie der modernen Sozialwissenschaft als praktisch-philosophischer
Ausdruck des subjektphilosophischen S-O-Paradigma verstanden wird. Natürlich spielt
das instrumentale Handeln auch für Habermas in der Gesellschaftstheorie eine wichtige
Rolle; aber er ergänzt das kommunikative Handeln, das zuvor vernachlässigt wurde.
Daher unterscheidet er zwischen dem System (der sozialen Funktion des instrumentalen
Handelns) und der Lebenswelt (des Bereichs des rein kommunikativen Handelns). Um
zu beurteilen, ob seine Theorie überzeugend ist, ist es daher wichtig zu analysieren, wie
Habermas genau die Beziehungen zwischen beiden Handlungstypen bestimmt. Das
Verhältnis zwischen Handlungsart, Geltungsanspruch und Weltzusammenhang läßt sich
wie folgt darstellen:
Handlungsart
TP
58
PT
Geltungsanspruch
Weltzusammenhang
TkH 1, S. 148. Ich gehe davon aus, daß Habermas trotz vieler widersprüchlicher Aussagen das
kommunikative Handeln nicht als vierten Handlungstyp, sondern als eine jene drei Handlungen
umfassende Handlung betrachtet. Zwar erwähnt er beim Sprechakt vier Geltungsansprüche, d. h.
Verständlichkeit, Wahrheit, normative Richtigkeit und Wahrhaftigkeit, aber er spricht sonst von "genau
drei Geltungsansprüchen" (z. B. in VE, S. 588). Die Verständlichkeit muß daher als Voraussetzung jener
drei Geltungsansprüche gedeutet werden.
150
Teleologisches Handeln
Wahrheit
Objektive Welt
Normatives Handeln
Richtigkeit
Soziale Welt
Dramaturgisches Handeln
Wahrhaftigkeit
Subjektive Welt
Kommunikatives Handeln
Verständigung
Reflexiver Bezug auf alle drei 'Welten'
2.3. Die sprachpragmatische Deutung der Lebenswelt
Besonders auffällig ist in der Theorie des kommunikativen Handelns der Begriff der
sprachphilosophisch
neu
interpretierten
Lebenswelt,
den
Habermas
als
'komplementären' Begriff zu dem kommunikativen Handeln entwirft. 59 Für Habermas
TPF
FPT
ist die Dimension der Lebenswelt eine wichtige, ja sogar eine notwendige Bedingung
möglicher Kommunikation. Er versteht unter der Lebenswelt den Bereich der
'Ressourcen' des kommunikativen Handelns, "aus dessen Beiträgen sie wiederum
reproduziert wird." 60
TPF
FPT
Husserl erhebt den Begriff der Lebenswelt zu einem Gegenstand der Philosophie. 61 Der
TPF
FPT
Ausgangspunkt seines Buchs Die Krisis der europäischen Wissenschaften ist, daß die
moderne Wissenschaft die alltägliche 'triviale' Wahrheit der Lebenswelt, die von ihm als
"vergessenes Sinnesfundament der Naturwissenschaft" 62 verstanden wird, gar nicht
TPF
FPT
berücksichtigt und dadurch die europäische Menschheit in eine 'radikale Lebenskrisis'
gestürzt hat. Husserl nennt diese Verdrängung der Lebenswelt den wissenschaftlichen
oder physikalischen Objektivismus. Indem die moderne naturwissenschaftliche
Methode alle Erfahrungen der Subjekte durch ihre formalisierte Sprache objektiviert,
59
TkH 1, S. 376 und 452.
TP
PT
60
PDM, S. 396. K.-O. Apel und Habermas, die beide als Vertreter der Konsenstheorie angesehen werden,
TP
PT
unterscheiden sich in diesem Punkt voneinander: während jener in dem performativen Widerspruch des
Irrationalismus die Letztbegründung des den Rationalismus sieht, findet dieser die Grundlage des
rationalen Diskurses gerade in der Lebenswelt, die als ein vorrationaler Bereich angesehen werden kann.
Vgl. Wiljo Doeleman, Philosophische Methodik: Apel vs. Habermas, in: W. van Reijen / K.-O. Apel
(Hg.), Rationales Handeln und Gesellschaftstheorie, Bochum 1984, S. 115-130, bes. S. 122.
TP
61
Bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts forderten R. Avenarius und E. Mach einen Rückgang auf
PT
die vorwissenschaftliche, unmittelbare und reine Erfahrung, die allen Wissenschaften zugrunde liegt.
Husserl nimmt ihren wesentlichen Gedanken zu seinem Begriff der Lebenswelt auf. Siehe P. Janssen,
Lebenswelt, in: HWPh, Bd. 5, Sp. 151ff.
62
TP
PT
E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und transzendentale Phänomenologie,
Hamburg 1977, S. 52.
151
rechtfertigt sie die Abwertung der alltäglichen Wahrheiten der Lebenswelt, obwohl
diese der Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Arbeit sind. Die moderne
Naturwissenschaft hilft zwar den Menschen, die Natur besser zu verstehen und effektiv
zu erobern, aber sie trägt zugleich die Gefahr in sich, uns diese Welt als unsere Welt zu
verdecken. Das ist der Grund, warum Husserl den als Stifter der modernen
Naturwissenschaft geltenden Galilei einen "zugleich entdeckenden und verdeckenden
Genius" 63 nennt. Husserl versucht mit dem Konzept der Lebenswelt die trivial
TPF
FPT
erscheinende Wahrheit über unsere Welt wieder zu entdecken. Die Lebenswelt ist nicht
starr und unwandelbar, sondern ändert sich als Horizont je nach der Situation eines
Menschen, d. h. sie vergrößert oder verkleinert sich und bildet für die beteiligten
Subjekte den unbefragten, aber stets fragwürdigen Hintergrund, vor dem jede
Untersuchung beginnt. 64
TPF
FPT
Habermas nimmt diese Bestimmung der Lebenswelt in seine Sozialphilosophie auf. Er
bezweifelt aber, daß der Begriff der Lebenswelt, so wie Husserl ihn versteht, zur
Deutung einer auf der Interaktion der Subjekte beruhenden Handlungstheorie beitragen
kann, weil dieser Begriff bei Husserl nach Habermas nur vor dem Hintergrund des
erkenntnistheoretischen S-O-Schema analysiert wird. Sein Hauptkritikpunkt an der
phänomenologischen Auffassung der Lebenswelt ist also, daß diese nichts anderes in
den Blick bekommt als notwendige subjektive Bedingungen der Erfahrung des
'egologischen Bewußtseins', d. h. des transzendentalen Ich. 65 Mit diesem Modell
TPF
FPT
können daher die auf der Intersubjektivität basierenden Momente der Handlungen sowie
die intersubjektive Dynamik der Strukturen der Lebenswelt nicht erfaßt werden.
Auch A. Schütz und Th. Luckmann, die das erkenntnistheoretische Modell Husserls
handlungstheoretisch zu deuten versuchten, lösen dieses Problem nicht. 66 Ihre
TPF
FPT
Handlungstheorie überträgt das in Psychologie und Soziologie verwendete Modell des
einsamen, in einer Situation durch Reize stimulierten oder planmäßig handelnden
Aktors auf die phänomenologische Analyse der Lebenswelt und der Handlungssituation.
Sie interpretieren die Situation des handelnden Subjekts als Umwelt für das
Persönlichkeitssystem. Das Schema von Subjekt und Lebenswelt als Umwelt, das an
63
PT
A.a.O., S. 56.
TP
64
PT
Siehe W. E. Mühlmann, Lebenswelt, in: HWPh, Bd. 5, Sp. 156.
TP
65
PT
TkH 2, S. 196.
TP
TP
66
PT
A.a.O., S. 196ff.
152
das systemtheoretische Paradigma von System und Umwelt erinnert,67 ist nur eine
TPF
FPT
phänomenologisch-soziologische Version des subjektphilosophischen Paradigmas von
Subjekt und Objekt. Schütz und Luckmann fassen daher das 'erlebende Subjekt' als
letzten
Bezugspunkt
der
Analyse
auf.
Insofern
entwickeln
sie
ihre
Gesellschaftsphilosophie innerhalb des Systems der transzendentalen Phänomenologie.
Von daher werden alle Veränderungen der Lebenswelt bei der phänomenologischen
Soziologie nach Habermas nur als Resultat der Selbsttätigkeit des transzendentalen
Subjekts begriffen. 68
TPF
FPT
Die Habermassche Kritik an der phänomenologischen Auffassung der Lebenswelt
besteht also darin, daß der Begriff der Lebenswelt, der eigentlich zum Zweck der
Überwindung der monologischen Subjektphilosophie eingeführt worden ist, die die
Moderne in eine 'radikale Lebenskrisis' geführt hat, schließlich lediglich dazu beiträgt,
das subjektphilosophische Paradigma zu verlängern. Habermas ist dagegen der Ansicht,
daß nur unter dem kommunikationstheoretischen Standpunkt der eigentliche Sinn der
Lebenswelt, nämlich der Paradigmenwechsel von der monologischen Subjektivität zur
dialogischen Intersubjektivität, ans Licht gebracht werden kann. Er reformuliert das
Konzept der Lebenswelt kommunikationstheoretisch wie folgt:
"Indem sich Sprecher und Hörer frontal miteinander über etwas in einer
Welt verständigen, bewegen sie sich innerhalb des Horizonts ihrer
gemeinsamen Lebenswelt; die bleibt den Beteiligten als ein intuitiv
gewußter, unproblematischer und unzerlegbarer holistischer Hintergrund im
Rücken. [...] Die Lebenswelt kann nur a tergo eingesehen werden. Aus der
frontalen Perspektive der verständigungsorientiert handelnden Subjekte
selber muß sich die immer nur mitgegebene Lebenswelt der Thematisierung
entziehen. Als Totalität, die die Identitäten und lebensgeschichtlichen
Entwürfe von Gruppen und Individuen ermöglicht, ist sie nur präreflexiv
gegenwärtig. Aus der Perspektive der Beteiligten läßt sich zwar das
praktisch
67
in
Anspruch
genommene,
in
Äußerungen
PT
Aus diesem Grund bezieht Habermas die phänomenologische Lebensweltanalyse auf das Luhmannsche
TP
systemtheoretische Schema von System und Umwelt. Siehe dazu TkH 2, S. 197.
68
TP
sedimentierte
PT
A.a.O., S. 197f.
153
Regelwissen rekonstruieren, nicht aber der zurückweichende Kontext und
die im Rücken bleibenden Ressourcen der Lebenswelt im ganzen." 69
TPF
FPT
Der Begriff der kommunikationstheoretisch umgedeuteten Lebenswelt gestattet den
Handelnden nicht mehr die Perspektive eines Beobachters, in der die Lebenswelt
objektiviert
bzw.
thematisiert
werden
kann;
sondern
sie
erschließt
eine
Teilnehmerperspektive, in der die Handelnden miteinander integriert sind. Aus der
Perspektive der Beteiligten erscheint die Lebenswelt als 'holistischer', sprachlich
organisierter Vorrat an Deutungsmustern, der die Verständigung überhaupt erst
ermöglicht, als solcher aber stets 'im Rücken' der Interaktionsteilnehmer bleibt. Das
lebensweltlich garantierte Vorverständnis fungiert für den Beteiligten als Ausdruck
einer gemeinschaftlichen, intersubjektiv geteilten Weltsicht. Die Lebenswelt zeichnet
sich also durch die Eigenschaften der 'Selbstverständlichkeit', der 'Präreflexivität' und
der 'Unhintergehbarkeit' aus.
Allerdings ist die Erscheinungsweise der Lebenswelt nach Habermas je nach konkreter
Handlungs- oder Sprechsituation verschieden. Die konkrete Handlungs- oder
Sprechsituation setzt je nach der Handlungsart einen bestimmten Kontext voraus, und
die Lebenswelt funktioniert in dem Fall als kontextbildender Horizont. Wir haben schon
gesehen,
daß
Habermas
das
kommunikative
Handeln
entsprechend
den
Sprachbestandteilen einteilt in das strategische, das normative, und das dramaturgische
Handeln. Die Lebenswelt erscheint je nach der Handlungs- oder der Sprechsituation
jeweils als Kultur, als Gesellschaft und als Persönlichkeit. 70 Diese drei Aspekte der
TPF
FPT
Lebenswelt definiert Habermas wie folgt:
"Kultur
nenne
ich
den
Wissensvorrat,
aus
dem
sich
die
Kommunikationsteilnehmer, indem sie sich über etwas in einer Welt
verständigen, mit Interpretationen versorgen. Gesellschaft nenne ich die
legitimen Ordnungen, über die die Kommunikationsteilnehmer ihre
Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen regeln und damit Solidarität sichern.
Unter Persönlichkeit verstehe ich die Kompetenzen, die ein Subjekt sprach-
69
PT
PDM, S.348f.
TP
TP
70
PT
Habermas folgt hier dem Versuch Durkheims, die modernen Differenzierungsvorgänge in der Hinsicht
des Auseinandertretens von Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit zu erklären, und rechtfertigt diese
These gleichzeitig sprachpragmatisch. Siehe dazu TkH 2, S. 203.
154
und handlungsfähig machen, also instandsetzen, an Verständigungsprozessen teilzunehmen und dabei die eigene Identität zu behaupten." 71
TPF
FPT
Habermas zielt durch diese formalpragmatische Einteilung der Lebensweltstruktur
darauf ab, daß die Lebenswelt aus mehreren nebeneinander stehenden Komponenten
besteht. Darüber hinaus unterscheidet sich Habermas durch diesen Gedanken von allen
reduktionistischen Tendenzen, die die Lebenswelt lediglich auf einen Bereich
reduzieren und diesen Bereich dann verabsolutieren. Wenn sich das Interesse an der
Lebenswelt nur auf einen ihrer Bestandteile konzentriert, entsteht nach Habermas ein
einseitiges Lebensweltkonzept. So gebe es z. B. bei Husserl eine "kulturalistisch
verkürzte", bei Durkheim eine "institutionalistisch verengte" und bei Mead
"sozialisationstheoretisch verengte" Fassung der Lebenswelt. 72
TPF
FPT
Die formalpragmatische Auffassung der Lebenswelt erhellt zwar deren formale Struktur,
aber sie erklärt die Dynamik der Lebenswelt noch nicht, weil der Aktor hier verstanden
wird nur als Produkt von kulturellen "Überlieferungen, in denen er steht, von
solidarischen Gruppen, denen er angehört, [sowie] von Sozialisation- und
Lernprozessen, denen er unterworfen ist". 73 In diesem Verständnis der Lebenswelt ist
TPF
FPT
schwer vorstellbar, welche Rolle das handelnde Subjekt bei der Veränderung der
Lebenswelt spielt. Anders gesagt, in der formalpragmatischen Auffassung ist es nicht
leicht, einen Skeptizismus bzw. Relativismus zu vermeiden, bei dem das Subjekt
einseitig von der Lebenswelt abhängig ist und diese weder begreifen noch verändern
kann. Daher soll nun untersucht werden, wie sich die Strukturen der Lebenswelt
verändern.
Die 'Reproduktion der Lebenswelt' besteht für Habermas darin, neu auftretende
Situationen an die bestehenden Weltzustände anzuschließen. 74 In der kulturellen,
TPF
FPT
semantischen Dimension werden konsensfähige Deutungsschemata ebenso beibehalten
wie in der räumlichen, sozialen Dimension legitim geordnete, interpersonelle
Beziehungen und in der zeitlichen, historischen Dimension Interaktionsfähigkeiten. Die
Reproduktion der Kultur sichert die traditionelle Kontinuität und eine Kohärenz des
71
PT
TkH 2, S. 209.
TP
72
PT
A.a.O., S. 210ff. Habermas bemängelt ferner an der Luhmannschen Systemtheorie u.a., daß sie die
TP
Lebenswelt zur 'Gesellschaft' hypostasiert und ihre anderen Bestandteile nur als ihre Umwelten ansieht.
Siehe TkH 2, S. 232.
73
PT
A.a.O., S. 204.
TP
TP
74
PT
Siehe dazu TkH 2, S. 209 und PDM, S. 398.
155
Wissens, die Reproduktion der Gesellschaft sorgt für die Koordinierung von
Handlungen und stärkt dadurch die Identität von Gruppen, und schließlich sichert die
Reproduktion der Person den Erwerb generalisierter Handlungsfähigkeiten für
nachwachsende Generationen und sorgt für die Abstimmung zwischen den
individuellen Lebensgeschichten und der kollektiven Identität.
Für das kommunikative Handeln fungiert die Lebenswelt als kontextbildender Horizont,
auf dessen Grundlage die Akteure ihre Handlungspläne mithilfe einer gemeinsamen
Situationsdefinition koordinieren. Dies bedeutet, daß die kommunikativ Handelnden
eine "Erzählerperspektive" 75 haben, durch die Inhalte der Lebenswelt rekonstruiert
TPF
FPT
werden können und die sich vorrangig von der Beobachtungsperspektive unterscheidet,
die die Welt vollständig objektiviert oder verdinglicht. Die kommunikativ Handelnden,
die sich innerhalb des Horizontes der Lebenswelt bewegen, sind daher gleichzeitig in
der Lage, eine Situation unverkürzt zu erfassen: Die Lebenswelt funktioniert für sie also
als "der transzendentale Ort, an dem sich Sprecher und Hörer begegnen; wo sie reziprok
den Anspruch erheben können, daß ihre Äußerungen mit der Welt […]
zusammenpassen; und wo sie diese Geltungsansprüche kritisieren und bestätigen, ihren
Dissens austragen und Einverständnis erzielen können." 76
TPF
FPT
Dieser Gedanke unterscheidet sich sowohl von der atomistischen Sozialphilosophie,
welche die individuellen Subjekte als einzigen entscheidenden Faktor für die
Veränderung
in
der
Gesellschaft
ansieht,
als
auch
von
der
holistischen
Sozialphilosophie, welche die Gesellschaft zu einem sich selbst bewegenden
Makrosubjekt macht. Die Reproduktion der Lebenswelt ist nach Habermas erst durch
die Mitwirkung des sprech-handelnden Subjekts einerseits und der Lebenswelt als
Horizont andererseits möglich: "Die Reproduktion der Lebenswelt speist sich aus
Beiträgen des kommunikativen Handelns, während dieses wiederum auf die Ressourcen
der Lebenswelt angewiesen ist." 77 Habermas beschreibt die Art und Weise, in der sich
TPF
FPT
die strukturellen Faktoren der Lebenswelt und das kommunikative Handeln aufeinander
beziehen, wie folgt:
"Indem sich die Interaktionsteilnehmer miteinander über ihre Situation
verständigen, stehen sie in einer kulturellen Überlieferung, die sie
75
PT
TkH 2, S. 208.
TP
76
PT
A.a.O., S. 192.
TP
TP
77
PT
PDM, S. 396.
156
gleichzeitig benützen und erneuern; indem die Interaktionsteilnehmer ihre
Handlungen
über
die
intersubjektive
Anerkennung
kritisierbarer
Geltungsansprüche koordinieren, stützen sie sich auf Zugehörigkeiten zu
sozialen Gruppen und bekräftigen gleichzeitig deren Integration; indem die
Heranwachsenden an Interaktionen mit kompetent handelnden Bezugspersonen teilnehmen, internalisieren sie die Wertorientierungen ihrer
sozialen Gruppe und erwerben generalisierte Handlungsfähigkeiten." 78
TPF
FPT
Kommunikatives Handeln dient also der Überlieferung kulturellen Wissens und dessen
Erneuerung im Bereich der Kultur, der sozialen Integration und der Herstellung von
Solidarität im Bereich der Gesellschaft und der Ausbildung von personalen Identitäten
im Bereich der Person. Also besteht die Reproduktion der Lebenswelt in einer
dialektischen Einheit von Kontinuität und Bruch, d. h. in "einer Traditionsfortsetzung
und -erneuerung, die sich zwischen den Extremen der bloßen Fortschreibung von, und
eines Bruches mit Traditionen bewegt." 79
TPF
FPT
Habermas verwendet diese theoretische Darstellung der Strukturwandlung der
Lebenswelt für die Analyse der modernen Gesellschaft: die Moderne ist im Bereich der
Lebenswelt durch eine reflexive Kultur, durch generalisierte Werte und Normen
(Gesellschaft)
und
durch
eine
starke
Betonnng
des
Individuums
(Person)
gekennzeichnet. Im Bereich des Subjekts zeichnet sich die Moderne durch ihr kritisches
Bewußtsein (Selbstbewußtsein), durch autonome Willensbildung (Selbstbestimmung)
und durch den Gedanken der Individuierung (Selbstverwirklichung) aus. Wenn man
diese Phänomene nur in Hinsicht auf die strukturelle Komponente der Lebenswelt
berücksichtigt, erscheint der Strukturwandel der Lebenswelt als "ein Zustand der
Dauerrevision verflüssigter, d. h. reflexiv gewordener Traditionen" (Kultur), als "ein
Zustand der Abhängigkeit legitimer Ordnungen von formalen, letztlich diskursiven
Verfahren der Normsetzung und Normbegründung" (Gesellschaft) und als "ein Zustand
der riskanten Selbststeuerung einer hoch abstrakten Ich-Identität" (Person). 80 Und wenn
TPF
FPT
jene Phänomene nur in der Hinsicht der handelnden Subjekte berücksichtigt werden,
reduziert sich die Strukturwandlung der Lebenswelt auf die Begriffe von
'Selbstbewußtsein',
78
und
PT
TkH 2, S. 208.
