Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität Die Auseinandersetzung von Habermas mit der Subjektivitätsphilosophie Inaugural-Dissertation Zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie vorgelegt von Dae Seong JEONG aus Seoul, Republik Korea 1. Gutachter: Prof. Dr. G. Scholtz 2. Gutachter: Prof. Dr. F. Rodi Bochum, Juni 2003 Inhaltsverzeichnis I. Zur Aktualität der Fragestellung ……………………………………………………...4 1. Das Prinzip der Moderne und deren Probleme: die Subjektivität und das Paradox der Rationalisierung ……………………..……….4 2. Gegenwärtige Versuche, das Problem der subjektiven Philosophie zu überwinden ……………………………………………………………………….12 2.1. Der Übergang zur Postmoderne …………………………………………………..14 2.2. Die Erneuerung des Begriffs der transzendentalen Vernunft ……………………..23 2.3. Die Wende zur Intersubjektivitätstheorie …………………………………………30 II. Der Ausgangspunkt von Habermas: die Weiterführung des Projektes der Aufklärung um der sittlichen Totalität willen ……..……………………………39 1. Die Bedeutung der Moderne ……………....………………………………………...42 2. Die Bedeutung der Aufklärung ……………………………………………………...48 3. Die Auseinandersetzung mit der subjektivistischen Vernunft ……………………...56 4. Die Auseinandersetzung mit den radikalen Vernunftkritikern ……………………...64 4.1. Die Kritik an der Grammatologie Derridas ……………………………………….64 4.2. Die Kritik an der Archäologie und der Genealogie Foucaults …..………………..72 III. Die Auseinandersetzung von Habermas mit Hegel und die Ansätze der Idee der Intersubjektivität ..……………………………………….81 1. Die Anliegen des jungen Hegel: die Herstellung der Lebenstotalität ………………82 1.1. Die Kritik des jungen Hegel an der Positivität ……………………………………82 1.1.1. Die Kritik an der positiven Religion …………………………………………….82 1.1.2. Die Kritik an der positiven Moralphilosophie Kants ……………………………91 1.2. Die Kritik des jungen Hegel an der Reflexionsphilosophie ………………………96 1.3. Die Idee der Lebenstotalität beim jungen Hegel ………………………………...101 2. Die Bedeutung des jungen Hegel für die Philosophie von Habermas - Eine intersubjektivitätstheoretische Interpretation des Begriffs des Lebens ……….111 2.1. Die sozialphilosophische Bedeutung des Lebens beim jungen Hegel …………..112 2.2. Die Idee der Intersubjektivität beim jungen Hegel ………………………………117 1 IV. Die linguistische Wende von Habermas: der Übergang von der Subjektivität zur Intersubjektivität ..……………………...123 1. Die sprachphilosophische Wende im Habermasschen Denken ...………………….126 2. Die Sprachpragmatik und die Theorie des kommunikativen Handelns …………...138 2.1. Die Sprachpragmatik …………………………………………………………….138 2.2. Die sprachpragmatische Deutung des Handelns ………………………………...143 2.3. Die sprachpragmatische Deutung der Lebenswelt ………………………………151 2.4. Das Grundproblem der Modernisierung der Gesellschaft: die Kolonialisierung der Lebenswelt ...…………………………………………...159 V. Die Rolle der Vernunft für die Gesellschaft bei Habermas ……………………….169 1. Die Idee der 'Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen' ………………...169 2. Würdigung und Kritik der Habermasschen Theorie………………………...……...184 Zusammenfassung ……………………………………………………………………191 Literaturverzeichnis …………………………………………………………………..209 2 Häufig verwendete Abkürzungen HWPh = J. Ritter / K. Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel, Stuttgart. TkH = J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1987. PDM = J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1996. ND = J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988. NU = J. Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1996. VE = J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1995. TW = G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, E. Moldenhauer / K.M. Michel (Hg.), Frankfurt/M. 1986. GW = G.W.F. Hegel, Gesammelte Werke. Die Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Hamburg. Differenzschrift = G.W.F. Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, in: GW, Bd. 4, Jenaer Kritische Schriften, H. Buchner / O. Pöggeler (Hg.), Hamburg 1968. Glauben und Wissen = G.W.F. Hegel, Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, in: GW. Bd. 4. a.a.O. Naturrechtsschrift = G.W.F. Hegel, Ueber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschften, in: GW, Bd. 4, a.a.O. 3 I. Zur Aktualität der Fragestellung 1. Das Prinzip der Moderne und deren Probleme: die Subjektivität und 'das Paradox der Rationalisierung' Es scheint bei den heutigen sogenannten 'modischen' Philosophien zur wichtigsten philosophischen Problematik oder zumindest zu einem der wichtigsten Teile für die Einleitung in jene Philosophie zu gehören, die Modernität zu deuten. Denn sie befassen sich auf die eine oder andere Weise mit der Problematik der Moderne. Genauer gesagt: für die einen Philosophen, die sich für die Erhaltung der Moderne aussprechen, nimmt die (erneute) Deutung der Modernität immer noch einen zentralen Platz in ihrem Denken ein, während die anderen, welche die Überwindung der Moderne als Ziel haben, mit einer grundsätzlichen Kritik dieser Moderne anfangen. Die Renaissance, die Reformation, die sogenannte Wissenschafts- und Industrierevolution, die Aufklärung und die Französische Revolution etc. sind typische Phänomene und Zeichen der 'Moderne'. Anders als die teleologische, d. h. die metaphysische und theologische Weltkonzeption der Antike und des Mittelalters, nach der man das Telos des innerweltlichen Seins außerhalb der endlichen Welt sucht, ist eine der augenfälligsten Charakteristiken dieses Zeitraumes die Idee der Vollkommenheit der Welt bzw. der Natur, wie sie sich z. B. in der Formulierung Spinozas zeigt: Deus sive natura. Die Aufhebung des Begriffs des Telos der Natur bedeutet jedoch gleichzeitig die Entzauberung der Natur. Erst in diesem Zeitraum, in dem die sogenannte Wissenschaftsrevolution ermöglicht wurde, konnte es zu einer Beherrschung der Natur im Kontext des "universalistischen Rationalisierungsvorgangs" kommen, in dem die Natur quantifiziert und mathematisch berechnet werden könne. Damit wurde die Natur zum Gegenstand der objektiven Darstellung, Forschung und Untersuchung, und der Mensch ist als Subjekt der wissenschaftlichen Arbeit zum Vorschein gekommen. An die Stelle des Begriffes der teleologischen 'Vollkommenheit' wurde der Begriff des 'rationalen Fortschrittes' in dem Sinne von Quantifizierung und Mathematisierung gesetzt. Anders als die 'Antiken', die in einem außer- oder überweltlichen Sein den letzten Zweck der Welt gefunden hatten, konnten die 'Modernen', die von der 4 Selbständigkeit der Welt sprechen, die ursprüngliche Basis der Wissenschaft niemals in jener Transzendenz suchen. 1 TPF FPT Der Entzauberungsvorgang im Bereich der Natur ist jedoch parallel zu dem Säkularisierungsprozeß im Bereich der Religion, der Moral sowie der Kultur verlaufen: Die Reformation setzte an die Stelle des Glaubens an die kirchliche Tradition die unmittelbare Beziehung des Menschen zu Gott; das Gesetz, das von Gott gekommen war, hat der Freiheit des Willens den Weg geebnet; bei der modernen Moral geht es um die Anerkennung der Freiheit des Individuums und die Frage nach dessen Verpflichtung; die Form der Kunst und deren Inhalt, wie z. B. bei der Romantik, wurden absolut verinnerlicht. Die Moderne ist also eine Zeit, die ihre Kriterien nicht von der Außenwelt oder der Vergangenheit übernehmen kann oder darf; vielmehr muß sie ihre Normen allein aus sich selbst heraus generieren. Die Erhebung des Ich in der Moderne zum philosophischen Prinzip der Weltdeutung scheint also notwendig gewesen zu sein. Es ist daher kein Zufall, daß die Moderne das Cogito in den Vordergrund stellte, um ihre Norm selbst schaffen zu können. In dieser Hinsicht sagt Lacan über den Begriff des modernen Ich: "Ich denke, also bin ich (cogito ergo sum), das ist nicht nur die Formel, in der sich, auf dem historischen Gipfel einer Reflexion auf die Bedingungen von Wissenschaft, die Verbindung zur Transparenz des transzendentalen Subjekts von seiner existentiellen Bejahung her konstituiert. Vielleicht bin ich nur Objekt und Mechanismus [...], sicher aber insofern ich das denke, bin ich – absolut. Ohne Zweifel haben die Philosophen hier wichtige Korrekturen angebracht, namentlich daß in dem, was denkt (cogitans), ich mich immer nur als Objekt (cogitatum) konstituiere. Bleibt, daß durch diese extreme Läuterung des transzendentalen Subjekts meine existentielle Bindung an seinen Entwurf unumstößlich scheint zumindest in der Form seiner Aktualität, und daß 'cogito ergo sum' ubi cogito, ibi sum über jeden Einwand erhaben ist." 2 TPF 1 FPT PT Siehe zur Debatte der Antiken und Modernen H. R. Jauß, Ursprung und Bedeutung der Fortschrittsidee TP in der sogenannten 'Querelle des Anciens et des Modernes', in: H. Kuhn / F. Wiedmann (Hg.), Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, München 1964, S. 51ff. TP 2 PT J. Lacan, Das Drängen des Buchstabens im Unterbewußtsein oder die Vernunft seit Freud, in: ders., Schriften II, N. Haas (Hg.), Olten, Freiburg 1975, S. 41f. 5 Das transzendentale Ich Kants, welcher die von Descartes gestellte Subjektfrage in der Form des reinsten absoluten Selbstbewußtseins erneut behandelt, besteht in der Struktur der Selbstbeziehung des Subjekts: Das Ich bezieht sich auf sich als Objekt zurück, um sich wie in einem Spiegelbild, d. h. 'spekulativ', zu ergreifen. 3 Es ist wohl bekannt, daß TPF FPT Kant diesen reflexionsphilosophischen Gesichtspunkt seinen drei Kritiken zugrundelegt. Der Geltungsanspruch auf eine Sache soll daher nun nur vor dem obersten Gericht der Vernunft gerechtfertigt werden. Nachdem die vereinheitlichende Macht der metaphysischen Substanz, wie z. B. des Einen bei Plotinus oder Gottes bei den christlichen Philosophen, vergangen ist, wird jedes Vermögen der Erkenntnis, der moralischen Praxis sowie des ästhetischen Urteils in der Moderne auf eigene Fundamente gestellt, ohne eine inhaltliche Einheit zwischen diesen Bereichen zu schaffen, und dadurch versichert sich die kritisierende Vernunft nicht nur ihres eigenen subjektiven Vermögens, sondern sie übernimmt auch die Rolle eines obersten Richters gegenüber der Kultur im ganzen. Auch Hegel sieht "das Große unserer Zeit" 4 in dem Prinzip der Subjektivität. Diesem TPF FPT Prinzip folgen nach seiner Deutung alle Erscheinungen der Moderne wie z. B. die Religion, die Moral, die Kunst und die Wissenschaft etc. Neben den Philosophien des deutschen klassischen Idealismus scheinen aber auch fast alle gegenwärtigen 'modischen' Philosophien, seien es die radikalen Vernunftkritiker oder die Verteidiger der modernen Vernunft, damit einverstanden zu sein, daß die Moderne vom Prinzip der Subjektivität beherrscht wird. Heidegger zum Beispiel, einer der radikalen Subjektivitätskritiker, bestreitet nicht, daß die Subjektivität zum Prinzip der Moderne erhoben wurde und zur absolut gewissen Grundlage aller Vorstellungen wurde; mit dem Prinzip der Subjektivität verwandelt sich das Seiende im Ganzen in die subjektive Welt und die Wahrheit in subjektive Gewißheit. Die Neuzeit bestimmt sich dadurch, "daß der Mensch Maß und Mitte des Seienden wird. Der Mensch ist das allem Seienden, 3 TP PT d. h. neuzeitlich aller Vergegenständlichung und Vorstellbarkeit Habermas nennt den Versuch, den Ursprung des Bewußtseins im Selbstbewußtsein oder in der Subjektivität zu finden und das Selbstbewußtsein mit dem Ich gleichzusetzen, den 'Mentalismus'. Mit dem Mentalismus meint er zunächst die Bewußtseins- bzw. Subjektsphilosophie seit Descartes. Siehe J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung. Von Kant zu Hegel und zurück, in: ders., Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt/M. 1999, S. 186ff. TP 4 PT G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, E. Moldenhauer / K. M. Michel (Hg.), Frankfurt/M. 1986 (= TW), Bd. 20, S. 329. 6 Zugrundeliegende, das subjectum." 5 Auch für Foucault ist die Subjektivität das zentrale TPF FPT Prinzip der Moderne. Er betrachtet in einer historischen Untersuchung den als das Subjekt angesehenen Menschen bloß als eine Erfindung der modernen Zeit, "deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende." 6 Der Mensch als das Subjekt ist nach ihm keine ursprüngliche Kategorie TPF FPT der Philosophie, sondern nur eine Erfindung. Die Moderne wird also als eine Zeit betrachtet, die von der Subjektivität, dem Selbstbewußtsein, der Reflexion oder der Vernunft etc. bestimmt wird. Die Subjektivität oder die sich auf sich selbst beziehende Vernunft, die mit der Emanzipation von mythischer, theologischer und metaphysischer Weltbetrachtung in den Vordergrund tritt, übernimmt die Aufgabe der Synthetisierung von allen gegebenen Objekten oder die der Weltdeutung, und allein auf Basis dieser Vernunft wird die Freiheit des Menschen und dessen Fortschritt garantiert. Anders gesagt, die moderne subjektive Vernunft verbreitet den aufklärerischen Glauben, daß nur die auf der Vernunft beruhenden Urteile und Handlungen die Triebfedern des Fortschrittes sind, mit denen man eine glückliche Zukunft und eine emanzipierte Gesellschaft erreichen kann. Und dieser Glauben schien durch den modernen Rationalisierungsvorgang erfüllt werden zu können, der sich in dem sogenannten 'Projekt der Aufklärung' entwickeln sollte. Dies ergibt sich daraus, daß die enorme Entwicklung der Technologie, die auf die 'erkenntnistheoretische Rationalität' angewiesen ist, den Menschen von der Natur emanzipiert und ihn gleichzeitig ökonomisch-materiell reicher gemacht hat als je zuvor. Aber das Problem ist hier, daß parallel zu diesem beeindruckenden technischen Fortschritt heutzutage viele sozialpathologische Erscheinungen entstanden sind, die das Leben des Menschen selbst gefährden, wie z. B. die ökologische Krise, die Furcht vor militärischen Zerstörungspotentialen, Kernkraftwerken, Atommüll sowie Genmanipulation etc. Diese negativen Seiten der Modernisierung stellen sich der ursprünglichen Idee der Aufklärung entgegen, die auf eine Gesellschaft der vom Zustand des Unwissens befreiten, reifen Menschen abzielt. Das Projekt der Aufklärung, das in der Emanzipation des Menschen von aller Art der Unterdrückung mit Hilfe der Rationalität besteht, sperrte den Menschen aber letztlich erneut in ein neues Unterdrückungssystem ein. Dieses Herrschaftssystem ist nichts anderes, wie M. Jay 5 PT M. Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, Pfullingen 1989, S. 61. TP TP 6 PT M. Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1971. S. 462. 7 schreibt, als "eine säkularisierte Version der religiösen Überzeugung, Gott sei es, der die Welt beherrsche." 7 Aus dieser Sicht formuliert er das paradoxe Resultat der TPF FPT Modernisierung wie folgt: "Trotz ihres Anspruchs, die Mythen hervorbringende Verwirrung durch die Einführung rationaler Analyse überwunden zu haben, war die Aufklärung selbst einem neuen Mythos zum Opfer gefallen." 8 TPF FPT Das Problem der Modernität ruft heutzutage eine philosophische Reflexion gegenüber diesen historisch-gesellschaftlichen pathologischen Erscheinungen hervor. 9 Im Kern der TPF FPT gegenwärtigen Kritik an der Modernität liegt der Begriff der Subjektivität oder der subjektiven Vernunft. Horkheimer und Adorno drücken z. B. in ihrem gemeinsamen Werk Dialektik der Aufklärung die große Sorge um den in der Zeit des Faschismus in Europa, des Totalitarismus in der Sowjetunion und der Massenkultur u. a. in Nordamerika erscheinenden Untergang der 'wahren klassischen Solidarität' aus und bezeichnen die Aufklärung in dieser Hinsicht als 'Massenbetrug'. 10 Ihnen zufolge steht TPF FPT die Neigung der Massen zum Gehorsam in der Gegenwart in engem Zusammenhang mit der Herrschafts- oder Unterdrückungsstruktur, die in der von der instrumentalen Vernunft hergeleiteten modernen Arbeitsethik enthalten ist: "Technische Rationalität heute ist die Rationalität der Herrschaft selbst. Sie ist der Zwangscharakter der sich selbst entfremdeten Gesellschaft." 11 TPF FPT Die Autoren dieses Werkes zielen darauf ab zu zeigen, daß die modernen Menschen wegen der Herrschaft der autoritären technischen Gesellschaft an einer "falschen 7 TP M. Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für PT Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt/M. 1976, S. 305. 8 PT Ebd. TP 9 TP Vgl. I. Fetscher, Aufklärung über Aufklärung, in: A. Honneth / T. McCarthy / C. Offe / A. Wellmer PT (Hg.), Zwischenbetrachtung. Im Prozeß der Aufklärung. J. Habermas zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. 1989, S. 657ff. 10 PT M. Horkheimer / Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Th. W. Adorno, Gesammelte Schriften, TP Bd. 3, R. Tiedemann (Hg.), Frankfurt/M. 1981, S. 141ff. TP 11 PT A.a.O., S. 142. 8 Identität von Allgemeinem und Besonderem" 12 leiden, deren Ursprung im mit Descartes TPF FPT beginnenden Dualismus von Subjekt und Objekt liegt. Das Problem der Moderne resultiert also daraus, daß sie mit dem Säkularisierungsvorgang die Autonomie und die Schöpferkraft des Subjekts übermäßig in Anspruch genommen hat. Die Entwicklung der technischen Wissenschaft verdinglicht die Natur und macht gleichzeitig den Menschen zum Gegenstand instrumentaler Nützlichkeit. Indem sich das Wissen in den entwickelten Industriestaaten mit der unterdrückenden Technik identifiziert, dient es den herrschenden Gruppen. Die Aufklärung, welche die Autonomie des Menschen betonte, führte damit paradoxerweise dazu, den Menschen der technikorientierten Wissenschaft gegenüber gehorsam zu machen und vor allem seine Geistigkeit auf ein vollständig von dem Naturgesetz abhängiges bloßes Ding zu reduzieren. Dieses Problem erklären G. Lukács mit dem Begriff der 'Verdinglichung' und die Autoren von Dialektik der Aufklärung mit dem der 'formalen' oder der 'instrumentalen' Rationalität. Diese kritischen Begriffe wurden also eingeführt, um, wenn man es so nennen will, die 'Paradoxie der Rationalisierung' zu beschreiben. Dieses Problem war schon bei Max Weber ein zentrales Thema. Er begreift die gesellschaftlichen und geschichtlichen Vorgänge unter dem Rationalitätsaspekt. Bei ihm bedeutet die Rationalität zunächst eine intellektuelle sinnhafte Erfaßbarkeit; 13 die TPF Menschheit entwickelt Systeme, um alles, was dem Menschen FPT begegnet, ordnungsmäßig anzuschauen und dadurch von der Furcht vor der Zufälligkeit und dem Chaos befreit zu werden. Weber versteht daher alle menschlichen Systeme als Ausdruck der Rationalität. Wenn er aber den Rationalisierungsprozeß der Moderne auf den Begriff einer bestimmten, d. h. 'universalgeschichtlichen' oder 'universalistischen' Rationalität bezieht, meint er mit der Rationalität vor allem die mathematischen oder logischen Sinnzusammenhänge. Das bedeutet, daß in der Moderne die 'Zweckrationalität' oder die instrumentelle Rationalität überwiegt, die in der Wahl der effektivsten Mittel besteht, um einen gegebenen Zweck zu erreichen. Weber unterscheidet diesen Rationalitätsbegriff vor allem von der Wertrationalität, die z. B. im Mittelalter vorherrschend war. Er beschreibt den Unterschied zwischen beiden Rationalitäten wie 12 PT A.a.O., S. 141. TP TP 13 PT Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, J. Wickelmann (Hg.), Bd. 1, Tübingen 1976, S. 2. 9 folgt: ''Rein wertrational handelt, wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt im Dienst seiner Überzeugung von dem, was Pflicht, Würde, Schönheit, religiöse Weisung, Pietät, oder die Wichtigkeit einer 'Sache', gleichviel welcher Art, ihm zu gebieten scheinen. […]. Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt.'' 14 TPF FPT Die Rationalisierung der Moderne bedeutet also die Verbreitung der Zweckrationalität, d. h. die Verbreitung der Gewißheit, daß ''man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gäbe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne.'' 15 Aus diesem Grund nennt Weber den Vorgang der TPF FPT modernen Rationalisierung den 'Entzauberungsprozeß'. Die wesentlichen Kennzeichen der modernen Gesellschaftsform, in der sich die universalistische Rationalität verkörpert, sind nach Weber das kapitalistische Wirtschafts- sowie das bürokratische Verwaltungssystem. Er begreift diese Systeme als Ergebnisse eines 'universalgeschichtlichen' Rationalisierungsprozesses. 16 Das Problem TPF FPT ist aber, daß diese rationalen Systeme, entgegen ihrer eigentlichen Absicht, zu den die Menschheit unterdrückenden Instrumenten, zur 'seelenlosen Maschinerie' geworden sind. Über diese Paradoxie der modernen Rationalisierung' schreibt er wie folgt: ''Der Puritaner [sc. der moderne Mensch] wollte Berufsmensch sein, [...]. Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie an ihrem Teile mit daran, jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanischmaschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung erbauen, der heute den Lebensstil aller Einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren 14 A.a.O., S. 12f. TP PT 15 TP PT M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in: ders, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, J. Winckelmann (Hg.), Tübingen 1988, S. 594. 16 TP PT Siehe zu dieser Problematik J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (= TkH), Bd. 1, Frankfurt/M. 1987, S. 207ff. 10 werden, [...] mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.'' 17 TPF FPT Der moderne Rationalismus bringt, wie Weber sagt, letztlich ''die letzten Menschen'' hervor, die bloß ''Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz'' sind. 18 TPF FPT Das Problem bei Webers Analyse der Rationalität liegt aber darin, daß seine Untersuchung mit der düsteren und resignierten Diagnose der gegenwärtigen Zeit endet, ohne eine rationale Lösung anzugeben TPF 19 FPT . Aus diesem Grund wird Weber unterschiedlich beurteilt; mal wird er als ein Sohn der Aufklärung angesehen, weil er unter dem Rationalitätsaspekt die geschichtlichen Vorgänge untersucht,20 mal steht er in TPF FPT Verdacht, eine 'nostalgische Soziologie' zu etablieren, weil er im Vergleich zur Wertrationalität die Zweckrationalität sehr stark kritisiert hat 21 und mal wird er mit dem TPF generationstypischen dramatisiert hatte.'' 22 TPF Nihilismus verbunden, den FPT ''Nietzsche so eindrucksvoll FPT Nun scheint es für die gegenwärtige 'modische' Philosophie eine notwendige Aufgabe zu sein, auf das Problem der Rationalisierung irgendwie zu reagieren, das M. Weber ohne Lösung hintergelassen hat. Es handelt sich dabei also um die Frage, worauf sich die Kritik der Rationalität richten muß. Die Antwort auf diese Frage bestimmt den Ton der konkurrierenden Philosophien. 17 PT M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen, 1963 S. 203. Hervorhebung im TP Original. 18 PT A.a.O., S. 204. TP 19 PT Vgl. K. Löwith, Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz, Stuttgart 1969, S. TP 7 und W. Mommsen, Max Weber: Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt/M. 1974, S. 135. 20 PT A. Wellmer, Reason, Utopia and the Dialectic of Enlightment in: R. J. Bernstein (Hg..), Habermas and TP Modernity, Cambridge 1985, S. 40. 21 PT B. S. Turner, Max Weber: From History to Mordernity, London 1992, S. 134. TP TP 22 PT TkH 1, S. 336. Habermas deutet diese nihilistische Neigung Webers als ein Resultat aus seiner reduktionistischen Tendenz: Obwohl Weber die Ausdifferenzierung der rationalen Geltungen zu der Wahrheit, der Richtigkeit und der Authentizität bzw. den Polytheismus der Werte mit Recht als Kennzeichen der Moderne erkannt hat, analysiert er die gesellschaftliche Rationalisierung allein innerhalb des eingeschränkten Standpunktes der Zweckrationalität, so daß der Geltungsanspruch der zweckrationalen Wahrheit alle anderen Geltungsansprüche verdrängt hat. Also liegt der Kern der Habermasschen Kritik an dem Weberschen Rationalitätsbegriff in einer Diskrepanz zwischen seiner Darstellung des Rationalitätsbegriffs der Moderne und dem Rationalitätsbegriff, mit dem er das Problem der gesellschaftlichen Rationalisierung analysiert. Siehe TkH 1, S. 207. 11 2. Gegenwärtige Versuche, das Problem der modernen Philosophie zu überwinden. Nach A. Wellmer gibt es zwei große Denkrichtungen, die es heutzutage ermöglichen, sowohl die zur absoluten Gewalt gewordene moderne Subjektivität wissenschaftlich zu kritisieren als auch nach neuen Alternativen zu suchen: einerseits die Psychoanalyse und andererseits sprachphilosophische Kritik des Subjekts. 23 TPF FPT Die Psychoanalyse, die von S. Freud entwickelt wurde, geht davon aus, daß die Menschen nicht primär rationale Wesen sind, sondern von ihren Trieben gesteuert werden, die das mächtigere Unbewußte bestimmt. Wegen dieser unbewußten Triebkräfte und Motive kann sich das menschliche Subjekt nicht in der Weise erkennen, wie es in der klassischen Autonomievorstellung angenommen wurde. Aus diesem Grund zweifelt die Psychoanalyse an der ''Möglichkeit vollständiger Durchsichtigkeit menschlicher Handlungsvollzüge'' und an der ''Idee von Autonomie des Subjekts im Sinne der Kontrollierbarkeit des eigenen Tuns''. 24 TPF FPT Die strukturelle Linguistik, die mit F. Saussure angefangen hat, geht davon aus, daß die individuelle Rede vollständig von einem schon gegebenen System sprachlicher Bedeutungen abhängig ist. Wegen der Abhängigkeit des sprechenden Subjekts vom System der Sprache kann das menschliche Subjekt nicht in der Weise sinnkonstitutiv oder bedeutungsschöpfend sein, wie es vor allem in der Transzendentaphilosophie angenommen wurde. Aus diesem Grund stellte die strukturelle Linguistik ''die Möglichkeit individueller Sinnkonstitution'' und ''die Idee von Autonomie im Sinne der Autorschaft des Subjekts'' 25 in Frage. TPF FPT Diese beiden Denkrichtungen, die sich durch ihre Entdeckung des Unbewußten einerseits und des aller Intentionalität vorausliegenden Faktums des sprachlichen Bedeutungssystems andererseits auszeichnen, richten sich also gegen die klassische Vorstellung der Subjektivität, d. h. gegen die Idee der vollständigen Autonomie des Subjekts. Diese wissenschaftlichen Ergebnisse wirken heutzutage in verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen. Auch in dem Bereich der Philosophie sind viele Diskussionen über diese beiden Positionen geführt werden. Man kann diese 23 PT A. Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt/M. TP 1985, S. 48ff. 24 PT Ebd. TP TP 25 PT Ebd. 12 philosophischen Diskussionen, wie es A. Honneth tut, in drei Varianten zusammenfassen: a) eine Radikalisierung der dezentrierenden Tendenzen, b) die entschlossene Beibehaltung des klassischen Autonomieideals und gleichzeitig die paradoxe Anerkennung der Ergebnisse jener Dezentrierungen, c) eine Rekonstruktion von Subjektivität besonders durch die Idee der Intersubjektivität. 