TP
79
PT
A.a.O., S. 210.
TP
80
TP
'Selbstbestimmung'
PT
PDM, S. 399f.
157
'Selbstverwirklichung',
die
als
Grundbegriffe der Subjektsphilosophie angesehen werden können.
Für eine rationale Deutung der Veränderungen der Lebenswelt müssen nach Habermas
aber sowohl der strukturelle Bereich der Lebenswelt als auch die Rolle des handelnden
Subjekts berücksichtigt werden, die sich seiner Ansicht nach nicht gegenseitig
ausschließen:
"Im semantischen [sc. kulturellen] Feld müßten die Kontinuitäten auch dann
nicht abreißen, wenn die kulturelle Reproduktion nur noch über Kritik
laufen könnte. [...]. Ebenso wenig müßte im sozialen Raum jenes aus
reziproken Anerkennungsverhältnissen geknüpfte intersubjektive Netz
reißen, wenn die soziale Integration nur noch über einen abstrakten und
zugleich individualistisch zugeschnittenen Universalismus laufen könnte.
[...]. Nicht einmal die Substanz des Allgemeinen in der historischen Folge
der
Geschlechter
müßte
sich
in
Nichts
auflösen,
wenn
Sozialisationsvorgänge nur noch über die Schwelle extremer Individuierung
laufen könnten." 81
TPF
FPT
Es handelt sich also bei der modernen Lebensweltreproduktion um die Verstärkung der
Kontinuität einer kulturellen Überlieferung durch die diskontinuierenden Mitteln der
Kritik, um die Festigung der Solidarität in Lebenszusammenhängen durch die riskanten
Mitteln des universalistischen Verfahrens diskursiver Willensbildung sowie um die
Stabilisierung eines Prozesses der Vergesellschaftung durch das Mittel der erweiterten
Spielräume für Individuierung. Nur in den Spannungsverhältnissen zwischen einander
gegenüberstehenden Faktoren entfaltet sich die Lebenswelt. Die Reproduktion der
Lebenswelt faßt Habermas tabellarisch wie folgt zusammen: 82
TPF
FPT
1) Beiträge der Reproduktionsprozesse zur Erhaltung der strukturellen Komponenten
der Lebenswelt.
-
kulturelle Reproduktion: konsensfähige Deutungsschemata (gültiges Wissen)
-
soziale Integration: legitim geordnete interpersonelle Beziehungen
-
Sozialisation: Interaktionsfähigkeit (personale Identität)
2) Krisenerscheinungen bei Reproduktionsstörungen (Pathologien)
81
PT
A.a.O., S. 401.
TP
82
TP
kulturelle Reproduktion: Sinnverlust
PT
Vgl. Fig. 21, 22 und 23 in: TkH 2, S. 214ff.
158
-
soziale Integration: Anomie
-
Sozialisation: Psychopathologien
3) Reproduktionsfunktion verständigungsorientierten Handelns
-
kulturelle Reproduktion: Überlieferung, Kritik, Erwerb von kulturellen Wissen
-
soziale Integration: Koordinierung von Handlunge über intersubjektiv
anerkannte Geltungsansprüche
-
Sozialisation: Identitätsbildung
2. 4. Das Grundproblem der Modernisierung der Gesellschaft:
die Kolonialisierung der Lebenswelt
Die Darstellung des Strukturwandels der Lebenswelt, der vor allem durch die
dialektische Beziehung zwischen dem kommunikativen Handeln und der Lebenswelt
zustande kommt, enthält die Antwort von Habermas auf die 'Paradoxie der
Rationalisierung', die darin besteht, daß die sozialpathologischen Erscheinungen durch
die Rationalisierung paradoxerweise verstärkt werden.
Habermas vertritt die These, daß erst die Auseinandersetzung des modernen Denkens
mit der mittelalterlichen Metaphysik die Ausdifferenzierung des Seins in eine objektive,
eine soziale und eine subjektive Welt möglich machte. 83 Diese Zerstörung eines
TPF
FPT
einheitsstiftenden metaphysischen Weltbildes steht als ein Resultat der sozialen
Evolution oder der gesellschaftlichen Rationalisierung in Zusammenhang mit dem
Projekt der Emanzipation. Habermas betrachtet also die Gesellschaftstheorie unter dem
Gesichtspunkt der Rationalitätstheorie. Die Theorie des kommunikativen Handelns ist
nichts anderes als eine Erweiterung der Rationalitätstheorie zu einer Handlungs- bzw.
Gesellschaftstheorie.
In der Theorie des kommunikativen Handelns verdeutlicht Habermas diesen Unterschied
zwischen dem modernen und dem metaphysischen oder mythischen Denken besonders
TP
83
PT
Habermas definiert diese Welten jeweils wie folgt: "Die objektive Welt wird gemeinsam als die
Gesamtheit der Tatsachen unterstellt, wobei Tatsache bedeutet, daß die Aussage über die Existenz eines
entsprechenden Sachverhalts >p< als wahr gelten darf. Und eine soziale Welt wird gemeinsam als die
Gesamtheit aller interpersonalen Beziehungen unterstellt, die von den Angehörigen als legitim anerkannt
werden. Demgegenüber gilt die subjektive Welt als die Gesamtheit der Erlebnisse, zu denen jeweils nur
ein Individuum einen privilegierten Zugang hat." TkH 1, S. 84.
159
anhand des jeweiligen Sprachgebrauchs. Für das mythischen Denken ist die direkte
Verbindung der Namen der Objekte mit den Objekten selbst besonders kennzeichnend,
durch die ein mythischer Schein hergestellt wird, so daß z. B. "das moralische mit dem
physischen Versagen, das Böse mit dem Schädlichen ebenso verwoben [ist] wie das
Gute mit dem Gesunden und dem Vorteilhaften." 84 Daher kann in dieser Denkform "das
TPF
FPT
sprachlich konstituierte Weltbild so weitgehend mit der Weltordnung selbst identifiziert
werden, daß es nicht als Weltdeutung […], die dem Irrtum unterliegt und der Kritik
zugänglich ist, durchschaut werden kann." 85 Habermas schreibt über den Charakter
TPF
FPT
dieser mythischen Denkform:
"Mythische Weltbilder [verhindern] eine kategoriale Entkoppelung von
Natur und Kultur, und dies nicht nur im Sinne einer konzeptuellen
Vermengung von objektiver und sozialer Welt, sondern auch im Sinne einer
Reifzierung des sprachlichen Weltbildes, was zur Folge hat, daß das
Konzept der Welt mit bestimmten, der rationalen Stellungnahme und damit
der Kritik entzogenen Inhalten dogmatisch besetzt wird." 86
TP
F
FPT
Mythische Weltbilder trennen folglich nicht zwischen Natur und Kultur. Die Natur teilt
Habermas in äußere und innere Natur ein, jene bezeichnet die objektive Welt und diese
die subjektive Welt. 87 Der Grund, daß mythische Weltbilder geschlossen sind, liegt
TPF
FPT
daher in ihrer "mangelnden Differenzierung zwischen den fundamentalen Einstellungen
zur objektiven, zur sozialen und zur subjektiven Welt" und in ihrer "fehlenden
Reflexivität des Weltbildes, das nicht als Weltbild, als kulturelle Überlieferung
identifiziert werden kann." 88 Von daher ist die Ausdifferenzierung des sprachlichen
TPF
FPT
Weltbildes der erste Schritt, eine rationale Kommunikation, d. h. das moderne Denken
zu ermöglichen. Das moderne Denken zeichnet sich also durch eine Trennung der
Aussagen über die objektive, die soziale und die subjektive Welt sowie durch die
Anerkennung der unabhängigen Werte der wahren Tatsachenaussagen (Wissenschaft),
der normativen Richtigkeit (Moral) und der subjektiven Authentizität (Kunst) aus:
"Aktoren, die Geltungsansprüche erheben, müssen darauf verzichten, das Verhältnis
84
PT
A.a.O., S. 80.
TP
85
PT
A.a.O., S. 81f.
TP
86
PT
A.a.O., S. 83.
TP
87
PT
Ebd.
TP
TP
88
PT
A.a.O., S. 85.
160
von Sprache und Wirklichkeit, von Kommunikationsmedien und dem, worüber
kommuniziert wird, inhaltlich zu präjudizieren." 89
TPF
FPT
Die Moderne, die sich durch das Projekt der Emanzipation auszeichnet, beginnt mit dem
Zweifel an der metaphysischen Einheitslehre. Es geht nun um die Frage, ob das
einheitliche Denken nach der Ausdifferenzierung der modernen Werte bzw. der
verschiedenen Rationalitätsformen wirklich vollständig überholt ist, und in welchem
Verhältnis die verschiedenen Werte zueinander stehen. Denn einerseits leben wir in nur
einer Welt, so daß sich eine Beziehung zwischen den verschiedenen Formen der
Rationalität und den verschiedenen Geltungsansprüchen denken lassen muß, und
andererseits setzt z. B. eine Theorie über die verschiedenen Rationalitätsformen eine
einheitliche rationale Metaebene voraus. Es stellt sich also erneut die Frage nach der
Einheit, die das alte metaphysische Denken so sehr beschäftigt hat. Natürlich lehnt
Habermas aber eine gewaltsame, zwanghafte Einheit ab, weil sie die historische Leistung
der Moderne nicht ernst nimmt. Dies ist der Grund, warum er die moderne
Bewußtseinsphilosophie stark kritisiert, die häufig als die wichtigste Inkarnation des
modernen Denkens betrachtet wird. Das Subjekt ist nach dieser Philosophie in der Lage,
den Gegenstand objektiv zu beobachten, darzustellen und sogar zu konstituieren. So
richten sich z. B. nach der kopernikanischen Wende von Kant die Objekte nach dem
Subjekt und nicht umgekehrt das Subjekt nach den Objekten. Dies bedeutet letztlich, daß
es als eine Art Schöpfer erscheint, der die Existenzbedingung des Objektes bestimmt.
Also ist die Bewußtseinsphilosophie durch und durch vom epistemologischen S-OSchema abhängig.
Dieses erkenntnistheoretische S-O-Schema wiederholt sich nach Habermas bei der
Bewußtseinsphilosophie auch in der praktischen Philosophie; das Subjekt ist dabei in der
Lage, das Objekt zu bearbeiten und zu ändern, und dieses ist nur ein Gegenstand, der von
dem Subjekt verändert werden muß. Dieses praktisch-philosophische Schema legt es
nahe, die Zweckrationalität auch in der Handlungs- bzw. Gesellschaftstheorie als
einziges Kriterium für vernünftiges Denken bzw. Handeln anzusehen. Daß die Kategorie
der instrumentellen Handlung, wie z. B. die 'Arbeit', als Hauptbegriff in vielen
klassischen Gesellschaftstheorien der modernen Zeit eine zentrale Rolle spielt, ist vor
diesem Hintergrund verständlich.
Das strategische Handeln, das als ein gesellschaftstheoretisch erweiterter Begriff der
instrumentellen Handlung heutzutage besonders in dem 'Tausch- und Machtverhältnis'
TP
89
PT
A.a.O., S. 82.
161
eine Rolle spielt, folgt insofern der Kategorie der Zweckmäßigkeit, als daß der
strategisch Handelnde seine Interaktionspartner egozentrisch behandelt, indem er sie als
Mittel für seine Zwecke einsetzt. Es geht bei diesem Handeln darum, "daß der Aktor
Mittel und Zwecke unter Gesichtspunkten der Maximierung von Nutzen bzw.
Nutzenerwartungen wählt und kalkuliert." 90 Der 'egozentrische Nutzenkalküle' ist daher
TPF
FPT
der Schlüsselbegriff dieses Handelns. Das teleologische bzw. strategische Handeln, das
von der instrumentellen Rationalität geleitet wird und in dessen Zentrum daher die
'Zweck-Mittel-Beziehung'
steht,
beruht
auf
einem
'monologisch
gefaßten
Handlungsmodell'. 91 Also sind die moderne Erkenntnis- sowie Handlungstheorie, so
TPF
FPT
Habermas, offensichtlich vom Paradigma der Subjektivität geprägt.
Die Paradoxie der Rationalisierung wird gerade durch diesen Zusammenhang
hervorgerufen. Die Rationalisierung ist ein Vorgang, in dem die ausdifferenzierten Werte
und Rationalitäten, die als Resultat der Überwindung der mythischen Einheit zum
Vorschein gekommen sind, mit der Modernisierung allmählich einer bestimmten
Denkrichtung untergeordnet werden: dem bewußtseinsphilosophischen S-O-Schema.
Dabei steht die Zweckrationalität im Mittelpunkt. Habermas betrachtet diesen Vorgang
vor allem unter dem Gesichtspunkt der Handlungs- bzw. Gesellschaftstheorie.
Die Gesellschaft ist nach ihm ein Teil der Lebenswelt, der für die systemischen,
legitimen Ordnungen sorgt, "über die die Kommunikationsteilnehmer ihre Zugehörigkeit
zu sozialen Gruppen regeln und damit Solidarität sichern."
TP
92
F
FPT
Dies bedeutet, daß sie
sowohl als eine Lebenswelt als auch als ein System betrachtet werden muß, das einer
eigenen Logik folgt. Diese 'zweistufige Gesellschaftstheorie' von System und
Lebenswelt
unterscheidet
sich
besonders
von
der
systemtheoretischen
Gesellschaftsauffassung von Parsons und Luhmann, die die Gesellschaft nur als ein
System betrachten.
Die Gesellschaft zeigt sich also zum einen aus dem Gesichtspunkt der Beteiligten als
eine Lebenswelt der sozialen Gruppen. Die Lebenswelt, aus der heraus sich die sprechhandelnden Subjekte über etwas in der objektiven, sozialen und subjektiven Welt
verständigen, 93 ist für Habermas ein anderer Name für den Ort, in dem die soziale
TPF
FPT
Integration symbolisch reproduziert wird. 94 Sie bleibt den Beteiligten als Hintergrund im
TPF
90
PT
VE, S. 576.
TP
91
PT
Siehe TkH 1, S. 379.
TP
92
PT
TkH 2, S. 209.
TP
93
PT
A.a.O., S. 193.
TP
94
TP
FPT
PT
A.a.O., S. 208f.
162
Rücken und bietet ihnen einen gemeinsamen Kontext für die Verständigungsprozesse. 95
TPF
FPT
Die sprachlich strukturierte Lebenswelt hilft vor allem dabei, die Beziehung zwischen
den Bereichen der Lebenswelt sowie zwischen den kulturell verschiedenen
Lebenswelten zu deuten. Die Lebenswelt setzt aufgrund ihrer sprachlich organisierten
formal-allgemeinen Struktur schon die Möglichkeit der Kommunikation zwischen den
Subjekten voraus. Der Versuch der Beteiligten, einen Konsens über etwas in einer
Lebenswelt z. B. durch 'kooperative Deutungsprozesse' herzustellen, liegt schon der
Natur der menschlichen Sprache zugrunde, weil diese in der Verständigung besteht. In
dieser Hinsicht hat die Lebenswelt durchaus etwas mit der kommunikativen Rationalität
zu tun.
Die Gesellschaft zeigt sich zum anderen aus dem Gesichtspunkt der Beobachter als ein
System der Handlungen. Das System ist, so Luhmann, nichts anderes als "jeder soziale
Kontakt […] bis hin zur Gesellschaft als Gesamtheit der Berücksichtigung aller
möglichen Kontakte."
96
TPF
FPT
Dies bedeutet, daß Luhmann alle gesellschaftlichen
Beziehungen als System betrachtet. Die Systemtheorie versucht, den Mechanismus der
Systeme der modernen Gesellschaft, wie z. B. der Subsysteme der Ökonomie oder der
Verwaltung, zu erklären. Sie geht also davon aus, daß die Ökonomie und die Verwaltung
nicht Teile der Lebenswelt, sondern Systeme sind, für die das jeweils andere System die
Umwelt darstellt. Das System hat dabei eine 'autopoetische', d. h. selbstgesteuerte
Struktur, die die für seine Existenz notwendigen Mittel aus seiner Umwelt nimmt. Diese
'metabiologische' Beziehung von System und Umwelt in der Luhmannschen
Systemtheorie erinnert an die Beziehung von Subjekt und Objekt in der
Subjektphilosophie. In dieser Hinsicht behauptet Habermas, daß Luhmann sich 'die
subjektivistische Erbmasse' systemtheoretisch aneignet: "An die Stelle der Innen-AußenBeziehung zwischen dem Erkennenden und der Welt […] tritt die System-UmweltBeziehung. […] Die Selbstbezüglichkeit des Systems ist der des Subjekts
nachgebildet." 97
TPF
FPT
Das Schema von System und Umwelt der Systemtheorie nimmt keine Rücksicht darauf,
wie das moderne Ökonomie- und Verwaltungssystem entstanden ist, und wie sich beide
Subsysteme entwickeln. Die Entstehungs- und Entwicklungsprozesse können nach
Habermas erst seit der modernen Rationalisierung der Lebenswelt richtig gedeutet
95
PT
PDM, S. 348.
TP
96
PT
N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1985, S. 33.
TP
TP
97
PT
PDM, S. 427.
163
werden, in der die Medien, wie z. B. Geld und Macht, einen bestimmten Grad der
Entwicklung erreicht haben. Aus diesem Grund ist fraglich, ob die Betrachtung der
sozialen Welt als System trotz ihrer Vorteile bei der Deutung ihrer Mechanismen einen
rationalen Maßstab für die 'Bewertung sozialer Prozesse' begründen kann. 98 Die
TPF
FPT
systemtheoretische Vernunft hat also ein ähnliches Schicksal wie die subjektivistische
Vernunft, die wegen ihrer monologischen Selbstreflexivität ihre Entstehungsgeschichte
vergißt und daher die Kritik an sich selbst verhindert.
Gerade im Wesen der Systemtheorie, die sich für die sozialen Entwicklungsprozesse
nicht interessiert, sieht Habermas den Grund, warum die Systemtheoretiker der massiven
Zivilisationskritik in den 60er Jahren des Studentenprotestes durchweg verständnislos
gegenüberstanden. 99 Talcott Parsons zum Beispiel, einer der Systemtheoretiker, vertritt
TPF
FPT
die Überzeugung, daß "moderne Gesellschaften für die Masse der Bevölkerung einen
unvergleichlichen Zuwachs an Freiheit" gebracht haben; 100 das System der modernen
TPF
FPT
Gesellschaft vergrößert die Freiheit der Individuen im Bereich der Lebenswelt. Daher
wendet er sich dagegen, die sozialpathologischen Erscheinungen, wie z. B. die Isolierung
der Individuen und die Probleme des Sinn- und des Freiheitsverlusts, auf die
Bürokratisierung zu beziehen, und spricht davon, daß das Netzwerk der modernen
Massenkommunikation nicht nur dem entgegenwirkt, sondern eine Gemeinschaft schafft,
die den Individuen die Chance einer selektiven Partizipation entsprechend den eigenen
Standards und Bedürfnissen ermöglicht. 101 Die sozialpathologischen Erscheinungen
TPF
FPT
können daher nach ihm durch eine Komplexitätssteigerung des Gesellschaftssystems
gelöst werden, die er mit dem Rationalisierungsvorgang der Gesellschaft gleichsetzt.
Parsons lehnt es also entschieden ab, die Sozialpathologien unmittelbar auf die
Komplexitätssteigerung des gesellschaftlichen Systems zu beziehen, vielmehr können
umgekehrt die Probleme der modernen Gesellschaften nur durch eine Steigerung der
Komplexität der gesellschaftlichen Systeme gelöst werden.
Auch Habermas bezieht die Steigerung der Komplexität der Systeme nicht ohne weiteres
auf die Paradoxie der Rationalisierung. Er kritisiert aber Parsons, weil dieser
unterschätze, wie sehr die Bürokratisierung zu einer einseitigen Rationalisierung der
98
PT
TkH 2, S. 422.
TP
TP
99
PT
A.a.O., S. 431ff.
100
PT
T. Parsons, Religion in Postindustrial America, New York 1978 320ff. und ders., The System of
TP
Modern Societies, Englewood Cliffs 1971, S. 114f.
TP
101
PT
Siehe T. Parsons, The System of Modern Societies, a.a.O., S. 116f.
164
kommunikativen Alltagspraxis, d. h.
zur "Privatisierung des Lebensstils" 102 beiträgt.
TPF
FPT
Außerdem betont er, daß "die Verallgemeinerung formaler Rechtsansprüche" durch das
Netzwerk der modernen Massenkommunikation nicht unbedingt die "Erweiterung
demokratischer Willensbildungsprozesse" bedeutet.
103
TPF
FPT
Die Verdinglichung der
kommunikativen Alltagspraxis entsteht also nach ihm dort, wo die Systemrationalität, d.
h. die Bürokratisierung bzw. die Form ökonomischer und administrativer Rationalität in
Handlungsbereiche eindringt, "die sich der Umstellung auf die Medien Geld und Macht
widersetzen, weil sie auf kulturelle Überlieferung, soziale Integration und Erziehung
spezialisiert sind und auf Verständigung als Mechanismus der Handlungskoordinierung
angewiesen bleiben." 104
TPF
FPT
Aus der Sicht dieser Unterscheidung zwischen System und Lebenswelt besteht der
Vorgang der Modernisierung bzw. der Rationalisierung auf der Ebene der
Gesellschaftstheorie darin, daß sich die einzelnen Systeme von der Lebenswelt
abkoppeln und ihrer eigenen Logik folgen. 105 Die Rationalisierung innerhalb eines
TPF
FPT
Systems meint dann die Entwicklung von detaillierten Subsystemen, die zu einer
Steigerung der Komplexität des Gesamtsystems führt. 106 Aber in den Systemen, die von
TPF
FPT
den 'entsprachlichten Kommunikationsmedien', wie z. B. Geld und Macht, gesteuert
werden, wird das Rationalitätspotential sprachlicher Verständigung nur in dem Maße
aktualisiert, in dem es für Nutzenmaximierung notwendig ist. Die sprachliche
Konsensbildung, auf die sich die sprachliche Kommunikation eigentlich richten sollte,
wird also hierbei weitgehend ignoriert. Es geht innerhalb dieser Systeme lediglich darum,
für einen gegebenen Zweck die effektivsten Mittel auszuwählen, und nicht um die
Richtigkeit der Zielsetzung oder um die normative Bewertung der Mittel. 107 Das Resultat
TPF
FPT
der Rationalisierung ist, daß die Zweckrationalität, die sich von allen normativen
Kontexten loslöst, in der Moderne die verschiedenen Systeme mehr und mehr dominiert
und die Wertrationalität verdrängt. Je komplexer die einzelnen Systeme werden, umso
mehr tritt die Zweckrationalität in den Vordergrund. Habermas nennt diesen Vorgang
eine Technisierung der Lebenswelt:
102
PT
TkH 2, S. 433.
TP
103
PT
Ebd.
TP
104
PT
A.a.O., S. 488.
TP
105
PT
A.a.O., S. 230.
TP
106
PT
A.a.O., S. 246-256.
TP
TP
107
PT
A.a.O., S. 271f.
165
"Die Umstellung des Handelns auf Steuerungsmedien erscheint deshalb
aus der Lebensweltperspektive sowohl als eine Entlastung von
Kommunikationsaufwand und –risiko, wie auch als eine Konditionierung
von Entscheidungen in erweiterten Kontingenzspielräumen, in diesem
Sinne als eine Technisierung der Lebenswelt." 108
TPF
FPT
Ein gesunder Gesellschaftszustand ist bei Habermas durch ein Gleichgewicht zwischen
der von der kommunikativen Rationalität gesteuerten Lebenswelt und dem von der
instrumentellen Rationalität gesteuerten System gekennzeichnet. Eine massive
Verdrängung der Kommunikationsstruktur der Lebenswelt durch die Zweckrationalität
des Systems, d. h. die Überhandnahme der Zweckrationalität in der Gesellschaft bedeutet
daher eine Zerstörung des Gleichgewichtes der gesellschaftlichen Rationalisierung. 109
TPF
FPT
Habermas nennt das Phänomen dieser 'systemisch induzierten Lebensweltpathologie' "die
Kolonialisierung der Lebenswelt". 110
TPF
FPT
Die These der 'Kolonialisierung der Lebenswelt' kann als die Habermassche Antwort auf
das Problem der Paradoxie der Rationalisierung angesehen werden. Er versucht mit
dieser Formulierung den Rückgang der Wertrationalität aus einer erweiterten
gesellschaftstheoretischen Perspektive erneut zu analysieren. Der Kerngedanke dieser
These ist also, daß mit der Entwicklung des Kapitalismus und des modernen
Verwaltungssystems die Zweckrationalität im ganzen Gebiet der Lebenswelt mehr und
mehr an Bedeutung gewinnt und damit schließlich die verständigungsorientierte
Wertrationalität beinahe vollständig verdrängt.
Die These der 'Kolonialisierung der Lebenswelt', die als wichtigstes Element der
Habermasschen Zeitdiagnose gelten kann, kann zwar sicherlich erklären, wie sich die
Logik des Systems auch auf das Gebiet der symbolischen Reproduktion ausweitert, also
wie die Lebenswelt vom System abhängig wird. Aber in dieser These bleibt noch
ungeklärt, welche Rolle die kommunikative Rationalität, die die normative Basis für die
Gesellschaftskritik ist, innerhalb des Systems spielen kann, und ob die auf Konsens
ausgerichteten kooperativen Deutungsprozesse der Subjekte innerhalb des Systems eine
Rolle spielen können, obwohl dort eigentlich die sich jeder Wertrationalität entziehende
Zweckrationalität vorherrscht, wenn es um die Wahl des wirksamen Mittels zum Zweck
108
PT
A.a.O., S. 273.
TP
109
PT
A.a.O., S. 293.
TP
TP
110
PT
Ebd.
166
bzw. um die effektive Organisation der Arbeit geht. Das System ist bei Habermas aber
der Ort, in dem die instrumentelle Verengerung der Rationalität ausnahmsweise erlaubt
wird; die sozialen Konflikte finden für ihn nur innerhalb der Lebenswelt und im besten
Fall an den "Nahtstellen zwischen System und Lebenswelt" 111 statt, und das System
TPF
FPT
selbst ist von solchen Konflikten frei. Deshalb ignoriert Habermas in seiner Theorie die
Möglichkeit, daß die kommunikative Rationalität auch in formal zweckrational
organisierten Systemen stark gemacht werden kann, wie es z. B. bei den autonomen
Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geschieht, durch die der
ökonomische Bereich demokratisiert wird.
Daher muß man sagen, daß die Theorie des kommunikativen Handelns weder diesen
sozialpathologischen Erscheinungen vorbeugen noch die Konflikte innerhalb des
Systems lösen kann und im besten Fall nur dazu in der Lage ist, die Entstehung der
Kolonialisierung der Lebenswelt zu erklären. Die eigentliche Absicht von Habermas, die
gegenwärtigen negativen Begleiterscheinungen der Moderne als Ausdruck der
instrumentellen Verengung der Rationalität zu kritisieren und zu überwinden, wird also
nicht vollständig erreicht.
Die Ursache dafür, daß er sein Ziel nicht erreicht, liegt m. E. schon in seinem
Verständnis der Rationalität, das in zwei Punkten kritisiert werden kann. Erstens:
Habermas' Rationalitätstheorie besteht darin, einerseits den jeweiligen Sinn der
theoretischen, der moralischen und der expressiven Rationalität zu verdeutlichen und
andererseits ihre wechselseitigen Beziehungen unter dem Namen der kommunikativen
Rationalität zu analysieren. In Wirklichkeit erörtert er zwar jede der drei Rationalitäten
ausführlich 'getrennt', aber er behandelt die 'unverkürzte' kommunikative Rationalität
selbst, also einen jene drei Rationalitäten umfassenden Rationalitätsbegriff, nicht
ausreichend. Er steht also noch vor der Aufgabe, den 'inneren Zusammenhang' der drei
voneinander getrennten Rationalitäten sowie den Charakter der umfassenden
kommunikativen Rationalität zu verdeutlichen, weil er die wechselseitigen Beziehungen
zwischen den verschieden Rationalitäten nur an den 'Nahtstellen' zwischen ihnen erörtert,
aber nicht in ihren 'inneren Zusammenhang'.
Zweitens: Habermas versucht die Einheit der getrennten Rationalitäten in einer Idee der
'argumentativen Begründung' zu finden. Aber diese 'prozedurale Rationalität' als
Argumentation ist eher theorieorientiert und nicht praktisch oder ästhetisch ausgerichtet.
Somit entsteht der Eindruck, daß er die Rationalitätsform der theoretischen
TP
111
PT
A.a.O., S. 581.
167
Argumentation auch auf andere Diskurse unzulässigerweise anwendet und damit die
Unterschiede der verschiedenen Formen der Rationalitäten verwischt. Von daher kann
man die Frage stellen, ob nicht eine solche Identifizierung verschiedener
Rationalitätsformen unter dem Namen der einen kommunikativen Vernunft dazu führt,
daß man das Verfahren der argumentativen Begründung überbewertet. Stellt nicht auch
dieser Versuch von Habermas eine Verdrängung verschiedener Rationalitätsformen
durch eine bestimmte Form dar, so daß bei ihm die ästhetische und die praktische
Vernunft reduziert werden auf die Form argumentativer Begründung? Wenn man die
drei getrennten Bereiche der kommunikativen Vernunft auf diese Art in eine theoretische
Einheitsform bringt, ergibt sich daher das Problem, wie man die Unterschiede zwischen
der theoretischen, der praktischen und der ästhetischen Vernunft erklärt.
168
V. Die Rolle der Vernunft für die Gesellschaft bei Habermas
1. Die Idee der 'Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen'
Die kommunikative Vernunft wurde, wie erwähnt, entworfen, um den Begriff der
subjektivistischen sowie der relativistischen Vernunft zu überwinden und um
gleichzeitig das Projekt der Aufklärung gegenüber den relativistischen bzw.
skeptizistischen Positionen der Gegenwart zu verteidigen. Die Aufklärung ist nach
Habermas ein Projekt der "Emanzipation der Menschen aus selbstverschuldeter
Unmündigkeit und erniedrigenden Lebensumständen." 1 Dies bedeutet bei ihm vor allem
die Wende von der mythischen und ontologischen zur vernünftigen Weltauffassung und,
sozialphilosophisch gesagt, eine Herstellung von "Formen des vernünftigen
Zusammenlebens", 2 die der junge Hegel unter dem Begriff der sittlichen Totalität
analysiert hat. Also interpretiert Habermas die Idee der sittlichen Totalität des jungen
Hegel als die "reziproken Anerkennungsverhältnisse eines intersubjektiv konstituierten
Lebenszusammenhangs." 3 Daher ist das vernünftige Zusammenleben bei Habermas
eine gesellschaftliche Form, in der "wirklich Autonomie und Abhängigkeit in ein
befriedetes Verhalten treten." 4 Die Dialektik des Verbrechens, die Hegel in seiner
Frankfurter Zeit behandelt, verdeutlicht diese Idee der sittlichen Totalität; das
Verbrechen besteht darin, den Anderen nicht als eine Person des Zusammenlebens,
sondern als ein Objekt, das vernichtet werden kann, zu betrachten; dabei wird der
Andere wie ein objektives Ding in der Welt behandelt. Das Verhältnis von S-O, das
dem Verbrechen zugrunde liegt, bedeutet daher eine Störung des Gleichgewichts der
sittlichen Totalität. Die Dialektik des Verbrechens beim jungen Hegel besteht also in
der Wiederherstellung der Erkenntnis, daß die Zerstörung des Lebens des Anderen
gleichzeitig die des eigenen Lebens ist. 5
Habermas bezweifelt aber, ob die Polis und die frühchristliche Gemeinschaft, die Hegel
mit dem Begriff der 'versöhnenden Vernunft' in Verbindung bringt und als wirkliche
1
J. Habermas, Die nachholende Revolution, Frankfurt/M. 1990, S. 202.
2
NU, S. 202.
3
PDM, S. 40.
4
J. Habermas, Die nachholende Revolution, a.a.O., S. 202.
5
Siehe dazu 1.3. vom 1. Abschnitt des II. Kapitels in dieser Arbeit.
169
Vorbilder für die sittliche Gemeinschaft betrachtet, wirklich Ideale für eine neue
Gesellschaftsform sein können, in der die Autonomie des Subjekts und dessen
Abhängigkeit von der Allgemeinheit im Gleichgewicht sind. Denn in diesen
historischen Vorbildern wird die Problematik der Emanzipation des Individuums nicht
ausreichend berücksichtigt, die erst mit der Moderne zum Vorschein gekommen ist.
Aus dieser Sicht ist die versöhnende Vernunft des jungen Hegel nur eine totalisierende
Vernunft, die von Habermas nur als eine weitere Variante der subjektivistischen
Vernunft angesehen wird.
Habermas führt daher eine 'bescheidene', also die kommunikative Vernunft ein, um das
ursprüngliche Ideal des jungen Hegel realisieren zu können. Also entwirft die
kommunikative Vernunft eine Gemeinschaft, die intersubjektiv im Gleichgewicht ist,
und in der die Einzelnen ihre Individualität nicht verlieren und gleichzeitig ihre
Abhängigkeit von der Gemeinschaft anerkennen.
Die Theorie von Habermas bezieht sich dabei wieder auf die alte philosophische Frage
nach dem Verhältnis von Identität und Differenz, von Einheit und Vielheit sowie von
Selbst und Anderem. Vor diesem Hintergrund versucht Habermas in der Tat die
Differenz, das Nicht-Vernünftige, das Andere, das Individuum, die Vielheit etc., die
heutzutage positiv bewertete Kategorien sind, nicht zu vernachlässigen und gleichzeitig
das Ideal der Aufklärung der Vernunftorientierung beizubehalten. Dies unterscheidet
ihn sehr von den Dekonstruktivisten, die nach dem Ende der metaphysischen
Einheitslehre nun von der Ursprünglichkeit der Differenz, des Anderen und des
Individuums ausgehen. Habermas vertritt demgegenüber die Auffassung, daß sie mit
der Abwertung des Einen sowie mit der Aufwertung der Differenz und des Anderen den
dialektischen Zusammenhang zwischen beiden verdunkeln: 6
"Das Lob des Vielen, der Differenz und des Anderen mag heute auf
Akzeptanz rechnen können; aber eine Stimmungslage ersetzt noch keine
Argumente." 7
Habermas führt also die gegenwärtige philosophische Diskussion auf die traditionelle
philosophische Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Vielheit zurück. Seine
6
ND, S. 180.
7
A.a.O., S. 172.
170
Antwort auf diese Frage wird deutlich, wenn man sie mit der metaphysischen und der
bewußtseinsphilosophischen Position vergleicht.
Die Metaphysik, die bis zur bewußtseinsphilosophischen Wende die europäische
Philosophie überhaupt beherrscht, läßt sich laut Habermas als All-Einheitslehre
bezeichnen, deren Anliegen in der Reduktion des Vielen auf das Eine besteht. Die
Metaphysik, deren Ursprung in dem Parmenideschen Hen-Panta liegt, geht also
durchaus von einem deduktiven Erklärungsansatz aus, bei dem die Vielheit aus einem
Prinzip abgeleitet wird. Insofern löst die Metaphysik des Einen die Pluralität der
ursprünglichen mythischen Kräfte ab. Aus der Sicht der Metaphysik bewegt sich die
Erkenntnis des Mythos nur um die Oberfläche und den Schein und erfaßt nicht das
Wesen der Dinge. Das metaphysische Eine gilt dagegen sowohl als Erstes, mit dem der
Ursprung des Vielen erklärt werden kann, als auch als Begriff des Begriffes, mit dem
der Seinsgrund des Vielen ausgedrückt werden soll. Insofern sie den Ursprung des
Vielen und dessen Seinsgrund analysiert und das Viele und das Akzidentielle aus der
Perspektive des Wesens und der Substanz behandelt, d. h. soweit sie von einem "Zwang
zur Disambiguierung" des Mythos ausging, hatte die Metaphysik, so Habermas, "einen
emanzipatorischen Sinn". 8
Habermas weist aber gleichzeitig darauf hin, daß die in der Reduktion der Vielheit und
der Besonderheit auf eine Einheit bestehende metaphysische Denkfigur nur "eine
gewaltige Abstraktion" 9 ist und unlösbare philosophische Probleme mit sich bringt: das
Problem des Verhältnisses von Identität und Differenz (1), das Problem des
unaussprechlichen Individuellen (2) und das Unbehagen am affirmativen Denken (3).
1) Habermas stellt eine grundlegende kritische Frage an die Metaphysik, die die Wende
zur Bewußtseinsphilosophie möglich machte: die Frage danach, wie das metaphysische
Eine gleichzeitig als alles umfassendes Ganzes betrachtet werden kann, anders
formuliert, wie die Identität von Identität und Differenz gedachtet werden kann. Diese
erkenntnistheoretische Fragestellung bezieht sich vor allem auf Plotins Definition des
Einen. Nach Habermas wird das Eine Plotins wie folgt definiert: "Das Eine ist Alles und
noch nicht einmal Eins (von Allem)". 10 Dies bedeutet, daß das Eine zwar als Ursprung
und Grund jedes individuellen Seienden Alles ist, aber es nichts von Allem gleicht.
Bereits Plotin war sich bewußt, daß das Eine nur in dieser widersprüchlichen Weise
8
A.a.O., S. 158.
9
A.a.O., S. 156.
10
A.a.O., S. 159.
171
bestimmt werden kann, weil jede andere Bestimmung das Eine wie ein Ding in der Welt
vergegenständliche, d. h. es zu einem Endlichen mache. Er hat der menschlichen
Erkenntnisfähigkeit, also dem Nous, diese widersprüchliche Bestimmung des Einen
zugeschrieben. Er will damit ausdrücken, daß sich das Eine, obwohl es seinerseits
niemals widersprüchlich ist, mit der Vernunft nur widersprüchlich bestimmt werden
kann.
2) Eine andere Eigenschaft der Metaphysik ist, daß sie das Besondere bzw. Individuelle,
die Materie, das Zufällige etc. nur relativ zum Allgemeinen, zur Idee sowie zum
Notwendigen betrachtet. Bei der Metaphysik wird dieser Gedanke durch die Begriffe
'Gattung' und 'spezifische Differenz' ausgedrückt. Es gibt hier daher keinen Platz für
Individuelles, das nicht unter das Allgemeine subsumiert wird. Selbst Johannes Duns
Scotus z. B., der dieses Problem erkannt hat und daher mit dem Begriff Haecceitas
(dem Individuellen) das Individuelle an sich behandeln wollte, hat letztendlich, nach
Habermas, nichts anderes getan, als das "Essentielle bis in die Einzelheit hinein" 11 zu
verlängern.