26 TPF FPT Die Vertreter der ersten Position gehen davon aus, daß die negativen Ergebnisse der Moderne unmittelbar von der modernen Vernunft und sogar vom rationalistischen Denken überhaupt ausgegangen sind. Sie engagieren sich daher sehr darin, den 'Terrorismus' der Aufklärung und des Humanismus zu entlarven, die beide von der subjektiven Vernunft geleitet werden. Sie vertreten also einen Anti- oder Irrationalismus und behaupten, daß die Vernunft eigentlich nicht autonom sei, sondern von ihrem Anderen, z. B. der Macht (Foucault) und der dem Logos grundlegenden schweigenden Schrift (Derrida), heimlich geleitet oder begleitet wird. Die Vertreter der zweiten Position gehen davon aus, daß die negativen Ergebnisse der Moderne nichts mit der modernen Vernunftidee zu tun haben oder aus einer inkonsequenten Vernunftanwendung resultieren. Sie zweifeln nicht an dem Kantischen Ideal, daß die Vernunft der oberste Richter bei der Erkenntnis, der Handlung sowie dem ästhetischen Urteil sei. Sie vertreten daher einen starken rationalistischen Optimismus, der davon ausgeht, daß die Probleme der Aufklärung durch die Entwicklung der auf der modernen Rationalität basierenden, technikorientierten Wissenschaft überwunden werden können. Die Vertreter der letzten Position akzeptieren zwar die Kritik, daß die negativen Ergebnisse der Aufklärung aus dem Wesen der modernen, besser gesagt, der instrumentellen Vernunft resultieren. Aber sie setzen sich trotzdem nicht mit dem Begriff der Vernunft selbst auseinander, sondern behaupten, daß das Projekt der Aufklärung, d. h. der Emanzipationsprozeß von der z. B. die Menschen unterdrückenden Tradition, durch die rationale Rekonstruktion von Subjektivität weitergeführt werden kann. Das Paradox der Aufklärung besteht ihnen zufolge darin, daß die Vernunft im Rationalisierungsvorgang der Moderne zu eng bestimmt wird: Obwohl die vernünftigen Werte in der Moderne berechtigterweise ausdifferenziert worden seien, würden nur die wissenschaftlich-technisch orientierten Werte als etwas wirklich Vernünftiges angesehen. Daher gehen sie davon aus, daß die Aufklärung durch 26 TP PT A. Honneth, Dezentrierte Autonomie. Moralphilosophische Konsequenzen aus der modernen Subjektkritik, in: ders., Das Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2000, S. 238f. 13 die Vergrößerung des Vernunftgebietes all jene verschiedenen Werte in sich einschließen kann. Die Idee der 'Intersubjektivität' steht im Zentrum ihrer Philosophie. Nach dieser Idee ist die Subjektivität nicht der Anfang des philosophischen Denkens, sondern nur ein Resultat, das erst durch die Interaktion mit dem Anderen rekonstruiert wird. Für diese Philosophie werden die subjektübergreifenden Mächte, wie z. B. das Unbewußte und die Sprache, von vornherein als Konstitutionsbedingungen der Individualisierung von Subjekten angesehen, und die persönliche Freiheit oder Selbstbestimmung von Individuen wird nicht als jenen Mächten Entgegengesetzes, sondern als bestimmte Organisationsformen der kontingenten, jeder individuellen Kontrolle entzogenen Kräfte verstanden. Im Folgenden werden diese drei philosophischen Bewegungen etwas näher betrachtet. 2.1. Der Übergang zur Postmoderne Die philosophische Bewegung, die die Psychoanalyse Freuds und die strukturelle Linguistik Saussures in seine eigene Philosophie konsequent integriert, ist die sogenannte Postmoderne. Sie begann ihre philosophische Kariere in Frankreich und steht in der Gegenwart im Zentrum der Modernitätsdebatte. Die Einflüsse dieser zwei Wissenschaften auf die Postmoderne werden deutlich in einer Formel Lacans: ''die Psychoanalyse [entdeckt] im Unbewußten […] die ganze Struktur der Sprache.'' 27 TPF FPT Eine Kernthese des Postmodernismus ist, daß die sozialpathologischen Erscheinungen der Gegenwart nicht bloß das Resultat eines inkonsequenten Gebrauches der Vernunft sind, sondern durchaus aus dem rationalen Denken selbst resultieren. Denn die Vernunft, welche grundsätzlich von einer Trennung von Subjekt und Objekt ausgehe, rechtfertige die Subsumtion des einen unter den anderen und damit eine Herrschaftsstruktur. Der Anti- oder Irrationalismus ist aus Sicht dieser Bewegung der einzige Ausweg, die sozialpathologischen Erscheinungen der Gegenwart zu bewältigen. Diese Schlußfolgerung findet man bei allen postmodernen Philosophen. J.-F. Lyotard z. B. sieht, daß sich das vernünftige Denken in der Moderne über die moderne TP 27 PT J. Lacan, Schriften II, a.a.O., S. 19. Allerdings betont Lacan, daß die Sprache bei ihm fast nichts mit der Sprache in der Linguistik zu tun hat. Zu diesem Unterschied siehe Michel Arrivé, Linguistics and Psychoanalysis. Freud, Saussure, Hjelmslev, Lacan and others, Amsterdam, Philadelphia 1992, besonders S. 121ff. 14 Wissenschaft hinaus bis zum Metadiskurs erweitert, der um ihre Legitimation willen in Anspruch genommen wird. Dieser Metadiskurs ist nichts anderes als eine große Erzählung bzw. eine Metaerzählung, die versucht, die Pluralität der Welt und der Geschichte auf bestimmte Universalbegriffe, wie z. B. Humanität, zu reduzieren. Zu den Metaerzählungen gehören 'die Dialektik des Geistes', 'die Hermeneutik des Sinns', 'der Emanzipationsdiskurs des vernünftigen oder arbeitenden Subjekts' etc. Die Metaerzählungen sind also die durch das rationale Denken vereinheitlichenden, umfassenden Weltanschauungen. Die moderne Wissenschaft ist daher durch das Kriterium der radikalen Vereinfachung gekennzeichnet. Lyotard kritisiert die Ökonomie der Vereinfachung wie folgt: ''Die Anwendung dieses Kriteriums [s.c. der Vereinfachung] auf alle unsere Spiele geht nicht ohne Schrecken vor sich, weich oder hart: 'Wirkt mit, seid kommensurabel, oder verschwindet'!'' 28 TPF FPT Aus dieser Sicht kann das moderne Wissen in drei Punkten wie folgt zusammengefaßt werden: 1) die Übertragung der Legitimation der fundamentalistischen Ansprüche an Metaerzählungen, 2) die notwendige Maximierung der Legitimation und die Ausschließung des Nichtlegitimen und 3) das Verlangen nach einer homogenen wissenschaftlichen und moralischen Vorschrift. 29 TPF FPT Im Gegensatz dazu ist das postmoderne Wissen nach Lyotard ''die Skepsis gegenüber den Metaerzählungen''; 30 es verwirft die 'großen Erzählungen' und vertritt die TPF FPT Heterogenität statt der Homogenität, die Pluralität statt der Einheit etc. 31 In dieser TPF FPT Hinsicht lehnt der Postmodernismus alle Arten das Vernunft-Denken und die Reinheit der Vernunft oder deren Absolutheit ab und konzentriert sich stattdessen auf die Forschung über die 'Randbereiche' der Vernunft. Die Vertreter dieser Position wollen, wie Foucault programmatisch sagt, ''die Geschichte der Grenzen schreiben, [...] mit denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt'', 32 wie z. B. die TPF FPT Geschichte des 'Wahnsinns' und der 'Sexualität' bei M. Foucault und die der vom Logos benachteiligten 'Schrift' bei Derrida. Sie wollen damit die nicht vernünftigen Elemente, 28 PT J.–F. Lytord, Das postmoderne Wissen, Wien 1999, S. 15. TP 29 PT Vgl. S. Best / D. Kellner, Postmodern Theory, New York 1991, S. 165. TP 30 PT J.–F. Lytord, Das postmoderne Wissen, a.a.O., S. 14. TP 31 PT Vgl. S. Best / D. Kellner, Postmodern Theory, a.a.O., S. 165. TP TP 32 PT M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1969, S. 9. Hervorhebung im Original. 15 die die reine Vernunft unbemerkt begleiten, in den Vordergrund stellen, wie z. B. die 'Macht' und 'das Andere der Vernunft' statt der Vernunft, die 'Zufälligkeit' statt der 'Notwendigkeit' und die 'Differenz' statt der 'Identität' etc. In seinen sozusagen nach der 'archäologischen' Methode geschriebenen frühen Büchern, wie z. B. Wahnsinn und Gesellschaft und Die Ordnung der Dinge etc., will Foucault den Terror der Vernunft gegenüber dem Nichtvernünftigen aufzeigen. Die Archäologie richtet den Blick auf die Sinnesfundamente, die noch nicht sprachlich formuliert sind, und auf die Art und Weise, in der innerhalb eines Diskurses die jeweilige Geltung von Wahrheit und Falschheit festgelegt wird. Sein wissenschaftliches Ziel ist, nachzuweisen, daß die Wahrheitssuche immer zahlreiche Wirklichkeitsbereiche ausschließe und daß ihr Ablauf notwendig den Willen zur Wahrheit verdecke. ''Der wahre Diskurs, den die Notwendigkeit seiner Form vom Begehren ablöst und von der Macht befreit, kann den Willen zur Wahrheit, der ihn durchdringt, nicht anerkennen; und der Wille zur Wahrheit […] ist so beschaffen, daß die Wahrheit, die er will, gar nicht anders kann, als ihn zu verschleiern.'' 33 TPF FPT In seiner Forschung über den von der Vernunft verdrängten Wahnsinn will Foucault zeigen, wie die Diktatur oder der Monolog der Vernunft in der europäischen Geschichte entstanden ist. Nach ihm war hybris bei den Griechen nicht ein Gegenteil des Logos oder der Vernunft 34 und wurde bis zum 16. Jahrhundert noch nicht streng vom Begriff TPF FPT der Vernunft getrennt. Der Wahnsinn wurde also bis dahin als ein Spiegel angesehen, der die Schwächen der Vernunft ironisch entlarvte. Aber erst im 17. Jahrhundert begann man nach der erkenntnistheoretischen Wende der Philosophie bei Descartes den Wahnsinn von der Vernunft auszuschließen. Die Philosophie Descartes' gilt daher als ein entscheidender Wendepunkt in der Vernunftgeschichte. Descartes sucht nach einem archimedischen Punkt für philosophische Gewißheit. Zu diesem Zweck zweifelt er zunächst an allem, was in seinen Gedanken vorhanden ist: er bezweifelt erstens die Wahrheit der sinnlichen Urteile, zweitens die Differenz zwischen dem Traum und der Realität und schließlich zweifelt er sogar an der Gültigkeit der mathematischen Wahrheiten, da man sich vorstellen kann, daß auch diese Wahrheiten 33 PT M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses, München 1974, S. 10f. TP TP 34 PT Vgl. M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, a.a.O., S. 9. 16 von irgendeinem 'bösartigen Teufel' manipuliert werden könnten. Jene ersten zwei Stufen bestehen in dem Zweifel, der sich auf die Erkenntnis der Erfahrungswelt bezieht. Weil auch der Wahnsinn zu falschen Annahmen über die Wirklichkeit führt, identifiziert Foucault die Form des Zweifels, die jene ersten zwei Stufen einschließt, mit dem Wahnsinn. Jene ersten zwei Stufen weisen nach Foucault auf das hin, was wirklich passieren kann, während die letzte Stufe eine Veränderung der mathematischen Gesetze nur in der Vorstellung möglich ist. Aus diesem Grund wird der Wahnsinn von der Vernunft bzw. von dem Selbstbewußtsein ausgeschlossen. Descartes gilt daher als derjenige Denker, der den Weg für den Triumph der den Wahnsinn ausschließenden Vernunft eröffnete. Neben der cartesianischen philosophischen Wende gibt es nach Foucault zwei gesellschaftsgeschichtlich auffällige Ereignisse, die von großer Bedeutung in der Vernunftgeschichte sind: die große Internierungswelle der Armen um die Mitte des 17. Jahrhunderts und die Umwandlung dieser Internierungslager in die psychiatrischen Einrichtungen am Ende des 18. Jahrhunderts. Beide Ereignisse markieren die Punkte, in denen eine Verstärkung der Herrschaft der Vernunft erkannt werden könne. Indem sich die Vernunft von ihren heterogenen Elementen abgrenzt und alles zum Objekt macht, was ihr begegnet, verstärkt sie ihre Alleinherrschaft. Der Sieg dieser reglementierenden Vernunft findet sich in allen modernen Organisationsformen: in Fabriken, Kasernen, Schulen sowie Kadettenanstalten etc. Die Vernunft unterwirft nun nicht nur den Wahnsinn, sondern auch die Bedürfnisnatur des Einzelnen und die Gesellschaft im Ganzen. Indem das zur allgemeinen Vernunft erhobene Subjekt alles objektiviert und kontrolliert, verliert es nach Foucault alle bloß intuitiven Verbindungen mit seiner Umwelt und reißt alle Brücken für die intersubjektive Verständigung ab. Die anderen Subjekte werden zu den nur beobachteten oder bearbeiteten bloßen Objekten. So deutet Foucault das 'Paradox der Rationalisierung' als ein zwangsläufiges Resultat des rationalistischen Denkens. Während Foucault die Entwicklung der modernen Vernunft archäologisch darstellt, hält Derrida das moderne rationalistische Denken bloß für eine Variation des abendländischen metaphysischen Denkens überhaupt. Daher richtet sich seine Kritik, radikaler als Foucaults, auf die gesamte europäische Denkweise. Er kritisiert Foucault darin, daß dieser noch der europäischen Denktradition und sogar dem modernen Dualismus verhaftet bleibe. Anders als Foucault trennt Derrida den griechischen Logos 17 nicht von der cartesianischen Vernunft und hält den Logosbegriff nicht für so umfassend, daß er die Unvernunft, z. B. die hybris, in sich einschließt. Die Vernunft habe vielmehr seit der griechischen Zeit nur eine einzige Form: ''Unsere ganze europäische Sprache, die Sprache all dessen, was an dem Abenteuer der abendländischen Vernunft von nah oder fern teilgenommen hat, ist die immense Delegierung des Plans, den Foucault in der Gestalt der Erfassung oder der Objektivierung des Wahnsinns definiert. Nichts in dieser Sprache und niemand unter denen, die sie sprechen, kann der historischen Schuld entgehen.'' 35 TPF FPT Obzwar es in der abendländischen Tradition philosophische Bewegungen gegeben habe, die sich gegen die Vernunft gerichtet haben, sieht Derrida in solchen Herausforderungen, wie z. B. in der Romantik, – da die Sinnlichkeit mit der Vernunft zusammenwächst, – eine posteuropäische Denkweise. Solche Herausforderungen seien bloß ''die in der Ordnung denunzierte Ordnung'' 36 und ''die Revolution innerhalb der Vernunft gegen die TPF Vernunft'': FPT 37 TPF FPT ''Da sie nur innerhalb der Vernunft wirken kann, sobald sie spricht, hat die Revolution gegen die Vernunft also immer die begrenzte Tragweite dessen, was man genau in der Sprache des Ministeriums des Inneren eine Agitation nennt. Man kann zweifellos nicht eine Geschichte oder gar eine Archäologie gegen die Vernunft schreiben, denn trotz des Anscheins ist der Begriff der Geschichte stets ein rationaler Begriff gewesen.'' 38 TPF FPT Von dieser Perspektive her ist auch die Forschung Foucaults über den Wahnsinn keine Ausnahme. Seine Archäologie, die sich mit etwas Stillschweigendem befaßt, was außerhalb des Ausgesprochenen liegt, gerät in den Widerspruch, den Wahnsinn, der sich 35 PT J. Derrida, Cogito und Geschichte des Wahnsinns in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. TP 1972, S. 60. Hervorhebung im Original. 36 PT Ebd. TP 37 PT A.a.O., S. 61. TP TP 38 PT Ebd. Hervorhebung im Original. 18 nicht aussagen kann, selbst aussagen zu lassen. 39 Das ist nur 'eine interne Revolution', TPF FPT die innerhalb der Kategorie der Vernunft von der Vernunft sowie dem Wahnsinn spricht. 40 TPF FPT Derrida sieht in allen abendländischen Philosophien seit Platon bloß eine Metaphysik, die ausgehend von der Universalität des Logos die Welt in eine Einheit bringt. Selbst die Phänomenologie und der Strukturalismus, welche das metaphysische Denken stark kritisiert haben, entziehen sich nach ihm dieser Denkform nicht. Nach der Phänomenologie wird die Bedeutung durch die Intentionalität des Bewußtseins konstituiert. Auch der Strukturalismus, der eine konstitutive Rolle des transzendentalen Subjekts verneint, versucht lediglich, in der Syntax oder in der grammatischen Struktur der Sprache einen Archetyp des Denkens, also eine metaphysische Bestimmung der Wahrheit zu finden, die ''mehr oder weniger unmittelbar nicht zu trennen [ist] von der Instanz eines Logos oder einer von ihm abstammend gedachten Vernunft''. 41 TPF FPT Derrida deutet also das ganze abendländische Denken als Ausdruck des Logos. Der 'Logos' unterscheidet sich in der Antike vor allem vom Mythos, von der Meinung (doxa) und der Wahrnehmung (aistheis) und bedeutet zunächst 'Aussage' und 'Wort' und ferner 'Verhältnis', 'Bericht', 'Proportion', 'Erklärung', 'Beweisführung', 'Vernunft', 'Darlegung' etc. 42 Derrida betont, daß der Logos ursprünglich das gesprochene Wort TPF FPT bedeutete, und unterscheidet ihn daher von der Schrift. Während diese unabhängig von der Anwesenheit des Autors oder Sprechers eine stille Dauerhaftigkeit besitzt, setzt das Wort die Anwesenheit des Sprechers voraus und wird als Ereignis verstanden, das im Augenblick erscheint und gleichzeitig verschwindet. Das Wort besteht also als ein Ereignis in der Gleichzeitigkeit zwischen Sprechen und Hören. 43 TPF FPT Bezüglich der Problematik des Logos ist der Ausgangspunkt Derridas die folgende philosophiegeschichtliche Tatsache: das Wort, die Stimme sowie der Gehörsinn hatten 39 PT Derrida formuliert dies wie folgt: ''Diese Archäologie behauptete und verzichtete gleichzeitig darauf, TP den Wahnsinn selbst auszusagen. Der Ausdruck 'den Wahnsinn selbst aussagen' ist in sich widersprüchlich. Den Wahnsinn auszusagen, ohne ihn in die Objektivität zu verbannen, heißt ihn sich selbst aussagen zu lassen. Nun ist der Wahnsinn in seinem Wesen das, was man nicht sagt.'' A.a.O., S. 71. 40 PT A.a.O., S. 65. TP 41 PT J. Derrida, Grammatologie, Frankfurt/M. 1974, S. 24. TP 42 PT Siehe den Artikel 'Logos' in: J. Ritter / K. Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, TP Basel, Stuttgart (= HWPh), Bd. 5, Sp. 491ff. TP 43 PT Zur Charakteristik des Wortes als Ereignisses, das sich von der Schrift unterscheidet, siehe Walter I. Ong, Oralität und Literalität: Die Technologisierung des Wortes, Darmstadt 1987, besonders das dritte Kapitel Die Psychodynamik der Oralität, S. 37ff. 19 die Priorität gegenüber der Schrift und dem Gesichtssinn. Daß Platon im Phaidros im Gegensatz zum Dialog Sokrates', der durch den lebendigen Austausch der Stimme 'lebendiges Wissen' herstellen könne, die Schrift nur eine 'tote Aufzeichnung' nennt, ist eines der ersten, geschichtlich berühmten Beispiele für diese philosophiegeschichtliche Tatsache. Außerdem liegt der Grund, daß er die Schriftsteller wie die Sophisten behandelt, darin, daß sie sich nur für die Aktenbewahrung interessierten, nicht für die Liebe zur Wahrheit. Die Schrift hat nichts mit der Stimme der inneren Seele zu tun. Sie liegt einfach außerhalb der Seele. Auch Hegel, der als letzter Metaphysiker der Philosophiegeschichte angesehen wird, entzieht sich nach Derrida dieser abendländischen Denktradition nicht. Der Grund, daß er in seiner Ästhetik den Gehörsinn für den höchsten ideellen Sinn hält, 44 liegt darin, TPF FPT daß er ''nicht den praktischen, sondern den theoretischen Sinnen zugehört und selbst noch ideeller ist als das Gesicht''. 45 Während z. B. der Gesichtssinn noch vom TP F FPT angeschauten Gegenstand abhängt, vernimmt der Gehörsinn ''das Resultat jenes inneren Erzitterns des Körpers, durch welches nicht mehr die ruhige materielle Gestalt, sondern die erste ideellere Seelenhaftigkeit zum Vorschein kommt.'' 46 Der Ton wird durch ein TPF FPT Aufheben des räumlichen Zustandes und das mit der Reaktion des Körpers erscheinende Aufheben jenes Aufhebens, also durch die zweifache Negation erzeugt. Er entspricht deswegen der inneren Subjektivität, die ''an und für sich etwas Ideelleres ist als die für sich real bestehende Körperlichkeit.'' 47 TPF FPT Von daher bezeichnet Derrida die gesamte Wissenschaft Europas einerseits als den 'Stimmen- oder Logozentrismus', weil sie von der Priorität des Wortes und des Logos ausgeht, und andererseits als 'die Metaphysik der Präsenz', weil sie auf der reinen Anwesenheit des Sprechens oder des Wortes basiere, während sich die Schrift auf die Abwesenheit beziehe. Auch die moderne Bewußtseinsphilosophie, welche von der Anwesenheit und Deutlichkeit des Bewußtseins ausgehe, gehöre zu dieser Kategorie: ''Das Privileg der Präsenz als Bewußtsein [vermochte] sich nur mittels der ausgezeichneten Kraft der Stimme zu etablieren.'' 48 TPF 44 TP PT FPT J. Derrida, Der Schacht und die Pyramide. Einführung in die Hegelsche Semiologie, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 85ff., besonders 102ff. 45 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, in: TW, Bd. 15, S. 134. TP PT 46 Ebd. TP PT TP 47 Ebd. PT TP 48 PT J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls, Frankfurt/M. 1979, S. 67. 20 Warum setzt sich Derrida mit dem Begriff des Logos auseinander? Er sieht, wie schon erläutert, das Wesen des Logos in der Gleichzeitigkeit des 'sich-sprechen-Hörens': ''Die Vernunft entbirgt sich somit selbst. Die Vernunft ist [...] der Logos, der sich in der Geschichte erzeugt. Er durchquert das Sein im Hinblick auf sich selbst, in der Ab-Sicht, sich selbst, das heißt als Logos, sich zu erscheinen, sich selbst zu benennen und sich selbst zu hören. Er ist Sprechen als Selbstaffektion: ist das Sich-selbst-sprechen-hören. Er tritt aus sich hinaus, um sich in sich selbst, in der 'lebendigen Gegenwart' seines Sich-selbstgegenwärtigseins wieder zurückzunehmen.'' 49 TPF FPT Der Logos ist bei sich selbst und in der nächsten Nähe mit sich selbst. Er bleibt deswegen völlig in dem reinen Selbstbezug. Derrida bezieht diesen sich-sprechenhörenden, autoaffektiven Logos auf den Gedanken des Monologs oder der Diktatur der Vernunft, welche ursprünglich alle Beziehungen auf anderes ablehnt. Während die Schrift, in der sich die Zeit durch die Verzögerung des Sprechmomentes zum Raum macht, bis zu einem lebendigen Lesen ein totes Zeichen bleibt, beharrt das Sprechen immer in seiner Präsenz. Wie in seiner Kritik am Wort und am Logos angedeutet, schlägt Derrida als Alternative für diesen 'narzißtischen' Logozentrismus die 'Grammatologie' vor, die als 'die Lehre von der Schrift' übersetzt werden kann. 50 Die Schrift kann zwar nur durch den TPF FPT Vergleich mit dem Wort untersucht werden, aber jene ist nach Derrida ursprünglicher als dieses. Anders gesagt, die Grammatologie zielt darauf ab, zu erhellen, daß die Schrift die Grundlage ist, die den Logos lebendig machen kann und durch welche die Bedeutungen formuliert werden können. Er sagt in einem Interview über die Grammatologie folgendes: ''Ich würde mit einem Wort sagen, daß sie [sc. die Grammatologie] die Wissenschaft festschreibt und ent-grenzt; sie muß die Normen der Wissenschaft in deren eigener Schrift wirken lassen, in freier und doch 49 PT J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, a.a.O., S. 255. TP TP 50 PT Derrida befaßt sich hier nicht mit der Schrift, die als eine sekundäre Funktion der Stimme gedacht wird, d. h. mit der Grammatik der Sprache oder mit der Logik ihrer Verwendung, sondern mit der Wissenschaft der Schrift selbst. 21 strenger Weise; also, noch einmal, sie markiert und lockert gleichzeitig die Grenze, die das Feld der klassischen Wissenschaftlichkeit umschließt.'' 51 TPF FPT Diese Passage bietet aber eine Möglichkeit an, die Grammatologie wieder auf das logozentrische Denken, z. B. auf die Transzendentalphilosophie Kants bzw. die Ursprungsphilosophie zu beziehen, welche die Möglichkeitsbedingungen der Wissenschaft untersucht. Die Kritik von Habermas an Derrida steht in der Tat in dieser Tradition. Derrida bleibt nach ihm trotz seines Versuches, die sogenannte 'temporalisierte Ursprungsphilosophie' zu überwinden, noch in den Bahnen einer Fundamentalphilosophie: ''Als Teilnehmer am philosophischen Diskurs der Moderne erbt Derrida die Schwächen einer Metaphysikkritik, die von der Intention der Ursprungsphilosophie nicht loskommt. Trotz des veränderten Gestus betreibt auch er am Ende nur eine Mystifizierung handgreiflicher gesellschaftlicher Pathologien; auch er entkoppelt das wesentliche, nämlich dekonstruierende Denken von der wissenschaftlichen Analyse und landet bei der leerformelhaften Beschwörung einer unbestimmten Autorität.'' 52 TPF FPT Daß Derrida die mystische Charakteristik der Metaphysik erbt, wegen der die sozialpathologischen Erscheinungen nicht wissenschaftlich analysiert werden könnten, ist also der Kern der Kritik von Habermas an Derrida. Diese Kritik an Derrida zeigt, daß der postmoderne Versuch, den Ursprung der (modernen) Rationalität im irrationalen oder antirationalen Bereich zu finden, paradoxerweise mit der Bestätigung des transzendentalen Schemas enden kann. Die Nachfolger des modernen Subjektivismus gehen daher von der Unentbehrlichkeit der Transzendentalität aus und wollen eben deswegen durch eine Erneuerung der transzendentalen Subjektsphilosophie das Problem der Moderne lösen. Ein Beispiel dafür können wir in der Arbeit von Luc Ferry und Alain Renaut sehen. 51 TP J. Derrida, Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy PT Scarpetta, Wien 1986, S. 81. 52 TP PT J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1996 (=PDM), S. 213f. Hervorhebung im Original. 22 2.2. Die Erneuerung des Begriffs der transzendentalen Vernunft Die zweite Antwort auf die wissenschaftlichen Ergebnisse der Psychoanalyse und der strukturellen Linguistik ergibt sich als eine Gegenbewegung zum Postmodernismus mit der konsequenten Beibehaltung des klassischen Autonomieideals. Diese Position geht davon aus, daß das erkennende und handelnde Subjekt auf seine weltbildende Subjektivität als den maßgeblichen Horizont der Selbstauslegung zurückgehen soll. Diesem Gedanken nach leidet die Subjektkritik der Postmodernen, deren Betrachtung der modernen Subjektivität sich nur auf die Kontingenz reiner Selbsterhaltung des Subjekts oder den Begriff der instrumentellen Vernunft beschränkt, trotz ihres 'radikalen Pathos' an einem 'Radikalitätsdefizit' in der Argumentation. L. Nagl, einer der Vertreter dieser Position, kritisiert die Postmodernisten in diesem Sinne: "[...] meist endet der 'dekonstruktivistische' Eifer zeitgenössischer Subjektkritiker genau dort, wo die (selbstreferentielle) Untersuchung derjenigen Kritikmittel unvermeidlich würde, welche die rhetorischen Angriffe auf 'das Subjekt' erst möglich machten." 53 TPF FPT Der Kern dieser Kritik besteht darin, daß die dekonstruktivistischen Subjektkritiker, um sich einem lesenden Publikum verständlich zu machen, "unsuspendierbare Teile desjenigen Vernunftgebrauchs als funktionsfähig" voraussetzen, TPF 54 FPT den sie zu diskreditieren versuchen. Es geht daher bei dieser Position darum, die nicht gänzlich zu dekonstruierende Vernunft wieder aufzuwerten. Eines der wichtigen Bücher, das in dieser Absicht geschrieben wurde, ist das Buch Antihumanistisches Denken: Gegen die französischen Meisterphilosophen von Luc Ferry und Alain Renaut, 55 das in den 80er Jahren, d. h. in der Zeit erschienen ist, in der TPF 53 FPT PT L. Nagl, Zeigt die Habermassche Kommunikationstheorie einen 'Ausweg aus der Subjektsphilosophie'?, TP in: M. Frank / G. Raulet / W. Reijen (Hg.), Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt/M. 1988, S. 346. 54 PT Ebd. TP TP 55 PT Titel der Originalausgabe: La pensee 68. Essai l’anti-humanisme contemporain, Paris 1985. Habermas beurteilt in einem Interview diese philosophische Arbeit von Ferry positiv, der gegen die Postmoderne die Kantische Subjektsphilosophie zu rekonstruieren versucht: "Seine politische Philosophie zeigt, daß die Produktivität in der jüngeren Generation nicht erschöpft ist – und sich freigemacht hat von 23 die Postmoderne in ihrer vollen Blüte war. In diesem Buch setzen sich die Autoren einerseits mit Hilfe einer erneuten Deutung der Kantischen Subjektsphilosophie, die einer der Hauptangriffsziele der Postmodernisten ist, mit den Postmodernen auseinander und halten zugleich andererseits an der Idee der Autonomie des Subjekts fest. Sie unterscheiden zunächst die 68-Bewegung vom 68er-Denken, das den unmittelbaren Anfang des 80er-Jahre-Individualismus ausmache. 