3) Eine weitere Eigenschaft der Metaphysik sieht Habermas in ihrem 'Unbehagen am
affirmativen Denken', das sich der Materie verdankt; die Materie liegt in Zeit und Raum
und besteht daher aus den konkreten gegenständlichen Bestimmungen. Insofern jede
Bestimmung immer die Negation anderer Bestimmungen voraussetzt, ist die Materie
ein begrenzt Endliches. Wenn man die allgemeinen Ideen als das wahre Sein auffaßt, ist
diese Materie nur ein Nicht-Seiendes. Daher wird die traditionelle metaphysische Frage:
'Warum ist denn überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?' nur dann gestellt,
wenn man von dem Vorrang der allgemeinen Ideen vor der Materie bzw. der Einheit
vor der Vielheit ausgeht. Die affirmative Kraft der Negation, die der Materie eigen ist,
konnte daher als ein zum Intelligiblen gegenläufiges Prinzip gedacht werden. Habermas
sieht hierin den Grund, warum die Welt der Materie bzw. der Geschichte innerhalb der
Metaphysik nicht zur Welt des wahren Seins gehört und warum bei der alten
Metaphysik die Neigung zu einer Kritik an der Vernunft überhand genommen hat und
damit die Tradition der negativen Theologie einen festen Platz gewonnen hat. 12
11
A.a.O., S. 160.
12
Aus diesem Grund behauptet Habermas, daß die radikale Vernunftkritik von Nietzsche, Heidegger und
Derrida, die die These von der Unvollkommenheit der Vernunft radikalisieren, nur ihre Zugehörigkeit zur
europäischen orthodoxen Metaphysik zeige. Vgl. ND. S. 159f.
172
Die oben genannten Probleme der Metaphysik waren sicherlich mitverantwortlich für
die bewußtseinsphilosophische Wende der Philosophie. Die Bewußtseinsphilosophie
geht von der Frage aus, ob die Einheit des Vielen ein objektives, dem menschlichen
Geiste vorgeordnetes Ganzes sein kann oder ob diese Einheit nicht vielmehr ein
Ergebnis einer idealisierenden Synthesis der Vernunft ist und ob nicht die
widersprüchliche
Bestimmung
des
metaphysischen
Einen
nur
aus
einer
Unzulänglichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens resultiert.
Besonders
die
Kantische
Philosophie
gilt
als
ein
Musterbeispiel
dieses
bewußtseinsphilosophischen Paradigmas; die theoretische Vernunft konstituiert eine
objektive Welt, indem sie mit Hilfe der Anschauungsformen und den Kategorien des
Verstandes den Erscheinungen eine begriffliche, kategoriale Ordnung gibt. Die
Erkenntnis der Erscheinungen in eine Einheit zu bringen ist allerdings eine Leistung der
transzendentalen Apperzeption, die bei Kant das formale 'ich denke' bedeutet: das 'ich
denke' muß alle meine Vorstellungen begleiten können, um in der Mannigfaltigkeit der
Vorstellungen die Einheit eines Selbstbewußtseins bewahren zu können. Während der
Begriff des Verstandes etwas mit den Erscheinungen (also mit etwas in der objektiven
Welt) zu tun hat, steht die Apperzeption in Zusammenhang mit dem Inbegriff der
Erscheinungen, also mit einer Idee. Gerade in diesem Punkt ist der Inbegriff der
Erscheinungen eine 'kosmologische Idee' und somit eine regulative Idee.
Die Erkenntnis und ihre Einheit, die vom kategorischen, begrifflichen sowie
gesetzgebenden Verstand und vom 'denkenden Ich' geleitet werden, sind gerade
deswegen durchgängig gesetzmäßig strukturiert. Die Abhängigkeit des Seienden im
ganzen von dem Verstand sowie dem denkenden Ich bedeutet also eine Herabsetzung
des Kosmos zum Gegenstandsbereich nomologischer Naturwissenschaften. Nun ist die
Welt der Erkenntnis kein "absolutes Ganzes nach Prinzipien der Zwecke" 13 mehr.
Dieser Gedanke Kants löst die kosmologieorientierte All-Einheitslehre der von der
teleologischen Weltauffassung ausgehden Metaphysik in dem Sinne auf, daß er von der
Natur bzw. der physischen Welt die Zweckmäßigkeit abtrennt. Der Kosmos wird nun
nicht mehr teleologisch, sondern mechanistisch aufgefaßt.
Die
Kantische
Erkenntnistheorie
läßt
sich
als
eine
Antwort
auf
die
bewußtseinsphilosophische Frage danach lesen, wie die Identität des Einen und des
Vielen zu denken sei. Das Problem ist hierbei aber, daß es bei dieser Antwort keinen
Platz für 'einen sinnvollen Zusammenhang' des Lebens gibt. Für die Zweckmäßigkeit,
13
I. Kant, Kritik der Urteilskraft, W. Weischedel (Hg.), Frankfurt/M. 1994, S. 404.
173
die der physischen Welt fehlt, reserviert Kant einen anderen Bereich: das 'Reiche der
Zwecke', das als das Ganze eines 'ethisch-bürgerlichen' Gemeinwesens etwas mit der
Problematik des Sollens bzw. der Moralität zu tun hat.
Diese Kantische Philosophie ruft aber eine neue Frage hervor: In welchem Verhältnis
stehen praktische und reine Vernunft, Kausalität der Freiheit und Kausalität der Natur,
Moralität und Legalität und intelligible Welt und Sinnenwelt. Diese Frage kann wieder
als eine Variante der alten metaphysischen Frage angesehen werden, wie sich Eines und
Vieles sowie Unendliches und Endliches zueinander verhalten. Durch diese Frage wird
deutlich, daß Kants Versuch, durch die erkenntnistheoretische Wende des Denkens die
metaphysische Aporie zu lösen, am Ende zu einem Dualismus der Welten führt.
Hegel wird als letzter Philosoph angesehen, der aus der Perspektive der
bewußtseinsphilosophischen Philosophie diesen Dualismus überwinden wollte. Er
reformuliert das alte metaphysische Thema der All-Einheit, noch radikaler als Kant,
bewußtseinsphilosophisch, indem er die Selbstbeziehung der Vernunft bzw. des Geistes
zum Absoluten erhebt. Dies unterscheidet sich vor allem vom Denken Plotins, der die
wahre Erkenntnis außerhalb des Bereiches der Vernunft sucht, weil diese die
widersprüchlichen Bestimmungen des Einen mit sich bringe, das eigentlich gar nicht
widersprüchlich sei; die wahre 'Erkenntnis' ist daher ein Zustand von Ekstase, 14 in dem
die Seele die Grenzen ihres Bewußtseins überschreitet und sich mit dem Einen vereinigt.
Während sich das Subjekt und das Objekt im Denken des Einen noch voneinander
unterscheiden, gibt es bei der Ekstase keine Differenz zwischen ihnen. Somit beurteilt
Plotin das Erkenntnisvermögen des Subjekts negativ.
Im Gegensatz dazu wertet Hegel das Erkenntnisvermögen auf; er interpretiert in seinen
Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie die Ekstase als 'reines Denken'. 15
Wenn das Denken die Differenz zwischen Vielheit und Einheit bzw. Endlichem und
Unendlichem
voraussetzt,
dann
scheint
es
notwendig
zu
sein,
daß
die
Bewußtseinsphilosophie, die das Denken zum Absoluten erhebt, diese Voraussetzung
als eine der wichtigsten Merkmale des Absoluten betrachtet. Dies ist der Grund, warum
Hegel das Absolute "nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt" 16 auffaßte.
14
Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, in: TW, Bd. 19, S. 440.
15
In diesem Kontext schreibt er folgendes: "Plotin spricht allerdings davon, daß das wahrhaft Seiende nur
gewußt werde durch die Ekstase. […]. Und Ekstase ist ja nicht bloß Entzückung der Empfindung und
Phantasie, sondern vielmehr ein Heraustreten aus dem Inhalt des sinnlichen Bewußtseins. Es ist reines
Denken, das bei sich selbst ist, sich zum Gegenstand hat." G. W. F. Hegel, a.a.O., S. 442f.
16
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: GW, Bd.9, S. 18.
174
Das sich auf sich beziehende absolute Subjekt wird als eine Sinnenwelt und moralische
Welt bzw. Form und Inhalt vermittelnde Bewegung aufgefaßt, die sich in der
Geschichte entwickelt. Daher ist die Geschichte die Selbstentwicklung des absoluten
Subjekts bzw. des Geistes. Mit der Bestimmung des Einen als absoluten Subjekts, d. h.
mit der Verbindung der metaphysischen Position mit dem Begriff der selbsttätigen
Subjektivität eröffnet Hegel daher einen neuen Weg, die Geschichte, die bei der
traditionellen Metaphysik als eine Welt der Akzidenz außerhalb der philosophischen
Kategorien lag, als Medium zu verstehen, durch das das Eine und das Viele sowie das
Unendliche und das Endliche vermittelt werden können.
Die Erhebung des Denkens zum Absoluten bedeutet also einerseits die Vereinigung der
nomologischen und der intelligiblen Welt und andererseits die Vollendung des
Übergangs
von
der
alten
kosmologischen
zur
bewußtseinsphilosophischen
Weltauffassung. Die Geschichte ist also eine konkrete Gestalt, in der nicht nur die
beiden Kantischen Welten vermittelt sind, sondern in der auch die Vernunft mit den
Akzidenzien und der Ungewißheit dialektisch versöhnt wird.
Die Geschichtsphilosophie Hegels geht also davon aus, daß die Geschichte nichts
anderes ist als die Selbstentwicklung der Vernunft bzw. des absoluten Geistes. Sie ist
daher eine Geschichtsmetaphysik, die auf eine absolute Freiheitsphilosophie abzielt.
Diese Geschichtsmetaphysik hat aber eine massive Kritik des sogenannten Historismus
bzw. Kontextualismus hervorgerufen,
17
17
der sich mit der Einzigartigkeit und
Der Begriff des Historismus oder Historizismus findet sich, wie G. Scholtz formuliert, in so vielen
verschiedenen konkreten Verwendungen, daß er "universelle geschichtliche Betrachtung" (i),
"Geschichtsmetaphysik" (ii), "Romantizismus und Traditionalismus" (iii), "historischen Positivismus und
Objektivismus" (iv) und "historischen Relativismus" (v) bedeuten kann (G. Scholtz, Das
Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, in: ders., Zwischen
Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis, Frankfurt/M. 1991, S., 132). Bezüglich der Stellung
zur Geschichte lassen sich diese fünf Positionen in drei Formen zusammenfassen: 1) Entweder geht man
davon aus, daß die ganze Geschichte vernünftig und durch göttliche Vorsehung bestimmt ist (bei i und ii),
oder 2) man sieht nur die Vergangenheit vorbildlich an (bei iii). 3) Für die Positionen iv und v wird
schließlich die Vernünftigkeit der Geschichte problematisch (A.a.O., S. 133). In dem Sinne der ersten
beiden Bedeutungen gehört auch die Hegelsche Geschichtsauffassung als Geschichtsmetaphysik zum
Historismus. Aber die Teilnehmer an der Historismusdebatte scheinen heutzutage den Begriff des
Historismus in dem Sinne des 'historischen Relativismus' zu benutzen, weil der Historismus, der die
Einmaligkeit der historischen, kulturellen und empirischen Tatbestände betont, dem Universalismus der
Vernunft kritisch gegenübersteht. Natürlich kann man auf diese Form des Historismus verschieden
reagieren; während die Historismusverteidiger den Relativismus als willkommene Basis für das
pluralistische Leben ansehen (E. Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, München
175
Besonderheit der historischen, kulturellen und empirischen Tatbestände beschäftigt.
Denn eine genaue Betrachtung der historischen und kulturellen Besonderheiten zeige,
daß die Geschichte keineswegs einer übergeordneten Logik folge, anders gesagt, die
Hegelsche Konzeption der Geschichte erweise sich letztendlich als ein Resultat des
metaphysischen Denkens, das die Akzidenzien, die Ungewißheit und das Individuelle
unter ein bestimmtes Gesetz subsumiert und eine All-Einheitslehre schafft. Das
Besondere
hat
also
seine
Existenzberechtigung
innerhalb
der
Hegelschen
Geschichtsphilosophie, wie innerhalb des metaphysischen Denkens überhaupt, immer
nur in Beziehung auf das Ganze. Die folgende Kritik von Habermas an der Hegelschen
Geschichtsauffassung steht in diesem Kontext:
"Eine Geschichte, die den Bildungsprozeß der Natur und des Geistes in
sich aufnimmt und den logischen Formen der Selbstexplikation dieses
Geistes gehorchen muß, sublimiert sich zum Gegenteil von Geschichte.
[…] eine Geschichte mit festgestellter Vergangenheit, vorentschiedener
Zukunft und verurteilter Gegenwart ist keine Geschichte mehr." 18
Der Kern der Habermasschen Kritik an der Hegelschen Geschichtsauffassung liegt also
darin, daß auch sie noch von den Kategorien der traditionellen Metaphysik geprägt ist,
die Habermas als All-Einheitslehre bezeichnet.
Der Kontextualismus von Lyotard und Roty geht davon aus, daß dieses metaphysische
Erbe im subjekt-geschichtsphilosophischen Einheitsdenken für die Krisen der
Gegenwart verantwortlich ist. Im Gegensatz zu dem einheitlichen metaphysischen
Weltbild betont der Kontextualismus den Pluralismus der Lebensformen, indem er die
1965, S. 148. Hervorhebung von mir), ist der Historismus nach seinen Gegnern bloß ein Relativismus,
"der sich in analoge skeptische Schwierigkeiten verwickelt" (E. Husserl, Historizismus und
Weltanschauungsphilosophie, in: F. Rodi / H.-U. Lessing (Hg.), Materialen zur Philosophie Wilhelm
Diltheys, Frankfurt/M. 1984, S. 103. Hervorhebung von mir), und "dessen 'Überwindung' immer noch auf
der Tagesordnung steht" (H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt/M. 1983, S.
52). Eine ausführliche Behandlung der Historismusdebatte würde sicherlich den Rahmen dieser Arbeit
sprengen. Zu diesem Thema siehe besonders G. Scholtz, Historismus, Historizismus, in: HWPh, Bd. 3, Sp.
1141ff. und ders., Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, a.a.O., S.
132ff.
18
ND, S. 169.
176
Momente des Nicht-Identischen, des Heterogenen und des Akzidentellen hervorhebt. 19
Er ist also eine Reaktion auf die Hegelsche Geschichtsphilosophie.
Habermas deutet diese kontextualistische Einsicht als einen weiteren Schritt in der
Emanzipation der Menschheit – nämlich eine Emanzipation von der All-Einheitslehre
der Seinsmetaphysik und der geschichtsphilosophischen Weltauffassung. Dies bedeutet,
daß auch er die Wende zum 'nachmetaphysischen Denken' für historisch notwendig hält.
Diese These ist der Anlaß seiner Auseinandersetzung mit D. Henrich. Henrich spricht
noch von der Metaphysik, weil sie ursprünglich als Titel für die aristotelischen Bücher,
die in der Bibliotheksordnung nach der Physik kamen, alles das bezeichnet, was auch
heute noch als der Bereich, der über die bloße 'Physik' hinausgeht, von der Philosophie
thematisiert wird. 20
Seine Kritik an Henrich bedeutet aber freilich nicht, daß Habermas mit dem
Kontextualismus vollständig einverstanden wäre. Er versucht vielmehr durch die
Einführung einer neuen Form der Vernunft, die von der Einheit der Vernunft
ausgehende metaphysische und die kontextualistische Position miteinander zu
verbinden, die davon ausgeht, daß die Entstehung und die Tätigkeit der Vernunft
durchaus akzidentiell sind: diese neue Form der Vernunft ist die kommunikative
Vernunft. Er legt dabei, wie das Wort 'Kommunikation' andeutet, Wert auf den
Verfahrensbegriff
des
'Diskurses',
der
hier
nichts
anderes
meint
als
eine
argumentgeleitete Kommunikation. Bei dem 'Diskurs' handelt es sich also um das
Verfahren, unter bestimmten Bedingungen die Wahrheit einer bestimmten Aussage bzw.
die Richtigkeit einer Handlung herauszufinden.
Der Ausgangspunkt der kommunikativen Vernunft ist daher, daß man allein durch das
Abwägen von Gründen und Gegengründen die Erkenntnis der Wahrheit von Aussagen
und der Richtigkeit einer Handlung erreichen kann. Aus diesem Grund sind die
19
Der kontextualistische Versuch, die versöhnende Fähigkeit der Vernunft grundsätzlich zu bestreiten
und sich durch eine radikale Kritik der metaphysischen Tradition der Philosophie entziehen zu wollen,
bleibt aber nach Habermas immer noch innerhalb des negativ-metaphysischen Denkschemas befangen,
das behauptet, daß die Trennung von S-O nur bei dem Denken entstehe und daß das metaphysische Eine
außerhalb des Denkens liege: Der Kontextualismus "gestattet sich gegenüber einem Einheitsdenken […]
mindestens sympathisierende Zurückhaltung. Denn der radikale Kontextualismus lebt ja selbst von einer
negativen Metaphysik, die eben dasselbe ruhelos umkreist, was der metaphysische Idealismus mit dem
Unbedingten immer schon gemeint und freilich immer schon verfehlt hatte." ND, S. 154.
20
Siehe D. Henrich, Was ist Metaphysik – was Moderne? Thesen gegen Jürgen Habermas, in: ders.,
Konzepte, Frankfurt/M. 1987, S. 11ff. Darauf antwortet Habermas in seinem Artikel Rückkehr zur
Metaphysik, in: ND, besonders S. 18ff.
177
informativen theoretischen und praktischen Wahrheiten für Habermas durchaus
diskursive, nicht intuitive Wahrheiten. 21
Wenn Vernunft als Fähigkeit verstanden wird, Gründe in Ansehung der Frage zu geben,
ob diese oder jene Aussage wahr bzw. diese oder jene Handlung richtig ist, kann sich
die Wahrheit, sei es die Wahrheit von Aussagen oder die Richtigkeit einer Handlung,
nicht in dem Privatbesitz einer einzelnen Person befinde. Dies ist der Grund, warum
Habermas die Vernunft mit der Öffentlichkeit verbindet. Was nach Habermas
vernünftig ist, so K. Günther und L. Wingert, "zeigt sich im befreiten und befreienden
öffentlichen Austausch von Argumenten über Erfahrenes und Gedachtes." 22
Die Theorie der kommunikativen Vernunft steht also zwischen einem Objektivismus
und einem Relativismus; wenn die kommunikative Funktion des Sprechens als
Ausgangspunkt der Philosophie genommen wird, so kann der Objektivismus nicht
erklären, inwiefern die scheinbar objektiven Tatsachen in Wirklichkeit von der Sprache
und den Kontext der Sprechhandlungen abhängen, und der Relativismus gerät in die
Aporie, daß auch noch die Gültigkeit des Relativismus selbst von der allgemeinen
Geltung der Verständlichkeit abhängt, die dem Phänomen des Sprechens eigen ist. Die
beiden Positionen verabsolutieren also "einen der beiden Aspekte des sprachlichen
Vernunftmediums, sei es dessen Allgemeinheit oder dessen Besonderheit" 23 und
geraten insofern in Aporien.
Der Verfahrensbegriff der kommunikativen Vernunft, der zwischen beiden Positionen
steht, sieht einerseits alle historischen Tatsache und sogar die Entstehung der Vernunft
selbst als kontingent an und erkennt andererseits die Eigenschaft des Mediums
sprachlicher Verständigung an, die Grenzen angeblich inkommensurabler Welten zu
transzendieren. Deshalb erscheint dieser Vernunftbegriff aus der Sicht der Objektivisten
als 'zu schwach', aber aus der Sicht der Relativisten als 'zu stark'. 24 Aber aus der Sicht
der kommunikativen Vernunft zeigen sich der metaphysische Vorrang der Einheit vor
der Vielheit sowie der kontextualistischer Vorrang der Vielheit vor der Einheit als zwei
Seiten derselben Medalle: "Die Einheit der Vernunft [bleibt] allein in der Vielheit ihrer
21
Klaus Günther / Lutz Wingert, Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit,
Frankfurt/M. 2001, S. 7.
22
Ebd.
23
ND, S. 175.
24
A.a.O., S. 154.
178
Stimmen vernehmbar – als die prinzipielle Möglichkeit eines wie immer okkasionellen,
jedoch verständlichen Übergangs von einer Sprache in die andere." 25
Die kommunikative Vernunft geht von einer bestimmten Sprachauffassung aus: von der
kommunikativ verstandenen Sprachpragmatik. Nach Habermas besteht zwischen der
Allgemeinheit und der Besonderheit die folgende Verbindung:
"In die Pragmatik eines jeden Sprachgebrauchs ist die Unterstellung einer
gemeinsamen objektiven Welt eingebaut. Und die Dialogrollen jeder
Gesprächssituation erzwingen eine Symmetrie der Teilnehmerperspektiven.
Sie eröffnen zugleich die Möglichkeit der Perspektivenübernahme zwischen
Ego und Alter sowie die Austauschbarkeit von Teilnehmer- und
Beobachterperspektiven. Diese allgemeinen pragmatischen Voraussetzungen
kommunikativen
Handelns
legen
keineswegs
den
objektivistischen
Fehlschluß nahe, wir könnten den extramundanen Standpunkt eines
entweltlichten Subjekts einnehmen und uns einer kontextfreien, im Singular
auftretenden Idealsprache bedienen, um infallible und erschöpfende, also
definitive Aussagen zu machen, die die Wirkungsgeschichte stillstellen
würden – Kommentars weder fähig wären noch bedürften. Das ist nicht die
Alternative zum behutsamen, ethnozentrisch geständigen Kontextualismus.
An die Möglichkeit sprachlicher Verständigung können wir einen Begriff
situierter Vernunft ablesen, die ihre Stimme in zugleich kontextabhängigen
und transzendierenden Geltungsansprüchen erhebt." 26
Diese Passage zeigt, daß die kommunikative Vernunft in dem Sinne 'immanent' ist, daß
sie außerhalb konkreter Sprachspiele und Institutionen nicht existiert, und zugleich als
eine regulative Idee diese Kontexte transzendiert.
Zwischen dem metaphysischen Denken, das von einem "festen Bestand an Formen"
ausgeht, "zu dem es erkennbare Alternativen nicht gibt", und dem Kontextualismus, der
"alles in den Strudel der Kontingenzerfahrung" bringt, 27 entwirft die sprachtheoretische
Wende der Philosophie ein Konzept einer "schwachen, aber nicht defaistischen" 28
25
A.a.O., S. 155.
26
A.a.O., S. 178f.
27
A.a.O., S. 179.
28
A.a.O., S. 182.
179
Einheit, in dem die Vielheit miteinbezogen ist. Der Geltungsanspruch der
Verständlichkeit, die dem jeweiligen Sprachspiel innewohnt, macht diese Einheit
möglich. Die Strukturen möglicher sprachlicher Verständigung bilden nach Habermas
für alle kommunikativ Handelnde "ein Nicht-Hintergehbares." 29 Von daher eröffnet
sich ein Weg, an dem Rationalismus der Aufklärung festzuhalten, indem die
Verständlichkeit in die Kategorie der Rationalität eingeführt wird.
Vier Geltungsansprüche, die die Umgangsprache begleiten, d. h. objektive Wahrheit,
normative Richtigkeit, subjektive Wahrhaftigkeit und intersubjektive Verständlichkeit,
fungieren als transzendentale bzw. regulative Ideen, die eine Handlung als rational
auszeichnen. Anders gesagt, das rationale Moment eines Handelns liegt in den ihm
innewohnenden transzendentalen Geltungsansprüchen. Habermas nennt den Zustand, in
dem die regulativen Geltungsansprüche alle erfüllt werden und dadurch eine gewaltlose
Kommunikation ermöglichen, 'ideale Sprechsituation'. Er versteht diesen Begriff als
eine Art Maßstab oder als eine regulative Idee, nicht aber als ein zu realisierendes
Projekt.
Wegen des transzendentalen Moments der Geltungsansprüche sowie der Idee der nicht
zu realisierenden 'idealen Sprechsituation' fokussiert sich die Kritik an Habermas häufig
auf die Frage, ob er damit nicht wieder zur Kantischen Zwei-Welten Lehre zurückkehrt.
Die Habermassche Einteilung der Geltungsansprüche, die in einer Analyse der
Umgangsprache herausgearbeitet werden, erinnert an die Kantische Deduktion der
Kategorien mit Hilfe einer Analyse der Vernunft. Einer der Hauptkritikpunkte, der seit
Hegel gegen Kant geltend gemacht wird, ist, daß es keine überzeugende Verbindung
zwischen dem Noumenon bzw. der intelligiblen Welt und dem Phaenomenon bzw. der
Erscheinungswelt gibt. Man kann sich daher fragen, ob sich nicht die das Handeln a
priori regulierenden Geltungen bei Habermas auf die Kantische intelligible Welt
beziehen. Wenn diese Kritik richtig ist, führt sie dazu, daß seine ursprüngliche Absicht,
die innerweltliche sittliche Totalität rational zu deuten, und sein Geltungsbegriff
miteinander in einer Spannung stehen. Habermas ist sich dieses Kritikpunkts bewußt:
"Ernster ist das Bedenken, ob nicht mit dem Begriff des kommunikativen
Handelns
und
Geltungsansprüche
29
der
ein
transzendierenden
Idealismus
A.a.O., S. 179f.
180
Kraft
hergestellt
wird,
universalistischer
der
mit
den
materialistischen Einsichten des Historischen Materialismus unverträglich
ist." 30
Um dieses Problem zu vermeiden, muß er daher deutlich machen, daß der Bereich der
kommunikativ eingeteilten Geltungen nicht mit dem Bereich der Kantischen
Transzendentalität identisch ist. Während die Moral-Lehre Kants von dem "Purismus
der Vernunft" 31 ausgeht, setzt der Bereich der kommunikativen Geltungen immer
wirkliche Zeiten und Räume voraus. Genauer gesagt, die Theorie des kommunikativen
Handelns lehnt nicht nur den empirischen Perspektivismus, sondern auch die
Metaphysik der Vernunft oder 'den Purismus der Vernunft' ab, der davon ausgeht, daß
die Sprache erst nachträglich zu der Vernunft hinzu kommt. Das Wesen der
Geltungsansprüche besteht bei jeder Kommunikation darin, daß sie jeden lokalen
Kontext transzendieren und gleichzeitig jeweils nur in bestimmten Kontexten erhoben
werden. Das kommunikative Handeln ist also einerseits innerweltlich, weil es in der
konkreten Welt ausgeführt wird, und andererseits transzendental, weil es die über diese
Welt hinausgehende Normativität voraussetzt. Von daher spricht Habermas davon, daß
die in dem kommunikativen Handeln erhobene Geltung 'eine abgeschwächte oder
begrenzte Transzendentalität' ist.
Gerade in diesem Zusammenhang müssen die beiden oben genannten Punkte verstanden
werden, daß die Geltungsansprüche als transzendentale Ideen fungieren, die die
Rationalität einer Handlung bestimmen, und daß die ideale Sprechsituation nicht ein
real zu verwirklichendes Projekt, sondern eine regulative Idee ist. Habermas betont in
einer Abhandlung den Unterschied zwischen seiner Diskurstheorie und der Kantischen
Morallehre wie folgt:
"Erstens gibt die Diskursethik die Zwei-Rechte-Lehre auf. […] Eine
gleichsam transzendentale Nötigung, unter der sich verständigungsorientiert
eingestellte Subjekte an Geltungsansprüchen orientieren, macht sich nur in
dem Zwang bemerkbar, unter idealisierenden Voraussetzungen zu sprechen
und zu handeln. Der Hiatus zwischen Intelligiblem und Empirischem wird
zu einer Spannung abgemildert, die sich in der faktischen Kraft
kontrafaktischer
Unterstellungen
innerhalb
30
PDM, S. 374.
31
J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 186.
181
der
kommunikativen
Alltagspraxis
selber
bemerkbar
macht.
Zweitens
überwindet
die
Diskursethik den bloß innerlichen, monologischen Ansatz Kants, der damit
rechnet, daß jeder Einzelne in foro interno ('im einsamen Seelenleben', wie
Husserl sagte) die Prüfung seiner Handlungsmaximen vornimmt. […]
Einzig die Universalien des Sprachgebrauchs bilden eine den Individuen
vorgängig gemeinsame Struktur. Drittens erhebt die Diskursethik den
Anspruch, jenes Begründungsproblem, dem Kant letztlich durch den
Hinweis auf ein Faktum der Vernunft – auf die Erfahrung des Genötigtseins
durch Sollen – ausweicht, mit der Ableitung von 'U' [sc. dem
Universalisierungsgrundsatz]
aus
voraussetzungen gelöst zu haben."
allgemeinen
Argumentations-
32
Von daher braucht die kommunikative Vernunft, die in der auf die Verständigung
zielenden Alltagspraxis verwirklicht ist, nicht wie Kant von zwei unversöhnlichen
Welten auszugehen. Denn die kommunikativ Handelnden setzen beim Handeln immer
die über die Zufälligkeit des jetzigen Handelns hinausgehenden allgemeinen rationalen
Geltungsansprüche voraus und sind aber gleichzeitig mit der kontextabhängigen
Faktizität verbunden. Folglich wird die unversöhnliche Trennung zwischen den zwei
Welten Kants zu einer innerlebensweltlichen Spannung zwischen Geltung und Faktizität
abgemildert. 33 Habermas formuliert diesen Gedanke wie folgt:
"Die für Propositionen und Normen beanspruchte Geltung transzendiert
Räume und Zeiten, aber der Anspruch wird jeweils hier und jetzt, in
bestimmten Kontexten erhoben und mit faktischen Handlungsfolgen
akzeptiert oder zurückgewiesen." 34
Ferner denkt Habermas, daß die traditionelle Einheitsidee nichts anderes als 'ein
transzendentaler Schein' ist, der durch die Hypostasierung der alltagspraktisch
vorausgesetzten Lebenswelt zur spekulativen Idee des Einen und Allen entstanden ist:
"Mythische, religiöse und eben auch metaphysische Weltbilder haben sich der
32
J. Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: ders.,
Erläuterung zur Diskursethik, Frankfurt/M. 1991, S. 20f.
33
Vgl. ND, S. 182.
34
ND, S. 179 und PDM, S. 375.
182
vergegenständlichenden Projektion der nur intuitiv gewußten Einheit der Lebenswelt
auf die Ebene expliziten Wissens verdankt." 35 Wie schon erwähnt, bleibt die
Lebenswelt den Beteiligten als "ein intuitiv gewußter, unproblematischer und
unzerlegbarer holistischer Hintergrund im Rücken." 36 Sie bildet den "Horizont an
intersubjektiv geteilten Hintergrundannahmen, in die jeder Kommunikationsprozeß
vorgängig eingebettet ist." 37 Die Lebenswelt läßt sich daher nie vollständig begreifen
oder thematisieren. Die kommunikativ Handelnden müssen daher die Arbeit der
weltbildenden Synthesis übernehmen, weil die Lebenswelt "eine implizit und
vorreflexiv mitlaufende Totalität [bildet], die im Augenblick ihrer Thematisierung
zerfällt – Totalität bleibt sie nur im Modus des abgeschatteten, präsupponierten
Hintergrundwissens." 38
Aus diesem Grund erkennt auch Habermas, daß seine Bemühung, das Rationalitätsideal
der Aufklärung fortzuführen, nur in abgemilderter Form verwirklicht werden kann. Dies
ist der Grund, warum er den Begriff der "transitorischen Einheit" entwickelt hat, "die
sich in der porösen und gebrochenen Intersubjektivität eines sprachlich vermittelten
Konsenses herstellt" 39 und damit die Pluralisierung der Lebensformen sowie die
Individualisierung der Lebensstile ermöglicht. Er formuliert diese Einheit als 'Einheit
der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen'. Von diesem Hintergrund charakterisiert er
das Wesen der kommunikativen Vernunft wie folgt:
"Die kommunikative Vernunft ist gewiß eine schwankende Schale – aber sie
ertrinkt nicht im Meer der Kontingenzen, auch wenn das Erzittern auf hoher
See der einzige Modus ist, in der sie Kontingenzen 'bewältigt'." 40
35
ND, S. 183
36
PDM, S. 348.
37
Vgl. A. Honneth, Kritik der Macht, a.a.O., S. 318.
38
ND, S. 182f.
39
A.a.O., S. 180.
40
A.a.O., S. 184f.
183
2. Würdigung und Kritik der Habermasschen Theorie
Das 'kommunikative Handeln' und die 'Lebenswelt' als 'komplementärer' Begriff für
jenes Handeln sind die beiden Hauptbegriffe der Theorie des kommunikativen Handelns.
Der Gedanke der dialektischen Wechselwirkung zwischen beiden Faktoren kann als die
Habermassche Antwort auf die klassische sozialphilosophische Frage nach dem
Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft gelten; während die traditionelle
Sozialphilosophie eine reduktionistische Tendenz hat, indem sie entweder der
Gesellschaft oder dem Individuum die Priorität gibt, versucht Habermas die Autonomie
des einzelnen Subjekts und gleichzeitig dessen Abhängigkeit von der Lebenswelt, die
Kontinuität der Geschichte und deren Diskontinuität sowie die Kritik an der Kultur und
die Aufnahme der kulturellen Überlieferungen etc. in einer Theorie zu vereinigen. Im
Bezug auf den philosophischen Diskurs der Moderne läßt sich daher die Position von
Habermas wie folgt zusammenfassen: Erstens: die Theorie des kommunikativen
Handelns übernimmt die Zeitdiagnose der frühen kritischen Theorie, die behauptet, daß
die moderne wissenschaftliche Vernunft eine instrumentell verkürzte Vernunft ist, die
auf die wertneutrale Objektdarstellung abzielt. Die frühen Vertreter der kritischen
Theorie sehen den Ursprung dieser Vernunft in der modernen Subjektphilosophie, die
vom erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Schema ausgeht. Die positivistische
Tendenz der modernen Wissenschaft, die durch ihre objektivistische Methode
gekennzeichnet ist, spiegelt die allmähliche Machterweiterung der instrumentellen
Vernunft wider. Das Problem ist, daß diese Vernunft zwar zu dem Fortschritt der
modernen
Wissenschaft
beigetragen
hat,
aber
nicht
auf
ihre
eigene
erkenntnistheoretische Stellung reflektiert und kein Interesse an einer Selbstkritik oder
an einer Verbesserung des Subjekts hat.
Habermas bestätigt mit der Theorie des kommunikativen Handelns die Zeitdiagnose der
frühen kritischen Theorie, die den Verlust der kritischen Funktion der Vernunft als die
Ursache der pathologischen Erscheinungen der Moderne betrachtet. Darüber hinaus
bewahrt er mit seiner Theorie die moderne rationalistische Tradition, indem er nicht der
Rationalität selbst, sondern der instrumentell verkürzten Rationalität die Verantwortung
für die pathologischen Erscheinungen zuschreibt. Das subjektphilosophische Schema
verabsolutiert die instrumentelle Vernunft, und daher führen die Modernitätskritiker,
wie z. B. die Postmodernisten, den Grund der modernen pathologischen Erscheinungen
auf die Verabsolutierung der Vernunft, also auf 'ein Zuviel an Vernunft' zurück.
184
Habermas ist aber der Meinung, daß sowohl die Subjektphilosophie als auch der
Postmodernismus darin übereinstimmen, daß sie die instrumentelle Vernunft als
Vernunft überhaupt ansehen. Die Theorie der kommunikativen Vernunft zeigt dagegen
in der modernen Wissenschaft überhaupt die Form einer verkürzten Vernunft auf, und
somit herrscht "nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Vernunft". 41
Zweitens: diese Habermassche Antwort zeigt einen neuen Weg zu einer normativen
Basis für die Gesellschaftskritik, die der kritischen Gesellschaftstheorie fehlt; diese
Theorie, die davon ausgeht, daß die Vernunft infolge der Subjektsphilosophie ihre
kritische Funktion verliert und nur noch die instrumentelle Vernunft übrig bleibt, ist
trotzdem, so Habermas, insofern keinen Schritt über das subjektphilosophische
Denkschema hinaus gegangen, als ihre Kritik immer noch vom Ideal der Autonomie
und Freiheit geleitet ist. Nach Habermas ist dieses Ideal ein zentraler Bestandteil des
subjektphilosophischen Denkens. Der Kernpunkt der Habermasschen Kritik an der
kritischen Gesellschaftstheorie ist also, daß diese keine normative Basis hat, die die
Gültigkeit ihrer eigenen Kritik an der instrumentellen Vernunft garantieren kann. 42
Die kommunikative Vernunft verabsolutiert sich selbst dagegen nicht. Daher nennt
Habermas sie eine 'bescheidene Vernunft'. Gerade weil sie eine Verständigung über
etwas in der Welt intendiert, erkennt sie die Differenz zwischen Meinungen und
Argumenten an und versucht deshalb diese Differenz durch den Prozeß der
argumentativen
Auseinandersetzung,
also durch eine prozeduale Rationalität,
aufzulösen. Jede reale Kommunikation enthält schon das Moment der Rationalität in
sich in dem Sinne, daß sie – wenn man der sprachpragmatischen These folgt, daß jeder
Sprechakt immer semi-transzendentale Geltungsansprüche erhebt – eine ideale
Sprechsituation voraussetzt, von der aus Fälschung, Täuschung und (oder) Mißbrauch
der Macht kritisiert werden könnten. Hierdurch kann nach Habermas die kritische
Funktion
der
Vernunft
wiederhergestellt
werden,
die
in
der
kritischen
Gesellschaftstheorie verloren gegangen ist, und die Gesellschaftskritik kann einen neuen
normativen Maßstab gewinnen, ohne in einen Selbstwiderspruch zu geraten.
Die Theorie des kommunikativen Handelns hat allerdings trotz dieser Bemühungen
noch die folgenden Schwierigkeiten. Die Verknüpfung von kommunikativem Handeln
und Lebenswelt bei Habermas kann, wie erwähnt, sozialwissenschaftlich als ein
41
PDM, S. 361.
42
NU, S. 145, PDM, S. 95ff. Vgl. Anne Créau, Kommunikative Vernunft als 'entmystifiziertes Schicksal',
Frankfurt/M. 1991, S. 139f.
185
wechselseitiger Bedingungszusammenhang verstanden werden. Das Problem ist aber,
daß es nicht so einfach ist, sich den genauen Inhalt dieser Verknüpfung vorzustellen.
Die Lebenswelt wird als 'Ressource' und 'Horizont' des kommunikativen Handelns
angesehen. Der kommunikativ Handelnde wird dagegen als Subjekt verstanden, das die
Fähigkeit hat, rational zu handeln und durch die ungezwungene Kommunikation mit
den Anderen einen Konsens zu erreichen. Damit die Rationalität aber mit dem Begriff
der Kritik verbunden werden kann, ist für die Rationalität m. E. das Transzendieren der
gegebenen vorbewußten Bedingungen unentbehrlich. Man kann sich daher mit Recht
fragen, ob der kommunikativ Handelnde, der der apriorischen Struktur der Lebenswelt
verhaftet ist, wirklich einen ungezwungenen Konsens erreichen kann, und weiter, ob die
'ideale Sprechsituation' als theoretischer Begriff bei Habermas wirklich seine
Berechtigung hat, wenn das Subjekt stets von der Lebenswelt abhängig ist. Die 'ideale
Sprechsituation' kann daher bloß als eine Abstraktion gedeutet werden, die keine
Entsprechung in der Wirklichkeit hat.
Aus diesem Grund wird Habermas von entgegengesetzten Positionen gleichzeitig
kritisiert. Der Kern dieser Kritik an Habermas ist also, daß die Problematik der Totalität
bzw. des Ganzen bei dem Begriff des kommunikativen Handelns einerseits und die der
Individualität bzw. der Reflexionsfähigkeit des Subjekts bei dem der Lebenswelt
andererseits nicht ausreichend berücksichtigt werden können.
1) Kritik am kommunikativen Handeln:
Es wurde bereits erwähnt, daß Habermas für seine neue Rationalitätstheorie die
Sprachphilosophie auswertet, die es erlaubt, den Begriff der Rationalität mit den
Begriffen
'Einverständnis',
'Verständigung'
sowie
vor
allem
'ungezwungener
Kooperation' zu verbinden. Also spielt das Sprachparadigma bei der Habermasschen
Rationalitätstheorie eine entscheidende Rolle. Die 'Zwanglosigkeit' nimmt einen
zentralen Platz in seiner Rationalitätstheorie ein. Die Vorstellung der 'Zwanglosigkeit'
zeigt, daß Habermas in der philosophischen Tradition steht, die das Wesen der
Demokratie in dem Konzept der freiwilligen Kooperation sieht, d. h. die vertritt, daß die
Menschen dann dem Ideal der Rationalität entsprechen, wenn ihre Verträge als
freiwillig geschlossene Abmachungen aufgefaßt werden können.