56 Dabei untersuchen sie die Frage, TPF FPT ob die 68-Bewegung, wie es das 68er-Denken tut, antihumanistisch gelesen werden kann, und wenn es nicht so ist, warum das '68er-Denken' diese Bewegung als eine antihumanistische Bewegung ansieht, und sie gehen zuletzt auf die Frage ein, wie die Idee der modernen Subjektivität u. a. bei Kant verstanden werden muß. Wie in dem Titel ihres gemeinsamen Buches angedeutet, sind Ferry und Renaut der Ansicht, daß die 68-Bewegung nicht als ein unmittelbarer Anfang des 80er-JahreIndividualismus verstanden werden darf, der den Postmodernismus als seine Ideologie erzeugt, sondern im Rahmen einer traditionell humanistischen Bewegung gedeutet werden sollte. Das postmoderne Denken, d. h. das 68er-Denken besteht in der Verteidigung des Menschen gegen das den Menschen unterdrückende System, genauso wie die Mai-Bewegung. Der zentrale Unterschied zwischen ihnen liegt aber darin, daß jenes die Emanzipation des Menschen vom System mit der Kritik an der Subjektivität gleich setzt, die sich besonders im deutschen Idealismus verkörpere, während diese das den Menschen unterdrückende System durch eine erneute Deutung der Subjektivität überwinden will. Von daher wird die moderne subjektive Philosophie, welche die Tradition des modernen Humanismus begründet und fortgeführt haben sollte, vom 68erDenken als ein wichtiger Angriffspunkt angesehen. In der Metaphysik der Subjektivität, welche im System Hegels ihren Höhepunkt erreicht, wird das Subjekt als vollkommen abgeschlossen gedacht. Die auf ein System ausgerichtete Metaphysik kann also ihrem Wesen nach nichts anderes tun, als die auf neuphilosophischen Berührungsängsten vor den teutonischen Meisterdenkern." J. Habermas, Untiefen der Rationalitätskritik, in: ders., Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1996 (= NU), S. 137. TP 56 PT Als das '68er-Denken' bezeichnen Ferry und Renaut eine Gruppe von Autoren der chronologisch den Mai-Ereignissen nahstehenden 'antihumanistischen' Werke. Dazu gehören z. B. Die Ordnung der Dinge 1966, Die Archäologie des Wissens 1969 von Foucault, Für Marx 1965, Lenin und die Philosophie und Über die Beziehungen von Marx zu Hegel von Althusser, Die Schrift und die Differenz 1967, Grammatologie 1967, Fines hominis 1968 von Derrida, Ecrits 1966 von Lacan, Heritiers 1964, La Reproduction von Bourdieu und Passeron und Difference et repetition 1969, Logique du sens 1969 von Deleuze. 24 der Abgeschlossenheit des Subjekts basierende Weltsicht herzubringen, die letztlich zu einer Verdinglichung und Instrumentalisierung der anderen Subjekte führt. Im Gegensatz zu der Vorstellung von der Abgeschlossenheit des Subjekts, die wahre Freiheit verhindert, ist die Dimension der Erschlossenheit des Menschen eine unentbehrliche Bedingung für die Autonomie des Subjekts. Von daher ist die Idee der modernen Autonomie des Subjekts bloß eine 'Illusion', wenn sie auf dem abgeschlossenen Subjekt basiert. L. Ferry und A. Renaut fassen die Logik der Kritik des 68er Denkens an dem Subjekt wie folgt zusammen: "Wenn die Autonomie als tatsächlich und umfassend verstanden werden könnte, dann ist klar, daß das so gesetzte (absolute) Subjekt gar nicht anders kann, als vollkommen abgeschlossen zu sein, ohne ein es determinierendes Außen und bar jeder Öffnung auf eine irgendwie geartete Andersheit." 57 TPF FPT Die Kritik von Ferry und Renaut an dem 68er-Denken richtet sich also gegen dessen Behauptung, daß Begriffe wie 'Humanismus', 'Individualismus' und 'Metaphysik der Subjektivität' homogen seien und aus der (modernen) Vernunft resultierten. Sie sind durchaus damit einverstanden, daß das systemorientierte metaphysische Denken oder die Abgeschlossenheit der Metaphysik von dem allein auf der Erschlossenheit des Menschen beruhenden Humanismus weit entfernt sei und daß sich die moderne Philosophie der Subjektivität zur Metaphysik der Subjektivität entwickelt habe und dadurch beim Gedanken einer Abgeschlossenheit des Menschen angelangt sei. Aber sie behaupten dennoch, daß es nicht zwingend sei, die Philosophie der Subjektivität zu einer Metaphysik der Subjektivität weiter zu entwickeln, und daß eine Philosophie der Subjektivität daher auch heute eine Bedeutung hat. Was verstehen Ferry und Renaut unter dem metaphysischen Subjekt, das einen illusionären Humanismus hervorrufe? Sie betrachten es, Heidegger folgend, der die Metaphysik im Sinne der Seinsvergessenheit kritisiert, unter drei Gesichtspunkten: Erstens: die metaphysische Subjektivität wird in der Erkenntnistheorie gedacht als "Zentrum einer als ihrer selbst einsichtigen und vollkommen rational vorgestellten Welt eines allwissenden Bewußtseins", 58 wie sie sich in der cartesianischen Philosophie zeigt. TPF 57 TP PT FPT L. Ferry / A. Renaut, Antihumanistisches Denken. Gegen die französischen Meisterphilosophen, München 1987, S. 216. TP 58 PT A.a.O., S. 218. 25 Zweitens: das metaphysische Subjekt wird in der praktischen Philosophie bestimmt als Vernunft, die den Gegenstand praktisch beherrschen will, wie es die praktische Philosophie von Kant und Fichte vertritt. "Für die Philosophie des Willens ist das Handeln der Menschen, zum Beispiel das geschichtliche Geschehen, in letzter Instanz in der Intention des Subjekts begründet. [...] Diese Sichtweise läßt die Dimension des Geheimnisses, die jedes Geschehen charakterisiert, zugunsten einer erschöpfenden Begründung des Geschehens in der Subjektivität verschwinden." 59 Nach Heidegger TPF FPT vereinigen sich das erkenntnistheoretische, das praktischphilosophische und das metaphysischen Subjekt in dem absoluten Subjekt bei Hegel, das bekanntlich die Versöhnung des Willens mit der Intelligenz darstellt.60 TPF FPT Drittens: das metaphysische Subjekt wird als Wille zum Willen definiert, der nur als 'Beherrschung um der Beherrschung willen' existiert, ohne sich einen äußeren Zweck zu setzen. Von daher bezieht sich der Wille hier nur auf sich selbst. In diesem Willen sieht Heidegger eine Art von 'instrumenteller' Vernunft, die "niemals auf den Endzweck, sondern nur auf die Mittel reflektiert" in dem Sinne, daß sie "jedes Ziel an sich leugnet und Ziele nur zuläßt als Mittel, um sich willentlich zu überspielen." 61 TPF FPT Diese Charakteristiken des von Heidegger kritisierten metaphysischen Subjekts fassen L. Ferry und A. Renaut im Folgenden zusammen: "Die Täuschung dieses Subjektes besteht darin, daß es sich nicht mehr als zeitliches und endliches Wesen denkt, sondern als außerzeitliches und absolutes Wesen." 62 TPF FPT Daher suchen sie eine Möglichkeit eines auf der Idee der Subjektivität basierenden und zugleich nicht-individualistischen sowie nicht-metaphysischen Humanismus. Und sie sehen diese Möglichkeit in der Schematismus-Theorie Kants verwirklicht. Kant entwickelt die Schematismustheorie in der Kritik der reinen Vernunft, um die Antinomie des Cartesianismus und des Empirismus aufzulösen. Während die Cartesianer von der Existenz allgemeiner eingeborener Ideen ausgehen, sind die Empiristen der Meinung, daß die Vorstellung einer allgemeinen Idee aus der Erfahrung 59 PT A.a.O., S. 219. TP 60 PT Siehe Hegel, Enzyklopädie I, § 234, Zusatz, in: TW, Bd. 8, S. 387. TP 61 PT M. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 89. TP TP 62 PT L. Ferry / A. Renaut, a.a.O., S. 220. 26 abgeleitet ist. Die Schematismustheorie Kants zielt daher darauf ab, die Relativierung der Wahrheit als eine bloße Überzeugung bei den Empiristen und die abstrakte Universalität der Wahrheit bei den Rationalisten zu vermeiden. Das Schema wird also als eine Synthese von Kategorie und Zeit, d. h. von dem Begriff und der Zeit, gedacht. Dabei vollzieht sich diese Synthese in der Einbildungskraft, welche das Vermögen ist, "einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen". 63 TPF FPT Dabei geht es darum, aufzuzeigen, wie die Besonderung und die Verzeitlichung der Begriffe oder der Kategorien in einem Bewußtsein entstehen, ohne daß sie ihre Universalität und Apodiktizität verlieren. Dafür definiert Kant zunächst die Begriffe als Schemata, d. h. nicht als allgemeine Vorstellungen, sondern als allgemeine methodische Anleitungen zur Konstruktion der Objekte. Der Unterschied zwischen den Empiristen und Kant zeigt sich anhand des Beispiels eines Dreiecks. Bei den Empiristen gilt folgendes: "Jedes Mal, wenn ich mir ein Dreieck mit seinen verschiedenen mathematischen Eigenschaften vorstelle, bringe ich mir unvermeidlich in der Zeit meines Bewußtseins ein besonderes Dreieck, ein Dreieck von besonderer Gestalt und besonderen Ausmaßen vors Bewußtsein." 64 TPF FPT Im Gegensatz zur skeptischen Schlußfolgerung der Empiristen, die die allgemeinen Ideen auf die psychologische Vorstellung reduzieren, ist es bei Kant so, "daß das Schema des Dreiecks nichts anderes ist als eine Reihe von Operationen, die konkret und in der Zeit auszuführen sind, um mit Lineal und Kompaß ein Dreieck zu zeichnen." 65 TPF FPT Gerade in dieser Beständigkeit und Universalität der Konstruktionsmethode eines Dreiecks besteht die Möglichkeit der Wissenschaft und nicht des Glaubens. L. Ferry und A. Renaut sehen in dieser Schematismus-Theorie Kants das Bild des nicht abgeschlossenen Subjekts, das die Begriffe und die Zeit sowie die Allgemeinheit und die Besonderheit miteinander vereinigt und dadurch einen objektiven Sinn konstituiert. 63 PT I. Kant, 'Einbildungskraft', in: ders., Kritik der reinen Vernunft, Sachregister, Hamburg 1971, S. 791. TP 64 PT L. Ferry / A. Renaut, a.a.O., S. 225. TP TP 65 PT A.a.O., S.226. 27 Dieses Subjekt unterscheidet sich deutlich vom absoluten Subjekt, das nichts anderes tut, als den Bildungsprozeß des Geistes nur im Nachhinein darzustellen. Ferry und Renaut weisen darauf hin, daß Heidegger die Idee des Kantischen Subjekts auf seinen Begriff des 'Daseins' bezieht. Er stützt sich vor allem auf die feste Verbindung der schematisierenden Tätigkeit mit der Einbildungskraft bei Kant, welche das Vermögen ist, sich Gegenstände auch in ihrer 'Abwesenheit' vorzustellen. Hier erkennt Heidegger die Ähnlichkeit zwischen den schematisierten Kategorien und dem 'ontologischen Vorverständnis', d. h. einer 'allgemeinen Definition der Seiendheit'. Damit besteht nach ihm der Begriff als Schema bei Kant nicht mehr in der bloßen Vorstellung, sondern in einer sinnkonstituierenden Tätigkeit. Allein das, was schematisiert, hat Sinn. Von diesem Standpunkt aus erklärt sich, warum für Kant das 'reine Absolute', das alle mögliche Erfahrung übersteigt und für dessen Erfassung kein Schematismus möglich ist, kein sinnvoller Gegenstand der theoretischen Philosophie ist. Trotz dieser Interpretation Heideggers unterscheiden L. Ferry und A. Renaut den Begriff 'Dasein' bei Heidegger und den der Subjektivität bei Kant voneinander. Denn das Dasein hat zwar eine Erschlossenheit zu dem Sein und dem Seienden (ontologische Differenz), aber es enthält keine Autonomie in sich, die eine Fähigkeit ist, den objektiven Sinn zu konstituieren. Das Dasein konstituiert nicht, sondern legt den Sinn von Sein aus. 66 TPF FPT In diesem Sinne hat es zwar eine Offenheit, aber seine Hauptbestimmung ist nicht mehr Autonomie, sondern Gelassenheit. Heidegger fängt also nach ihnen mit der These der Überwindung der Metaphysik an, aber endet letztlich mit der 'Gestalt eines neuen Dogmatismus'. Diese Denkweise Heideggers verschärft sich nach der sogenannten 'Kehre'. Hier untersucht Heidegger niemals die Bedingungen, unter denen sich der Mensch als Subjekt des Schematismus seine Endlichkeit aneignen kann. Hier wird die ontologische Differenz als Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden gedacht, ohne zu berücksichtigen, wie sie vom Dasein wahrgenommen wird. Von diesem Standpunkt aus sehen L. Ferry und A. Renaut den wesentlichen Mangel der Heideggerschen Phänomenologie im Folgenden: "Die Dimension eines Subjekts, das Herr seiner selbst und der Welt ist, die das metaphysische Subjektverständnis impliziert, wird aufgrund der 'Entdeckung' der ontologischen Differenz ganz und gar in den zu TP 66 PT A.a.O., S. 224. 28 überwindenden Bereich der Illusionen verwiesen. Aus dem Heideggerschen Denken heraus kann die Idee der Autonomie legitimerweise keinen angemessenen Status erhalten." 67 TPF FPT Man kann auch in Kants Begriff der Subjektivität einen Ansatz erkennen, der eine kritische Betrachtung der ontologischen Differenz ermöglichen würde. Aber Kant beschäftigt sich nicht mit diesem Problem, vielmehr fragt er nach den Bedingungen der Möglichkeit für eine legitime Rolle der metaphysischen Ideen. Von daher ist für Kant eine ontologische Metaphysik grundsätzlich bedeutungslos, die sich wegen der Abgeschlossenheit ihres Systems auf dem Begriff des Beherrschens beziehen kann. Aber "sobald man ihr einen Wahrheitsstatus beilegt, kann sie in der Eigenschaft als regulatives Reflexionsprinzip für die menschliche Praxis sowohl im wissenschaftlichen wie auch im ethisch-politischen Bereich einen Sinnhorizont abgeben." 68 TPF FPT L. Ferry und A. Renaut behaupten, daß es nicht logisch zwingend sei, die Dekonstruktion der Metaphysik zu einer Dekonstruktion des Humanismus zu erweitern, der von der Autonomie des Subjekts ausgeht, obwohl die Dekonstruktion des metaphysischen Subjekts eine Möglichkeit des offenen Subjekts eröffnet, das einen authentischen Humanismus begründen könne. Auch die Philosophie Heideggers ist in diesem Sinne nach L. Ferry und A. Renaut problematisch. Das Problem ist, daß es bei ihm keine konstitutive Autonomie des Subjekts gibt, d. h. die Dekonstruktion der Metaphysik und die der Autonomie des Subjekts fallen für ihn zusammen. Auch das 68er-Denken, das der späte Heidegger als eine Quelle seines Denkens betrachtet, macht den gleichen Fehler. Die 68ier kultivieren gemeinsam "unsere Epoche in Gestalt dieses 'gleichgültigen Ich, dem es an Willen mangelt'" 69 . L. Ferry und A. Renaut beenden ihr TPF FPT Buch hinsichtlich dieser 'Regression' der Postmodernen mit folgender Aussage, wobei sie Kant zitieren: "Zumindest aber müßte es paradox und problematisch erscheinen, daß das, was sich als postmodern ausgibt, indem es einer Idee vom Menschen, die doch der eigentliche Beitrag der Moderne war, jeden Sinn entzieht, ganz merkwürdigerweise die Gestalt einer Regression annimmt, die erneut das 67 PT A.a.O., S. 229. TP 68 PT A.a.O., S. 230. TP TP 69 PT Vgl. A.a.O., S. 233. 29 Ideal 'einer Natur, die einem Willen [...] unterworfen ist', durch das postmoderne Ideal 'einer Natur, welcher der Wille unterworfen ist' 70 , TPF ersetzt." 71 TPF Die FPT FPT subjektphilosophische Denkrichtung geht also davon aus, daß die sozialpathologischen Probleme der Moderne nicht aus dem Wesen der modernen Subjektivität stammen, sondern aus der inkonsequenten Anwendung der Vernunft resultieren. Es gibt aber eine andere Denkrichtung, die diese subjektphilosophische Position stark kritisiert. Sie nimmt die Kritik an der modernen subjektiven Vernunft auf, ohne gleichzeitig die Möglichkeit eines vernünftigen Denkens zu bestreiten. In dem Zentrum des Versuches, beide Faktoren in Erwägung zu ziehen und gleichzeitig eine neue Alternative innerhalb der Kategorie der Rationalität zu finden, steht der Begriff der Intersubjektivität. 2.3. Die Wende zur Intersubjektivitätstheorie Seitdem die Psychoanalyse und die Sprachwissenschaft die Autonomie des Subjekts sowie die moderne Rationalität in Frage gestellt haben, wurde es in jüngerer Zeit eines der wichtigsten sozial- und moralphilosophischen Probleme zu erkunden, in welchem Verhältnis der Einzelne und die Gesellschaft, die Subjektivität und die Gesellschaftlichkeit sowie das Subjekt und das Andere zueinander stehen – ein Verhältnis, das eine moderne Variante der alten metaphysischen Frage nach dem Verhältnis zwischen Einem und Vielen sein könnte. Sowohl für diejenigen, die von der absoluten Autonomie des vernünftigen Subjekts sprechen, als auch für die gegenteilige Position, die die Autonomie des Subjekts bloß als einen Schein ansieht, scheint diese Frage leicht zu beantworten sein. Denn die erste Position kann in dem auf der Idee der Vollkommenheit der Vernunft beruhenden extremen Individualismus und die zweite in einem das Individuum durch und durch unter das Ganze subsumierenden extremen Totalitarismus leicht ihren Niederschlag finden. Man kann aber einen Einwand gegen diese beiden Positionen erheben, denn sie basieren auf dem epistemologischen sowie praktischen Schema der Trennung von Subjekt und 70 PT I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, K. Vorländer (Hg.), Hamburg 1990, S. 53. TP TP 71 PT L. Ferry / A. Renaut, a.a.O., S. 233. 30 Objekt und können daher nur "eine falsche Identität von Allgemeinem und Besonderem" 72 hervorrufen. Für die, die das oben genannte philosophische Schema in TPF FPT Frage stellen, scheint jene philosophische Frage nicht leicht beantwortet werden zu können. Denn sie dürfen weder die vollkommene Autonomie der Subjektivität behaupten, noch diese bloß als einen Schein ansehen, vielmehr müssen sie einen dritten vermittelnden Weg einschlagen. Anders gesagt, sie müssen ein paradoxes Problem, d. h. die Aufnahme der Kritik an der modernen Subjektivität einerseits und die Erhaltung des Begriffes der individuellen Autonomie andererseits, widerspruchslos miteinander in Einklang bringen. TPF 73 FPT Um dieses Problem zu bewältigen, brauchen sie ein epistemologisch und praktisch ganz anderes Schema als das traditionelle Schema der Trennung von Subjekt und Objekt. Die Intersubjektivität ist einer der von ihnen vorgeschlagenen zentralen Begriffe. Die Intersubjektivität wurde von Husserl philosophisch eingeführt, um einen Solipsismus seiner auf dem transzendentalen Ich beruhenden frühen Phänomenologie dadurch zu vermeiden, daß er "alle Formen des Miteinander mehrerer transzendentaler oder mundaner Ich" sowie die objektive Welt untersucht, bei denen die "polyzentrische Intersubjektivität" herrscht. 74 Die Philosophen, welche in diesem Begriff eine neue TPF FPT philosophische Fragestellung sehen und ihn sogar zum Prinzip der Philosophie erheben, verstehen die Einführung der Intersubjektivität als einen revolutionären Paradigmenwechsel, durch den man die Einschränkung der modernen Subjektivität überwinden und gleichzeitig den philosophischen Anarchismus des Postmodernismus vermeiden kann. Sie gehen davon aus, daß das subjektphilosophische Schema der Trennung von Subjekt und Objekt sowie von Subsumierendem und Subsumiertem für die gegenwärtige Herrschaftsstruktur und die aus dieser Struktur resultierenden negativen Erscheinungen verantwortlich ist und daß dieses Schema daher zu allererst aufgehoben werden muß. Das Schema der Intersubjektivität wird als das Verhältnis von Subjekt und Subjekt (S-S) bezeichnet. Der Paradigmenwechsel vom S-O zum S-S 72 TP PT M. Horkheimer / Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 141. 73 TP PT In diesem Zusammenhang besteht nach A. Honneth eine der Hauptaufgaben der Intersubjektivitätstheorie darin, den Entstehungsprozeß der moralischen Autonomie des Einzelnen philosophisch zu deuten. Er geht also davon aus, daß die Autonomie nicht vorgegeben ist, sondern durch bestimmte Prozesse hergestellt wird. A. Honneth, Das Andere der Gerechtigkeit, a.a.O., S. 239f., S. 245ff. TP 74 Vgl. K. Held, 'Intersubjektivität' in: HWPh, Bd. 4, Sp. 521. PT T 31 Schema wird für "einen qualitativen Sprung" und "einen revolutionären Bruch" 75 mit TPF FPT der Vergangenheit gehalten. In diesem Zusammenhang schreibt E. Düsing: "Dieser Bruch ist nämlich ein Abbruch der klassischen Tradition eines humanistischen Bildungsbegriffs und ein Umbruch im Verständnis des Menschen, der nunmehr in seiner metaphysischen Ortlosigkeit radikal als rein gesellschaftliches Wesen aufgefaßt wird, als ein kommunikatives Sinnenwesen, das im Medium gemeinschaftlicher Wir-Erfahrung zu sich selbst gebracht werden muß und das die Realität der Welt erst vermittels rationaler Diskurse zu erfassen vermag." 76 TPF FPT Aus demselben Grund beurteilt Habermas die Ablösung des Bewußtseinsparadigmas und den Paradigmenwechsel zur Intersubjektivität als "die eigentliche philosophische Leistung unserer Epoche". 77 So erhebt sich die Intersubjektivität zum Leitbegriff der TPF FPT Philosophie bei denen, die einerseits die Grenze der modernen Subjektphilosophie überwinden und andererseits das Projekt der Moderne, d. h. die Emanzipation des Menschen durch die Rationalität, weiterführen wollen. Es gibt zwar viele Konzeptionen der 'Intersubjektivität', 78 aber die behavioristische TPF FPT Konzeption Meads, eines Sozialpsychologen, wird als eine zentrale Form der Intersubjektivität angesehen. 79 Er sieht das Ziel der Psychologie darin zu erklären, wie TPF 75 P P FPT E. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel, Köln 1986, S. 2. 76 Ebd. P P 77 NU, S. 134.. P P P 78 E. Düsing teilt die Intersubjektivitätstheorie in drei Typen ein nach dem Kriterium, welcher Faktor bei P P dem Individuum oder dem Subjekt einerseits und der Gesellschaft oder dem Anderen andererseits betont wird: 1. Die behavioristische Intersubjektivitätstheorie wie z. B. bei H. Mead, die vom "Primat einer sich selbst formierenden Gesellschaft vor der Bildung selbstgewusster Individuen" in dem Sinne spricht, daß die Individualität des Einzelnen "rein von außen her, gesellschaftlich und gattungsgeschichtlich konstituiert" ist. 2. Die phänomenologische Intersubjektivitätstheorie wie z. B. bei A. Schütz, die vom "Primat der Subjektivität vor der Gesellschaft" in dem Sinne spricht, daß die Intentionalität des reinen Ich als Ordnungsschema interpersonaler Beziehungen angesehen wird. 3. Die idealistische Intersubjektivitätstheorie wie z. B. bei Fichte und Hegel, die von "der korrelativen Konstitution von Selbstbewußtsein und interpersonalem Sein" spricht. E. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein, a.a.O., S. 6ff. P 79 P J. Habermas, H. Joas und A. Honneth etc. sehen in Meads Theorie einen bahnbrechenden Fortschritt P für die Intersubjektivitätstheorie: H. Joas, Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von 32 ein Aktor seine Identität oder Subjektivität erreicht. Sein Ausgangspunkt ist, daß die Identität eines Individuums nur durch seine Interaktion mit dem Anderen, besonders durch 'den Kampf um Anerkennung' möglich ist. 80 Diese Position bedeutet vor allem, TPF FPT daß er jede transzendentale Abgeschlossenheit des Subjekts ablehnt, die von den Subjektivitätstheoretikern als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung aufgefaßt wird. Seine Auseinandersetzung mit der psychologischen Methode Cooleys zeigt, daß er keine Form einer transzendentalen Fähigkeit des Subjekts anerkennt. Cooley wollte die Interaktion oder die soziale Anlage des Menschen mit Hilfe des psychologischen Begriffs 'sympathetic introspection' erklären. 81 Er ist der Ansicht, daß TPF FPT das Selbstbewußtsein der Individuen durch die 'imagination' dessen zustande kommt, wie die anderen sie sehen. 82 Der Kernpunkt seiner Theorie liegt also darin, daß die TPF FPT Realität sowohl der gesellschaftlichen Verbindung als auch des individuellen Selbstbildes nur in wechselseitigen Introjektionen besteht, welche die Mitglieder eines Gemeinwesens aneinander vornehmen. Also spielt für ihn die Einbildungskraft bei der Entwicklung des Selbstbewußtseins eine entscheidende Rolle. Bei der Kritik Meads an Cooley geht es darum, daß seine Theorie noch auf ''einem gewissen Subjektivismus'' in dem Sinne basiert, daß sie ''eine schon weit ausgebildete und in sich relativ G. H. Mead, Frankfurt/M. 1980, J. Habermas, Individualisierung durch Vergesellschaftung. Zu G. H. Meads Theorie der Subjektivität, in: ders., Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988, S. 187ff. und A. Honneth, Anerkennung und Vergesellschaftung: Meads naturalistische Transformation der Hegelschen Idee, in: ders., Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1994, S. 114ff. Nach Honneth z. B. bietet die Theorie Meads "die geeignetsten Mittel" an, mit denen man die idealistische Intersubjektivitätsidee des jungen Hegel, welche sich in der Form des Kampfs um Anerkennung entwickelt, naturalistisch, d. h. wissenschaftlich rekonstruieren kann. A. Honneth, a.a.O., S. 114f. 80 P P Diese Ansicht verdankt sich dem Mead-Studium Honneths. Der Ausgangspunkt seiner Mead-Lektüre P ist wie folgt: Meads Sozialpsychologie "versucht den Kampf um Anerkennung zum Bezugspunkt einer theoretischen Konstruktion zu machen, mit der die moralische Entwicklung von Gesellschaft erklärt werden soll." A. Honneth, a.a.O., S. 114. 81 Über die Kritik Meads an Cooley siehe u. a. seinen Artikel Cooleys Beitrag zum soziologischen Denken P P in Amerika (1930), in: G. H. Mead, Gesammelte Aufsätze, H. Joas (Hg.), Bd. 1, Frankfurt/M. 1987, S. 329-345.. P 82 P Siehe die folgenden Schriften von Cooley, die die 'sympathetic imagination' als Grundlage für die P Fähigkeit der Rollenübernahme behandeln: Ch. H. Cooley, Human Nature and the social Order, New York 1902 und ders., Social Organisation, New York 1909.. P 33 P abgeschlossene psychische Realität'' 83 voraussetzt, die bei Mead erst durch die sozialen TPF FPT Interaktionen entsteht. Der Gedanke, daß die Identität eines Individuums durch die Interaktion zwischen Subjekten entsteht, führt außer der Ablehnung jeder Transzendentalität eines Subjekts zu einer neuen Bestimmung des Psychischen, das den Gegenstand der Psychologie ausmacht. Das Psychische ist eine innere Erfahrung des Subjekts, die entsteht, wenn dem Subjekt ein ungewöhnlicher Gegenstand begegnet. Das Subjekt reflektiert dabei auf sich selbst und dadurch kann sein Selbstbewußtsein oder seine Identität gebildet werden. Dieser Gedanke unterscheidet sich vor allem von der sogenannten 'funktionalistischen' Psychologie, die behauptet, daß das 'Psychische' durch die Reaktion des Subjekts auf den Reiz des Objektes entsteht; wenn ein Subjekt einer neuen Situation begegnet, die unter die bislang geltenden Situationsdeutungen nicht subsumiert werden kann und in der deswegen seine Handlung gestört wird, macht es eine Erfahrung, in der seine Vorstellung von der übrigen Wirklichkeit getrennt wird. Die funktionalistische Psychologie nennt diese innere Erfahrung des Subjekts das 'Psychische'. In dem Gedanken, daß der Bewußtseinszustand des auf den Reiz des Objektes reagierenden Subjekts als Psychisches bestimmt wird, bleibt allerdings noch ein Kern der modernen Subjektsphilosophie erhalten, der in dem Schema der Trennung von Subjekt und Objekt besteht. Hierbei geht es nur um die Anpassung an das Objekt bzw. die Herrschaft dem Objekt gegenüber, nicht um die Interaktion. Die Störung einer Handlung des Subjekts kann nach dieser Psychologie nicht durch die Aktivität des eigenen Ich, sondern durch ''eine schärfere Bestimmung der Objekte'' aufgelöst werden, welche den Reiz bilden. 84 Der Kern der Kritik Meads besteht also darin, daß es sich bei TPF FPT dieser Psychologie nur um die kreative Anpassung an eine falsch eingeschätzte Realität, nicht um die Selbstreflexion des Subjekts handelt. Mead ist dagegen der Meinung, daß man einen ganz anderen Handlungstypus braucht als dieses instrumentelle Schema, um den Entstehungsvorgang der Identität eines Aktors zu verstehen, nämlich das Schema einer Interaktion zwischen Subjekten. Wenn ein Subjekt vom Anderen nicht anerkannt wird oder seine interaktionäre Beziehung zum Anderen verletzt wird, erscheint nach ihm das 'Psychische', durch welches das Subjekt 83 P E. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein, a.a.O., S. 42. Außerdem siehe dazu G. Mead, P Coolys Beitrag zum soziologischen Denken, a.a.O., besonders S. 332ff. P 84 P G. H. Mead, Soziales Bewußtsein und das Bewußtsein von Bedeutungen, in: ders., Gesammelte P Aufsätze, Bd. 1, a.a.O., S. 218. 34 auf sich selbst reflektiert und ferner seine Identität bildet. Dieser Gedanke setzt voraus, daß ein Subjekt fähig ist, bei einer anderen Person ein Reaktionsverhalten auszulösen. Nur durch diese Fähigkeit vermag das Subjekt ein Wissen von der intersubjektiven Deutung seiner Handlungen herzustellen. Nur aus dieser 'exzentrischen Perspektive' kann ich ein Bild von mir selbst gewinnen und somit zu einem Bewußtsein meiner Identität gelangen. Während der Erfolg einer instrumentalen Handlung von der richtigen Bestimmung der betroffenen Dinge abhängt, führt erfolgreiches Sozialverhalten ''auf ein Gebiet, in dem das Bewußtsein eigener Haltungen zur Kontrolle des Verhaltens anderer verhilft.'' 