Dies spiegelt einen modernen rationalistischen Optimismus wider, der von der
Selbständigkeit des einzelnen Subjekts und auch von der Möglichkeit einer
grundsätzlichen Kritik an der Kultur ausgeht. In der Tat deutet er selbst auf eine
Möglichkeit der Kritik an dem gesamten kulturellen Bereich hin: "Die kulturelle
186
Überlieferung muß ein reflexives Verhältnis zu sich selbst gestatten; sie muß ihrer
Dogmatik soweit entkleidet sein, daß die durch Tradition gespeisten Interpretationen
grundsätzlich in Frage gestellt und einer kritischen Revision unterzogen werden
dürfen." 43
Es fragt sich aber, ob diese grundsätzliche Kritik an der Kultur möglich sein kann, wenn
die Interaktionsbeteiligten nicht vollständig frei von äußeren materiellen sowie von
internalisierten Zwängen sind, welche außerhalb der Reichweite ihres Bewußtseins
liegen und dennoch ihr Verhalten beeinflussen oder sogar verursachen können. Diese
skeptische Frage bringt die weiteren Fragen mit sich, ob sich die Interaktionsbeteiligten
des Sinns ihrer Aussagen und ihres Tuns vollständig bewußt sein können, ob sie ihre
Sprache und ihr Weltbild überhaupt einer rationalen Überprüfung unterwerfen können
und ob die sprachlich strukturierten Weltbilder einfach als von Menschen konstituierte
Interpretationen betrachtet werden können, die vollständig der Kritik offen sind. Diese
Fragestellungen haben wiederum etwas mit einer anderen, für die Habermassche
Rationalitätstheorie entscheidenden Frage zu tun, ob ungezwungenes, bewußtes,
rationales Einverständnis überhaupt möglich ist, wenn die an der Kommunikation
Beteiligten unvermeidlich von der vorbewußten Tiefenstruktur der Symbole und der
Zeichenbedeutungen geprägt sind.
In seiner Rationalitätstheorie, die von der Vorstellung der Zwanglosigkeit der idealen
Sprechsituation ausgeht, scheint Habermas – entgegen seiner Absicht – die
Abhängigkeit der Menschen von den unbewußt wirkenden Strukturen der Lebenswelt
zu unterschätzen. Um seiner These gerecht zu werden, daß die Rationalität oder die
Freiheit des Menschen nicht in der vollständigen Befreiung von solchen Strukturen liegt,
sondern nur in dem Maße verwirklicht werden kann, in dem Kooperation innerhalb der
Strukturen der Lebenswelt zustande kommt, müßte Habermas statt der Vorstellung der
Zwanglosigkeit und der Idee der idealen Sprechsituation die empirischen Tatsachen
stärker in seiner Theorie berücksichtigen. Die Erfahrung lehrt, daß die Ansichten einer
Gesellschaft über die Gegenstände in der Welt und über die Normen des Handelns in
der Regel unkritisch und unhinterfragt von den einzelnen Subjekten übernommen
werden. Dies zeigt sich beispielsweise darin, daß selbst die modernen, rationalen
Weltdeutungen häufig arationale Momente enthalten und daher nach J. Alexander auch
43
TkH 1, S. 109.
187
in der Moderne das Mystische noch eine Rolle spielt. 44 Das Problem ist, daß es nicht
einfach ist zu beurteilen, ob diese Weltdeutungen irrational sind. Aus diesem Grund ist
Alexander der Ansicht, daß die Rationalitätstheorie von Habermas, da sie das sprechhandelnde Subjekt zu stark akzentuiert, die vorbewußten Strukturen des Kulturcodes
unterschätzt und insofern in den Verdacht gerät, daß sie "in antagonistischer Beziehung
zur Kultur" 45 steht. Diese Kritik weist also darauf hin, daß die Habermassche Theorie
ebenfalls dem Ideal der modernen Subjektphilosophie verhaftet ist, die zwar von der
Idee
der
absoluten
Kritikmöglichkeit
bzw.
der
absoluten
Autonomie
des
transzendentalen Subjekts ausgeht, aber mit der Paradoxie der Rationalität endet.
2) Kritik an der Lebenswelt:
Der Begriff der Lebenswelt führt zu einer ganz anderen Kritik. Während der Begriff des
kommunikativen Handelns bei Habermas an die typische moderne Auffassung von der
Autonomie des Subjekts anknüpft, erhellt am Begriff der Lebenswelt, daß Habermas die
Leistungen der Moderne unterschätzt. Er versucht mit Hilfe des Begriffs der Lebenswelt,
einerseits die Idee der Totalität der Gesellschaft zu rekonstruieren und andererseits die
Beziehungen der einzelnen Handlungen zur Lebenswelt darzustellen. Er betrachtet also
das Verhältnis zwischen der Totalität der Lebenswelt und der Autonomie des Handelns.
Dies ist die Habermassche Version der alten klassischen Frage nach dem Verhältnis von
Einem und Vielem. Es ist aber fraglich, ob die Lebenswelt – als nicht thematisierbare
Totalität oder als transzendentaler Ort, auf den sich die Interaktionsteilnehmer
gemeinsam beziehen sollen, – ein wissenschaftlicher oder philosophischer Begriff sein
kann. Eine der wichtigen Kritikpunkte Luhmanns an Habermas fokussiert sich gerade
auf dieses Problem:
"Ein unbestreitbar schöner, sich gut anfühlender Begriff: konkret und robust,
nah und fern zugleich, reich an empirischem Gehalt und doch mit den
Eigenschaften der äußersten Sphäre ausgestattet: se ipsa et omnia continens.
Gleichwohl steckt in diesem Begriff eine eigentümliche Ambibalenz, die
Aussagen über Lebenswelt unscharf werden lassen. Als Begriff läßt dieser
Weltbegriff sich von anderen Weltbegriffen […] und erst recht von allen
Sachbegriffen absetzen. Der Sachverhalt, den er bezeichnet, verträgt jedoch
44
Vgl. J. Alexander, Habermas' neue Kritische Theorie: Anspruch und Probleme, in: Kommunikatives
Handeln, A. Honneth / H. Joas (Hg.), Frankfurt/M. 1986, S. 103.
45
Ebd.
188
keine Exklusion. 46 Auch die Wissenschaft findet in der Lebenswelt statt.
Alles, was ist, ist in der Lebenswelt aufweisbar. Die Lebenswelt ist die Welt.
[…] Wir haben also einen Begriff, der die Begriffe, die er ausschließt, in
den Sachverhalt einschließt, den er bezeichnet. Daß mit dieser paradoxen
Struktur jedes Problem, auch das der Intersubjektivität, erfaßt werden kann,
ist leicht zu sehen. Aber was hilft die Umsetzung eines Problems in eine
Paradoxie?" 47
Auch D. Henrich, der eine ganz andere philosophische Position als Luhmann einnimmt,
sieht den Schwachpunkt der Habermasschen Theorie in diesem Begriff. Der Begriff der
Lebenswelt relativiert bei Habermas, wie schon erwähnt, den Begriff der Reflexion, der
als der Ausgangspunkt der modernen Philosophie gelten kann. Dies bedeutet umgekehrt,
daß dieser Begriff dafür Raum lassen könnte, die unmittelbare Totalität oder die
metaphysische Einheit wieder zu beleben, der sich die Reflexion einst mühevoll
entzogen hat. 'Reflexion' ist nach ihm ein Grundterminus im Denken der Moderne, der
nichts anderes meint als "das Bewußtsein von den Unterschieden zwischen den
Verständigungsarten, welche sich in der Spontaneität des bewußten Lebens ausgebildet
haben", und "eine Distanznahme zu den primären Tendenzen der Verstehensarten und
Selbstbeschreibungen insgesamt." 48 Die Reflexion ist also nach Henrich ein Resultat
der anstrengenden Bemühungen des menschlichen Denkens, sich der Unmittelbarkeit
des Seins zu entziehen. Aber mit der Einführung des Lebensweltbegriffs bringe
Habermas nur "eine längst verlorene Unmittelbarkeit"49 in Umlauf und könne dadurch
den Begriff der Reflexion und dessen Vorzüge nicht angemessen würdigen. Einer
überzeugenden Analyse der Reflexion, so D. Henrich, "weicht aber eine Theoriesprache
wie die von Habermas aus, die, wie immer unfreiwillig, für Unmittelbarkeit optiert,
46
Dies bedeutet nach Luhmann, daß die Lebenswelt nur durch interne Distinktion charakterisiert werden
kann. N. Luhmann, Intersubjektivität oder Kommunikation: Unterschiedliche Ausgangspunkte
soziologischer Theoriebildung, in: Archivio di Filosofia, Marco M. Olivetti (Hg.), Cedam 1986,
Anmerkung, S. 49.
47
48
Ebd. Hervorhebung im Original.
D. Henrich, Was ist Metaphysik – was Moderne? – Zwölf Thesen gegen J. Habermas; in: ders.,
Konzepte, Frankfurt/M. 1987, S. 18f.
49
Ebd.
189
indem sie die Ressourcen der Lebenswelt ohne weiteres als zuletzt verläßlich geltend
machen will." 50
50
A.a.O., S.19.
190
Zusammenfassung
Die Fragestellung
Die Philosophie bemüht sich heutzutage darum, das Wesen der Moderne zu verstehen.
Die verschiedenen Deutungen der Moderne stehen dabei in einem engen
Zusammenhang mit der Art und Weise, wie man viele sozialpathologische
Erscheinungen behandelt, die die Entwicklung der Technik mit sich bringt und die das
Leben des Menschen selbst gefährden. Die Teilnehmer an dem Diskurs der Moderne
gehen in der Regel davon aus, daß die Moderne, um sich von der mythischen,
metaphysischen Denkweise und der autoritären Kultur der Vergangenheit zu befreien,
in einer erkenntnistheoretischen Wende des Denkens die Problematik der Subjektivität
in den Vordergrund gestellt hat. Im Verlaufe der Zeit sei die Moderne, der es um die
Freiheit des Menschen ging, aber "einem neuen Mythos zum Opfer" 1 gefallen.
TPF
FPT
Diese Zeitdiagnose hat drei verschiedene philosophische Antworten hervorgerufen: 1)
die postmoderne Position, die das Projekt der vernünftigen, rationalen Emanzipation der
Moderne als Mißerfolg bestimmt und damit in die Richtung eines Irrationalismus oder
Antirationalismus geht, 2) die subjektphilosophische Position, die davon aus geht, daß
die sozialpathologischen Erscheinungen der Moderne aus einer inkonsequenten
Anwendung der modernen Vernunftidee resultieren und daher nicht daran zweifelt, daß
innerhalb der Philosophie die Vernunft der oberste Richter sei; sie vertritt also einen
starken rationalistischen Optimismus und geht davon aus, daß das Paradox der
Aufklärung durch die Entwicklung der auf der modernen Rationalität basierenden
Wissenschaft und Technik aufgehoben werden sollte; 3) die intersubjektivitätsphilosophische Position, die die sozialpathologischen Erscheinungen der Moderne zwar
als
Resultat
der
monologischen,
vom
Subjekt-Objekt-Schema
ausgehenden
subjektivistischen Vernunft anerkennt, aber gleichzeitig die Wiederherstellung der
emanzipatorischen Funktion der Vernunft zu erreichen versucht, indem sie von einem
intersubjektiven, dialogischen Vernunftkonzept ausgeht. Anders gesagt, diese Position
kritisiert zwar die Moderne in dem Punkt, daß sie die monologische, subjektivistische
Vernunft ablehnt, aber sie nimmt durch die Erweiterung des Bereiches der Vernunft die
rationalistische Tradition der Moderne über. Dadurch gewinnt sie eine Möglichkeit,
innerhalb der rationalistischen Tradition der Moderne das Projekt der Moderne weiter
TP
1
PT
M. Jay, Dialektische Phantasie, a.a.O., S. 305.
191
zu entwickeln, während die ersten beiden Positionen dem Schema von Vernunft/NichtVernunft verhaftet sind und daher entweder in einen Rationalismus oder in einen Irbzw. Antirationalismus fallen.
Also zeichnet sich die erste Position durch eine Radikalisierung der dezentrierenden
Tendenzen, die zweite durch die entschlossene Beibehaltung des klassischen
Autonomieideals und die dritte durch eine Rekonstruktion der Vernunft durch die Idee
der Intersubjektivität aus. 2
TPF
FPT
Der Ausgangspunkt des Habermasschen Denkens
Habermas beurteilt den Paradigmenwechsel von der Subjektivität zur Intersubjektivität
als "die eigentliche philosophische Leistung unserer Epoche." 3 Nach ihm sind die erste
TPF
FPT
und die zweite Position insofern einseitig, als sie die subjektivistische bzw.
instrumentelle Vernunft als einzige Form der Vernunft betrachten; die Differenz
zwischen ihnen liegt nur darin, daß die erste Position diese Vernunftkonzeption
abschaffen will, während die zweite an ihr festhalten möchte. Nach Habermas
überwindet die Subjektivitätsphilosophie nicht den monologischen, verdinglichenden
Charakter der Vorstellung eines einsamen, abgeschlossenen Subjektes, das sich die Welt
unterwirft,
während
die
postmoderne
Position
insofern
problematisch,
ja
selbstwidersprüchlich ist, als sie ihre eigenen ir- oder antirationalistische Ansichten
selbst noch mit rationalen, d. h. vernünftigen Argumenten rechtfertigt.
Aus dieser Sicht betrachtet Habermas die gegenwärtigen sozialpathologischen
Erscheinungen weder als einen direkten Beweis für den Mißerfolg des Projektes der
Moderne noch als einen Grund für den Übergang zur Postmoderne, noch sieht er diese
Probleme als Resultat einer inkonsequenten Anwendung der modernen Vernunftidee an;
vielmehr versteht er sie als Ausdruck der "mit sich selber zerfallenen Moderne".4 Dies
TPF
FPT
bedeutet, daß das Projekt der Moderne mit dem Rationalisierungsprozeß zwar verzogen
wurde, aber innerhalb der Moderne weitergeführt werden kann und muß. Er strebt also
eine Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne an. Diese Versöhnung
bedeutet für ihn vor allem, Formen des vernünftigen Zusammenlebens zu finden, ohne
die in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen erscheinenden Differenzierungen
2
Vgl. A. Honneth, Dezentrierte Autonomie, a.a.O., S. 238f.
TP
PT
3
NU, S. 134.
TP
PT
TP
4
PT
TP
A.a.O., S. 202.
192
preiszugeben. 5 Vor diesem Hintergrund kann er 'die mit sich zerfallene Moderne' nicht
TPF
FPT
als Scheitern der Moderne bzw. der Aufklärung, sondern als 'ein unvollendetes Projekt'
ansehen: 6 "Die Hoffnung auf Emanzipation der Menschen aus selbstverschuldeter
TPF
FPT
Unmündigkeit und erniedrigenden Lebensumständen hat ihre Kraft nicht verloren." 7
TPF
FPT
Hegel und Habermas
Habermas sieht in der Philosophie des jungen Hegel den ersten Versuch, die Moderne
nicht als gescheitert, sondern als in sich gespalten zu betrachten. Anders gesagt, Hegel
ist der erste Philosoph, der das Problem der 'Entzweiung' der Moderne analysiert. Das
ist der Grund, warum Hegel in seiner früheren Zeit den Begriff einer versöhnenden
Vernunft entwickelt hat und nicht, wie die Postmoderne, den Begriff der Nicht-Vernunft
zur zentralen Kategorie erhebt. "Entzweiung ist der Quell des Bedürfnisses der
Philosophie", 8 deren Aufgabe es ist, die Trennung in eine Einheit zu bringen.
TPF
FPT
In seiner Kritik an den positiven Systemen, wie z. B. an der christlichen Religion und an
der Reflexionsphilosophie, zeigt er, daß die moderne Subjektivität nichts anderes als
eine verengte, einseitige isolierte Reflexion ist. 9 Diese Reflexion erlaubt, so Hegel, zwar
TPF
FPT
eine Emanzipation von der religiösen, mythtischen und metaphysischen Weltsicht, aber
sie führt zu einer dualistischen Entzweiung des Lebens und macht eine lebendige
Einheit von 'privatem und öffentlichem Leben', von 'Sein und Sollen' und von 'Glauben
und Wissen' etc. unmöglich. Der Hauptkritikpunkt von Hegel an der modernen
subjektivistischen Vernunft besteht also darin, daß diese Vernunft zwar eine
Emanzipation von der christlichen Weltanschauung ermöglicht hat, aber daß sie wegen
ihrer strikten Selbstbeziehung keine Einheit mit dem Anderen, wie z. B. mit dem
Glauben, herstellen konnte.
Hegel geht von dieser kritischen Überlegung zum Entwurf einer 'versöhnenden
Vernunft' über, durch die das getrennte Leben wieder vereinigt werden kann. Dieser
5
Vgl. Ebd.
TP
PT
6
Habermas hielt bei dem Empfang des 'Adorno-Preises' der Stadt Frankfurt 1980 einen Vortrag, dessen
TP
PT
Titel: "Die Moderne – ein unvollendetes Projekt" lautet. Dieser Titel deutet sehr gut die Zielsetzung von
Habermas an. Dieser Artikel befindet sich in: J. Habermas, Kleine Politische Schriften, Frankfurt/M. 1981.
7
J. Habermas, Die nachholende Revolution, a.a.O., S. 203.
TP
PT
8
TP
G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 12. Hervorhebung im Original.
PT
9
TP
PT
Vgl. A.a.O., S. 16. Der Jenaer Hegel schlägt statt dieser isolierten Reflexion eine philosophische
Reflexion, d. h. die Vernunft bzw. Spekulation als einen philosophischen Begriff für eine wahre
Vereinigung vor.
193
Übergang geht von der Überlegung aus, daß die isolierte Reflexion, d. h. die
subjekphilosophische Vernunft die Aufgabe der Vereinigung des Lebens nicht erfüllen
kann; sie behandelt das Andere in dem erkenntnistheorischen Denkschema von Subjekt
und Objekt und enthält daher praktisch schon einen Keim der Herrschaftsstruktur in sich.
Hegel konkretisiert dagegen in seiner Frankfurter Zeit die Idee der 'versöhnenden
Vernunft' mit Hilfe der Begriffe der Liebe und des Lebens. Liebe bedeutet bei Hegel,
das Andere als notwendige Bedingung für die eigene Existenz anzusehen, also das
Selbst im Anderen zu finden, und Leben bedeutet für ihn, Manigfaltiges und
Einheitliches, Endliches und Unendliches als eine Einheit zu verstehen, ebenso wie ein
Organismus viele Glieder in sich vereint. Hegel bezeichnet vor diesem Hintergrund das
Leben als "die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung." 10
TPF
FPT
Es wird also deutlich, daß Hegel das Leben als ein 'Zusammenleben' bzw. als ein
gesellschaftliches
Leben
versteht.
Die
positiven
Institutionen
und
die
Reflexionsphilosophie dienen für Hegel nur dem, die Trennung des einzelnen Lebens
vom Zusammenleben zu rechtfertigen, wie anhand der Geschichte Abrahams deutlich
wird, dessen Zerreißung der "Bande des Zusammenlebens und der Liebe" 11 ihn zum
TPF
FPT
Stammvater einer Nation machte, die dem Geist der Trennung verhaftet war. Die
'versöhnende Vernunft' bezweckt also die Wiederherstellung einer sittlichen
Gemeinschaft.
Habermas findet in dem Begriff der 'versöhnenden Vernunft' des jungen Hegel ein
Vorbild seiner Philosophie; durch die Erhebung der Liebe und des Lebens zu einer
Form der Vernunft konnte Hegel die Vernunft nicht mehr als etwas Substanzielles,
sondern als ein Medium betrachten, das das Selbst und das Andere miteinander
verbindet. Hegel entwickelt in der Philosophie des Geistes der Jenaer Zeit den Begriff
der Vernunft als Medium noch systematischer, wo er den subjektiven Geist in Sprache,
Arbeit (bzw. Werkzeug) und Familie (bzw. Liebe) unterteilt; die Funktion der Sprache
besteht in der Darstellung des Verhältnisses zwischen dem erkennenden Subjekt und
dem erkannten Gegenstand, das Werkzeug vermittelt die Natur und das handelnde
Subjekt, und die Liebe bezieht die handelnden Subjekte aufeinander.
Dieser Gedanke unterscheidet sich stark von dem Begriff des Selbstbewußtseins der
Reflexionsphilosophie, den Habermas eine 'narzißtische', transzendentale Subjektivität
nennt, weil er auf dem "reinen, sich auf sich selbst beziehenden Bewußtsein der
10
PT
G. W. F. Hegel, TW, Bd. 1, S. 422.
TP
TP
11
PT
A.a.O., S. 277.
194
ursprünglichen Apperzeption" 12 basiert. Der Geist wird dagegen bei Hegel als eine
TPF
FPT
Einheit zwischen Subjekt und Objekt konzipiert: "Es muß eigentlich weder von einem
solchen Subjekte noch Objekte die Rede sein, sondern vom Geiste." 13 Habermas
TPF
FPT
schreibt dazu: "Anstelle der fruchtlosen Kontroversen der Erkenntnistheorie will Hegel
die Diskussion auf jene 'Medien' lenken, die die Beziehungen zwischen Subjekt und
Objekt bereits vor jeder aktuellen Begegnung strukturieren. Beide Seiten, Subjekt und
Objekt, sind Relata, die nur mit und in ihren Beziehungen zueinander existieren. [...]
Gleichwohl gebraucht Hegel den Terminus 'Geist' für die Medien von Sprache, Arbeit
und Interaktion [...]."
14
TPF
FPT
Wenn das Subjekt in der Welt als ein in den
Weltzusammenhang integrietes Element vorhanden ist, dann kann es keine
philosophische Aufgabe des Subjektes sein, eine Kluft zwischen sich und einem von
ihm separierten Anderen zu überbrücken.
Habermas ist der Ansicht, daß Hegel die problematischen Aspekte der Moderne zwar
richtig erkannt hat, aber keine überzeugende Lösung anbietet. Beispiele dafür sind, daß
Hegel in der Frankfurter Zeit, entgegen dem Bedürfnis der Moderne nach
Selbstbegründung, 15 die vormoderne, antike Gesellschaftsform als Vorbild für eine neue
TPF
FPT
Gesellschaft betrachtete und daß er in der Jenaer Zeit das Problem der modernen
Gegensätze mit dem Begriff des absoluten Geistes zu lösen versuchte, der nichts
anderes ist als eine alle Unterschiede unter sich subsumierende substanzielle Vernunft;
seine zutreffende Kritik an der Aufklärung, von der er sich wegen ihrer Abhängigkeit
von der substanziellen, abstrakten Vernunft abgrenzen möchte, endete nach Habermas
lediglich mit einer Zementierung der substanziellen Vernunft. Habermas betrachtet dies
als die Grenze des mentalistischen Denkens, das seit Descartes die europäische
Philosophie beherrscht. 16
TPF
FPT
Die Linguistische Wende der Philosophie
1) Die Charakteristik des Sprechens: die Erhebung der Geltungsansprüche
Das ursprüngliche Projekt des jungen Hegel, eine versöhnende Vernunft zu entwerfen,
die die Differenzierung der Moderne als solche anerkennt und gleichzeitig eine rationale
12
PT
J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 195.
TP
13
PT
G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe I, in: GW, Bd. 6, S. 205.
TP
14
PT
J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 195f.
TP
15
PT
Siehe zur Auffassung der Moderne den 1. Abschnitt des II. Kapitels in dieser Arbeit.
TP
TP
16
PT
Siehe dazu J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 186.
195
Einheit hervorbringt, kann nach Habermas erst durch den Paradigmenwechsel vom
bewußtseinsphilosophischen zum linguistischen Paradigma verwirklicht werden.
Eine der interessantesten Eigenschaften der Sprache ist nach ihm, daß jeder Sprechakt
immer von einem Geltungsanspruch begleitet wird; jeder konkrete Sprechakt verweist
auf einen bestimmten Kontext, in dem er gültig ist, und setzt damit einen die
Konkretheit dieses Aktes transzendierenden Bereich voraus. Die Äußerung: "Dies ist
ein Kugelschreiber" z. B. verweist um ihrer Gültigkeit willen auf einen bestimmten
Kontext, in dem sie beispielsweise als wahr oder als falsch beurteilt werden kann. Diese
Äußerung erhebt in diesem Fall den Geltungsanspruch der Wahrheit.
Dieses Beispiel zeigt, daß die im Sprechakt vollzogenen Geltungsansprüche als
Ansprüche jeden lokalen Kontext transzendieren und zugleich hier und jetzt erhoben
sowie faktisch anerkannt werden: Die "Geltung transzendiert Räume und Zeiten, 'tilgt'
Raum und Zeit, aber der Anspruch wird jeweils hier und jetzt, in bestimmten Kontexten,
erhoben und mit faktischen Handlungsfolgen akzeptiert oder zurückgewiesen." 17 Also
TPF
FPT
geht es bei der sprachphilosophischen, kommunikativen Reflexion um diese konkrete
und geschichtliche Transzendentalität, während es bei der bewußtseinsphilosophischen,
vorsprachlich-einsamen Reflexion um die formale und überzeitiliche Transzendentalität
geht. 18
TPF
FPT
Habermas sieht in dieser linguistischen Theorie eine Möglichkeit, sowohl den 'Purismus
der Vernunft' der Kantischen Ethik, die den von der konkreten Realität unabhängigen
Kategorischen Imperativ herstellt, als auch die utilitaristische Ethik des Empirismus zu
überwinden,
der
keine
(rein)
vernünftige
Realität
anerkennt.
Die
Semi-
Transzendentalität der den Sprechakt begleitenden Geltungsansprüche kann nach
Habermas deutlich machen, daß diese zwei philosophischen Positionen lediglich zwei
Extremfälle sind, die in der Ethik jeweils nur einen Aspekt der Sprechakte
(Tranzendentalität oder Empirizität) berücksichtigen. Die sprachphilosophische Wende
der Philosophie macht die traditionelle philosophische Grundfrage nach dem Verhältnis
von Empirie und Transzendentalität sowie Individualität und Universalität etc.
gegenstandlos.
2) Das Wesen der Sprache: die Kommunikation
Auch die Sprechakttheorie, die für die Habermassche Gesellschaftstheorie eine
entscheidende Rolle spielt, nimmt als eine Sprachtheorie die sprachphilosophische
17
PT
PDM, S. 375.
TP
TP
18
PT
A.a.O., S. 371.
196
Einsicht auf, daß jeden konkreten Sprechakt semi-transzendentale Geltungsansprüche
begleiten. Darüber hinaus sieht sie das Wesen der Sprache in deren kommunikativem
Charakter, nicht in deren Sachverhalte darstellender Funktion. Diese Auffassung der
Sprache unterscheidet sich vor allem von der Wahrheitssemantik bzw. von der
Bedeutungstheorie. Die Bedeutungstheorie geht davon aus, daß die Funktion der
Sprache in der objektiven Darstellung der Tatsachen bzw. der Sachverhalte besteht. Die
Gültigkeit dieser objektiven Darstellung, die mit den Kategorien wahr/falsch zum
Ausdruck gebracht wird, hängt vollständig davon ab, ob das darstellende Subjekt eine
objektive Distanz zu dem dargestellten Objekt, d. h. eine Beobachterperspektive,
einnimmt. Wenn man unter Rationalität, so Habermas, "die Wissenserwerbung und –
19
verwendung der Subjekte"
TPF
FPT
versteht, bemißt sich Rationalität bei dieser
Bedeutungstheorie daran, "wie sich das einsame Subjekt an seinen Vorstellungs- und
Aussageinhalten orientiert." 20 Für diese Position ist die objektive Welt bloß das Korrelat
TPF
FPT
aller wahren assertorischen Sätze. Habermas sieht darin eine sprachphilosophische
Version der modernen Subjektphilosophie bzw. der positivistischen Neigung der
modernen Wissenschaft.
Im Gegensatz zur Bedeutungstheorie geht die Sprechakttheorie davon aus, daß für die
gesellschaftliche und kulturelle Lebensform der Menschen nicht primär der Gebrauch
der Propositionen, die einer Abbildung der Dinge bzw. der Sachverhalte dienen,
entscheidend ist, sondern der kommunikative Gebrauch der propositionell konstituierten
Sprache. Dies schließt ein, daß das Wesen der Sprache in der 'Verständigung über etwas
in der Welt' liegt. Bei diesem Gedanke ist also immer die Interaktion zwischen
Subjekten vorausgesetzt. Die Interaktionsteilnehmer nehmen nicht eine objektive
Beobachterperspektive für die Darstellung der Sachverhalte ein, sondern eine
Teilnehmerperspektive, von der aus sie durch den Austausch ihrer Meinungen
bestimmte Resultate erreichen können. Bei dieser Theorie bemißt sich Rationalität an
der "Fähigkeit zurechnungsfähiger Interaktionsteilnehmer, sich an Geltungsansprüchen,
die auf intersubjektive Anerkennung angelegt sind, zu orientieren", und die
Rationalitätsmaßstäbe
der
kommunikativen
Vernunft
finden
sich
in
"den
argumentativen Verfahren der direkten oder indirekten Einlösung von Ansprüchen auf
19
PT
Vgl. TkH 1, 25f. und PDM, S. 366.
TP
TP
20
PT
PDM, S. 366.
197
propositionale Wahrheit, normative Richtigkeit, subjektive Wahrhaftigkeit und
ästhetische Stimmigkeit." 21
TPF
FPT
Die Sprechakttheorie geht von der These aus: "etwas sagen [heißt] etwas tun." 22 Dies
TPF
FPT
bedeutet, daß die Funktion eines Sprechaktes nicht in dem Abbild der Dinge bzw. der
Sachverhalte, sondern in der Kommunikation besteht, die als eine Interaktion der
Subjekte auf eine bestimmte Verständigung abzielt. Nach dieser Theorie enthalten
elementare Sprechakte wenigstens drei Bestandteile: 1) den propositionalen
(lokutionären) Akt, in dem die Sachverhalte objektiv dargestellt werden, 2) den
performativen (illokutionären) Akt, der den Sprecher und den Hörer in eine
intersubjektive Verbindung bringt, und 3) den expressiven (perlokutionären) Akt, in
dem sich die Intention des Sprechers zeigt. 23
TPF
FPT
Wenn alle Sprechakte aus den aufeinander nicht reduzierbaren drei verschiedenen
Bestandteilen
bestehen,
muß
jeder
Sprechakt,
endsprechend
jenem
sprachphilosophischen Prinzip: 'jeder Sprechakt erhebt Geltungsansprüche', unter drei
Geltungsaspekten analysiert werden. Ein Hörer kann z. B. eine Äußerung eines
Sprechers zurückweisen, weil sie entweder objektiv nicht wahr, normativ nicht richtig
oder subjektiv nicht wahrhaftig ist. Im ersten Fall fungiert die objektive Wahrheit, im
zweiten die normative Richtigkeit und im dritten die subjektive Wahrhaftigkeit als
Geltungskriterium der Aussage. Aus der Sicht der Sprechakttheorie wird also die
Geltung einer Äußerung nicht bloß auf die Problematik der Wahrheit reduziert;
vielmehr bezieht sich eine Äußerung je nach dem Kontext auf verschiedene,
aufeinander nicht reduzierbare Geltungsbereiche. 24
TP
21
FPT
PT
Ebd.
TP
22
PT
John L. Austin, Zur Thoerie der Sprechakte, a.a.O., S. 35.
TP
23
PT
Siehe dazu PDM, S. 363.
TP
24
TP
F
PT
Wie ein Satz kommunikativ benutzt wird, zeigt Habermas durch einen exemplarischen Satz (TkH 1, S.
411f.); wenn ein Professor einen Seminarteilnehmer auffordert: "Bitte, bringen Sie mir ein Glas Wasser!",
kann der aufgeforderte Seminarteilnehmer diese Aufforderung prinzipiell im Hinblick auf die drei
Geltungsansprüche ablehnen: 1) "Nein, Sie können mich nicht wie einen Ihrer Angestellten behandeln."
2) "Nein, eigentlich haben Sie ja nur die Absicht, mich vor anderen Seminarteilnehmern in ein schiefes
Licht zu bringen." 3) "Nein, die nächste Wasserleitung ist so weit entfernt, daß ich vor Ende der Sitzung
nicht zurück sein könnte." Er stellt bei der ersten Antwort die normative Angemessenheit der Äußerung
des Professors in Frage, bei der zweiten die subjektive Wahrhaftigkeit und bei der dritten die
Exsistenzpräsuppositionen der Aussage. Dieses Beispiel verdeutlicht, daß sich ein kommunikatives
Handeln je nach den Handlungskontexten ganz verschieden entwickeln kann.
198
Hier ist zu betonen, daß die Sprechakttheorie die Welt nicht nur als die Gesamtheit von
Gegenständen oder existierenden Sachverhalten begreift, wie es die Ontologie der
Bewußtseinsphilosophie tut; außer der Welt des Objektiven werden auch die Welt des
Normativen sowie die Welt des Subjektiven postuliert. "Mit jedem Sprechakt bezieht
sich der Sprecher gleichzeitig auf etwas in der objektiven, in einer gemeinsamen
sozialen und in seiner subjektiven Welt." 25 Der kommunikativ verstandene Sprechakt
TPF
FPT
besteht also darin, daß das Subjekt den Gegenstand durch die Interaktion mit anderen
Subjekten reflexiv rekonstruiert.
Die Habermassche Anwendung der Sprechakttheorie auf die
Handlungs- und die Gesellschaftstheorie
Habermas nimmt den Grundgedanken der Sprechakttheorie als Grundlage für eine neue
Handlungs- bzw. Gesellschaftstheorie. Die menschlichen Handlungen werden
gewöhnlich als eine Form der Zwecktätigkeit begriffen, mit der "ein Aktor in die Welt
eingreift, um durch die Wahl und den Einsatz geeigneter Mittel gesetzte Ziele zu
realisieren." 26 Durch die Arbeit, eine besondere Form dieser Zwecktätigkeit, will das
TPF
FPT
Subjekt den gegebenen Gegenstand zu seinem Zweck verändern. Die Arbeit kann also
als ein Ausdruck der Zweck-Mittel-Beziehung verstanden werden. Über dieses
instrumentelle Handeln herrscht daher die instrumentelle Rationalität bzw. die
Zweckrationalität. Die klassische Sozialwissenschaft wie z. B. bei K. Marx betrachtet
diese Zwecktätigkeit als ihren Hauptgegenstand.
Habermas versteht diese Handlungstheorie, die das Objekt als das ansieht, was vom
Subjekt bearbeitet wird oder werden muß, als eine sozialwissenschaftliche Version der
Subjektsphilosophie. Bei der Subjektsphilosophie wird "Wissen ausschließlich als
Wissen von etwas in der Welt" 27 verstanden, und der Handlungserfolg hängt vollständig
TPF
FPT
davon ab, ob das Subjekt seine Beziehung zur Welt möglicher Objekte richtig beurteilen
kann. Wenn man die sprachpragmatischen Annahmen – 1) jeder Sprechakt erhebt
Geltungansprüche, die über den konkreten Kontext hinausgehen, 2) es gibt mindestens
drei verschiedene Bestandteile in dem Sprechakt und dementsprechend drei
Geltungsbereiche und 3) der Sprechakt zielt auf die Verständigung ab – auf diesen
Handlungsbegriff anwendet, kann ein ganz anderer Typ der Handlung zum Vorschein
25
PT
PDM, S. 365.
TP
26
PT
ND, S. 63.
TP
TP
27
PT
PDM, S. 366.
199
kommen. Habermas nennt ihn 'sprachlich vermittelte Interaktion', also 'kommunikatives
Handeln'.
Habermas unterscheidet das kommunikative Handeln nicht nur von jenem einfachen
instrumentellen Handeln, sondern auch vom reinen Sprechakt. Der reine Sprechakt wird
bei der Sprechakttheorie als eine Handlung unter vielen menschlichen Handlungen
angesehen. Habermas geht aber bei seiner Konzeption des kommunikativen Handelns
davon aus, daß jedes menschliche Handeln sprachlich vermittelt ist und daß es somit auf
die Verständigung abzielt. Dies ist der Grund, warum Habermas die Sprechakttheorie
zur 'Universalpragmatik' verallgemeinert. Kommunikatives Handeln ist daher weder
eine Handlung, die von der Beziehung des einsamen Subjektes zum Objekt ausgeht,
noch ein Sprechakt, der bloß auf eine kognitive Verständigung abzielt, sondern eine
Interaktion der sprech-handelnden Subjekte, die sich auf die praktische Verständigung
richtet. Das kommunikative Handeln läßt sich entsprechend den drei Bestandteilen des
Sprechaktes und dessen drei Geltungsansprüchen jeweils in strategisches, normatives
und dramaturgisches Handeln unterteilen.
Strategisches Handeln, das dem propositonellen Gebrauch des Sprechaktes entspricht,
ist ein anderer Name für die utilitaristische Seite des kommunikativen Handelns, die auf
die Realisierung eines Zwecks durch die Wahl der erfolgversprechenden Mittel und
deren Anwendung abzielt. Die Interaktionsbeteiligten erscheinen hier als egozentrische
bzw. erfolgsorientierte Subjekte. Dieses Handeln findet sich besonders im
Tauschverhältnis in dem ökonomischen sowie im Machtverhältnis im politischen
Bereich. Die Gesellschaft ist von diesem Standpunkt aus betrachtet als 'eine
instrumentelle Ordnung', die die Handlungsgrenze der erfolgsorientiert handelnden
Subjekte bestimmt.
Normatives Handeln, das dem illokutionären Gebrauch des Sprechaktes entspricht, ist
eine Handlung, die von den anderen Mitgliedern einer Gruppe erwartet wird. Die
Gesellschaft ist hier nichts anderes als ein System anerkannter Normen.
Dramaturgisches Handeln, das dem perlokutionären Gebrauch des Sprechaktes
entspricht, ist eine Handlung, durch die die Interaktionsbeteiligten füreinander das
Publikum bilden und bei der ein Aktor sich selbst vor dem Publikum präsentiert, indem
er sich selbst kontrolliert. Bei diesem Hadeln geht es um die Selbstrepräsentation des
Subjektes.
Die sprachtheoretische Wende der Handlungstheorie zeigt, daß einerseits die vom
teleologischen Handlungsbegriff ausgehende traditionelle Handlungstheorie nur eine
200
sehr begrenzte Gültigkeit hat und nicht alle Formen der Handlungen berücksichtigt.
Andererseits können alle Geltungsansprüche, also die Wahrheit (bzw. Nützlichkeit) bei
dem teleologischen (bzw. strategischen), die Richtigkeit bei dem normativen und die
Wahrhaftigkeit bei dem dramaturgischen Handeln, nur innerhalb der Kategorie der
'Verständigung' bei dem komunikativen Handeln sinnvoll betrachtet werden. Aus dieser
Sicht erscheinen die oben beschriebenen drei Handlungstypen als 'Grenzenfälle' des
kommunikativen Handelns.
Ideale Sprechsituation: Die bei jedem Sprechakt vorausgesetzten Geltungsansprüche
bedeuten die Einbeziehung des Aktors in einen universellen Diskurs. Die Mitglieder
einer Gemeinschaft können in einem bestimmten Konfliktfall mit Hilfe dieser
Geltungsansprüche einen Platz jenseits der bestehenden Ordnung einnehmen, von dem
aus sie auch einen Konsens über die gewandelten Sitten und über die Neudefinition von
Werten erzielen können. Anders gesagt, die Interaktionsteilnehmer setzen immer eine
ideale Sprechsituation voraus, die "die Idee einer unversehrten Intersubjektivität"
beinhaltet, die nichts anderes als "symmetrische Verhältnisse freier reziproker
Anerkennung" 28 meint. Habermas grenzt sich aber dabei von dem Versuch ab, die Idee
TPF
FPT
der idealen Sprechsituation zur Totalität einer versöhnten Lebensform auszumalen und
als Utopie in die Zukunft zu projizieren. Er beschreibt mit dieser Idee die notwendigen
Bedingungen für nicht antizipierbare Formen eines nicht verfehlten Lebens. Von
zentraler Bedeutung sind dabei nicht die materiellen Inhalte einer nicht verfehlten
Lebensform, sondern die formale Wichtigkeit des "eigenen, nicht etwa konfliktfreien,
aber solidarischen Zusammenwirkens" 29 der Beteiligten, damit ein besseres Leben
TPF
FPT
überhaupt realisiert werden kann. In dieser Idee konkretisiert Habermas daher eine in
den Bedingungen des kommunikativ erreichten Konsenses ausgedrückte Rationalität, d.
h. die prozedurale Rationalität.