85 TPF FPT Der Kampf um Anerkennung, welcher bei Mead das Psychische hervorruft, enthält in sich zwei Momente: erstens die Unentbehrlichkeit der Anerkennung durch die Anderen, d. h. die Unentbehrlichkeit der Sozialisation eines Individuums; zweitens die Möglichkeit des Konfliktes zwischen dem Subjekt und dem Anderen und die der Änderung des Anderen, um dann den Wunsch jenes Subjekts anzuerkennen, d. h. das Recht des Individuums zu vergrößern. Mead berücksichtigt also mit dem Gedanken des Kampfs um Anerkennung die Identität eines Individuums unter den beiden Gesichtspunkten der Sozialisation sowie der Individuierung. Die Sozialpsychologie Meads fokussiert sich nun darauf zu deuten, wie ein Individuum vergesellschaftlicht und gleichzeitig individualisiert wird. Um diesen Prozeß zu erhellen, geht Mead vor allem davon aus, daß das Subjekt aus zwei Bestandteilen besteht: dem 'Ich' und dem 'Mich'. Das 'Ich' ist die Instanz eines Subjekts, die für dessen spontane Tätigkeit verantwortlich ist und jedem konkreten Bewußtseinsinhalt vorausgeht. Es ist also ein Reservoir an psychischen Energien, das jedes Subjekt mit einer Vielzahl von unausgeschöpften Identitätsmöglichkeiten ausstattet. ''Das 'Ich' kann deshalb niemals als ein Objekt im Bewußtsein existieren. Aber es ist eben der Gesprächscharakter unserer inneren Erfahrung, eben der Vorgang, in dessen Verlauf wir auf unsere eigene Rede antworten, der ein 'Ich' impliziert, das hinter der Bühne auf die Gebärden und Symbole antwortet, welche in unserem Bewußtsein auftreten.'' 86 TPF 85 FPT A.a.O., S. 219. P P 86 P G. H. Mead, Der Mechanismus des sozialen Bewußtseins, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, a.a.O., P S. 240. 35 Das 'Ich' Meads ist also mit dem transzendentalen Ich Kants vergleichbar, das ''sich nie selbst in den Blick bekommt''. 87 In dieser Hinsicht nennt Mead es ''ein fiktives 'Ich'''. 88 TPF FPT TPF FPT Das 'Mich' ist dagegen die Instanz des Subjekts, die die sozialen Normen beherbergt, durch die ein Subjekt sein Verhalten gemäß den gesellschaftlichen Erwartungen kontrolliert. Es ist also das Mich, in dem das Subjekt das Bild, das andere Personen von ihm haben, verinnerlicht. ''Solch ein 'Mich' ist also keine frühe Formation, die dann in die Körper anderer Menschen projiziert und ejiziert wird, um ihnen die Fülle menschlichen Lebens zu verleihen. Es ist eher eine Übertragung aus dem Gebiet sozialer Objekte auf das amorphe, unorganisierte Gebiet dessen, was wir als innere Erfahrung bezeichnen. Durch die Organisation dieses Objektes, der Ich-Identität, wird dieses Material seinerseits organisiert und in Form des sogenannten Selbstbewußtseins unter die Kontrolle eines Individuums gebracht.'' 89 TPF FPT Mead erklärt mit Hilfe der Begriffe des 'Ich' und des 'Mich' den Individuierungs- und Sozialisationsprozeß eines Individuums, d. h. das Problem der Entstehung der Identität, und ferner die Änderung der sozialen Normen selbst. Er erläutert in seiner Schrift Geist, Identität und Gesellschaft die Sozialisation eines Individuums, d. h. die Entwicklung eines Subjekts zum 'Mich', anhand der Analyse des Wachstumsvorganges des Kindes, der in zwei Stufen unterteilt werden kann: der Stufe des 'Play' und des 'Game'. Auf der Stufe des Play kommuniziert das Kind mit sich selber durch die Imitation des Verhaltens eines konkreten Interaktionspartners und das im eigenen Handeln darauf komplementäre Reagieren; auf der Stufe des Game, in dem das Kind die eigene Rolle in dem funktional organisierten Handlungszusammenhang wahrnehmen muß, repräsentiert es aber in sich die Verhaltenserwartungen aller seiner Mitspieler. Das Kind wird als Spieler ''von den Annahmen über die voraussichtlichen Handlungen der eigenen Spieler'' bestimmt, 90 und seine Handlungen werden durch die TPF FPT Handlungen der Mannschaft kontrolliert. Das Kind muß also während des Game die 87 P Ebd. P 88 P P Ebd. 89 A.a.O., S. 239. P P P 90 G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1973, S. 196. P 36 Haltung aller anderen Beteiligten in sich repräsentieren. Bei dieser Stufe stößt jeder Spieler deswegen ''auf ein 'anderes', das eine Organisation der Haltungen all jener Personen ist, die in den gleichen Prozeß eingeschaltet sind''. 91 Während es bei der ersten TPF FPT Stufe um das konkrete Verhaltensmuster einer sozialen Bezugsperson geht, geht es bei der zweiten um die sozial generalisierten Verhaltensmuster einer ganzen Gruppe, die das Handeln aller Mitglieder kontrollieren. Der Übergang des Kindes zum Heranwachsenden bedeutet also seine Verinnerlichung der sozialen Handlungsnormen eines 'verallgemeinerten Anderen'. Durch die Unterscheidung zwischen der Stufe des Plays und des Games wird folglich deutlich, daß die Sozialisation eines Kindes überhaupt in seiner Verinnerlichung von Handlungsnormen besteht, die aus der Generalisierung der Verhaltenserwartungen aller Gesellschaftsmitglieder hervorgegangen sind. Von daher funktioniert die Kategorie des 'verallgemeinerten Anderen' für Mead als ein begriffliches Bindeglied zwischen dem engeren familiären Bereich der Play-Phase und dem weiteren gesellschaftlichen Umfeld der Game-Phase. Allerdings macht die Sozialisation des Kindes oder die Verinnerlichung des verallgemeinerten Anderen noch nicht seine eigene Identität aus, weil diese vor allem etwas mit der Einzigartigkeit eines Individuums zu tun hat. Wenn das Mich als eine Verinnerlichung der sozialen Normen und das Ich, wie Honneth sagt, ''als die Sammelstätte all der inneren Impulse'' aufgefaßt wird, ''die in den unwillkürlichen Reaktionen auf soziale Herausforderungen'' 92 entstehen, anders gesagt, wenn jenes den TPF FPT allgemeinen Willen, dieses den individuellen Willen spiegelt, steht beides in einem Spannungsverhältnis, das zum Konflikt zwischen dem Subjekt und seiner sozialen Umwelt führen kann. Aus diesem Grund ist die Identität eines Subjekts nicht bloß eine Verinnerlichung der Perspektive des verallgemeinerten Anderen. Dieses Spannungsverhältnis trägt auch viel zur Änderung des verallgemeinerten Anderen oder der moralischen Normen einerseits und zur Verstärkung der Individualität andererseits bei. Es wurde bereits erwähnt, daß die Forderungen des Ich eines Subjekts nur in einem Gemeinwesen realisiert werden können, in dem ihm ein Anspruch auf die Realisierung des entsprechenden Wunsches zusteht. Aber wenn ein Subjekt in sich allerdings Handlungsimpulse verspürt, deren Realisierung durch die rigiden sozialen Normen verhindert wird, d. h. diese bis dahin intersubjektiv geltenden Normen also in Zweifel 91 P Ebd.. P P 92 P A. Honneth, Kampf um Anerkennung, a.a.O., S. 131. P 37 gezogen werden, setzt sich das Ich mit den sozialen Normen auseinander, um seinen Wunsch zu realisieren. Diese Auseinandersetzung setzt eine zukünftige Gesellschaft voraus, die die Stelle des 'generalisierten Anderen' des existierenden Gemeinwesens einnehmen wird und in der die individuellen Ansprüche präsumtiv Zustimmung finden werden. Auf diese Weise wird zwischen dem ununterbrochenen Forderungen des Ich und dem sozialen Lebensprozeß eine systematische Verbindung hergestellt, die sich auf eine erweiterte Anerkennung der Rechten der Individuen richtet. Mead begreift die moralischen Abweichungen des Ich als eine zivilisierende Kraft in der Geschichte der Menschheit. Das wissenschaftliche Ergebnis Meads kann wie folgt zusammengefaßt werden: 1) die Idee der transzendentalen Subjektivität ist erfahrungswissenschaftlich sinnlos, 2) die Identität eines Individuums wird sowohl durch seine Sozialisation als auch durch seine Individuierung produziert, und 3) die sozialen Normen entwickeln sich historisch in die Richtung einer Erweiterung der Rechte des Individuums. 38 II. Der Ausgangspunkt von Habermas: die Weiterführung des Projektes der Aufklärung um der sittlichen Totalität willen. Habermas hat in einem Interview einmal gesagt, daß sein Hauptanliegen in der "Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne" 1 bestehe. Dies enthält seine TPF FPT eigene Antwort auf jene These der Paradoxie der Rationalisierung, die eben die Kritiker der Moderne vertreten: je mehr sich die Vernunft durchsetze, desto unmenschlicher würden die Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die "Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne" bedeutet bei Habermas, "ohne Preisgabe der Differenzierungen, die die Moderne sowohl im kulturellen wie im sozialen und ökonomischen Bereich möglich gemacht haben, Formen des Zusammenlebens" zu finden, "in denen wirklich Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhältnis treten." 2 TPF FPT Habermas versucht dieses Problem aus der Perspektive der dritten Position, also mithilfe der Intersubjektivitätstheorie zu lösen. Er ist daher weder einverstanden mit den Verteidigern der modernen Vernunft, die sagen, die Paradoxie der Moderne resultiere aus der inkonsequenten Anwendung der modernen Vernunft, noch stimmt er den radikalen Vernunftkritikern zu, die behaupten, die Unmenschlichkeit stamme unmittelbar aus dem Wesen der Vernunft selbst; vielmehr steht er auf der Seite des dritten Wegs, der das Projekt der Aufklärung durch den Begriff der Intersubjektivität weiterführen will. Dieser Weg basiert im Grunde auf dem Optimismus der Vernunft bzw. auf dem Gedanken des Fortschrittes der Geschichte, aber er setzt gleichzeitig die Erkenntnis voraus, daß die Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die mit dem Fortschritt der Geschichte entstanden ist, eine Entfremdung des Menschen und Konflikte in der Gesellschaft verursachen kann. Darüber hinaus geht diese Position von der Kritik aus, daß der gegenwärtige Pessimismus letztlich zu einer 'neuen Unübersichtlichkeit' führt, weil er diese Entfremdung und diese Konflikte nicht löst, sondern unmittelbar zu einer Ablehnung des vernünftigen Denkens führt. Anders als die ersten beiden im letzten Kapitel besprochenen Positionen ist Habermas der Meinung, daß die gegenwärtigen pathologischen Erscheinungen daraus resultieren, 1 PT NU, S. 202. TP TP 2 PT Ebd. 39 daß man die Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die der Ausdifferenzierung der Vernunft in der Moderne entspricht, mit dem einheitlichen oder subjektivistischen Vernunftbegriff wieder in eine substanzielle Einheit bringen wolle. Er versucht deswegen durch die Umgestaltung der monologischen und subjektivistischen in eine intersubjektive Vernunft das Kernproblem der Moderne, nämlich den Subjektivismus innerhalb des ursprünglichen Projekts der Moderne, zu überwinden: "Die kognitiv-instrumentelle Vereinseitigung des modernen Begriffs der Rationalität spiegelt die objektive Vereinseitigung einer kapitalistisch modernisierten Lebenswelt. [...] Wenn das Paradigma des Bewußtseins durch das der Verständigung abgelöst wird, können geduldige Analysen das in unsere kommunikativen Alltagshandlungen eingebaute Potential einer unverkürzten Rationalität wieder sichtbar machen." 3 TPF FPT Mit Sicherheit meint er mit dem Begriff einer 'verkürzten' Rationalität die Subjektivität, die als das Prinzip der Moderne gilt. Diese entspricht allerdings der Kantischen Aufteilung der Vernunft, die als letzter Richter in jedem Bereich der objektivierenden Erkenntnis, der moralischen Einsicht und der Kraft des ästhetischen Urteils fungiert. Habermas sieht den Subjektivismus als eine Form der Moderne an, in der die ausdifferenzierte Welt mithilfe der subjektivitstischen, instrumentellen Vernunft substanziell wiedervereinigt wird. Er identifiziert ihn nicht mit der Moderne selbst. Er unterscheidet sich von den Subjektivsten dadurch, daß er nach einer "prozeduralen Einheit" 4 zwischen den ausdifferenzierten Welten sucht, nicht nach einer substanziellen. TPF FPT Der Subjektivismus ist nach ihm nicht die von dem Prinzip der Subjektivität logisch abgeleitete Moderne selbst, sondern nur deren Erscheinung, und zwar eine 'verkürzte' Form der Moderne. Wie gesagt, sowohl bei den Vernunftverteidigern als auch bei den radikalen Vernunftkritikern liegt das Problem darin, daß sie beide den Subjektivismus und die Moderne miteinander identifizieren. Aber die philosophische Aufgabe ist es nach Habermas, den auf dem Bewußtseinsparadigma basierten Subjektivismus zu überwinden, um die gegenwärtigen pathologischen Erscheinungen zu vermeiden. 3 PT J. Habermas, Untiefen der Rationalitätskritik, in: NU, S. 136f. TP TP 4 PT Ebd. 40 "Vermutlich wird man einmal in der Ablösung des Bewußtseinsparadigmas die eigentliche philosophische Leistung unserer Epoche sehen." 5 TPF FPT Dieser Gedanke von Habermas geht vor allem von seiner Bestimmung des Begriffs der 'Moderne' aus. TP 5 PT A.a.O., S. 134. 41 1. Die Bedeutung der Moderne Die Moderne bezeichnet normalerweise eine Epoche, die sich von der Spätscholatistik bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erstreckt. Man benutzt also den Begriff der Moderne, um die sich von dem Mittelalter unterscheidende neue Zeit zu bezeichnen. Die Aufklärung befindet sich somit in der Mitte dieses Zeitraums in dem Sinne, daß sie den Geist der Moderne am besten verkörpert. Habermas folgt aber bezüglich des Begriffes der Moderne einer bestimmten Auffassung, die die Moderne nicht bloß auf einen bestimmten Zeitraum, sondern auf eine 'Mode' des Denkens bezieht, die darin besteht, die eigene Zeit als einzige neue Zeit anzusehen. Nach dieser Auffassung erhält die 'Moderne' ''die Konnotation des lediglich zeitlich Jüngeren, das qualitativ nicht zu bestimmen ist, sich aber negativ abhebt gegen eine frühere Epoche, die nicht nur vergangen ist, sondern deren Maßstäbe entweder nicht mehr erfüllbar sind oder nicht mehr gelten können.'' 6 Aus dieser Position hat also die 'Modernität' wenigstens drei TPF FPT Eigenschaften: die geschichtsphilosophische Blickrichtung, die 'Selbstkritik' und die Selbstschöpfung des Maßstabes. Erstens zur geschichtsphilosophischen Blickrichtung: 'Moderne' und 'Mode' leiten sich von dem gleichen Wortstamm ab und deshalb besitzen sie einige wesentliche gemeinsame Bestimmungen. Die wesentlichen Eigenschaften der Mode erkennt man vor allem bei einem Vergleich der Mode mit der Klassik. Im Gegensatz zu der Klassik, die als zeitloses Vorbild der Kunst gilt, besteht die Mode in einer augenblicklichen Schönheit. Gerade in dieser Hinsicht sieht Baudelaire in dem als Experten für das flüchtige Pläsier des Augenblicks angesehenen Dandy einen Prototyp der Mode. Das Wesen des Dandytums ist nach ihm, "von der Mode das loszulösen, was sie im Geschichtlichen an Poetischem, im Flüchtigen an Ewigem enthalten mag." 7 TPF 6 FPT PT R. Piepmeier, Modern, die Moderne, in: HWPh, Bd. 6, Sp. 54. TP Wie Baudelaire sehen J. Habermas und J. F. Lyotard die Moderne oder die Modernität zunächst nicht als den Zeit- oder den Epochenbegriff an, sondern erklären sie im Zusammenhang mit einer 'Mode' des Denkens. Aber sie benutzen diesen Begriff in einer ganz anderen Richtung; während Habermas das Wesen der Begriffe von 'Mode' und 'Moderne' in der Möglichkeit der kontinuierlichen Selbständerung oder -erneuerung sieht, bezieht Lyotard die Moderne auf eine große Erzählung, die nichts anderes ist als eine durch das rationale Denken vereinheitlichte, umfassende Weltanschauung. Vgl. J.–F. Lytord, Das postmoderne Wissen, a.a.O., S. 14f. TP 7 PT Ch. Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: ders., Gesammelte Schriften, M. Bruns (Hg.), Darmstadt 1982, Bd. 4, S. 284. 42 Die Mode, die im Flüchtigen nach einer Ewigkeit der Schönheit sucht, ist also der ästhetische Ausdruck einer Tätigkeit, sich ewig in die Vergangenheit zu verschieben und gleichzeitig sich in ein Neues umzuwandeln. In diesem Punkt sieht Baudelaire die Gemeinsamkeit der Mode und der Modernität: "Er [sc. der Dandy] sucht jenes Etwas, das ich mit Verlaub als die 'Modernität' bezeichnen will: denn es bietet sich kein besseres Wort, um die in Rede stehende Idee auszudrücken." 8 TPF FPT Die Mode besteht in der 'Ewigkeit im Augenblick', und diese Bestimmung besitzt auch die Modernität. 9 Das ist der Grund, warum Baudelaire als einer der ersten Denker gilt, TPF FPT der die Moderne unmittelbar im Zusammenhang mit der 'Mode' zu begreifen versucht. Wenn man diese ästhetische Bestimmung der Mode oder der Modernität auf die Geschichte anwendet, ist die Modernität oder die Moderne der Vorgang, seine eigene Zeit von der Vergangenheit zu unterscheiden und sie dadurch als etwas ganz Neues zu bestimmen. Habermas nimmt dies als eine der wesentlichen Bestimmungen der Moderne auf. Das wird in der folgenden Passage deutlich: ''Eine Gegenwart, die sich aus dem Horizont der neuen Zeit als die Aktualität der neuesten Zeit versteht, muß den Bruch, den jene mit der Vergangenheit vollzogen nachvollziehen.'' 10 TPF hat, als kontinuierliche Erneuerung FPT Habermas bleibt aber bei dieser Bestimmung nicht stehen. Er will die Moderne mit der Hilfe der begriffsgeschichtlichen Analyse Kosellecks näher charakterisieren. Koselleck zeigt, wie der Begriff der Moderne schon einen geschichtsphilosophischen Blick impliziert, d. h. wie er den eigenen Standort aus dem Horizont der Geschichte im Ganzen reflexiv vergegenwärtigt: 8 PT Ebd. TP 9 TP Habermas ist aus diesem Grund mit der Meinung von Jauß einverstanden, der die avantgardistische PT Kunst, die die ewige Schönheit nur in der Vermummung des Zeitkostüms enthüllt, als eine typische Kunstform der Modernität ansieht. Siehe dazu PDM, S. 17 und H. R. Jauß, Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M. 1970, S. 11ff. TP 10 PT PDM, S. 15. 43 ''Die 'Neuzeit' verleiht der gesamten Vergangenheit eine weltgeschichtliche Qualität. Damit aber gewann die Neuheit der jeweils sich ereignenden und als neu reflektierten Geschichte einen fortschreitend sich steigernden Anspruch auf die ganze Geschichte. [...] Wurden erst einmal in der eigenen Geschichte neue, bisher vermeintlich nie gemachte Erfahrungen registriert, so ließ sich auch die Vergangenheit in ihrer grundsätzlichen Andersartigkeit begreifen. Das führte dazu, daß gerade im Horizont des Fortschreitens die Zeitalter in ihrer Eigenart zum Ausdruck kommen mußten. Diagnose der neuen Zeit und Analyse der vergangenen Zeitalter korrespondierten miteinander.'' 11 TPF FPT Der geschichtsphilosophische Blick gehört im Bezug auf den Begriff der Moderne zu deren wesenhafter Bestimmung, wie Habermas von Koselleck lernt. Um eine Zeit als die 'Zeit der Geburt' sowie als die des Übergangs zu einer neuen Periode auffassen zu können, braucht man notwendig einen bestimmten Gesichtspunkt, durch welchen diese Zeit relativiert werden kann: einen geschichtsphilosophischen Blick. Die Gegenwart von der Vergangenheit zu unterscheiden und darüber hinaus sich selbst als etwas Neues oder Modernes zu sehen, ist nach Habermas nichts anderes als die Charakteristik der Modernität selbst, weil sie "die Gegenwart als einen Übergang" charakterisiert, "der sich im Bewußtsein der Beschleunigung und in Erwartung der Andersartigkeit der Zukunft verzehrt." 12 Ihr Wesen ist es also, im Augenblick die Ewigkeit z. B. in Form TPF FPT der Schönheit zu erfassen, d. h. einen ewigen Augenblick darzustellen, durch den das Jetzt von der Vergangenheit und das Selbst von dem Anderen unterschieden werden, so daß die Moderne sich somit als etwas Neues verstehen kann. Neben diesem Aspekt der Abgrenzung von der Vergangenheit hat der Begriff der Moderne für Habermas einen zweiten Aspekt: die 'Selbstkritik'. Wie oben angedeutet, ist der Begriff 'modern' kein statischer Begriff, der sich selbst als die ewige Neuigkeit ansieht, sondern ein bewegender, der sich selbst ebenfalls als der Zeit und damit auch der Vergänglichkeit unterworfen versteht. Anders gesagt, weil das Wort 'modern' oder 'neu' nach wie vor die Möglichkeit in sich trägt, auch sich selbst als etwas dereinst 11 PT R. Koselleck, Neuzeit. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft, TP Frankfurt/M. 1989, S. 327. TP 12 PT PDM, S. 15. 44 Vergangenes anzusehen, und somit auf die Offenheit der Zukunft verweist, ist bei diesem Wort immer auch die Möglichkeit der Selbsterneuerung und der Selbstkritik gegeben. Die Moderne enthält daher die Selbstkritik in sich und eröffnet sich damit eine Möglichkeit, einen kritischen Abstand gegenüber sich selbst zu gewinnen. Habermas schließt daran den Gedanken an, daß die Trennung der Moderne von sich bloß eine Selbsttrennung ist, kein Übergang der Moderne zum Anderen. Also läßt sich die Moderne als eine ewige Tätigkeit bestimmen, die die Momente des Augenblicks und der Ewigkeit in sich trägt. In diesem Zusammenhang definiert Habermas die Moderne wie folgt: ''Sie [sc. die Moderne] bewährt sich als das, was einmal klassisch sein wird; klassisch ist nunmehr der Blitz des Aufgangs einer neuen Welt, die freilich keinen Bestand haben wird, sondern mit ihrem ersten Auftritt auch schon ihren Zerfall besiegelt.'' 13 TPF FPT Er folgert aus diesem Gedanken, daß nicht nur die positiven, sondern auch die negativen Erscheinungen der Moderne zu den Produkten der Selbstausdifferenzierung der Moderne gehören und daß darüber hinaus auch die Überwindung der modernen pathologischen Erscheinungen nur innerhalb der Moderne möglich ist. Hier kommt ein drittes Merkmal der Moderne hinzu, das sich aus dem geschichtsphilosophischen und selbstreflexiven oder -kritischen Standpunkt ergibt: die Selbstschöpfung des Maßstabes der Moderne. Die geschichtsphilosophischen und selbstkritischen Momente der Moderne sind bei Habermas unmittelbar damit verbunden, daß die Richtung oder das Telos der Kritik und der Änderung nicht von einer äußeren Macht oder einem äußeren Vorbild, sondern von sich selbst her bestimmt wird. Wegen ihrer Selbstbezüglichkeit muß die Moderne ihren Maßstab und ihre Normativität in sich selbst finden. Habermas beschreibt den Charakter einer Begründung der Moderne aus sich selbst im folgenden Zitat: ''Die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen. Die Moderne sieht sich, ohne Möglichkeit der Ausflucht, an sich selbst verwiesen. Das erklärt die Irritierbarkeit ihres TP 13 PT A.a.O., S. 18. 45 Selbstverständnisses, die Dynamik der ruhelos bis in unsere Zeit fortgesetzten Versuche, sich selbst festzustellen.'' 14 TPF FPT Anders gesagt, die begriffsgeschichtlich untersuchte Moderne sieht ''sich dazu verurteilt, ihr Selbstbewußtsein und ihre Norm aus sich selbst zu schöpfen.'' 15 TPF FPT Habermas nimmt folglich die Bestimmungen über die Moderne oder Modernität auf, die schon in den Untersuchungen Baudelaires und Kosellecks angedeutet sind: der geschichtsphilosophische Gesichtspunkt, die Selbstkritik und die Selbstschöpfung des Maßstabes. Diese Bestimmungen werden in der Habermasschen Theorie aufgenommen, damit er behaupten kann, daß die Moderne nicht aufgehoben, sondern ewig erneuert werden kann und deshalb das Projekt der Moderne innerhalb der Moderne weitergeführt werden muß. Dieser Ausgangspunkt von Habermas unterscheidet ihn grundsätzlich vor allem von den sogenannten Postmodernisten, die von der Aufhebung der Moderne und gleichzeitig vom Übergang zur Postmoderne sprechen, da das Projekt der Moderne schon erschöpft sei. Nach Habermas begehen die postmodernen Denker einen Fehler, wenn sie die subjektzentrierte Vernunft oder die 'Modernisierung' verallgemeinern. Ihr Irrtum besteht also darin, daß, obwohl sich ihre Kritik in Wirklichkeit gegen eine entfremdete Form der Vernunft richtet, nicht gegen die Vernunft selbst oder die Moderne selbst, sie sich verhalten, als ob sie die Vernunft und die Moderne selbst behandeln bzw. kritisieren würden. Genauer gesagt, ihre Kritik an der Moderne steht nur in Zusammenhang mit dem Begriff der 'Modernisierung', nicht mit dem der Moderne selbst. Den Begriff der Modernisierung, den Max Weber eigentlich in Bezug auf die Rationalität eingeführt hatte, haben seine Nachfolger aus dem Kontext der Moderne gelöst und zu einer allgemeinen Modernisierungstheorie entwickelt. Diesen Vorgang beschreibt Habermas wie folgt: ''Sie [sc. die Modernisierungstheorie] löst die Moderne von ihren neuzeitlich-europäischen Ursprüngen ab und stilisiert sie zu einem raumzeitlich neutralisierten Muster für soziale Entwicklungsprozesse überhaupt. Sie unterbricht zudem die internen Verbindungen zwischen der Moderne und dem geschichtlichen Zusammenhang des okzidentalen 14 PT A.a.O., S. 16. TP TP 15 PT NU, S. 129. 46 Rationalismus in der Weise, daß die Modernisierungsvorgänge nicht mehr als Rationalisierung, als eine geschichtliche Objektivation vernünftiger Strukturen begriffen werden können.'' 16 TPF FPT Habermas geht freilich davon aus, daß gerade diese Modernisierungstheorie die Voraussetzungen für den Ausdruck 'Postmoderne' geschaffen habe: ''Denn im Augenblick einer evolutionär verselbständigten, einer selbstläufigen Modernisierung kann der sozialwissenschaftliche Beobachter umso eher von jenem begrifflichen Horizont des westlichen Rationalismus, in dem die Moderne entstanden ist, Abschied nehmen. Wenn aber die internen Verknüpfungen zwischen dem Begriff der Moderne und dem aus dem Horizont der abendländischen Vernunft gewonnenen Selbstverständnis der Moderne erst einmal aufgelöst sind, lassen sich die gleichsam automatisch weiterlaufenden Modernisierungsprozesse von der distanzierten Warte eines postmodernen Beobachters aus relativieren.'' 17 TPF FPT In diesen Zitaten wird deutlich, inwiefern sich Habermas von den postmodernen Denkern unterscheidet. Er akzeptiert zwar einerseits die Kritik der Postmodernisten an der Vernunft und der Modernität. Aber er zeigt gleichzeitig ihren Irrtum, der in der Verallgemeinerung eines besonderen Falls, also darin besteht, daß sie, wie gesagt, die subjektzentrische Vernunft als die Vernunft überhaupt und die Modernisierung als die Moderne überhaupt ansehen. 18 TPF 16 PT PDM, S. 10. TP 17 PT A.a.O., S. 11. TP 18 TP FPT PT Die Habermassche Kritik an den Postmodernisten wird im 4. Abschnitt dieses Kapitels behandelt. 47 2. Die Bedeutung der Aufklärung Habermas behauptet, daß seine wissenschaftliche Aufgabe in der Weiterführung 'eines Projektes der Aufklärung' bestehe. Diese Behauptung kennzeichnet ein Vertrauen in die Vernunft, das ihn mit der Aufklärung verbindet. Habermas will zum Ausdruck bringen, daß die Aufklärung in dem philosophischen Diskurs der Moderne zwar stark kritisiert wird, aber daß die gegenwärtigen negativen Erscheinungen ohne Radikalisierung der Aufklärung nicht beseitigt werden können. Die folgende Aussage von Habermas faßt diesen Gedanken gut zusammen: ''Die religiösen Kräfte der sozialen Integration sind infolge eines Aufklärungsprozesses erlahmt, der so wenig rückgängig gemacht werden kann, wie er willkürlich produziert worden ist. Der Aufklärung ist die Irreversibilität von Lernprozessen eigen, die darin begründet ist, daß Einsichten nicht nach Belieben vergessen, sondern nur verdrängt oder durch bessere Einsichten korrigiert werden können. Deshalb kann die Aufklärung ihre Defizite nur durch radikalisierte Aufklärung wettmachen.'' 19 TPF FPT Für Habermas ist der Begriff der Aufklärung eng mit dem Begriff der Modernität verbunden. Wenn man die Moderne in einer bestimmten geschichtsphilosophischen Hinsicht als einen Vorgang der 'Selbsterneuerung' definiert, wird diese Definition in der Idee der Aufklärung besonders deutlich verkörpert. Die Antwort auf die Frage 'Was ist die Aufklärung?' wie die Antwort auf das Modernitätsproblem machen daher einen Kern des gegenwärtigen Modernitätsdiskurses aus. Das ist der Grund, warum sich die Teilnehmer an der Diskussion über die Modernität meistens auf Kants Überlegungen zur Aufklärung beziehen. 