Lebenswelt: Während das Konzept eines nicht verfehlten Lebens bei Habermas als ein
Idealtypus fungiert, drückt die Lebenswelt die konkrete Totalität des sittlichen Lebens
aus; die Lebenswelt ist den verständigungsorientiert handelnden Subjekten immer nur
'mitgegeben' und kann niemals thematisiert werden. Die Sprechsituation, die die
Handelnden in bestimmte Kontexte einbindet, weist auf ihre Beziehung zur Lebenswelt
hin. Die Lebenswelt kann selbst nicht thematisiert werden und fungiert bei den
konkreten Sprechsituationen nur als 'Ressource' der Interaktionsbeteiligten. Je nach der
28
PT
ND, S. 185.
TP
TP
29
PT
A.a.O., S. 186.
201
Sprechsituation erscheint die Lebenswelt, entsprechend der Triade der Sprechakttheorie,
mal als Totalität des traditionell anerkannten Wissens (als Kultur), mal als Totalität der
gebräuchlichen Normen (als Gesellschaft) und mal als Totalität der Sozialisation der
Individuen (als Person).
Reproduktion der Lebenswelt: Wenn die Lebenswelt nicht thematisiert werden kann
und bei jedem Handeln stets 'präreflexiv' bleibt, wie kann die Reproduktion der
Lebenswelt aufgefaßt werden? Habermas erfaßt diesen Vorgang als wechselseitige
Beziehung zwischen der Lebenswelt und der kritischen Reflexion der sprechhandelnden
Subjekte.
Erkenntnissubjektes
Während
sich
die
vorsprachliche
objektivierend
auf
sich
einsame
bezieht
Reflexion
und
daher
des
eine
weltkonstituierende Stellung einnimmt, hat die kommunikative Reflexion eine andere
Ausrichtung; jedes konkrete kommunikative Handeln beinhaltet die Geltungsansprüche,
über die die Interaktionsteilnehmer mit ihren Ja/Nein-Stellungnahmen streiten können;
dieser argumentative Streit über die Geltungsansprüche setzt also schon eine
Reflexionsform voraus, die die Selbstbeziehung des Subjekts mit dem intersubjektiven
Gegenüber von Proponenten und Opponenten vermittelt. Dies besagt, daß beim Verlauf
der Argumentationen schon die Momente der Selbstreflexion der Sprecher
vorausgesetzt sind und die Reflexion sich daher nicht auf das Ganze der Lebenswelt
bzw. das lebensweltliche Hintergrundwissen bezieht, sondern sie nur indirekt die
Lebenswelt ändert, indem sie die bis dahin anerkannten Deutungsmuster transformiert.
Diese Reflexion ist also keine weltkonstituierende Fähigkeit des einsamen Subjekts,
sondern eine Rekonstruktionsfähigkeit einer intersubjektiven Gemeinschaft.
Der Strukturwandel der Lebenswelt bedeutet bei Habermas, neu auftretende Situationen
an die bestehenden Weltzustände anzuschließen. 30 Es geht dabei um die Verstärkung
TPF
FPT
der Kontinuität einer kulturellen Überlieferung durch die diskontinuierenden Mittel der
Kritik, um die Festigung der Solidarität in Lebenszusammenhängen durch die riskanten
Mittel des universalistischen Verfahrens diskursiver Willensbildung sowie um die
Stabilisierung eines Prozesses der Vergesellschaftung durch das Mittel der erweiterten
Spielräume für Individuierung. Die 'Reproduktion der Lebenswelt' dient also der
Überlieferung kulturellen Wissens und dessen Erneuerung in der kulturellen Dimension,
der sozialen Integration und der Herstellung neuer Formen der Solidarität in der
räumlichen, sozialen Dimension und der Ausbildung von personalen Identitäten in der
zeitlichen, historischen Dimension. Die Lebenswelt reproduziert sich also allein durch
TP
30
PT
Siehe dazu TkH 2, S. 209 und PDM, S. 398.
202
eine dialektische Einheit von Kontinuität
und
Bruch,
d.
h.
durch
"eine
Traditionsfortsetzung und -erneuerung, die sich zwischen den Extremen der bloßen
Fortschreibung von, und eines Bruches mit Traditionen bewegt." 31
TPF
FPT
Kolonialisierung der Lebenswelt: Die Darstellung des Strukturwandels der
Lebenswelt enthält die Antwort von Habermas auf 'die Paradoxie der Rationalisierung',
die darin besteht, daß die sozialpathologischen Probleme der Moderne durch die
Rationalisierung paradoxerweise verstärkt werden. Die Analyse der Wechselwirkung
zwischen der konstituiven Autonomie des Subjekts und der Funktionsweise der
Lebenswelt, die jene Autonomie einschränkt, ist ein wesentlicher Bestandteil der
Habermasschen
Gesellschaftstheorie.
Diese
Theorie
widmet
somit
dem
Spannungsverhältnis zwischen der Tendenz des Subjekts, die Lebenswelt zu
vergegenständlichen, und der Charakteristik der Lebenswelt, sich von solcher
Vergegenständlichung immer wieder zu entziehen, besondere Aufmerksamkeit. Sie
unterscheidet sich damit vor allem von der Auffassung der Gesellschaft als System, die
heutzutage bei der Analyse der 'Tausch- und Machtverhältnisse' vorherrscht. Habermas
ist
der
Ansicht,
daß
die
Systemtheorie
die
Lebenswelt
unzulässigerweise
vergegenständlicht, d. h. technisiert. Die Systemtheorie ist nach Habermas eine
Variation der klassischen Gesellschaftstheorie, die die gesellschaftlichen Systeme aus
der Perspektive des auf der Zweckrationalität beruhenden instrumentellen Handelns
ananlysiert.
Die
klassische
Gesellschaftstheorie
ist
wiederum
eine
gesellschaftsphilosophische Version der Subjektphilosophie, die als Ausdruck des
modernen Denkens angesehen wird, das von einer instrumentell verkürzten Vernunft
ausgeht. Von daher läßt sich nach Habermas 'die Paradoxie der Rationalisierung' durch
die Systemtheorie nicht auflösen, obwohl sie sich mit dieser Paradoxie gründlich
beschäftigt.
Im Gegensatz dazu entwirft Habermas eine zweistufige Gesellschaftstheorie von
System
und
Lebenswelt.
Der
Ausgang
vom
System
betont
hierbei
die
Beobachterperspektive und die konstituive Fähigkeit des Subjekts, sich etwas zum
Objekt machen zu können. Die Einbeziehung der Lebenswelt betont im Gegenzug die
Teilnehmerperspektive des Subjekts und dessen Abhängigkeit von der Allgemeinheit.
Das Wesen der Modernisierung besteht nun nach Habermas in einer massiven
Verdrängung der Kommunikationsstruktur der Lebenswelt durch das System, das zu
einer Überhandnahme der Zweckrationalität in der Gesellschaft führt. Diese Zerstörung
TP
31
PT
TkH 2, S. 210.
203
des Gleichgewichtes zwischen System und Lebenswelt nennt Habermas die "systemisch
induzierte Lebensweltpathologie" bzw. "die Kolonialisierung der Lebenswelt".
32
TPF
FPT
Habermas versucht mit dieser zweistufigen Gesellschaftstheorie von System und
Lebenswelt die Autonomie des einzelnen Subjekts und gleichzeitig dessen
Abhängigkeit von der Lebenswelt, die Kontinuität der Geschichte und deren
Diskontinuität sowie die Kritik an der Kultur und die Aufnahme der kulturellen
Überlieferungen etc. in einer Theorie zu vereinigen. Hiermit erhellt sich seine Absicht,
durch diese Theorie die zeitgenössische Kritik an der Moderne aufzunehmen und
dennoch eine von der Rationalität ausgehende Gesellschaftstheorie zu entwerfen.
Die 'Vernunft' in der Theorie von Habermas
Habermas versteht die sittliche Totalität des jungen Hegel als die "reziproken
Anerkennungsverhältnisse eines intersubjektiv konstituierten Lebenszusammenhangs"33
TPF
FPT
bzw. als die "Formen des vernünftigen Zusammenlebens". 34 Die Realisierung dieser
TPF
FPT
Idee ist nach ihm nur mit dem Paradigmenwechsel von der Subjektivität zur
Intersubjektivität möglich. Denn das vernünftige Zusammenleben heißt bei ihm,
"Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhalten" 35 einzutreten.
TPF
FPT
Der Gedanke der Autonomie des Subjekts und dessen Abhängigkeit von der
Gesellschaft enthält die Habermassche Antwort auf die alte metaphysische Frage nach
dem Verhältnis zwischen dem Einen und Vielen, der Vernunft und dem Anderen, dem
Allgemeinen und dem Besonderen sowie der Notwendigkeit und dem Akzidentellen etc.
Die Metaphysik, das Besondere nur relativ zum Allgemeinen betrachtet, bringt nach
Habermas wegen dieser "gewaltigen Abstraktion" 36 die drei unlösbaren philosophischen
TPF
FPT
Probleme mit sich: (1) das Problem des Verhältnisses von Identität und Differenz, (2)
das Problem der Individualität und (3) das Unbehagen am affirmativen Denken. 37
TPF
FPT
Diese Probleme der metaphysischen All-Einheitslehre rechtfertigen aber den
postmodernen bzw. kontextualistischen Versuch nicht, die Einheit der Vernunft
vollständig zu verneinen und die Vielheit, das Andere und die Differenz etc. zum
32
PT
TkH 2, S. 293.
TP
33
PT
PDM, S. 40.
TP
34
PT
NU, S. 202.
TP
35
PT
J. Habermas, Die nachholende Revolution, a.a.O., S. 202.
TP
36
PT
ND, S. 156.
TP
TP
37
PT
Siehe dazu oben S. 171ff.
204
Prinzip der Philosophie zu erheben. Denn eine Stimmungslage der Zeit "ersetzt noch
keine Argumente." 38
TPF
FPT
Habermas versucht in dieser Problemlage, die von der Einheit der Vernunft ausgehende
metaphysische und die kontextualistische Position miteinander zu verbinden, die davon
ausgeht, daß die Entstehung und die Tätigkeit der Vernunft durchaus akzidentiell sind.
Die
kommunikative
Vernunft,
die
Wert
auf
den
Verfahrensbegriff
der
argumentgeleiteten Kommunikation legt, richtet sich darauf, unter bestimmten
Bedingungen die Wahrheit einer bestimmten Aussage oder die Richtigkeit einer
Handlung herauszufinden. Es geht bei dieser Vernunft um das Abwägen von Gründen
und Gegengründen, durch das erst die Erkenntnis der Wahrheit von Aussagen und der
Richtigkeit einer Handlung erreicht werden kann.
Die Theorie der kommunikativen Vernunft steht daher genau zwischen einem
Relativismus und einem Objektivismus in dem Sinne, daß diese Vernunft einerseits alle
historischen Tatsachen und sogar die Entstehung der Vernunft selbst als kontingent
ansieht und andererseits die Eigenschaft des Mediums sprachlicher Verständigung
anerkennt, die Grenzen angeblich inkommensurabler Welten zu transzendieren. Dieser
Vernunftbegriff erscheint deshalb zwar aus der Sicht der Objektivisten als 'zu schwach',
aber aus der Sicht der Relativisten als 'zu stark', 39 aber er entwickelt eine "schwache,
TPF
FPT
aber nicht defaistische" 40 Einheit, in der die Vielheit miteinbezogen ist, indem er den
TPF
FPT
metaphysischen Vorrang der Einheit vor der Vielheit sowie den kontextualistischen
Vorrang der Vielheit vor der Einheit als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet.
Die Bemühung, das Rationalitätsideal der Aufklärung fortzuführen, kann daher nur in
abgemilderter Form verwirklicht werden. Dies ist der Grund, warum Habermas den
Begriff der "transitorischen Einheit" entwickelt hat, "die sich in der porösen und
gebrochenen Intersubjektivität eines sprachlich vermittelten Konsenses herstellt"41 und
TPF
FPT
damit die Pluralisierung der Lebensformen sowie die Individualisierung der Lebensstile
ermöglicht. Er formuliert diese Einheit als "Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer
Stimmen". 42
TPF
FPT
Die Theorie des kommunikativen Handelns stellt aber andere Probleme her, die daraus
entstehen, daß es nicht einfach ist, den wechselseitigen Bedingungszusammenhang von
38
PT
A.a.O., S. 172.
TP
39
PT
A.a.O., S. 154.
TP
40
PT
A.a.O., S. 182.
TP
41
PT
A.a.O., S. 180.
TP
TP
42
PT
A.a.O. S. 115.
205
kommunikativem Handeln und Lebenswelt genau vorzustellen; die Lebenswelt fungiert
als 'Ressource' des kommunikativen Handelns, und der kommunikativ Handelnde wird
als Subjekt angesehen, das durch die ungezwungene Kommunikation mit den Anderen
einen Konsens erreichen kann; wenn man aktzeptiert, daß das Transzendieren der
gegebenen vorbewußten Bedingungen für die Kritik als Kernbegriff der Rationalität
notwendig ist, wie kann der lebensweltabhängig kommunikativ Handelnde wirklich
einen ungezwungenen Konsens erreichen?
Der Grund, daß Habermas von entgegengesetzten Positionen gleichzeitig kritisiert wird,
liegt darin, daß die Problematik der Totalität bei dem Begriff des kommunikativen
Handelns einerseits und die der Reflexionsfähigkeit des Subjekts bei dem der
Lebenswelt andererseits nicht ausreichend berücksichtigt werden können.
1) Kritik an dem kommunikativen Handeln:
Habermas verbindet mit Hilfe der Sprachphilosophie den Begriff der Rationalität mit
den Begriffen 'Einverständnis', 'Verständigung' sowie vor allem 'ungezwungener
Kooperation'. Die Idee der 'Zwanglosigkeit', eines der zentralen Begriffe der
Habermasschen
Rationalitätstheorie,
spiegelt
einen
modernen
rationalistischen
Optimismus wider, der von der Autonomie des Subjekts und auch von der Möglichkeit
einer grundsätzlichen Kritik an der Kultur ausgeht. In der Tat deutet er selbst auf eine
Möglichkeit der Kritik an dem gesamten kulturellen Bereich hin: "Die kulturelle
Überlieferung muß ein reflexives Verhältnis zu sich selbst gestatten; sie muß ihrer
Dogmatik soweit entkleidet sein, daß die durch Tradition gespeisten Interpretationen
grundsätzlich in Frage gestellt und einer kritischen Revision unterzogen werden
dürfen." 43
TPF
FPT
Aber wenn die Interaktionsbeteiligten nicht vollständig frei von äußeren sowie von
internalisierten Zwängen sind, ist diese grundsätzliche Kritik an der Kultur möglich?
Können sich die Interaktionsbeteiligten des Sinns ihrer Aussagen und ihres Tuns
vollständig bewußt sein? Können die sprachlich strukturierten Weltbilder einfach als
von Menschen konstituierte Interpretationen betrachtet werden, die vollständig der
Kritik offen sind? Diese Fragestellungen sind daran angeschlossen, ob ungezwungenes,
bewußtes, rationales Einverständnis überhaupt möglich ist, wenn die Beteiligten
unvermeidlich von der vorbewußten Tiefenstruktur der Symbole geprägt sind.
In seiner Rationalitätstheorie scheint Habermas – entgegen seiner Absicht – die
Abhängigkeit der Menschen von den unbewußt wirkenden Strukturen der Lebenswelt
TP
43
PT
TkH 1, S. 109.
206
zu unterschätzen. Um seiner These gerecht zu werden, daß die Rationalität des
Menschen nicht in der vollständigen Befreiung von solchen Strukturen liegt, sondern
nur in dem Maße verwirklicht werden kann, in dem Kooperation innerhalb der
Strukturen der Lebenswelt zustande kommt, müßte Habermas statt der Vorstellung der
Zwanglosigkeit die empirischen Tatsachen stärker in seiner Theorie berücksichtigen.
Die Erfahrung lehrt, daß es nicht einfach ist zu beurteilen, ob moderne Weltdeutungen,
die häufig arationale Momente enthalten, wirklich irrational sind. Aus diesem Grund ist
Alexander der Ansicht, daß die Rationalitätstheorie von Habermas, da sie das sprechhandelnde Subjekt zu stark akzentuiert, die vorbewußten Strukturen des Kulturcodes
unterschätzt und insofern in den Verdacht gerät, daß sie "in antagonistischer Beziehung
zur Kultur" 44 steht.
TPF
FPT
Diese Kritik weist also darauf hin, daß die Habermassche Theorie ebenfalls dem Ideal
der modernen Subjektphilosophie verhaftet ist, die zwar von der Idee der absoluten
Autonomie des transzendentalen Subjekts ausgeht, aber mit der Paradoxie der
Rationalität endet.
2) Kritik an der Lebenswelt: Der Begriff der Lebenswelt führt zu einer ganz anderen
Kritik. Habermas versucht mit Hilfe des Begriffs der Lebenswelt einerseits die Idee der
Totalität der Gesellschaft zu rekonstruieren und andererseits die Beziehungen der
einzelnen Handlungen zur Lebenswelt darzustellen. Es ist aber fraglich, ob die
Lebenswelt ein wissenschaftlicher oder philosophischer Begriff sein kann, wenn selbst
die Wissenschaft, die dieses Weltkonzept zu einem wissenschaftlichen Begriff erhebt,
nach Luhmann paradoxerweise aus diesem Weltbegriff entsteht. Der Begriff der
Lebenswelt führt also in eine Paradoxie. Luhmann fragt vor diesem Hintergrund
ironisch: "Aber was hilft die Umsetzung eines Problems in eine Paradoxie?" 45
TPF
FPT
Der Begriff der Lebenswelt von Habermas scheint außerdem die Leistungen der
Moderne zu unterschätzen; dieser Begriff relativiert den Begriff der Reflexion, der als
der Ausgangspunkt der modernen Philosophie gelten kann. 'Reflexion' ist nach Henrich
ein Grundterminus im Denken der Moderne, der nichts anderes meint als "das
Bewußtsein von den Unterschieden zwischen den Verständigungsarten, welche sich in
der Spontaneität des bewußten Lebens ausgebildet haben", und "eine Distanznahme zu
den primären Tendenzen der Verstehensarten und Selbstbeschreibungen insgesamt." 46
TPF
44
PT
J. Alexander, Habermas' neue Kritische Theorie: Anspruch und Probleme, a.a.O., S. 103.
TP
45
PT
N. Luhmann, Intersubjektivität oder Kommunikation, a.a.O., S. 49.
TP
TP
46
PT
D. Henrich, Was ist Metaphysik - was Moderne? - Zwölf Thesen gegen J. Habermas. a.a.O., S. 18f.
207
FPT
Die Reflexion ist also ein Resultat der anstrengenden Bemühungen des menschlichen
Denkens, sich der Unmittelbarkeit des Seins zu entziehen. Aber mit der Einführung des
Lebensweltbegriffs bringe Habermas nach Henrich nur "eine längst verlorene
Unmittelbarkeit" 47 oder eine metaphysische Einheit in Umlauf und könne dadurch den
TPF
FPT
Begriff der Reflexion und dessen Vorzüge nicht angemessen würdigen.
TP
47
PT
Ebd.
208
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* Lebenslauf
1964: Geboren in Kohung in S-Korea
1984-1990: Philosophiestudium an der Yonsei Uni. in Seoul(Magisterarbeit: Kritik der
Positivitaet vom jungen Hegel)
1991-1992: Militaerdienst
1992-1995: Doktorand an der Uni. Yonsei in Seoul
1993-1995: Dozent an der Uni. Yonsei in Seoul
1996-2003: Promotion an der Ruhr Universitaet Bochum(Dissertation: Von der
Subjektivitaet zur Intersubjektivitaet - Die Auseinandersetzung von Habermas mit der
Subjektivitaetsphilosophie
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