20 TPF FPT Daß die Aufklärung zu einem der wichtigsten Themen der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurse wird, liegt daran, daß der optimistische Vernunftbegriff 19 PT PDM, S. 104f. TP TP 20 PT In diesem Zusammenhang schreibt Habermas folgendes: "Hölderlin und der junge Hegel, Marx und die Junghegelianer, Baudelaire und Nietzsche, Bataille und die Surrealisten, Lukács, Merleau-Ponty, die Vordenker eines westlichen Marxismus überhaupt, nicht zuletzt Foucault selbst - alle arbeiten sie an der Zuspitzung jenes modernen Zeitbewußtsein, das mit der Frage 'Was ist Aufklärung?' in die Philosophie Einzug gehalten hat". J. Habermas, Mit dem Pfeil ins Herz der Gegenwart. Zu Foucaults Vorlesung über Kants 'Was ist Aufklärung?', in: NU, S. 129. 48 der Aufklärung heutzutage gescheitert zu sein scheint. Auch Habermas betrachtet, wie Hegel und die Postmoderne, den Vorgang der modernen Aufklärung sehr kritisch. Hegel hat schon die Aufklärung als eine 'Reflexionsphilosophie' definiert, die nur eine auf der Trennung von Subjekt und Objekt beruhende Pseudo-Einheit hervorrufe. Die Aufklärung nimmt nach Hegel zwar "dem Volk seine Vorurtheile" 21 und gibt ihm TPF FPT dadurch die Gelegenheit der Emanzipation von dem Aberglauben und der traditionellen Autorität, aber sie ist für ihn bloß eine 'eitle' Erhebung des kalten Verstandes über die als Kraft der lebendigen Einheit angesehene Vernunft. 22 Die Kritik an der Aufklärung TPF FPT besteht also bei Hegel darin, daß sie nur einen neuen 'Dogmatismus' mit sich bringt. Die Postmodernisten kritisieren die Aufklärung noch viel radikaler. Jeden Versuch, die Differenz in eine Einheit zu bringen, lehnen sie ab. Sie verstehen die gegenwärtigen Bedrohungen, die die gesamte Menschheit vernichten könnten, z. B. die atomare Hochrüstung und die zunehmende Umweltzerstörung durch das industrielle Wachstum etc., als unmittelbare Resultate der Aufklärung. Daher sehen sie die vereinigende Fähigkeit der Vernunft als 'Repression' an. Was ihnen hinsichtlich wissenschaftlichen Aufgabe übrig bleibt, ist also, wie I. Fetscher sagt, 23 TPF 21 der FPT die PT G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke. Die Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften (Hg.) TP (=GW), Bd. 1. Frühe Schriften I, F. Nicolin / G. Schüler (Hg.), Hamburg 1989, S. 95. 22 PT Vgl. G. W. F. Hegel, Kritisches Journal der Philosophie, in: GW, Bd. 4, H. Buchner / O. Pöggeler TP (Hg.), Hamburg 1968, S. 125. TP 23 PT I. Fetscher faßt drei Reaktionen auf den gegenwärtigen Skeptizismus gegenüber der Aufklärung wie folgt zusammen: 1. Die konservative Tradition (Oswald Spengler, Ernst Jünger und Arnold Gehlen etc.): Diese Position geht davon aus, daß, da der aufklärerische Fortschritt verhängnisvoll ist, die Emanzipation nur durch asketische Ideale verwirklicht werden kann. "Sie besteht in der Wahrung 'stoischer Gelassenheit' angesichts einer Entwicklung des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts, der über kulturelle Besonderheiten, ländliche Idyllen, überkommene Wertordnungen erbarmungslos hinweggeht." I. Fetscher, Aufklärung über Aufklärung, in: A. Honneth / T. McCarthy / C. Offe / A. Wellmer (Hg.), Zwischenbetrachtungen, Frankfurt/M. 1989, S. 668. 2. Die postmoderne Position (Odo Marquard) spricht von der Toleranz gegenüber allen kulturellen Besonderheiten, weil die Geisteswissenschaften nichts mit den Erkenntnisansprüchen "im Sinne der Theoriebildung, ja des argumentativ erzielten Konsenses" zu tun haben, sondern als Beruhigungs- und Entspannungsmittel funktionieren. I. Fetscher, a.a.O., S. 669. 3. Die Kritische und kommunikative Theorie (besonders bei Habermas): Anders als die zweite Position geht Habermas davon aus, daß die Toleranz gegenüber der Vielheit und die Bereitschaft, den Konsens erreichen zu wollen, voneinander unterschieden sind. Wenn diese Bereitschaft zum Konsens wirklich ernst gemeint ist, kann sie sich nach ihm auf die Wahrheit und die Verbindlichkeit von Normen richten. Habermas sieht die Möglichkeit des ungezwungenen Konsenses in der kommunikativen Vernunft gegeben, d. h. die kommunikative Vernunft besteht in "der Bereitschaft, sich auf eine symmetrische 49 Geisteswissenschaften von "Erkenntnisansprüchen im Sinne der Theoriebildung, ja des argumentativ erzielten Konsenses" zu befreien und im Namen einer 'Kultur der Vieldeutigkeit' die "Toleranz gegenüber allen kulturellen Besonderheiten" gelten zu lassen. Habermas geht aber davon aus, daß die Toleranz gegenüber der Differenz niemals den Verzicht auf die Bereitschaft des Subjekts bedeutet, einen Konsens erreichen zu wollen. Dennoch kritisiert Habermas die Aufklärung sehr stark. Die aufgeklärte, instrumentelle Vernunft habe zwar zur Emanzipation der Individuen von der traditionellen Autorität beigetragen, aber sie sei vielfach zu einem 'neuen Mythos', d. h. zur Selbstgeschlossenheit der instrumentellen Vernunft, oder zu "einer zur Totalität aufgespreizten instrumentellen Vernunft" 24 geworden. Die auf instrumentelle Vernunft TPF FPT gestützte Macht ist grenzenlos, so daß Menschen souverän, ohne Rücksicht auf Grenzen mit der äußeren Natur wie mit der eigenen umgehen können. Aber in dem Aufklärungsvorgang zeigt sich, daß die Vergrößerung und die Vertiefung von naturwissenschaftlich-technischen Erkenntnissen, durch welche die Naturbeherrschung der Menschen erleichtert werden kann, fast nichts mit der Herstellung freier Lebensbedingungen für Menschen zu tun haben kann. Es ist allerdings sehr merkwürdig, daß Habermas dort erneut von der Aufklärung spricht, wo die Idee der Aufklärung völlig gescheitert zu sein scheint. Er fordert, daß "eine bornierte Aufklärung über sich selbst aufgeklärt werden muß". 25 Denn die Aufklärung TPF FPT ist, wie die Moderne, nichts anderes als eine Tätigkeit der Selbsterneuerung. In einem Interview sagt er folgendes: ''Es geht um die Frage, [...] ob sich [...] das Projekt einer Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit schon definitiv erledigt hat.'' 26 TPF FPT Dies deutet an, daß er den Geist der Aufklärung und deren Wirklichkeit voneinander unterscheidet und jenen erneut ins Leben zurückrufen will; die Wirklichkeit der Aufklärung scheint ins 'Meer der Kontingenzen' zu fallen, in dem das Projekt der Aufklärung, das in der Suche nach einer vernünftigen Einheit besteht, völlig vernichtet Diskurs-Teilhabe an der auf diesem Wege erreichbaren konsensuellen Findung von Normen einzulassen". I. Fetscher, a.a.O., S. 670. 24 PT NU, S. 134. TP 25 PT J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988 (=ND), S. 135. TP TP 26 PT NU, S. 134. 50 werden könnte. Aber es gibt gar keinen Grund, daß man den Geist der Aufklärung aufgeben muß. Den Geist der Aufklärung findet Habermas vor allem bei Kant, der von vielen Modernitätskritikern als die Person angesehen wird, die für ''eine bornierte Aufklärung'' verantwortlich sei. Auch die gerade oben zitierte Aussage von Habermas hat ihre Quelle in einer berühmten Schrift von Kant Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? von 1784. ''Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht im Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Hab Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.'' 27 TPF FPT Außerdem schließt Kant in einem anderen Aufsatz von 1796 diese Aufklärung an das 'Selbstdenken' an. ''Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung.'' 28 TPF FPT Es ist hier auffällig, daß Kant die Aufklärung sowohl an den 'Mut' für die Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit als auch an das 'Selbstdenken' anschließt. Dies zeigt, daß Kant die Aufklärung nicht bloß in dem reinen Denken, d. h. in der 'res cogitans', ansiedelt, sondern daß er auch den konkreten Menschen berücksichtigt. 29 Die TPF FPT negativen Erscheinungen in der Realität deuten nach diesem Gedanken lediglich darauf hin, daß die Menschen noch in der Unmündigkeit geblieben sind und insofern ihre Selbstreflexion, d. h. der Aufklärungsvorgang weitergeführt werden kann und soll. 27 PT I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), in: ders., Ausgewählte kleine Schriften, TP Hamburg 1969, S. 1. Hervorhebung im Original. 28 PT I. Kant, Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1796), in; ders., Ausgewählte kleine Schriften, a.a.O., TP S. 26. Hervorhebung im Original. TP 29 PT Diese Interpretation verdankt sich der oben behandelten Abhandlung von I. Fetscher. Siehe besonders I. Fetscher, Aufklärung über Aufklärung, a.a.O., S. 654. 51 Habermas nimmt diesen Gedanken Kants als den Geist der Aufklärung auf, d. h. er geht in diesem Zusammenhang davon aus, daß die Grundfrage einer sich selbst vergewissernden Moderne unter den veränderten Bedingungen der Gegenwart wiederholt werden soll.30 In dieser Hinsicht interpretiert er die Aufklärung nicht als eine TPF FPT sich innerhalb der reinen Vernunft bewegende, sondern als eine den konkreten gesellschaftlichen Zustand reflektierende Tätigkeit. Es handelt sich bei der Aufklärung nach Habermas um die wechselseitige Beziehung zwischen der konkreten Wirklichkeit der Menschen und der transzendentalen Fähigkeit der Vernunft. Habermas konkretisiert diese Vorstellung in dem Ausdruck 'schwache Transzendentalität' oder 'HalbTranszendenz'. Diese Begriffe deuten an, daß sich die Aufgabe von Aufklärung und vernünftigem Selbstdenken mit dem Wandel des Selbstverständnisses des Menschen, mit der Erweiterung des Wissens 'über uns selbst' ändern können muß. In der Frage nach der Aufklärung ist der Kern der Habermasschen Kritik an Kant, daß dieser den Geist der Aufklärung nicht gründlich entwickelt habe. Obwohl 'der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit' auf das konkrete Leben des Menschen hinweist, endet Kant mit dem Selbstbezug der reinen Vernunft, der sich später zur instrumentellen Vernunft im Sinne der Geschlossenheit der Vernunft und daher deren Diktatur entwickeln wird. Zwischen intelligibler und empirischer Welt, mit der alten metaphysischen Sprache gesagt, zwischen Form und Inhalt, liegt ein unüberbrückbares transzendentales Gefälle. Der empirische Inhalt läßt sich durch die vernünftige Form nicht erfassen und die intelligible Welt wird nur innerhalb des Selbstbezugs der reinen Vernunft begriffen. "Dem transzendentalen Denken ging es um einen festen Bestand an Formen, zu dem es erkennbare Alternativen nicht gibt." 31 Hier TPF FPT gibt es keine letzte Instanz, einer vernünftigen Einsicht eine reale Geltung zu garantieren. Was Habermas hier vorhat, ist folglich, diese getrennten Welten in eine Einheit zu bringen, d. h. die reale Gültigkeit einer vernünftigen Einsicht zu rekonstruieren. Um diese Aufgabe zu erfüllen entwickelt er die Theorie des kommunikativen Handelns, die auf der im engen Zusammenhang mit der Analyse der Umgangssprache stehenden kommunikativen Vernunft basiert. Die kommunikative Vernunft darf deswegen weder eine transzendentale Vernunft sein, die, da sie sich nur auf sich bezieht, keine wirkliche Verbindlichkeit hat, noch darf sie eine bloße Fähigkeit des Menschen sein, die keinen 30 PT Vgl. NU, S. 131. TP TP 31 PT J. Habermas, Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen, in: ND, S. 179. 52 Bezug zur Realität ermöglicht. Sie ist vielmehr so beschaffen, daß sie sich auf ihr Anderes, d. h. auf die Realität bezieht. Habermas sieht in dem Phänomen der Sprache eine Möglichkeit einer derartigen Vernunft, die sich auf die gegenseitige Verständigung richtet. Der Ausgangspunkt seiner Theorie ist die Intuition, "daß in sprachliche Kommunikation ein Telos von gegenseitiger Verständigung eingebaut ist." 32 Und er sagt in gleicher Hinsicht: "[...] für TPF FPT alles, was innerhalb sprachlich strukturierter Lebensformen Geltung beansprucht, bilden die Strukturen möglicher Verständigung ein Nicht-Hintergehbares." 33 Er ist also der TPF FPT Meinung, daß das Projekt der Aufklärung, das alles der vernünftigen Prüfung unterwirft, durch die sprachliche Wende ermöglicht wird. Habermas ist hierbei von der Sprechakttheorie beeinflußt, die davon ausgeht, daß man, um eine Sache oder Äußerung besser zu verstehen, nicht nur die Analyse der als wahr oder falsch zu beurteilenden Propositionen behandeln, sondern auch die Sprechsituationen berücksichtigen muß. Der Sprachpragmatik zufolge versteht man einen Sprechakt, wenn man weiß, was ihn akzeptabel macht. Die Akzeptabilität wird bei der Sprachpragmatik nicht im objektivistischen Sinne aus der Perspektive eines Beobachters definiert, sondern aus der performativen Einstellung der Kommunikationsteilnehmer. Habermas übernimmt von dieser Theorie vor allem die Aufteilung der Sprechakte in einen propositionalen Inhalt und eine performative Kraft. 34 Jener steht in der Beziehung TPF FPT auf Sachverhalte und kann mit Hilfe der klassischen Wahrheitssemantik als wahr oder falsch beurteilt werden. Aber die performative Komponente, wie sie sich in der Form von Befehlen, Aufforderungen, Behauptungen und Versprechen etc. zeigt, ist unmittelbar auf die Kommunikation bezogen. Sie richtet sich an einen Adressaten und konstituiert zwischen ihm und dem Sprecher eine kommunikative Beziehung. Ein Sprecher sagt mit einem Sprechakt nicht nur etwas über etwas aus, sondern er verdeutlicht zugleich auf einer kommunikativen Ebene den Status oder den kommunikativen Modus seiner Äußerung. Er verdeutlicht gegenüber einem Ko-Subjekt, ob er beispielsweise den propositionalen Inhalt als wahr behauptet oder ihn bestreitet, ob er vom Adressaten fordert, daß dieser den Sachverhalt verwirklicht (Befehl, 32 PT J. Habermas, Dialektik der Rationalisierung, in: NU, S. 173. TP 33 PT ND. 179f. TP TP 34 PT Die nähere Betrachtung befindet sich in dem IV. Kapitel dieser Arbeit. 53 Aufforderung) oder selbst dafür einsteht, daß der genannte Sachverhalt zustande kommt (Versprechen). Habermas versucht diesen kommunikativen, prinzipiell hörerbezogenen Aspekt sprachlicher Äußerungen terminologisch mit dem Begriff eines Geltungsanspruches (auf die Wahrheit des propositionalen Bestandteils, die Rechtmäßigkeit der gewählten illokutionären Rolle und die Wahrhaftigkeit seiner Äußerung) auszudrücken. So verstanden ist der Sprechakt eine Art Angebot an den Hörer, der dieses akzeptieren oder hinsichtlich der diversen Geltungsansprüche zurückweisen kann. Die performative Komponente hat auch etwas mit den Möglichkeiten eines Einverständnisses zwischen dem Sprecher und dem Hörer zu tun. Mit der Äußerung verdeutlicht der Sprecher zugleich, auf welche Weise er mit dem Hörer ein Einverständnis über etwas erzielen möchte, das durch den propositionalen Inhalt spezifiziert wird. In der Sprechakttheorie sieht Habermas also die Möglichkeit einer rationalen Verbindung zwischen empirischer und vernünftiger Wirklichkeit, mit seinen Worten, eine Möglichkeit eines 'unverkürzten Begriffs der Vernunft', d. h. der Weiterführung des ursprünglichen Projekts der Aufklärung. Dieser Theorie zufolge begleiten einerseits alle wirklichen Aussagen die kommunikativ-vernünftigen Anforderungen der entsprechenden Geltungsansprüche, und andererseits bewegt sich die Kommunikation immer um das rational motivierte Einverständnis des Sprechers und des Hörers. Mit anderen Worten, es geht bei dem Sprechakt nicht um die Subjektivität, sondern um die Intersubjektivität. In diesem Sinne nennt Habermas den Begriff der kommunikativen Vernunft "einen schwachen, aber nicht defaitistischen Begriff sprachlich verkörperter Vernunft." 35 Und TPF FPT vom traditionellen 'emphatischen Vernunftbegriff' aus betrachtet, nach dem das Subjekt die "Arbeit der weltbildenden Synthesis" leisten muß, 36 erscheint nach Habermas die TPF FPT kommunikative Vernunft sogar als eine 'skeptische' Vernunft. Den Grund dafür, daß er diesen 'emphatischen Vernunftbegriff' strikt ablehnt, gibt er im folgenden Zitat an: "Eine Theorie, die uns die Erreichbarkeit eines Vernunftideals vorgaukelt, würde hinter das von Kant erreichte Argumentationsniveau zurückfallen." 37 TPF 35 PT ND, S. 182. TP 36 PT Ebd. TP TP 37 PT A.a.O., S. 184. 54 FPT Die Aufklärung hat längst in den Ideen der Emanzipation, d. h. des selbstbewußten Lebens, der authentischen Selbstverwirklichung und der Autonomie seinen Ausdruck gefunden. Die Theorie des kommunikativen Handelns, die er mit der sprachlichen Wende erreicht hat, faßt Habermas mit Blick auf das Projekt der Aufklärung im Folgenden zusammen: ''Aus der Analyse notwendiger Bedingungen von Verständigung überhaupt läßt sich wenigstens die Idee einer unversehrten Intersubjektivität entwickeln, die eine zwanglose Verständigung der Individuen im Umgang miteinander ebenso ermöglichen würde wie die Identität eines sich zwanglos mit sich selbst verständigenden Individuums. Unversehrte Intersubjektivität ist der Vorschein von symmetrischen Verhältnissen freier reziproker Anerkennung. Diese Idee darf aber nicht zur Totalität einer versöhnten Lebensform ausgemalt und als Utopie in die Zukunft geworfen werden; sie enthält nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die formale Charakterisierung notwendiger Bedingungen für nicht antizipierbare Formen eines nicht-verfehlten Lebens.'' 38 TPF TP 38 PT A.a.O., S. 185f. 55 FPT 3. Die Auseinandersetzung mit der subjektivistischen Vernunft Habermas geht, wie die meisten Aufklärungskritiker, davon aus, daß die Bewußtseinsoder Subjektsphilosophie für die autoritären Züge einer 'bornierten Aufklärung' verantwortlich ist. Die moderne Subjektivität, die als das sich auf sich beziehende Subjekt bezeichnet wird, wird nur um den Preis der Objektivierung der äußeren wie der eigenen inneren Natur gewonnen. Die Subsumtion eines Objekts unter das Subjekt ist aber nichts anderes als ein Ausdruck eines überzogenen idealistischen Anspruches, der in einer 'Selbstüberforderung und Hypostasierung' der Vernunft besteht. Denn die Selbstbeziehung des Subjekts wird durch den ständigen Angriff der Objektivität gegen das Subjekt entweder bezweifelt oder negiert. Gerade deswegen begreift Habermas die Idee der modernen Subjektivität als eine "tiefgreifende Selbstillusionierung" der Vernunft. 39 TPF FPT ''Weil sich das Subjekt im Erkennen und Handeln, nach außen wie nach innen, stets auf Objekte beziehen muß, macht es sich noch in den Akten, die Selbsterkenntnis und Autonomie sichern sollen, zugleich undurchsichtig und abhängig. Diese in die Struktur der Selbstbeziehung eingebaute Schranke bleibt im Prozeß der Bewußtwerdung unbewußt. Daraus entspringt die Tendenz zur Selbstverherrlichung und zur Illusionierung, d. h. zur Verabsolutierung Emanzipation.'' 40 TPF der jeweiligen Stufe der Reflexion und der FPT Die 'tiefgreifende Selbstillusionierung' der bewußtseinsphilosophischen Vernunft besagt also, daß diese trotz ihrer emanzipatorischen Befreiung von der substantiellen Autorität am Ende paradoxerweise mit der Produktion einer anderen Autorität endet, die eine 'unangreifbarere Herrschaft der Rationalität' feststellt. Daraus ergibt sich, daß das Projekt der Aufklärung durch das subjektphilosophische Paradigma nicht erreicht werden kann trotz der Umdeutung und Erweiterung des Begriffs der Subjektivität bei den Verteidigern der modernen Vernunft, wie z. B. bei D. Henrich, L. Ferry und M. Frank. Aus diesem Grund bezweifelt Habermas, daß es möglich sei, vom Prinzip der Subjektivität Maßstäbe gewinnen zu können, "die der modernen Welt entnommen sind 39 PT PDM, S. 70. TP TP 40 PT Ebd. 56 und gleichzeitig zur Orientierung in ihr, das heißt aber auch zur Kritik einer mit sich selbst zerfallenen Moderne taugen". 41 TPF FPT Von daher ergibt sich für Habermas, der das Projekt der Emanzipation durch den vernünftigen Diskurs weiter führen will, die schwierige philosophische Aufgabe, von der Autonomie des Subjekts zu sprechen und gleichzeitig die Tatsache des Objektes nicht zu negieren. Diese Aufgabe bezieht sich, sozialphilosophisch gesagt, auf die Frage, wie es möglich ist, daß wir uns zugleich als selbstbewußte und autonom handelnde Individuen denken können und uns doch eingebunden wissen in eine Form der Gesellschaft, die gerade diese Entwicklung erst ermöglicht. Es ist also für Habermas vor allem notwendig, die 'Begriffszwänge der Subjektsphilosophie' zu entschärfen, denen das Subjekt wegen ihres Schemas der Trennung von Subjekt und Objekt begegnet. Anders gesagt, der Ausgangspunkt seiner philosophischen Aufgabe ist die Auseinandersetzung mit der Bewußtseinsphilosophie. Es geht nun darum zu sehen, welche Inhalte diese Philosophie hat. Das Problem der modernen Philosophie liegt nach Habermas darin, daß sich die moderne Subjektivität trotz ihrer ursprünglichen Begrenztheit zum Prinzip der absoluten Einheit erhebt. Es handelt sich deswegen z. B. bei dem modernen erkennenden Subjekt um den Versuch, im Bewußtsein seiner endlichen Kräfte unendliche Kraft zu erlangen, wie Kant in seiner Erkenntnistheorie zeige, welche in der Umdeutung des endlichen Erkenntnisvermögens zu transzendentalen Bedingungen einer ins Unendliche fortschreitenden Erkenntnis bestehe. 42 Habermas sieht eine typische Form des Begriffs TPF FPT der Subjektivität in der Fichteschen Philosophie verwirklicht, deren Ausgangspunkt das Sich-Setzen des absoluten Ich ist: Das Ich wird seiner selbst nur habhaft und setzt sich selbst, ''indem es […] ein Nicht-Ich setzt und dieses als das vom Ich Gesetzte schrittweise einzuholen versucht.'' 43 Habermas bezieht diesen Akt des vermittelten SichTPF FPT Setzens auf drei verschiedene Aspekte, die von der Idee der Subjektivität bestimmt werden: den Prozeß der Selbsterkenntnis, den Vorgang der Bewußtwerdung und den 41 PT A.a.O., S. 31. TP 42 PT Habermas zitiert die folgende Aussage von Dreyfus und Rabinow über die Aporie der modernen TP Subjektivität: "Modernity begins with the incredible and ultimately unworkable idea of a being who is sovereign precisely of being enslaved, a being whose very finitude allows him to take the place of God." J. Habermas, a.a.O., S. 307. TP 43 PT A.a.O., S. 308. 57 Bildungsprozeß, also auf das Selbstbewußtsein, die Selbstbestimmung und die Selbstverwirklichung. 44 TPF FPT Seine Kritik an der Subjektsphilosophie fokussiert sich daher auf diese drei Aspekte der Subjektivität, die wegen des Schemas der Trennung von Subjekt und Objekt die drei entsprechenden Gegensätze mit sich bringen. Habermas benennt die jenen Aspekten der Subjektivität entsprechenden Gegensätze wie folgt: Der Gegensatz besteht 1) zwischen dem Transzendentalen und Empirischen, 2) zwischen dem reflexiven Akt des Bewußtmachens und dem reflexiv Uneinholbaren, Unvordenklichen, und 3) zwischen dem apriorischen Perfekt eines immer schon vorausliegenden Ursprungs und dem adventistischen Futur der noch ausstehenden Wiederkehr des Ursprungs. 45 TPF FPT 1) Eine Illusion der Subjektphilosophie besteht in der Annahme, daß alle Gegenstände objektiviert werden können. Diese Illusion resultiert daraus, daß die Subjektphilosophie, sei es in der Erkenntnistheorie oder in der Praxis, vom Paradigma der Erkenntnis von Gegenständen ausgeht, das als Denkmodell der Trennung von Subjekt und Objekt bezeichnet wird. Das erkennende Subjekt objektiviert sich selbst sowie die Entitäten in der Welt, also alles, was ihm begegnet. Das bedeutet, daß das Subjekt als "das beherrschende Gegenüber zur Welt im ganzen" 46 betrachtet wird in dem Sinne, daß es TPF FPT dem Gegenstand die Objektivität verleiht. Das Problem ist hierbei, daß das Subjekt auch sich selbst objektiviert. Das Subjekt ist hier nichts anderes als eine in der Welt 'vorkommende Entität'. Anders gesagt, in dieser objektivierenden Einstellung erscheint das erkennende Subjekt nicht nur als eine transzendentale Kraft, die die Erfahrung ermöglicht, sondern auch als ein bloßes Objekt in der Welt. Das Subjekt wird also als Schöpfer der Objekte einerseits und als ein Objekt in der Welt andererseits behandelt. Daher ist es bei der Subjektphilosophie eine der wichtigsten philosophischen Aufgaben, das Verhältnis zwischen objektiviertem oder empirischem und transzendentalem Subjekt zu klären. Die Kritik von Habermas an der objektivierenden Einstellung ist, daß bei dem erkennenden Subjekt eine unversöhnbare Verdoppelung "zwischen der extramundanen Stellung des transzendentalen und der innerweltlichen des empirischen Ich" 47 TPF FPT unvermeidbar und darüber hinaus eine Vermittlung dazwischen nicht möglich ist. 44 PT Ebd. TP 45 PT A.a.O., S. 307f. TP 46 PT A.a.O., S. 347. TP TP 47 PT Ebd. 58 Dieser Gedanke geht davon aus, daß das Subjekt niemals eine Stellung des reinen Beobachters, d. h. eine extramundane Stellung, haben kann, insofern es in der Lebenswelt lebt, der es sich nicht entziehen kann. Nach Habermas ist der einzige Weg, dieses Problem zu vermeiden, der Paradigmenwechsel von der Erkenntnis von Gegenständen zur Verständigung zwischen sprach- und handlungsfähigen Subjekten. Das sprech-handelnde Subjekt hat die Perspektive der Beteiligten, die dadurch entsteht, daß diese auf die Handlungen und Äußerungen ihrer Kommunikationspartner reagieren. Hier geht es also um die performative Einstellung von Interaktionsteilnehmern, die durch die Koordinierung ihrer Handlungspläne die intersubjektive Verständigung über etwas in der Welt suchen. Die Interaktionsteilnehmer können während einer konkreten Beteiligung an einem Diskurs bestimmte transzendentale Regel rekonstruieren, die von allen Subjekten befolgt werden sollen. Die performative Einstellung konkretisiert sich nach Habermas vor allem in den rekonstruktiven Wissenschaften, in denen gelungene oder verzerrte Äußerungen von Beteiligten an Interaktionen analysiert werden und dadurch das vortheoretische Regelwissen von Subjekten explizit wird, während die objektivierende Einstellung in der intuitiven Analyse des Selbstbewußtseins besteht. Habermas sieht u. a. in dem genetischen Strukturalismus von Jean Piaget ein gutes Beispiel für die rekonstruktive Wissenschaft. Nach Habermas kann die rekonstruktive und empirische Annahme in eine Theorie zusammengefügt werden. 48 Bei solchen Rekonstruktionsversuchen handelt es TPF FPT sich also nicht mehr um "ein Reich des Intelligiblen jenseits der Erscheinungen", sondern um "das tatsächlich praktizierte Regelwissen, das sich in den regelrecht generierten Äußerungen niederschlägt." 49 Von daher entsteht hier keine ontologische TP F FPT Trennung zwischen Transzendentalem und Empirischem. 2) Eine andere Illusion der Subjektphilosophie ist, daß das erkannte Objekt vollständig, klar und deutlich im Bewußtsein vorhanden sein könne. Der Grund dieser Illusion liegt in dem Wunsch des erkennenden Subjekts, alles nur dunkel Erkannte in vollständig Begriffenes zu verwandeln. Es ist allerdings fraglich, ob ein reflexiv nicht aufklärbares, immer schon gegebenes Sein vollständig transparent ins Bewußtsein übergehen kann. Die Psychoanalyse Freuds beschäftigt sich mit dieser Frage: Dieser vertritt nicht nur die 48 PT Vgl. J. Habermas, Rekonstruktive vs. verstehende Sozialwissenschaften, in: ders., Moralbewußtsein und TP kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983, 29ff. TP 49 PT PDM, S. 348. 59 These, daß das undurchsichtige Unbewußte niemals vollständig ins klare Bewußtsein gehoben werden kann, sondern er behauptet auch, daß das Bewußtsein sogar nur eine 'Eisbergspitze' des Unbewußten sei. Die Psychoanalyse dreht daher das traditionelle Verhältnis zwischen dem Bewußtsein und dem Unbewußten um. Für Habermas ist die Psychoanalyse ein gutes Beispiel, das zeigt, daß die Subjektphilosophie nicht umhinkann, in ein Spannungsverhältnis zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten zu geraten: "Hier schwankt […] das subjektphilosophische Denken hin und her zwischen der heroischen Anstrengung, An-Sich-Seiendes reflexiv in FürSich-Seiendes zu verwandeln, und der Anerkennung eines opaken Hintergrundes, der sich der Transparenz des Selbstbewußtseins hartnäckig entzieht." 50 TPF FPT Von daher besteht für die Subjektphilosophie ein unauflösbarer Gegensatz zwischen 'Selbsttransparenz und Opazität'. Wenn man akzeptiert, daß die Subjektphilosophie dieses Problem nicht lösen kann, muß man, besonders wenn man die Aufklärung verteidigen will, auf die Frage antworten, wie man 'den opaken Hintergrund' anerkennen und gleichzeitig mit dem Licht der Vernunft erhellen kann. Habermas geht hier wieder vom Verständigungsparadigma aus, durch das allein die Vermittlung zwischen beiden Faktoren möglich ist. Die Verständigung zwischen den Interaktionsteilnehmern geht innerhalb des Horizonts ihrer gemeinsamen Lebenswelt vonstatten, der sie z. B. bei ihren Interpretationsanstrengungen konsentierte Deutungsmuster entnehmen. Die Lebenswelt dient den Beteiligten mal als kultureller Wissensvorrat, aus dem sie 'konsensfähige Interpretationen' gewinnen können, mal als gesellschaftliche legitime Ordnung, in der sie eine Solidarität mit anderen erfahren können, und mal als persönliche Kompetenz, ihre Identität behaupten zu können. So bleibt die Lebenswelt den Teilnehmern als "ein intuitiv gewußter, unproblematischer und unzerlegbarer holistischer Hintergrund im Rücken" 51 und kann daher nicht TPF FPT thematisiert werden. Aus der Interaktionsperspektive erscheint jedes beteiligte Subjekt nicht mehr als der mit Hilfe zurechenbarer Handlungen Situationen bewältigende Urheber, sondern als das Produkt der kulturellen Überlieferungen, der solidarischen 50 PT Ebd. TP TP 51 PT Ebd. 60 Gruppen sowie der persönlichen Sozialisationsprozesse. 52 Die Lebenswelt ist für TPF FPT Habermas nichts anderes als ein anderer Name für den opaken Hintergrund der Interaktionen der sprech-handelnden Subjekte. Habermas bewahrt den Gedanken des Unbewußten Freuds gerade in dem Begriff der Lebenswelt, in der sich die Interaktionsteilnehmer bewegen. Aber Habermas darf als Verteidiger des Projektes der Aufklärung bei diesem Resultat nicht stehen bleiben, wenn er wirklich von einer Autonomie des Subjekts sprechen will. Er lernt von der Psychoanalyse, wie die Selbstkritik die Autonomie eines Subjekts wiederherstellen kann. Die Psychoanalyse zielt auf die Wiedergewinnung der Selbständigkeit des Patienten ab. Dieser hebt durch die analytischen Gespräche mit dem Arzt seine Pseudonatur unbewußt motivierter Wahrnehmungsschranken und Handlungszwängen auf und gewinnt dadurch die Fähigkeit der Selbstkritik. Habermas geht davon aus, daß, obwohl das Subjekt einerseits Produkt der Lebenswelt ist, es andererseits die Reflexionsfähigkeit hat, gegebene Situation zu transzendieren. Die Reflexion bedeutet hier daher nicht die vorsprachlich-einsame Reflexion des sich objektivierend auf sich beziehenden Erkenntnissubjekts, sondern die Selbstbeziehung des sprech-handelnden Subjekts, das sich im argumentativen Diskurs mit anderen auf sich selbst bezieht. Daher richtet sich diese Reflexion immer nur gegen einzelne Situationen, nicht gegen die Lebenswelt im Ganzen. Anders gesagt, die kommunikative Reflexion ist eine Fähigkeit des Subjekts, bei jedem konkreten Diskurs bestimmte Geltungen in Anspruch zu nehmen, die hier und jetzt erhoben werden und trotzdem jeden lokalen Kontext transzendieren müssen, um das koordinationswirksame Einverständnis der Interaktionsteilnehmer zu tragen. Dies bedeutet, daß die Beteiligten an einer Argumentation wechselseitig Bedingungen einer idealen Sprechsituation hinreichend erfüllen, jedoch gleichzeitig von den ausgeblendeten Motiven und Handlungszwängen niemals vollständig abstrahieren können. Habermas ist also der Meinung, daß innerhalb des intersubjektiven Verständigungsparadigmas die subjektphilosophische Aporie zwischen Opazität und Transparenz des Subjekts nicht entsteht. Anders als "hybride Theorien" der Subjektphilosophie, "die Widersprüche gewaltsam auflösen", 53 gibt es bei Habermas TPF FPT nur eine rationale Nachkonstruktion und eine methodisch durchgeführte Selbstkritik. Jene "verschreibt sich dem Programm des Bewußtmachens, richtet sich aber auf 52 PT A.a.O., S. 349. TP TP 53 PT A.a.O., S. 350. 61 anonyme Regelsysteme und nimmt nicht auf Totalitäten Bezug". 54 Demgegenüber TPF FPT bezieht sich diese "auf Totalitäten, jedoch in dem Bewußtsein, daß sie das Implizite, Vorprädikative, Nichtaktuelle des lebensweltlichen Hintergrundes niemals ganz wird aufklären können." 55 TPF FPT 3) Die letzte Illusion der Subjektphilosophie, die Habermas kritisch behandelt, ist die Idee einer causa sui in dem Sinne, daß das Subjekt in Bezug auf seine Handlungen und in Bezug auf die Geschichte als eine ursprünglich schöpferische Kraft aufgefaßt wird. Nach dieser Idee verursacht das Subjekt die Geschichte bewußt und absichtsvoll, d. h. die Geschichte ist nichts anderes als ein Prozeß der Selbsterzeugung (sei es des Geistes oder der Gattung). Aber die Machttheorie Foucaults z. B., die davon ausgeht, daß die Geschichte von nicht-subjektiven oder nicht-vernünftigen Kräften bestimmt wird und daher eine systematische oder einheitliche Auffassung über sie nicht möglich ist, stellt die Rolle des Subjekts in Frage. Hier stellt sich die Frage, ob das Subjekt ein ursprünglich schöpferischer Aktor ist oder ob es nur von fremden Kräften abhängig ist. Habermas ist in diesem Zusammenhang der Meinung, daß die Subjektphilosophie den Gegensatz von 'Ursprünglichkeit und Abhängigkeit' des Subjekts nicht auflösen kann. Anders gesagt, sie schwankt hin und her "zwischen der Konzeption der Weltgeschichte als eines Prozesses der Selbsterzeugung [des Subjekts] einerseits und andererseits der Konzeption eines unvordenklichen Geschicks, das durch die Negativität von Entzug und Entbindung die Macht des verlorenen Ursprungs fühlbar macht." 56 Also ist der TPF FPT Gegensatz "zwischen der Scylla des Absolutismus und der Charybdis des Relativismus" 57 ein unvermeidliches Schicksal der Subjektphilosophie. TPF FPT Habermas versucht durch den Paradigmenwechsel zur Verständigung dieses Problem zu lösen. Die verständigungsorientierte Geschichts- oder Gesellschaftstheorie rekonstruiert nach ihm nicht nur die Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik, wie dies auch die Systemtheorie mit dem Konzept des selbstgesteuerten Systems tut; sondern sie bleibt sich darüber hinaus "ihres eigenen Entstehungszusammenhangs und ihres Standortes im Kontext unserer Gegenwart bewußt." 58 Habermas sieht hier also den Grundgedanken TPF FPT der Geschichts- oder Gesellschaftstheorie in der gewaltlosen Einheit der Totalität und der Besonderheit. 54 PT Ebd. TP 55 PT Ebd. TP 56 PT A.a.O., S. 351. TP 57 PT Ebd. TP TP 58 PT Ebd. 62 63 4. Die Auseinandersetzung mit den radikalen Vernunftkritikern Habermas' Bemühung, das Projekt der Aufklärung weiterzuführen, wird auch in seiner Auseinandersetzung mit den radikalen Vernunftkritikern deutlich. Seine Kritik an diesem Denken besteht vor allem darin, daß ihre Vernunftkritik nicht nur nicht radikal genug sei, sondern daß ihre Kritik selbst noch dem bewußtseinsphilosophischen Paradigma verhaftet bleibe. Sein Buch Der philosophische Diskurs der Moderne (1985) wurde zunächst vor diesem Hintergrund geschrieben. Seine Kritik an den sogenannten Postmodernisten ist in der folgenden Aussage zusammengefaßt: "Jedenfalls können wir nicht a priori den Verdacht von der Hand weisen, daß sich das postmoderne Denken eine transzendente Stellung bloß anmaßt, während es den von Hegel zur Geltung gebrachten Voraussetzungen des modernen Selbstverständnisses tatsächlich verhaftet bleibt." 59 TPF FPT In diesem Kapitel werden vor allem seine Auseinandersetzungen mit Derrida und Foucault behandelt. 4.1. Die Kritik an der Grammatologie Derridas Unter den Aufklärungskritikern herrscht Einigkeit darüber, daß sich die gegenwärtigen sozialpathologischen Erscheinungen der Verbreitung der instrumentellen Rationalität verdanken. Derrida bezieht diese Erscheinungen noch radikaler direkt auf das Wesen des europäischen Denkens, d. h. auf die Idee des selbstbezogenen Logos. 60 Alle TPF FPT sinnstiftenden Weltanschauungen oder Theorien, wie z. B. die abendländische Metaphysik, sind nach ihm entgegen ihrer Behauptung gar nicht rein vernünftig, weil die Vernunft jede Bedeutung nur dadurch konstituiere, daß sie andere Bestandteile des Seins oder das 'Andere der Vernunft' von sich ausschließt oder unter sich subsumiert. Derrida versucht aus der bedeutungsvollen Welt auszutreten und "auf einen Ort" zuzugehen, "der weder ein Nicht-Ort noch eine andere Welt, weder eine Utopie noch 59 PT PDM, S. 13. TP TP 60 PT Siehe zu dieser Problematik den Abschnitt 2.1. des ersten Kapitels in dieser Arbeit. 64 ein Alibi ist." 61 Während er jene Welt der Bedeutung als 'Präsenz' bezeichnet, da sich TPF FPT die Bedeutungen in sprachlichen Ausdrücken konkretisieren, bezeichnet er diesen neuen Ort als ein 'wesentliches Nichts' oder als 'die reine Abwesenheit'. Die bedeutungsstiftende Metaphysik überhaupt wird die 'Metaphysik der Präsenz' genannt, weil die Bedeutung nichts anderes ist als das, was die Erfahrung und das Erlebnis des menschlichen Bewußtseins sprachlich ausdrückt. Von daher bezieht sich die Seinswelt auf eine Welt des Bewußtseins, des Sprechens, d. h. der Bedeutung. Aus diesem Grund sieht Derrida 'die Präsenz' als Wesen des Logos, der zunächst als gesprochenes Wort verstanden wird, und die Metaphysik der Präsenz als einen Logozentrismus an. Das gesprochene Wort ist ein 'Geschehen', das nur im Augenblick, d. h. in der reinen Präsenz erscheint und gleich verschwindet, während die von Derrida als Gegensatz des Wortes verstandene 'stillschweigende Schrift' als die Abwesenheit bezeichnet wird. Die Reinheit des Erlebnisses, die in der Konstitution des Sinnes im Augenblick des Sprechens, d. h. in dem 'Sich-Sprechen-Hören' besteht, ist für Derrida nichts anderes als 'die Selbstaffektion' des Logos. "Er [sc. der Logos] durchquert das Sein im Hinblick auf sich selbst, in der Ab-Sicht, sich selbst, das heißt, als Logos, sich zu erscheinen, sich selbst zu benennen und sich selbst zu hören. Er ist Sprechen als Selbstaffektion: ist das Sich-selbst-sprechen-hören. Er tritt aus sich hinaus, um sich in sich selbst, in der 'lebendigen Gegenwart' seines Sich-selbst-gegenwärtigseins wieder zurückzunehmen." 62 TPF FPT Der Kern der Kritik Derridas an der europäischen Philosophie ist also, daß, insofern diese in der Suche nach der Bedeutung bestehe, sie nur ein Ausdruck des autoaffektionären Logozentrismus oder der 'Metaphysik der Präsenz' sei. Dieser Gedanke läßt sich am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit Husserl gut verdeutlichen. Derridas Husserl-Lektüre fokussiert sich auf die Deutung seines 'Evidenzbegriffes der Wahrheit'. Husserl geht davon aus, daß sich 'die Krisis der europäischen Wissenschaften', d. h. die Verbreitung der den Sinnverlust des Lebens rechtfertigenden Wissenschaften dem naturalistischen Forschungsverhalten verdankt. Er will daher durch die Wiederherstellung der Subjektbezogenheit der Wahrheit diese Krisis bewältigen. 61 PT J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, S.17. Hervorhebungen im Original. TP TP 62 PT A.a.O., S. 255. 65 Aber damit die Philosophie eine 'strenge Wissenschaft' sein kann, auf die er abzielt, darf die Subjektbezogenheit der Wahrheit nicht eine psychische und bloß subjektive Gewißheit haben, sondern sie muß objektiv sein. Husserls Phänomenologie versucht als eine 'strenge Wissenschaft' deshalb, eine objektive Gültigkeit der Erfahrung des transzendentalen Subjekts zu garantieren. Husserl sieht in dem intendierenden Akt des transzendentalen Subjekts eine Möglichkeit 'der idealen Objektivität', d. h. der idealen Identität des intendierenden Subjekts (der Noesis) und des intendierten Objekts (der Noema). 63 TPF FPT 'Die Bedeutung' ist für Husserl ein anderer Name für diese ideale Objektivität, weil sie an sich jenseits aller Verkörperungen existiert und zugleich als reines Phänomen erscheint. Die Evidenz der Wahrheit ergibt sich also für Husserl in der Übereinstimmung des bedeutungsintendierenden Aktes mit dem bedeutungserfüllenden Akt sowie in der Übersetzbarkeit der subjektiven Intention in den sprachlichen Ausdruck. Seine folgende Aussage spiegelt diesen Gedanken wider: "Dies zeigt klärlich der Umstand, daß […] jeder subjektive Ausdruck, bei identischer Festhaltung der ihm augenblicklich zukommenden Bedeutungsintention, durch objektive Ausdrücke ersetzbar ist." 64 TPF FPT Husserl gelangt durch eine Analyse des inneren Zeitbewußtseins zu dem Evidenzbegriff der Wahrheit. 65 TPF FPT Nach ihm verdankt sich jede momentane oder sprachlich auszudrückende Wahrnehmung einer in Begriffen der 'Protention und Retention' untersuchten Struktur der Wiederholung. Die Intuition, durch die die einfache Präsenz eines ungeschiedenen, mit sich identischen Gegenstandes, d. h. das Wahrheitsgeschehen, hervorgerufen wird, besteht im strengen Sinne aus dem Zeitbewußtsein des Vor- und Rückblicks. Das 'augen-blickliche' Erleben ist also nur möglich dank einem Akt der Vergegenwärtigung des Subjekts, die Wahrnehmung dank einem reproduzierenden Wiedererkennen. Trotz seiner Andeutung, daß die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft in einem Zeitfluß liegen und sich deshalb nicht in verschiedene Zeitpunkte zerteilen 63 PT E. Husserl, Logische Untersuchungen, in: ders, Husserliana XIX/1, U. Panzer (Hg.), Den Haag 1984, S. TP 97. 64 PT A.a.O., S. 95. TP 65 TP PT Dies behandelt Derrida besonders in seiner Abhandlung Das Zeichen und der Augen-Blick, in: ders., Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt/M. 1979, S. 115ff. 66 können, fundiert er die Wissenschaft in einem absoluten Ursprung. Dieser ist bei ihm ein ganz bestimmter Begriff des 'Jetzt', der Präsenz als Punktualität des Moments, in dem die Intuition und Erfahrung des Bewußtseins in eins fallen. In der Phänomenologie weist die Idee der ursprünglichen Präsenz immer auf diesen 'Quellpunkt' zurück. Trotz der Kontinuität des Zeitflusses haben nach Husserl ''die Ablaufsmodi eines immanenten Zeitobjekts einen Anfang [...], sozusagen einen Quellpunkt. Es ist derjenige Ablaufmodi, mit dem das immanente Objekt zu sein anfängt. Er ist charakterisiert als Jetzt.'' 66 Der TPF FPT Grund, daß Husserl zwar die Notwendigkeit der Momente der Andersheit (z. B. der Vergangenheit und der Zukünftigkeit) beim Wahrheitsgeschehen erkannt hat, aber dennoch an der gegenwärtigen Wahrnehmung, der Reinheit des Erlebnisses oder der bloßen Gegenwärtigkeit der Bedeutung festhält, liegt nach Derrida in der logozentristischen Neigung Husserls, die die europäische Metaphysik im ganzen durchaus beherrsche. Die Privilegierung des Jetzts zeigt nach Derrida, daß Husserl noch in der Tradition der 'Metaphysik der Präsenz' steht. ''[...] philosophieimmanent sind keinerlei Privilegierung der Jetzt-Präsenz möglich.'' TPF Einwände gegen diese 67 FPT Der Kern der Kritik Derridas an Husserl ist, daß dieser nicht anerkenne, daß sich die gegenwärtige Wahrnehmung einem reproduzierenden Erkennen und sich die Spontaneität des lebendigen Augenblicks der Differenz des zeitlichen Abstandes und dem Moment der Andersheit verdanken, d. h. daß die in der Intuition vorhandene Einheit in der Tat nichts anderes als etwas Zusammengesetztes und Produziertes ist. Als eine alternative Wissenschaft schlägt Derrida die 'Grammatologie' vor, die vor allem anerkennt, daß der scheinbar absoluten, ursprünglichen Gegenwart schon eine zeitliche Differenz vorausgeht und ferner diese Differenz für die Reinheit der gegenwärtigen Bedeutung konstitutiv ist. Derrida geht onto-semiologisch von der Unterscheidung des Wortes und der Schrift aus. Jenes existiert als ein 'Geschehen', das mit dem Erscheinen verschwindet, während diese als das existiert, was auf das ZumWort-Werden, d. h. auf die Vergegenwärtigung wartet. Ist jenes die 'Präsenz', dann ist diese die 'Abwesenheit'. Die Erhebung der Schrift zum wissenschaftlichen Gegenstand 66 PT E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, in: ders., Husserliana X, R. Boehm TP (Hg.), Den Haag 1966, S. 27. TP 67 PT J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, a.a.O., S. 117. 67 bedeutet also, daß Derrida in der Stellvertreterfunktion des in der Abwesenheit vorhandenen Zeichens ein geeignetes Modell sieht, das die Struktur der Vergegenwärtigung sowie die Ursprünglichkeit des Anderen erhellen kann. In der Tradition der europäischen Wissenschaft ist die Schrift dem Wort untergeordnet wegen des Gedankens, daß jene nur ein die Laute nachahmendes sekundäres Signifikant sei. Dieser Gedanke findet sich schon in der Philosophie des Aristoteles: ''Es sind also die Laute, zu denen die Stimme gebildet wird, Zeichen der in der Seele hervorgerufenen Vorstellungen, und die Schrift ist wieder ein Zeichen der Laute.'' 68 TPF FPT Diese Tradition erstreckt sich bis hin zu F. de Saussure, der als Begründer einer strukturalistischen Semiologie einen großen Einfluß auf die Entstehung der Grammatologie Derridas ausübt. Saussure sieht die Semiologie als einen Teil der Psychologie an, wie es die europäische wissenschaftliche Tradition tut, in der das Zeichen als ein Abbild der Laute der Seele gilt. In dieser Hinsicht ist das Wort bereits eine Einheit von Sinn und Laut, Vorstellung und Stimme, oder wie er es ausdrückt, von Signifikat und Signifikant. Dies ist der Grund, warum er nur 'das gesprochene Wort' als Gegenstand seiner Linguistik aufnimmt. ''Nicht die Verknüpfung von geschriebenem und gesprochenem Wort ist Gegenstand der Linguistik; sondern nur das letztere, das gesprochene Wort allein ist ihr Objekt.'' 69 TPF FPT Die Grammatologie wertet in der Zeichenlehre die Rolle der Schrift auf, die seit dem Anfang der philosophischen Geschichte in den 'Randbereich' der Philosophie gedrängt wurde. 70 Es geht daher bei der Grammatologie um den Versuch zu erörtern, wie die TPF FPT Schrift, nicht das Wort, der zentrale Ausgangspunkt der Sprachwissenschaft werden kann. Das Medium der Schrift beseitigt nach Derrida die Aura des Wahrheitsgeschehens und schafft damit Platz für einen gewissen spielerischen Umgang mit der Wahrheit. Die 68 PT Aristoteles, Lehre vom Satz. Kategorien. (Organon I/II), Philosophische Bibliothek, Bd. 8, 9, Hamburg TP 1974, S. 95. 69 PT F. Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967, S. 28. TP TP 70 PT Der Titel seines berühmten Werkes Randgänge der Philosophie (Original: Marges de la philosophie) von 1988 drückt dieses Problembewußtsein aus. 68 Schrift existiert unabhängig vom Geist des Autors und vom Atem des Adressaten ebenso wie von der Präsenz der besprochenen Gegenstände und ermöglicht damit eine wiederholbare Lektüre eines Textes in beliebig wechselnden Kontexten. Das Wesen der Schrift besteht für Derrida also in ihrer absoluten Lesbarkeit, die nur durch eine Abstraktion der lebendigen Bezüge des gesprochenen Wortes möglich ist. ''Jedes Graphem [sc. jede Schrift] ist seinem Wesen nach testamentarisch.'' 71 TPF FPT Die Schrift bietet für Derrida folglich die Möglichkeit, durch die Fixierung von sprachlichen Inhalten zeitliche und räumliche Abstände zu überwinden und die Bedeutung der Präsenz zu reproduzieren oder das Erlebnis wiederholt zu ermöglichen. Er nennt besonders die jeder nachträglichen Fixierung von Lautgestalten vorausliegende Schrift die 'Urschrift', die trotz der völligen Abwesenheit eines Subjekts und über seinen Tod hinaus die Entzifferbarkeit eines Textes ermöglicht und seine Verständlichkeit in Aussicht stellt. Jede Interpretation der Welt wird nur durch die welterschließende Funktion der Urschrift ermöglicht. Aber die Urschrift erscheint selbst nicht in der Welt, sie hinterläßt nur in der Verweisungsstruktur der erzeugten Texte ihre Spur. Die 'Differenz' Derridas unterscheidet sich vom Begriff der Differenz z. B. der Hegelschen Logik, der dort zusammen mit seinem Gegenteil – dem Begriff der Identität – erörtert wird. In diesem klassischen Verständnis wird die Differenz der Identität untergeordnet. Deswegen sucht Derrida einen neuen Namen, der sein Verständnis der Differenz ausdrücken kann. Das französische Verb 'différer' hat zwei Grundbedeutungsrichtungen: 72 'suspendieren', 'verzögern' etc. im zeitlichen Sinne und TPF FPT zugleich 'Anderssein' im räumlichen Sinne. Aber das französische Substantiv dieses Verbs 'différence' hat nur die letzte Bedeutung. Weil Derrida die zeitliche Differenz stärker betonen will, muß er einen neuen Begriff kreieren: 'différance', der dadurch entsteht, daß ein 'a' an die Stelle des 'e' gesetzt wird. Mit diesem Begriff will er sowohl den räumlichen als auch den zeitlichen Sinn der Differenz zum Ausdruck bringen. Es gibt bei der Aussprache keinen Unterschied zwischen 'différence' und 'différance'. Der Unterschied zeigt sich nur in der Schrift. Der Kern der Logik der 'différance' liegt gerade darin, daß der Unterschied zwischen beiden Begriffen nicht durch den Laut, der 'die Intimität und Durchsichtigkeit' oder 'die absolute Nähe des Ausdrucks' sein soll, 71 PT J. Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 120. Diese Passage erinnert die Differenz des Seins und des TP Seienden bei Heidegger. TP 72 PT Siehe J. Derrida, Die différance, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, besonders 33f. und ders., Grammatologie, a.a.O., S. 44. 69 sondern allein durch die Schrift zu erkennen ist. Eben in dieser Hinsicht kann man die Grammatologie als Logik der Différance bezeichnen. "Sie [sc. die Différance] ermöglicht die Artikulation des gesprochenen Wortes und der Schrift - im geläufigen Sinne -, wie sie auch den metaphysischen Gegensatz zwischen Sinnlichem und Intelligiblem und, darüber hinaus, zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat, zwischen Ausdruck und Bedeutung fundiert." 73 TPF FPT Nach Habermas ist es allerdings fraglich, ob diese Grammatologie die europäische Metaphysik wirklich überwindet oder ob sie nicht vielmehr noch hinter den Zeitpunkt zurückkehrt, an dem "einst Mystik in Aufklärung umgeschlagen ist." 74 Er ist also der TPF FPT Ansicht, daß Derrida zwar mit der Kritik der transzendentalen Stellung des Logos anfängt, aber daß er dann der Schrift dieselbe transzendentale Rolle zuweist und diese für ihn eine anonyme, geschichtsstiftende Produktivität hat. Daher ist sein Denken noch einem Fundamentalismus verhaftet, dem er eigentlich entgehen wollte. Der Kern der Habermasschen Kritik an Derrida ist also, daß dieser als neue Autorität die Schrift sieht und sich damit letztlich nicht von dem metaphysischen Denken unterscheidet: "Trotz des veränderten Gestus betreibt auch er [sc. Derrida] am Ende nur eine Mystifizierung handgreiflicher gesellschaftlicher Pathologien; auch er entkoppelt das wesentliche, nämlich dekonstruierende Denken von der wissenschaftlichen Analyse und landet bei der leerformelhaften Beschwörung einer unbestimmten Autorität. Dies allerdings ist [...] die Autorität einer [...] Schrift." 75 TPF FPT Diese Kritik von Habermas wird besonders relevant in Hinblick auf die Verbindung der Grammatologie mit der jüdischen Mystik. Er bezieht sich auf Derridas positive Aufnahme der jüdischen, mystischen Tradition und sieht eine Verwandtschaft des Begriffs der Schrift mit der jüdischen Thora. 76 Die jüdische Mystik besteht nach TPF 73 PT J. Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 110. TP 74 PT PDM. S. 218 TP 75 PT A.a.O., S. 214 TP 76 TP FPT PT Um seine These der Verwandtschaft der Schrift Derridas mit der Thora zu bestätigen, bezieht sich Habermas auf die Derrida-Interpretation von S. Handelmann. Siehe die Anmerkung von PDM, S. 217f. 70 Derrida im Gedanken der Abwesenheit Gottes und dem Thorazentrismus. 77 Nach dieser TPF FPT Tradition führt der direkte Kontakt des Menschen mit dem Heiligen zum Wahnsinn. Gott muß daher abwesend sein, um die Menschen zu schützen. Die Thora wurde also als die Präsenz des abwesenden Gottes verstanden. Derrida zitiert einen von E. Levinas überlieferten Ausspruch des Rabby Elizer zustimmend: "Wären alle Meere voller Tinte, alle Teiche mit Schreibrohren bepflanzt, wären Himmel und Erde aus Pergament und übten alle Menschen die Schreibkunst aus, sie vermöchten die Thora nicht auszuschöpfen, die ich studiert habe; wird doch die Thora selbst dadurch nur um so vieles weniger als das Meer weniger wird, in das eine Federspitze getaucht ward." 78 TPF FPT Derrida will mit diesem Zitat die Unfixierbarkeit der Wahrheit und zugleich die absolute Interpretationsmöglichkeit der Thora zeigen. Ein Grundgedanke der jüdischen thorazentristischen Tradition ist folglich, daß sich die Wahrheit nicht in einer wohlumschriebenen Menge von Aussagen vollständig zeigt und daß die Möglichkeiten, die Thora zu interpretieren, unausschöpflich sind. Dieser thorazentristische jüdische Gedanke unterscheidet sich vor allem von der paulinischen christlichen Tradition, in der die Thora und deren Interpretationen als "tote Buchstaben" gelten (2. Korinther, 3, 6) und dem lebendigen Geist der unmittelbaren Gegenwart Christi unterlegen sind. Ein Ziel der Mission des Paulus war deshalb die Überwindung der jüdischen Tradition, die dem Buchstaben verhaftet sei und den lebendigen 'Logos' der christlichen Offenbarung nicht erfassen könne. 77 PT Genau so wie der Schriftsteller in seinen Schriften nicht anwesend ist, ist Gott in seinen Geschöpfen TP nicht anwesend. Er hinterläßt darin nur seine Spur: "Abwesenheit des Schriftstellers ebenfalls. Schreiben heißt sich zurückzuziehen. Nicht in sein Zelt, um zu schreiben, sondern von seiner Schrift selbst. Weit von seiner Sprache entfernt auf eine Sandbank zu laufen, sie zu emanzipieren und ihr den Ort zu räumen, sie allein und entblößt ihres Weges gehen zu lassen. Die Rede sich selbst zu überlassen. Dichter zu sein, heißt die Rede sein zu lassen. Sie ganz von allein sprechen zu lassen, was sie nur in der Schrift zu tun imstande ist. […] Die Schrift zu lassen, heißt nur da zu sein, um ihr den Durchgang zu lassen, um das durchscheinende Element ihres Ausgehens zu sein: alles und nichts. Im Hinblick auf das Werk ist der Schriftsteller alles und nichts zugleich. Wie Gott auch." J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, a.a.O., S. 109. Hervorhebung im Original. TP 78 PT J. Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 31. 71 Habermas sieht im Begriff der 'Schrift' Derridas dieselbe Funktion, die die rabbinische Thora hat. Ist das gesprochene Wort Präsenz, dann ist die [Ur-]Schrift eine abwesende Präsenz, die die Gegenwärtigkeit der gesprochenen Worte und die sinnvollen Interpretationen ermöglicht. Die Schrift erschließt daher die absolute Lesbarkeit und die wiederholte Interpretationsmöglicheit. 79 TPF FPT Die Dekonstruktion Derridas dient deswegen nach Habermas, entgegen seiner eigenen Absicht, der Wiederherstellung des Diskurses über Gott, der schon mit dem Anfang der Moderne seine zentrale Bedeutung verloren hat. Die folgende Aussage ist das Fazit seiner Derrida-Lektüre: "Derridas grammatologisch eingekreistes Konzept einer Urschrift [...] erneuert den mystischen Begriff der Tradition als eines hinhaltenden Offenbarungsgeschehens. Die religiöse Autorität behält nur solange ihre Kraft, wie sie ihr wahres Antlitz verhüllt und dadurch die Entzifferungswut der Interpreten anstachelt. Die inständig betriebene Dekonstruktion ist die paradoxe Arbeit einer Traditionsfortsetzung, in der sich die Heilsenergie einzig durch Verausgabung erneuert. Die Arbeit der Dekonstruktion läßt die Schutthalde der Interpretationen, die sie abtragen will, um die verschütteten Fundamente freizulegen, immer weiter anwachsen." 80 TPF FPT 4.2. Die Kritik an der Archäologie und Genealogie Foucaults Das 'Paradox der Rationalisierung' verdankt sich nach Foucault dem Wesen der modernen Vernunft selbst, d. h. deren monologischer, diktatorischer Form. Die Diskurse, die von der modernen Vernunft geleitet werden, wie z. B. die Geisteswissenschaften, sind nach ihm allein dadurch gekennzeichnet, daß die Vernunft ihr Anderes, wie z. B. den 'Wahnsinn', von sich ausschließt. Daher enthalten diese Diskurse eine Art 'Ausschließungsmechanismus' in sich. Foucault geht deswegen davon aus, daß sich das Wesen des Ausschließenden durch die Erkenntnis des 79 TP PT Darin liegt der Grund, warum Derrida die Welt nicht als ein Buch versteht, das systematisch konstituiert und abgeschlossen ist, sondern als einen Text, der jeder Interpretation offen ist. Siehe Derrida, Das Ende des Buchs und der Anfang der Schrift, in: ders., Grammatologie, a.a.O., S. 16ff. TP 80 PT PDM, S. 216. Hervorhebung im Original. 72 Ausgeschlossenen erhellt und daß das Wesen der Geisteswissenschaft darum nur vom Standpunkt des Anderen der Vernunft aus betrachtet und nicht aus der Innenperspektive der Geisteswissenschaften, d. h. mit der diskursiven Vernunft erfaßt werden kann. Die 'Archäologie' in seiner frühen und die 'Genealogie' in seiner späten Zeit folgen dieser Grundüberzeugung. Die Archäologie untersucht eigentlich die frühe Geschichte der Menschheit, indem man die stummen Monumente einer Vorzeit ausgräbt, die wissenschaftlich noch nicht erhellt wurden. Foucault führt diese Archäologie für die Analyse und Kritik der modernen Geisteswissenschaften ein, die von der Idee der Selbstbezogenheit der Vernunft ausgingen. Er entlarvt also in seinem Werk Archäologie des Wissen, daß die vernunftgeleiteten modernen Geisteswissenschaften völlig von sinnlosen Fundamenten, d. h. von dem Anderen der Vernunft abhängen. Er geht also, wie Habermas sagt, "an die Ursprungsorte jener anfänglichen Verzweigung von Wahnsinn und Vernunft" zurück, "um im Gesprochenen das Ungesagte zu dechiffrieren." 81 TPF FPT "Man müßte mit aufmerksamem Ohr sich jenem Geraune der Welt zuneigen und versuchen, die vielen Bilder, die nie in der Poesie ihren Niederschlag gefunden haben, die vielen Phantasmen wahrzunehmen, die nie Farben des Wachzustandes erlangt haben." 82 TPF FPT Die Archäologie Foucaults zielt darauf ab, die angebliche Reinheit der Vernunft zu enttarnen. Er geht dafür in seinem Buch Wahnsinn und Gesellschaft zum Entstehungspunkt der modernen Vernunft zurück und untersucht deren geschichtliche Trennung vom Wahnsinn sowie deren allmähliche Monologisierung. Er erforscht diese Vorgänge nicht in der Vernunft-, sondern in der Wahnsinnsgeschichte wegen seiner archäologischen These, daß die Vernunft ihr genuines Gesicht in ihrem Anderen verstecke. Foucault unterscheidet bezüglich der Geschichte des Wahnsinns drei epochale Einschnitte voneinander: die Renaissance, die Klassik (von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts) und die Moderne seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Seit der Renaissance wurde der Wahnsinn als etwas Tragisches und Seherisches verstanden, das die Schwächen der Vernunft ironisch entlarven könne. Die große Internierungswelle 81 PT PDM, S. 282. TP TP 82 PT M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, a.a.O., 1969, S. 13. 73 um die Mitte des 17. Jahrhunderts weist aber darauf hin, daß sich die bisherige Ansicht über den Wahnsinn schon verändert hat. Die Wahnsinnigen wurden in Anstalten zur Internierung untergebracht genau so wie die Armen, die Arbeitslosen und die Sträflinge. 83 Am Ende des 18. Jahrhunderts veränderten sich die Ansichten über den TPF FPT Wahnsinn noch einmal stark: die Wahnsinnigen wurden als Kranke angesehen, die medizinisch betreut werden müssen. Aus diesem Grund wurden die vielen Internierungslager in dieser Zeit in psychiatrische Einrichtungen umgewandelt. Foucault bringt diese beiden gesellschaftsgeschichtlichen Ereignisse in Verbindung mit der Vernunftgeschichte; das erste bezieht sich auf die Entstehung der Subjektphilosophie, die mit Descartes angefangen hat, und das zweite auf die Weiterführung der Subjektphilosophie, wie sie in der Kantischen Philosophie formuliert ist. Diese beiden Ereignisse zeigen die allmählich steigende Herrschaft des Monologs der Vernunft, indem diese ihre heterogenen Elemente von sich abgrenzt oder alles, was ihr begegnet, zum Objekt macht. Habermas kritisiert die archäologische Methode in zwei Punkten: Erstens bemängelt er, daß bei Foucault das Verhältnis zwischen den Theorien (den Geisteswissenschaften) und der Praxis (den gesellschaftsgeschichtlichen Ereignissen) nicht erläutert wird. Nach ihm beantwortet die Archäologie nicht die Frage, "ob die einen die anderen steuern; ob ihr Verhältnis als Basis und Überbau oder eher nach dem Modell kreisförmiger Kausalität oder als Zusammenspiel von Struktur und Ereignis gedacht werden soll". 84 TPF FPT Habermas fragt sich zweitens, ob nicht die Forschung Foucaults über den Wahnsinn als eine 'Revolution gegen die Vernunft innerhalb der Vernunft' angesehen werden muß, d. h. ob nicht die Forschung der Wahnsinnsgeschichte ein vernünftiger Diskurs ist. 85 Nach TPF FPT ihm wirft Foucaults Geschichtsschreibung die methodische Frage auf, "wie eine Geschichte der Konstellationen von Vernunft und Wahnsinn überhaupt geschrieben werden kann, wenn sich die Arbeit des Historikers doch ihrerseits im Horizont der Vernunft bewegen muß." 86 Seine archäologische Geschichtsbeschreibung geht also, wie TPF 83 FPT PT Foucault berichtet, daß im 17. Jahrhundert von den Pariser Einwohnern mehr als 1% in den großen TP Häusern zur Internierung mehrere Monate eingeschlossen war. Vgl. M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, a.a.O., S. 71f. 84 PT PDM, S. 285. TP 85 PT Es wurde bereits erwähnt, daß dies ein entscheidender Kritikpunkt Derridas an Foucault war. Siehe J. TP Derrida, Die Schrift und die Differenz, a.a.O., S. 61. TP 86 PT PDM, S. 290. 74 Honneth sagt, von "selbstwidersprüchlichen Hypothesen darüber [aus], wie die historische Herausbildung von Wissenssystemen zu explizieren sei". 87 TPF FPT In diesem Zusammenhang beschäftigt sich Habermas mit dem Übergang Foucaults von der Archäologie zur Genealogie, d. h. von der Diskursanalyse zur Machttheorie. 88 Um TPF FPT einerseits das Verhältnis zwischen dem Wissen und der Praxis zu erhellen und andererseits einen viel radikaleren antiwissenschaftlichen Diskurs zu ermöglichen, braucht Foucault eine neue Methode: die genealogische, die untersucht, wie die Diskurse konstituiert werden und verschwinden, indem sie die Genesis der geschichtlich variablen Geltungsbedingungen bis in die institutionellen Wurzeln hinein verfolgt. Diese institutionelle Wurzel ist bei Foucault die 'Macht', die sich hinter den wissenschaftlichen Diskursen versteckt. Macht ist hier nicht ein fixierbares Vermögen, eine dauerhafte Eigenschaft eines individuellen Subjekts oder einer sozialen Gruppierung, sondern ein prinzipiell wandelbares Element der strategischen Auseinandersetzungen zwischen Subjekten. Also ist sie in den strategischen Handlungen der Subjekte allgegenwärtig vorhanden. Für Foucault, der auch die Kommunikation zwischen Subjekten als eine Art der strategischen Handlung versteht, sind alle Handlungen nichts anderes als Machtphänomen: "Die Macht kommt von unten, d. h. sie beruht nicht auf der allgemeinen Matrix einer globalen Zweiteilung, die Beherrscher und Beherrschte einander entgegengesetzt und von oben nach unten auf immer beschränktere Gruppen und bis in die letzten Tiefen des Gesellschaftskörpers ausstrahlt. Man muß eher davon ausgehen, daß die vielfältigen Kraftverhältnisse, die sich in den Produktionsapparaten, in den Familien, in den einzelnen Gruppen und Institutionen ausbilden und auswirken, als Basis für weitreichende und den gesamten Gesellschaftskörper durchlaufende Spaltungen dienen." 89 TPF 87 FPT A. Honneth, Kritik der Macht, Frankfurt/M. 1989, S. 168. TP PT 88 TP PT Auch Foucault scheint schon die Grenze seiner archäologischen Methode zu kennen. Über den Übergang zur Machttheorie sagt er in einem Interview wie folgt: "Dort, wo Wahnsinn und Gesellschaft und Die Ordnung der Dinge zusammentreffen, befand sich unter zwei sehr unterschiedlichen Gesichtspunkten dieses zentrale Problem der Macht, das ich noch ziemlich schlecht herausgeschält hatte." M. Foucault, Wahrheit und Macht. Interview von Allessandro Fontatana und Pasquale Pasquino, in: ders., Despositive der Macht, Berlin 1978, S. 21. TP 89 PT M. Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 1977, S. 115. 75 Nach Foucault hängen die wissenschaftlichen Diskurse vollständig von einem antiwissenschaftlichen Moment, nämlich der Macht ab. Während sich die Archäologie auf den Gegensatz zwischen Vernunft und Nichtvernunft (z. B. Wahnsinn) bezieht, wobei diese beiden Faktoren auf der gleichen Ebene liegen, hat die Genealogie das Verhältnis von Wissen und Macht als Hauptgegenstand, wobei die Macht fundamentaler ist als das Wissen. In seinem Buch Überwachen und Strafen (1976) analysiert Foucault das Verhältnis der Humanwissenschaften zur Macht. Die Untersuchung von 'Überwachen und Strafen', die sich mit der Unterdrückung des Anderen durch die herrschende Macht beschäftigt, geht von der Gewißheit aus, daß sich aus der Position der unterdrückten Seite – d. h. aus der Perspektive der 'Gegenmacht' – eine über die herrschende Ansicht hinausgehende, erweiterte Perspektive gewinnen läßt. Er unterscheidet in diesem Buch das klassische Zeitalter und die Moderne in Hinblick auf die jeweilige Form des Strafvollzugs. Während es bei dem dem Absolutismus entsprechenden klassischen Zeitalter um die körperlichen Qualen des Verbrechers ging, ist die freiheitsentziehende Kerkerstrafe in der Moderne die leitende Form des Strafvollzugs. Dies ist der Grund, warum Foucault die Moderne die Zeit der 'Geburt des Gefängnisses' nennt. Das Gefängnis, das als eine Einrichtung angesehen wird, die sowohl die körperliche als auch die seelische Kontrolle der Häftlinge erleichtert, findet seine idealtypische Form vor allem in dem von Bentham entworfenen 'Panopticon'. Dieses ist so angelegt, daß die Menschen, die im Außenring sind, vollständig gesehen werden können, ohne jemals selbst etwas zu sehen, und die, die im Zentralraum sind, alles sehen, ohne je gesehen zu werden. 90 TPF FPT Am Ende des 18. Jahrhunderts verbreitete sich diese Form der Überwachung, die in den Gefängnissen ausgeübt wurde, rasch in allen gesellschaftlichen Bereichen, z. B. in Manufakturen und Arbeitshäusern, in Kasernen und Schulen sowie in Hospitälern etc. Die Humanwissenschaft verlängert hier nur, wie Habermas sagt, "auf sublime Weise den normalisierenden Effekt dieser Körperdisziplinen bis ins Innerste der szientifisch vergegenständlichten, zugleich in ihre Subjektivität hineingetriebenen Personen und Populationen". 91 Der im 'Panopticon' vorherrschende objektivierende, kontrollierende TPF 90 FPT PT Siehe zur Beschreibung des Panopticon M. Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976, S. TP 259. TP 91 PT PDM, S. 319. 76 und alles durchdringende Blick findet also auf einer subtileren Ebene in dem vernünftigen Subjekt seinen Ausdruck, das in seiner monologischen Einsamkeit andere Subjekte nur in der Form von Beobachtungsobjekten behandelt. Die Humanwissenschaft stellt daher ihrem Wesen nach bloß ein Amalgam aus Macht und Wissen dar. Nach Habermas beruht die von dem Macht-Wissens-Paradigma ausgehende Genealogie auf drei Reduktionen: 92 1) auf der Reduktion des Sinnverständnisses des an Diskursen TPF FPT beteiligten Interpreten auf die objektive Erklärung von Diskursen; 2) der Reduktion der Geltungsansprüche auf funktionalistische Machtwirkungen; 3) der Reduktion des Sollens auf naturalistisches Sein. Habermas bezweifelt aber, ob die internen Aspekte der Bedeutung, der Wahrheitsgeltung und des Wertens durch die extern erfaßbaren Aspekte von Machtpraktiken restlos verstanden werden können. 93 TPF FPT 1) Um eine objektive Wissenschaft oder, besser gesagt: eine Metawissenschaft zu sein, muß die Genealogie nach Foucault eine Beobachterperspektive einnehmen. Dies ist der Grund, warum er bei einer Theoriekonstitution die Rolle des praktischen Zusammenhanges betont. Nur aus der praktischen Perspektive kann von der Objektivität einer Wissenschaft als einer Theorie gesprochen werden. Wegen ihrer hermeneutischen Methode könne aber die moderne Humanwissenschaft nach Foucault nicht objektiv sein, denn das Selbstverständnis des Interpreten beziehe sich immer auf einen Traditionszusammenhang. Habermas geht aber davon aus, daß auch die genealogische Geschichtsbeschreibung selbst nicht wissenschaftlich objektiv sein kann, entgegen der Absicht von Foucault, der als ein radikaler Historist dennoch für sein eigenes Anliegen wissenschaftliche Objektivität beansprucht. Foucault gelingt nach Habermas einerseits bloß ein Vergleich der verschiedenen Mechanismen der Macht, ohne daß er eine einzelne Machtform als Ganze aus sich heraus erklären könne; andererseits zeige sich auch bei Foucault die Abhängigkeit seiner eigenen Genealogie von einem bestimmten hermeneutischen Horizont, der zum Beispiel in seiner implizit auf die Gegenwart bezogenen Einteilung der Epochen deutlich werde. Habermas schreibt dazu folgendes: 92 PT A.a.O., S. 325ff. TP TP 93 PT A.a.O., S. 325. 77 "Foucault ist sich der Aporie eines Vorgehens, das objektivistisch sein will und zeitdiagnostisch bleiben muß, bewußt, ohne darauf eine Antwort zu geben." 94 TPF FPT 2) Die verschiedenen Geltungsansprüche lassen sich nicht denken ohne die Idee der Autonomie oder der Allgemeinheit der Vernunft vorauszusetzen. Die genealogische Reduktion dieser Geltungsansprüche auf die Machtinteressen impliziert also die Ablehnung der Autonomie der Vernunft. Indem die Genealogie die sich in der Form des lokalen, marginalen oder alternativen Wissens versteckende Gegenmacht, z. B. 'die Geschichte des Gefängnisses', auf das Niveau 'gelehrter Kenntnisse' hebt, gewinnt sie nach Foucault eine allgemeinere Perspektive, in der sich die Abhängigkeit aller Geltungsansprüche von der Macht erkennen lasse. Habermas steht dieser These jedoch sehr kritisch gegenüber, weil jede Gegenmacht ebenfalls nur eine andere Form der Macht ist, die nach ihrem Sieg lediglich einen weiteren Machtkomplex bildet, der erneut eine Gegenmacht hervorruft. Die Genealogie teilt also ihr Schicksal mit der Humanwissenschaft, die sie kritisiert: beide führen zu einem Relativismus: "So schlägt der Versuch fehl, die genealogische Geschichtsschreibung mit ihren eigenen Mitteln vor dem relativistischen Selbstdementi zu bewahren. Indem sich die Genealogie ihrer Herkunft aus der Allianz des gelehrten mit dem disqualifizierten Wissen innewird, findet sie nur bestätigt, daß die Geltungsansprüche von Gegendiskursen nicht mehr und nicht weniger zählen als die machthabenden Diskurse - auch sie sind nichts als die Machtwirkungen, die sie auslösen." 95 TPF FPT 3) Die Genealogie will durch eine streng deskriptive Beschreibung, anders gesagt, durch die Reduktion des Sollens auf das Sein eine wertfreie Geschichtsschreibung erreichen. Sie soll sich von der Parteilichkeit distanzieren, die darin besteht, bestimmten Diskursund Machtformen den Vorzug zu geben. Es gibt für Foucault deswegen keine 'richtige Seite'. Daß die Begründung einer Wertfreiheit an sich nicht wertfrei ist, zeigt sich aber nach Habermas schon in Foucaults engagierten gelehrten Abhandlungen. Er erinnert 94 PT A.a.O., S. 326f. TP TP 95 PT A.a.O., S. 330. 78 daran, daß sich Foucault als Dissident versteht, der dem modernen Denken und der humanistisch verkleideten Disziplinarmacht Widerstand leistet. 96 Seine Kritik an TPF FPT Foucault läßt sich also wie folgt zusammenzufassen: Habermas fragt sich erstens auf der formalen Ebene, ob nicht die Genealogie selbst, die die Machtformen, die den Diskursen zugrunde liegen, untersucht, genealogisch untersucht werden sollte, oder anders gesagt, ob sie nicht einer bestimmten Macht dient. Er kritisiert also den performativen Widerspruch der Genealogie: "Foucault gewinnt diesen Boden freilich nur dadurch, daß er im Hinblick auf seine eigene genealogische Geschichtschreibung nicht genealogisch denkt und die Herkunft unkenntlich macht." 97 TPF seines transzendental-historischen Machtbegriffs FPT Zweitens geht Habermas inhaltlich davon aus, daß sich die Subjektphilosophie durch den Begriff der Macht nicht überwinden läßt, weil dieser Begriff das "Repertoire der Bewußtseinsphilosophie selber" bloß wiederhole. 98 In der Bewußtseinsphilosophie kann TPF FPT das Subjekt nach Habermas nur zwei Beziehungen zum Objekt haben: erstens eine durch die Wahrheit von Urteilen bestimmte kognitive Beziehung, zweitens eine durch den Erfolg von Handlungen bestimmte praktische Beziehung. Die Macht ist hierbei bloß das Einwirken auf Objekte, um erfolgreich zu handeln. Die Wahrheit der Urteile, die in den Handlungsplan eingehen, ist also für die Bewußtseinsphilosophie eine entscheidende Bedingung für den Handlungserfolg. Foucault kehrt aber nach Habermas dieses Verhältnis von Wahrheit und Macht einfach um: anstelle von einer Abhängigkeit der Macht vom Wissen auszugehen, geht er lediglich von einer Abhängigkeit des Wissens von der Macht aus. 99 Bei dieser TPF FPT Umkehrung liegt immer noch das subjektphilosophische Paradigma zugrunde, bei dem es um die Trennung von Subjekt und Objekt und um die Subsumtion des einen unter das andere geht. Das ist der Grund, warum für Habermas der Begriff der Macht bei Foucault denselben Platz einnimmt wie der Begriff differánce bei Derrida, der dazu führt, daß die Grammatologie zu einer Ursprungsphilosophie bzw. zu einer subjektphilosophischen 96 PT Vgl. a.a.O., S. 331. TP 97 PT A.a.O., S. 316. TP 98 PT A.a.O., S. 322f. TP TP 99 PT Vgl. a.a.O., S. 323. 79 Metaphysik wird. 100 Die folgende Aussage ist das Resultat von Habermas' FoucaultTPF FPT Lektüre: "Die Genealogie ereilt ein ähnliches Schicksal wie jenes, das Foucault den Humanwissenschaften aus der Hand gelesen hatte. [...] Während die Humanwissenschaften, Foucaults Diagnose zufolge, der ironischen Bewegung szientischer Selbstbemächtigung nachgeben und in einem heillosen Objektivismus enden, besser: verenden, vollzieht sich an der genealogischen Geschichtsschreibung ein nicht minder ironisches Schicksal; sie folgt der Bewegung einer radikal historistischen Auslöschung des Subjekts und endet in heillosem Subjektivismus." 101 TPF 100 PT Vgl. a.a.O., S. 300. TP TP 101 PT A.a.O., S. 324. Hervorhebung im Original. 80 FPT III. Die Auseinandersetzung von Habermas mit Hegel und die Ansätze der Idee der Intersubjektivität Habermas betrachtet Hegel als den ersten Philosophen, der das Selbstverständnis der Moderne philosophisch reflektiert, d. h. die Problematik der Modernität bewußt untersucht hat, während andere Denker, wie z. B. Descartes und Kant, innerhalb des Rahmens der Moderne philosophiert haben.1 Hegel bezeichnet die Moderne als 'die Zeit TPF FPT der Entzweiung' des Ganzen oder des Lebens und sieht ihr philosophisches Prinzip im Begriff der 'Subjektivität'. Die moderne Philosophie überhaupt, die von diesem Prinzip ausgeht, ist nach Hegel deswegen nichts anderes als ein Produkt der entzweiten Moderne. Es ist daher nicht überraschend, daß Hegel nach der Wiederherstellung des Ganzen strebt 2 TPF FPT und sein erster Schritt zu dieser Wiederherstellung in der Auseinandersetzung mit dem liegt, was die Entzweiung hervorgebracht bzw. vertieft hat. Der junge Hegel nimmt an, daß die autoritären Systeme, wie z. B. die christliche Religion, und sogar noch die subjektzentrierte Vernunft, wie z. B. die praktische Vernunft Kants, Elemente sind, die das Leben als Ganzes zerstören. Es ist nicht erstaunlich, daß Habermas sich auf den jungen Hegel bezieht, weil er ebenfalls der Ansicht ist, daß das ursprüngliche Projekt der Moderne innerhalb des Rahmens der Moderne weitergeführt werden kann und soll. Er untersucht vor allem die Kritik des jungen Hegel an den 'autoritären Verkörperungen der subjektzentrierten Vernunft', weil er in dieser Kritik eine neue Form der Rationalität, d. h. die Möglichkeit der 'vereinigenden Macht einer Intersubjektivität', sieht, deren Begriff er zum Prinzip einer neuen Philosophie erhebt. Bevor im folgenden die Hegel-Lektüre von Habermas untersucht werden soll, wird zunächst das Anliegen des jungen Hegel dargestellt. 1 PT Vgl. PDM, S. 26f. TP TP 2 PT A.a.O., S. 377. 81 1. Die Anliegen des jungen Hegel: die Herstellung der Lebenstotalität Das Interesse des jungen Hegel konzentriert sich, wie gesagt, auf die Wiederherstellung des lebendigen Lebens, das nichts anderes als das 'vernünftige Zusammenleben' ist. Dies setzt voraus, daß die damalige Lebensform keine vernünftige Einheit bildet. Hegel bezieht sich dabei vor allem auf die Trennung zwischen dem privaten und öffentlichen Leben sowie auf den atomistischen Individualismus. Dieses gesellschaftlich-politische Interesse des jungen Hegel führt zuerst dazu, die gesellschaftlich-historischen Elemente ans Licht zu bringen, die das Leben zerstören. Seine Kritik an dem zerrissenen Leben konzentriert sich auf die Kritik an dem Christentum und an der Kantischen Ethik. Denn er sieht die Quelle dieser Zerstörung der Einheit des Lebens in dem christlichen Glauben und in der Kantischen Ethik, die eigentlich das Christentum überwinden wollte, weil beide die Zwei-Welten-Lehre voraussetzen: jenes den Himmel und die Erde, dieser das Sollen und das Sein. Also steht das frühe Denken Hegels, das sich in der Kritik der Positivität ausdrückt, im engen Zusammenhang mit der Wiederherstellung der Einheit des Lebens. 1.1. Die Kritik des jungen Hegel an der Positivität 1.1.1. Die Kritik an der positiven Religion Es ist ein Allgemeinplatz, daß die Problematik der Subjektivität, d. h. der Reflexion sowie der Freiheit des Menschen erst seit der Renaissance zum wichtigen Gegenstand der Philosophie wird. Dieses Urteil nimmt an, daß die Menschheit im christlichen Mittelalter in einer Art Knechtschaft gefangen war und daß das Christentum dabei eine entscheidende Rolle gespielt habe. Man geht dabei davon aus, daß beim Christentum nur Gott absolut frei ist und alle anderen Lebewesen inklusive des Menschen von ihm vollständig abhängig sind. Eben deswegen ist es nicht erstaunlich, daß die Moderne, die von der Selbständigkeit oder der Selbsttätigkeit des Menschen spricht, mit der Auseinandersetzung mit dem Christentum begonnen hat. Aus diesem Grund bezeichnete Max Weber den Modernisierungsvorgang 'Säkularisierungsprozeß'. Der junge Hegel steht in der Linie dieser Tradition: 82 als 'Entzauberungsvorgang' und "Ausser frühern Versuchen blieb es unsern Tagen vorzüglich aufbehalten, die Schäze, die an den Himmel verschleudert worden sind, als Eigentum der Menschen, wenigstens in der Theorie, zu vindiciren, aber welches Zeitalter wird die Kraft haben, dieses Recht geltend zu machen und sich in den Besiz zu setzen?" 3 TPF FPT In dieser Äußerung zeigt sich, daß auch Hegel ein Kind der Moderne ist, welche die Emanzipation des Menschen von der Autorität sowie der Knechtschaft einerseits und eine innerweltliche Einheit andererseits sucht. Nach Hegel, der, wie Spinoza und Hölderlin, von dem 'hen kai pan' (innerweltliche Einheit) ausgeht, spielt die ZweiWelten-Lehre des Christentums bei dem Problem der modernen Spaltung eine entscheidende Rolle. Von daher ist es nicht erstaunlich, daß er in jungen Jahren – wie viele andere Denker seiner Zeit auch – versucht, das Christentum zu überwinden. 'Positivität' gehört zu einem der wichtigsten kritischen Begriffe des jungen Hegel. Daß das Christentum auf einem 'positiven' Glauben basiert, ist der Kern seiner Kritik. Ursprünglich leitet sich 'positiv' von dem lateinischen ponere ab, das als 'setzen', 'stellen' oder 'legen' etc. übersetzt werden kann. 4 Dieses lateinische Wort wurde in zwei TPF FPT Bedeutungsrichtungen benutzt: Zum einen bedeutete es nicht das, was von Natur aus ist, sondern das, was durch Setzung oder Kunst konstituiert ist, zum anderen war es ein grammatischer Terminus, der eine nicht abgeleitete Wortform, z. B. die Grundform eines Adjektivs bezeichnet. In der Neuzeit wurde allerdings das Wort positivus vor allem in drei Bedeutungsrichtungen benutzt: Erstens bedeutete es constitutum, als Gegenbegriff zu naturalis, zweitens 'seiend' oder 'affirmativ', als Gegenbegriff zu negativus, und letztlich realis, als Gegenbegriff zu cogitatus. Hegel benutzt das Wort 'positiv' in seiner jüngeren Zeit vor allem in der ersten Bedeutungsrichtung: "eine positive Religion wird der natürlichen entgegengesetzt", 5 während er das Wort später in TPF der zweiten Bedeutung gebraucht. TPF 3 FPT PT G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 372. TP 4 PT Siehe J.-G. Blühdorn, Positiv, Positivität, in: HWPh, Bd. 7, Sp. 1106ff. TP 5 PT G. W. F. Hegel, Neufassung des Anfangs (1800), in: TW, Bd. 1, S. 217. TP 6 TP FPT 6 PT In der Logik steht das 'Positive' dem 'Negativen' gegenüber. Aber diese beiden Elemente bestimmt Hegel als eine Wesensbestimmung, die als Resultat der Selbstbewegung der Reflexion hervorgebracht wird, d. h. sie sind nichts anderes als "die selbständig gewordenen Seiten des Gegensatzes" oder "absolute Momente 83 Was den Begriff der Positivität betrifft, nennt Hegel den Glauben, der die Spaltung verursacht und verfestigt, oder besser gesagt, der nur eine falsche Einheit hervorruft, den 'positiven Glauben'. In einem Fragment von 1795/96, das von Nohl als Positivität der christlichen Religion betitelt wurde, sagt er über diesen Glauben: "Ein positiver Glauben, ist ein solches System von religiösen Säzen, das für uns deswegen Wahrheit haben soll, weil es uns geboten ist von einer Autorität […]. In diesem Begrif kommt vors erste ein System religiöser Säze, oder Wahrheiten vor, die, unabhängig von unserm Fürwahrhalten, als Wahrheiten angesehen werden sollen, die wenn sie auch keinem Menschen nie bekannt, von keinem Menschen nie für wahr gehalten worden wären, dennoch Wahrheiten blieben, und die insofern häufig objektive Wahrheiten genannt werden, - diese Wahrheiten nun sollen auch Wahrheiten für uns, subjektive Wahrheiten werden." 7 TPF FPT In einem anderen kurzen Fragment von 1797 sagt er weiter: "Positiv wird ein Glaube genannt, in dem das Praktische theoretisch vorhanden ist – das ursprünglich Subjektive nur als ein Objektives, eine Religion, die Vorstellungen von etwas Objektivem, das nicht subjektiv werden kann, als Prinzip des Lebens und der Handlungen aufstellt." 8 TPF FPT Der 'positive' Glaube ist also ein autoritärer Glaube, in welchem religiöse Gesetze als bloß objektives Wissen entleert und rein formalisiert werden und damit die subjektiven und praktischen Momente des Glaubens vollständig aufgehoben werden. 9 Aus diesem TPF FPT Grund identifiziert Hegel die positive Religion auch mit der 'objektiven' Religion, die sich der subjektiven Religion entgegensetzt. 10 Positivität kann daher, wie Lukács sagt, TPF FPT des Gegensatzes". (Hegel, GW, Bd. 11. Wissenschaft der Logik, F. Hogemann / W. Jaeschke (Hg.), S. 273.) Damit verschwindet die absolute Unabhängigkeit jedes Momentes. 7 PT G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 352. TP 8 PT G. W. F. Hegel, Entwürfe über Religion und Liebe (1797/1798), in: TW, Bd, 1, S. 239. TP TP 9 PT Siehe J.-G. Blühdorn / Ch. Jamme, Positiv,Positivität, in: HWPh, Bd. 7, Sp. 1112f. TP 10 PT Hegel vergleicht die subjektive Religion mit den Lebewesen in der Natur selbst, die objektive mit den ausgestopften Tieren im naturwissenschaftlichen Kabinett. Denn die objektive Religion läßt sich in ein 84 als "eine tote Objektivität" 11 definiert werden, in der keine subjektive Selbsttätigkeit und TPF FPT TP PT Freiheit, d. h. keine moralische Autonomie des Subjekts erlaubt wird. Eine der augenfälligsten Eigenschaften der positiven Religion ist nach Hegel, daß diese die "bürgerliche und politische Freiheit" des Menschen als "Koth gegen die himmlischen Güter und Genuß des Lebens" 12 verachtet. Hier liegt aber das Problem TPF FPT darin, daß das mangelnde Interesse dieser Religion für die Freiheit oder Knechtschaft eines Volkes und seiner Bürger zur Mißachtung der politisch gemeinsamen, d. h. republikanischen Idee und letztendlich zur stillschweigenden Zustimmung zum Despotismus führt. In diesem Sinne ist die positive Religion eine Privatreligion, die als öffentliche Religion ungeeignet ist. 13 Die positive Religion privatisiert also alle TPF FPT öffentlichen Beziehungen, d. h. sie reduziert alle bürgerlichen Verhältnisse höchstens auf die Brüderschaft. In diesen Verhältnissen herrscht nicht die heroische Handlung für die gemeinsame Idee vor, sondern die egozentrische für die eigenen Interessen gegenüber der Gesellschaft, und der Staat funktioniert bloß als eine "Staatsmaschine", die existiert, um die Interessen der Einzelnen zu sichern 14 : "nach Vertilgung aller TPF FPT politischen Freiheit [ist] alles Interesse an einem Staate […] verschwunden", und "der Zweck des Lebens [ist] nur auf Erwerbung des täglichen Brodtes mit mehrerer oder wenigerer Bequemlichkeit oder Überfluß […] eingeschränkt." 15 TPF FPT Hierbei ist auffällig, daß Hegel den Zweck der Religion auf die Politik bezieht. Er geht davon aus, daß der private Lebensbereich erst im Rahmen des öffentlichen Bereichs sinnvoll ist und die wahre Religion beide Faktoren des Lebens bzw. die Individualität System bringen, in einem Buche darstellen, während "subjektive Religion Lebendig [ist], Wirksamkeit im Innern des Wesen und Thätigkeit nach aussen." G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 88. 11 PT G. Lukács, Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie, Neuwied und Berlin TP 1967, S. 115. Dies ist der Grund, warum Lukács den Begriff der Positivität des jungen Hegel begriffsgeschichtlich nicht an den Begriff der Positivität des späten Hegel, welcher der Gegenbegriff der Negativität ist, sondern an den Begriff der 'Entäußerung' bzw. der 'Entfremdung' anschließt. 12 PT G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 182. TP 13 PT A.a.O., S. 138ff. TP 14 PT Siehe a.a.O., S. 369. In der Kritik des jungen Hegel an der christlichen Religion kann man deutlich den TP Einfluß Rousseaus erkennen. Nach Rousseau ist das Christentum eine Religion, welche das Entstehen eines zivilen und öffentlichen Geistes verhindert. Denn es faßte die Menschen vor allem als Kinder Gottes und deshalb mehr als Brüder einer himmlischen Heimat denn als Bürger einer Nation auf. Siehe R. Finelli, Mythos und Kritik der Formen. Die Jugend Hegels (1770-1803), Frankfurt/M., Berlin 2000, S. 80ff. TP 15 PT G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 376. 85 und die Allgemeinheit lebendig vereinigt. In seiner Frankfurter Zeit beschreibt Hegel vor diesem Hintergrund die Rolle der Religion wie folgt: "Dies Bedürfnis, das Subjektive und Objektive, die Empfindung und die Forderung derselben nach Gegenständen, den Verstand durch die Phantasie in einem Schönen, einem Gotte zu vereinigen, dies Bedürfnis, das höchste des menschlichen Geistes, ist der Trieb nach Religion." 16 TPF FPT Er sieht in der griechischen und frührömischen Religion eine Urform der wahren Religion. Die Vorzüge der griechischen und frührömischen Religion liegen nach ihm in deren Öffentlichkeit und in deren Versuch, innerweltliche Ideen zu realisieren, während bei der positiven christlichen Religion ein mangelndes Interesse für den öffentlichen Bereich und eine Flucht in die übernatürliche bzw. außervernünftige Welt vorhanden sei. Hegel bestimmt zu dieser Zeit das Prinzip der öffentlichen Religion wie folgt: "I. Ihre Lehren müssen auf der allgemeinen Vernunft gegründet seyn. II. Phantasie, Herz und Sinnlichkeit müssen dabei nicht leer ausgehen. III. Sie muß so beschaffen seyn, daß sich alle Bedürfnisse des Lebens – die öffentlichen StaatsHandlungen daran anschließen –" 17 TPF FPT Es ist bemerkenswert, daß er die Phantasie bzw. die Sinnlichkeit gleichberechtigt neben die Vernunft stellt. Daß das Christentum positiv ist, liegt somit daran, daß es nicht nur die Vernunft, sondern auch die freie Phantasie vollständig vernichtet, die von der Natur des Menschen entstanden ist. "Das Christenthum hat Walhalla entvölkert, die heiligen Hayne umgehauen, und die Phantasie des Volks als schändlichen Aberglauben, als ein teufelisches Gift ausgerottet und uns dafür die Phantasie eines Volks gegeben, dessen Klima dessen Gesezgebung, dessen Kultur, dessen Interesse uns fremd, dessen Geschichte mit uns in ganz und gar keiner Verbindung ist." 18 TPF 16 PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 406. TP 17 PT G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 103. TP 18 TP FPT PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 359. 86 Die Auseinandersetzung des jungen Hegel mit der positiven Religion erinnert uns an die Kritik Kants an der christlichen Religion. Im 3. und 4. Kapitel der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), das als erstes Werk Kants bekannt ist, für das sich Hegel begeistert hat, 19 verallgemeinert Kant die katholizismuskritischen Begriffe TPF FPT Luthers, wie z. B. 'Religionswahn', 'Fetischdienst oder -glauben', 'Tempeldienst', 'Pfaffentum' ect., um dann den sogenannten 'statutarischen' Glauben zu kritisieren. Dabei hat die Statutarität bei Kant fast denselben Sinn wie die Positivität des jungen Hegel. Die Kritik des jungen Hegel an der positiven Religion wiederholt in vielen Fällen bis ins kleinste die Kritik Kants an dem statutarischen Glauben. Aber diese Ähnlichkeit macht den jungen Hegel nicht zu einem Kantianer. 20 Zwar hat TPF FPT seine Auffassung der Religion eine Ähnlichkeit mit der Kantischen in dem Sinne, daß er den Inhalt der Religion in der Subjektivität, u.a. in der Moralität sieht, aber seine Kritik an der Positivität enthält etwas in sich, das sich mit der Kantischen Kritik nicht in Einklang bringen läßt. Dieser Unterschied wird später noch augenfälliger. Das Adjektiv 'kalt', das Hegel zu dieser Zeit häufig benutzt hat, wie es sich z. B. in den Äußerungen 'kalte Vernunft', 'kalte Erkenntnisse', 'kalter Verstand', 'kaltes Abstraktum', 'kaltes Nachdenken' sowie 'kalte Überzeugung' etc. vorkommt, zielt nicht nur auf das Christentum, sondern stillschweigend auch auf die Vernunftreligion Kants. Kant und der junge Hegel sind sich darin einig, daß die Fehler der christlichen Religion in einer "unerlaubten Verallgemeinerung eines Besonderen" liegt, 21 d. h. beim TPF FPT Christentum in dem Glauben an eine Person, Christus, nicht an das Allgemeine. Aber 19 PT Vgl. W. Kaufmann, Kant und die Religion, in: ders., Hegel. A Reinterpretation, Garden City, New TP York 1978. 20 PT Es herrscht in der Forschung Einigkeit darüber, daß der Berner Hegel (1793-96) auf der Linie des TP strengen Kantianismus stand und der Frankfurter Hegel (1797-1800) dagegen als ein starker Kantgegner angesehen wird. Als Beweis dafür wird angeführt, daß jener das Wesen der Religion in der Moralität sah, während dieser von der Idee des Lebens ausging. Aus dieser Perspektive wird ein radikaler Bruch zwischen dem Berner und dem Frankfurter Hegel behauptet. Siehe M. Bondeli, Vom Kantianismus zur Kantkritik. Der junge Hegel in Bern und Frankfurt, in: M. Bondeli / H. Linneweber-Lammerskitten (Hg.), Hegels Denkentwicklung in der Berner und Frankfurter Zeit, München 1999, S. 31-51. Es scheint mir allerdings viel plausibler zu sein, daß Hegel auch in seiner Berner Zeit, wie oben angedeutet, eine umfassendere Vernunftidee im Sinn hatte als Kant. Denn es darf nicht übersehen werden, daß nicht nur Kant, sondern auch Hölderlin, Goethe, Schiller etc. einen großen Einfluß auf den jungen Hegel ausgeübt haben. Zu dieser Problematik siehe das I. Kapitel von W. Kaufmann, Hegel. A Reinterpretation, a.a.O. TP 21 PT R. Finelli, Mythos und Kritik der Formen, a.a.O., S. 89. 87 während Kant von der Möglichkeit spricht, durch die Trennung der moralischen Lehre Jesu von der Person Jesu selbst bzw. durch die Entpersonalisierung des christlichen Glaubens diese Religion in eine Moralreligion umzuwandeln, geht Hegel nicht von dieser Möglichkeit aus. Aber noch wichtiger als dieser konkrete Unterschied zwischen ihnen ist, daß Kant den Bereich der Religion oder Moral von dem des Staates unterscheidet und jenen über diesen stellt, da es sich bei jenem Bereich um die Selbstbestimmung des Subjekts handelt, die die Selbständigkeit der Vernunft bedeutet. Im Gegensatz dazu kritisiert Hegel die Privatisierung der Religion als einen Verfall und als positiv. Dieser Unterschied zwischen Kant und Hegel hat nach Lukács seinen Grund in der Verschiedenheit des Subjektbegriffs 22 ; während es bei jenem um den Begriff des TPF FPT einzelnen Subjekts geht, geht es bei diesem um den des kollektiven Subjekts (z. B. Volk, Staat, Gemeinschaft etc.). Aus diesen unterschiedlichen Vorstellungen des Subjekts läßt sich erklären, warum Hegel kein Interesse für die Lehre vom radikal Bösen entwickelt hat, die einen Kern der Moralphilosophie Kants ausmacht. Für Kant ist die äußere Freiheit des Menschen nichts anderes als die "Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür". 23 Die innere Freiheit besteht darin, daß der Mensch, sofern er als TPF FPT moralisches Wesen dem Befehl der praktischen Vernunft folgt, frei ist. Im Gegensatz dazu bedeutet das Nachgeben des Willens gegenüber einem sinnlichen Reiz, anders gesagt, die Unterordnung der moralischen Ordnung der Beweggründe unter den Beweggrund der Eigenliebe und ihrer Neigungen für ihn nichts anderes als die Ablehnung der Freiheit. Gerade in der Möglichkeit, die Ordnung der Beweggründe zu verkehren, also in der formal-transzendentalen Bedingung der Verwirklichung jeder unmoralischer Tatsache, liegt der Hang zum Bösen. Kant betrachtet also dieses Böse als einen angeborenen und natürlichen Hang des Menschen, von der Befolgung des Moralgesetzes abzusehen. 22 PT Lukács sagt in diesem Kontext folgendes: "Wir müssen aber darauf aufmerksam machen, daß das TP Subjekt, das Hegel eigentlich meint, nicht mit dem Kantischen moralischen Subjekt identisch ist; es ist vielmehr stets etwas Gesellschaftlich-Geschichtliches. […] Denn der Inhalt seiner Konzeption […] ist der Zusammenfall von moralischer Autonomie des einzelnen Subjekts mit der demokratischen Kollektivität des ganzen Volkes." G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., S. 53. In demselben Sinne betont Günter Schulte, daß "das Rätsel der singulären und unauffindbaren Subjektivität" bei Kant entscheidend sei. G. Schulte, Immanuel Kant, Frankfurt/M. 1991, S. 10. TP 23 PT I. Kant, Die drei Kritiken in ihrem Zusammenhang mit dem Gesamtwerk, zsgf. von R. Schmidt, Stuttgart 1975, S. 392. 88 Dagegen vertritt Hegel, wie Rousseau, die Meinung, daß das Böse nicht im Inneren bzw. in der Natur der Menschen wohnt, sondern vor allem von den politischen und kulturellen Einrichtungen hervorgerufen wird, welche falsche Autoritäten und Hierarchien erzeugen. 24 Dieser Gedanke ergibt sich eben daraus, daß er sich nicht nur TPF FPT auf den einzelnen Menschen als Subjekt, sondern vielmehr auf ein Volk als Ganzes bezieht. Er betrachtet also das Böse nicht als anthropologisches oder psychisches Element, sondern als gesellschaftliches und historisches Phänomen. Dies bedeutet, daß er das Problem nicht in der Wahl zwischen dem Bösen und dem Guten, zwischen der Willkür und der sie transzendierenden Fähigkeit der Vernunft sieht, sondern in den geschichtlichen Ereignissen eines Volkes. Dies ist der Grund, warum Hegel den historischen Vorgang untersucht, wie ein politisches, kulturelles System objektiviert worden ist, bzw. wie eine positive Autorität (z. B. einer Religion) entstanden ist. 25 TPF FPT Von daher ist es nicht einfach, den jungen Hegel in der Kantischen Tradition zu deuten. 26 Ein Grund dafür liegt m. E. darin, daß der Ausgangspunkt des Denkens des TPF FPT jungen Hegel sein Interesse an der politisch-gesellschaftlichen Reform oder an der Revolution war und nicht ein Interesse an der reinen Philosophie. Es ist bekannt, daß sich Hegel für die Französische Revolution sehr begeistert und zeit seines Lebens mit 24 Rousseau geht davon aus, daß das Böse im Menschen nicht dieselbe Substanz ist und deswegen nicht TP PT denselben Wert hat, wie die 'natürliche Güte'. Es gehört nicht zum Wesen des Menschen, sondern nur zu seinen möglichen Beziehungen in der Gesellschaft und in der Geschichte. Jean-Jacques Rousseau, Lettere a C. de Beaumont, in: Euveres complètes, Paris 1964, IV, S. 967. Siehe zu den verschiedenen Aspekten des Verhältnisses zwischen Rousseau und Hegel H.F. Fulda / R.-P. Horstmann (Hg.), Rousseau, die Revolution und der junge Hegel, Stuttgart 1991. 25 TP PT Hegel behandelt dieses Thema besonders in dem Fragment Unterschied zwischen griechischer Phantasie und christlicher positiver Religion von 1796: "Die Verdrängung der heidnischen Religion durch die christliche ist eine von den wunderbaren Revolutionen, deren Ursachen aufzusuchen den denkenden Geschichtsforscher beschäftigen muß. Den grossen, in die Augen fallenden Revolutionen muß vorher eine stille, geheime Revolution in dem Geiste des Zeitalters vorausgegangen seyn, die nicht jedem Auge sichtbar, am wenigsten für die Zeitgenossen beobachtbar und ebenso schwer mit Worten darzustellen, als aufzufaßen ist. Die Unbekanntschaft mit diesen Revolutionen in der Geisterwelt macht dann das Resultat anstaunen." G. W. F. Hegel, GW, Bd.1, S. 365f. 26 TP PT Nach Semplici hat der junge Hegel trotz seiner Kantischen Überzeugungen wegen seiner Erkenntnis des radikalen Bösen schon in seiner frühen Zeit eine Rousseausche Neigung: "Mit der Zurückweisung der Theorie des radikalen Bösen nähert sich Hegels Jesus mehr der Profession als der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft an". S. Semplici, Das Leben Jesu und das Problem des Bösen: Kant oder Rousseau?, in: H.F. Fulda / R.-P. Horstmann (Hg.), Rousseau, die Revolution und der junge Hegel, a.a.O., S. 139. 89 ihrer philosophischen Deutung beschäftigt hat. 27 Der junge Hegel hat in dieser TPF FPT Revolution den Anfang des realen Endes der christlichen dualistischen Welt einerseits und die Möglichkeit der Verwirklichung des aufklärisch-demokratischen Ideals andererseits gesehen. Aus diesem Grund hat er, wie gesagt, die Überwindung des Christentums als ersten Schritt für sein wissenschaftliches Ziel angesehen. Seine Kritik am Christentum zeichnet sich daher durch die bewußte Übereinstimmung mit allen Lehren aus, die sich im Rahmen des Säkularisierungsprozesses mit der christlichen Religion auseinandergesetzt haben. Dies zeigt sich darin, daß seine alternativen Religionsbegriffe, wie z. B. 'Volksreligion' 28 , 'Vernunft- oder Moralreligion', 'natürliche TPF FPT Religion' sowie 'schöne Religion', trotz ihrer verschiedenen philosophischen Kontexte für ihn jeweils nur als andere Namen für die subjektive Religion fungieren, die im Gegensatz zur objektiven oder positiven Religion steht.29 Hegel nimmt also zu dieser TPF FPT Zeit die bereits weit fortgeschrittene ausdifferenzierte Entwicklung der Säkularisierung 27 PT Die Äußerungen der Hegelforscher über das Verhältnis des jungen Hegel zur Französischen Revolution TP sind folgende: Lukács geht davon aus, daß die "tiefste Quelle" seiner Ablehnung der positiven Religion in "seiner Begeisterung für die Revolution" liege, Hegels Gedanken sich "auf der Grundlage der Entwicklungen der Französischen Revolution" entwickelt hätten und er "sein ganzes Leben lang unerschütterlich an dem Gedanken der historischen Notwendigkeit dieser Revolution" festgehalten habe. G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., S. 44f. Nach Ritter ist Hegels Philosophie "bis in ihre innersten Antriebe hinein Philosophie der Revolution". J. Ritter, Hegel und die Französische Revolution, in: ders., Metaphysik und Politik, Frankfurt/M. 1977, S. 209. Habermas zufolge hat Hegel "die Revolution zum Prinzip seiner Philosophie" erhoben. J. Habermas, Hegels Kritik der Französischen Revolution, in: ders., Theorie und Praxis, Frankfurt/M. 1971, S. 128. Pöggeler sieht Hegels "System als die entscheidende Antwort auf die Revolution" an. J. Pöggeler, philosophie und revolution beim jungen hegel, in: Enciclopedia 72, Arti Grafice Marchesi-Roma 1971, S. 229. 28 PT Herder versucht den starren Gegensatz zwischen natürlicher und positiver Religion zu überwinden. Die TP wahre reformierte Religion müsse sowohl eine natürliche Religion als auch eine Völkerreligion und eine Religion der Erfahrung sein. Siehe W. Jaeschke, Religion, in: HWPh, Bd. 8, Sp. 673ff. TP 29 PT Der Begriff der 'Volksreligion' stammt insbesondere aus der Herderschen, der der 'Vernunftreligion' aus der Kantischen, der der 'natürlichen Religion' aus der Rousseauschen und der der 'schönen Religion' aus der Schillerschen Religionsphilosophie. Dies ist der Grund, warum es nicht einfach ist, zu entscheiden, in welcher philosophischen Tradition Hegel steht. Während man ihn häufig in die rationalistische Tradition eingeordnet, deutet ihn z. B. N. Hartmann vor dem Hintergrund einer irrationalistischen Tradition: "Man könnte hier mit vollem Recht von einer tiefen Irrationalität der Hegelschen Begriffe sprechen. […], so könnte man mit größerem Recht vom Irrationalismus sprechen als von seinem Rationalismus." N. Hartmann, Die Philosophie des Deutschen Idealismus, Berlin, New York 1974, S. 255. R. Kroner geht noch viel weiter, wenn er schreibt: "Hegel ist ohne Zweifel der größte Irrationalist, den die Geschichte der Philosophie kennt." R. Kroner, Von Kant bis Hegel, Bd. 2, Tübingen 1977, S. 271. 90 der Religion nicht ausreichend zur Kenntnis, wohingegen Kant der Säkularisierung der Religion eine entgültig rationalistische Form (Vernunftreligion) gegeben hat. In seiner weiteren philosophischen Entwicklung wird jedoch seine Position differenzierter. Es ist daher kein Zufall, daß er zunächst auch die Kantische Moralphilosophie überwinden wollte. In seiner Frankfurter Zeit setzt er sich nicht nur mit dem Christentum, sondern auch zum ersten Mal ausdrücklich mit der Kantischen Philosophie auseinander. 1.1.2. Die Kritik an der positiven Moralphilosophie Kants In seiner Frankfurter Schrift Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1798/1800) zielt Hegel auf eine grundsätzliche Kritik an dem Christentum, da es dessen Schicksal sei, keine wahre Einheit des Lebens erreichen zu können. Außerdem setzt er sich an vielen Stellen dieser Schrift bewußt mit der Kantischen Ethik auseinander und kommt zu dem Schluß, daß diese sogar dem Christentum unterlegen sei. Die Kantische Ethik war zu seiner Zeit einer der wichtigsten philosophischen Diskurse, und sie ist nach Hegel die Aufhebung des Christentums. Hegel versucht in dieser Schrift den Geist dieser Ethik und deren Wesen zu erfassen. Hegel hält das Judentum für eine Urform der Positivität insofern, als es die moralische Autonomie des Subjekts vollständig vernichte und sich nur um die Kategorie der Legalität bewege, die in der "Befolgung des Buchstabens des Gesezes" 30 besteht. Kant TPF FPT ersetzt diese Kategorie durch den Begriff der Moralität, um die Selbstbestimmung des Subjekts wiederherstellen zu können. Hegel fragt sich aber, ob die Kantische Moralität eine Beendigung der Legalität sein kann. Diese Kritik geht von dem Gedanken aus, daß die Kantische Ethik bloß ein Spiegel ihrer Zeit sei, die sich durch den atomistischen Individualismus auszeichne, der für Hegel ein Symbol der entzweiten Gesellschaft ist. Mit anderen Worten bestätigt auch die Kantische Moralphilosophie diese Entzweiung und erhebt sie sogar zum Prinzip der Philosophie. Mit welchen Punkten der Kantischen Ethik setzt sich Hegel auseinander? Kant entwickelt den kategorischen Imperativ, das höchste Moralgesetz, indem er das Urteilskriterium für die moralische Rechtfertigung in der Vereinbarkeit der Handlungsmaximen der einzelnen Menschen findet. Er konstruiert also in der rein geistigen Sphäre des kategorischen Imperativs "ein Idealbild der modernen TP 30 PT G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 284. 91 Gesellschaft", 31 in dem die bedingungslose Hingabe an die geistige, nicht mehr der TPF FPT Welt der Phänomene angehörende Pflicht konfliktfrei und harmonisch funktioniert. Alle Gegensätze und Widersprüche in der modernen Gesellschaft reduzieren sich nun auf den Gegensatz des sinnlichen und des moralischen Menschen, des 'homo phaenomenon' und 'homo noumenon'. Wenn das Leben des Menschen vollkommen den Forderungen des Sittengesetzes entsprechen würde, würde es in der Gesellschaft keinerlei Konflikte oder Widersprüche geben. Die philosophische Konzeption dieser moralischen Sphäre wird nur dadurch möglich, daß alle moralischen Probleme der modernen Gesellschaft in formale Forderungen der praktischen Vernunft umgewandelt werden. Dieser Gedanke setzt die Allgemeinheit der Moral voraus, die für Kant das Hinausgehen des Sollens oder des Befehls der praktischen Vernunft über das individuelle und zufällige Bewußtsein bedeutet. Aber nach Hegel drücke die Kantische Ethik nichts anderes aus als eine gewaltsame Herrschaft einer leeren und abstrakten Allgemeinheit gegenüber der alltäglichen Erfahrung des Individuums, weil jene Allgemeinheit, die nur innerhalb des Bereichs des von der Wirklichkeit abstrahierten Denkens möglich ist, sich auch in der Realität durchsetzen wolle. Das Thema der Kollisionen der Pflichten zeigt dieses Problem sehr deutlich. Kant spricht von einer harmonischen Welt, in der der Widerstreit der Pflichten nicht entsteht: "Ein Widerstreit der Pflichten [...] würde das Verhältnis derselben sein, durch welches eine derselben die andere [ganz oder zum Teil] aufhöbe. - Da aber Pflicht und Verbindlichkeit überhaupt Begriffe sind, welche die objektive praktische Notwendigkeit gewisser Handlungen ausdrücken und zwei einander entgegengesetzte Regeln nicht zugleich notwendig sein können, sondern, wenn nach einer derselben zu handeln es Pflicht ist, so ist nach der entgegengesetzten zu handeln nicht allein keine Pflicht, sondern sogar pflichtwidrig: so ist eine Verbindlichkeiten gar nicht denkbar." TPF 31 Kollision von Pflichten und 32 FPT PT Siehe zur 'ethischen Gesellschaft' Kants I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen TP Vernunft, K. Vorländer (Hg.), Hamburg 1990, S. 101ff. TP 32 PT I. Kant: Metaphysik der Sitten, K. Vorländer (Hg.), Hamburg 1959, S. 27. Ähnlich äußert sich auch Fichte zu dieser Frage. Er betrachtet das Problem konkreter als Kant, indem er nicht mehr von einer Kollision der Pflichten überhaupt, sondern von der Kollision zwischen den Verpflichtungen der Menschen sich selbst und anderen gegenüber spricht. Es ist aber ersichtlich, daß dies nur eine etwas 92 Hegel hält die Kantische Moralphilosophie, die nur innerhalb des rein geistigen Gebietes gilt und daher nicht auf den realen Widerstreit der Pflichten antworten kann, für eine formalistische Morallehre. Er steht dagegen in der Denktradition, die die Unumgänglichkeit der gesellschaftlichen Konflikte anerkennt und sogar diese als Beweggründe des Lebens ansieht. Er betrachtet die formalistische Morallehre Kants als eine Degradierung der realen Notwendigkeit zu einer Zufälligkeit. 33 Hegel geht also TPF FPT davon aus, daß die wirklichen Forderungen der Moral einander widerstreiten können und daher der Widerspruch in der Gesellschaft oder der Widerstreit zwischen Menschen als substantiell anerkannt werden muß. Den Moralisten, der nicht nur die lebendige Wirklichkeit nicht erklären kann, sondern sie versteinert, nennt Hegel den spekulativen Moralist, dessen Eigenschaften er wie folgt beschreibt: "Der spekulative Moralist […] macht eine philosophische Beschreibung der Tugend, - seine Beschreibung muß deduziert, es muß [in] ihr kein Widerspruch sein; eine Beschreibung einer Sache ist immer die vorgestellte andere Formulierung desselben Problems ist, und Fichte gelangt dabei sachlich zu genau demselben Resultat wie Kant: "Es ist kein Widerstreit zwischen der Freiheit vernünftiger Wesen überhaupt: d. h. es widerspricht sich nicht, daß mehrere in derselben Sinneswelt frei seien. [...] Ein Widerstreit nicht zwischen dem Freisein überhaupt, sondern zwischen bestimmten freien Handlungen vernünftiger Wesen entsteht nur dadurch, daß einer seine Freiheit rechts- und pflichtwidrig, zur Unterdrückung der Freiheit eines anderen gebrauche." J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre (1798), Hamburg 1963, §24, S. 297. TP 33 PT Aus diesem Grund ist die Auffassung von Lukács über die Positionsdifferenz zwischen Kant und Hegel m. E. völlig richtig: "Der Gegensatz zwischen Kant und Hegel besteht [...] darin, daß Kant die gesellschaftlichen Inhalte der Moral ununtersucht läßt, sie ohne historische Kritik hinnimmt und aus den formalen Kriterien des Pflichtbegriffs, aus der Übereinstimmung des Inhalts des Imperativs mit sich selbst die moralischen Forderungen abzuleiten versucht, während für Hegel jede einzelne moralische Forderung nur einen Teil, nur ein Moment eines lebendigen, sich in ständiger Bewegung befindlichen gesellschaftlichen Ganzen bildet. Für Kant stehen also die einzelnen Gebote der Moral isoliert nebeneinander, als angeblich zwingende logische Folgen eines einheitlichen überhistorischen und übergesellschaftlichen Vernunftprinzips; für Hegel sind sie Momente eines dialektischen Prozesses, die in diesem Prozeß miteinander in Widerspruch geraten, durch das lebendige Wechselspiel dieser Widersprüche einander gegenseitig aufheben, im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung absterben oder in veränderter Form und mit verändertem Inhalt wieder auftauchen." G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., S. 207f. 93 Sache; hält er diese Vorstellung, den Begriff, an das Lebendige, so sagt er, das Lebendige soll so sein, - zwischen dem Begriff und der Modifikation eines Lebendigen soll kein Widerspruch sein als der allein, daß jener ein Gedachtes, dieses ein Seiendes ist. Eine Tugend in der Spekulation allein ist, und ist notwendig, d. h. ihr Begriff und das Gegenteil kann nicht sein, es ist keine Veränderung, kein Erwerb, kein Entstehen, kein Vergehen in ihr als Begriff; aber dieser Begriff mit dem Lebendigen zusammengehalten soll sein - die Tugend als Modifikation des Lebendigen ist entweder, oder ist auch nicht, kann entstehen und vergehen. Der spekulative Moralist kann sich also wohl hinreißen lassen, in eine warme Betrachtung des Tugendhaften und des Lasterhaften zu verfallen; aber seine Sache ist eigentlich nur, mit dem Lebendigen den Krieg [zu] führen, gegen dasselbe zu polemisieren, oder nur ganz kalt seine Begriffe zu kalkulieren." 34 TPF FPT Das Problem ist, daß der Moralist, wie Kant, jedes gesellschaftliche Verhältnis auf das Paradigma von Pflichterfüllung oder –verletzung bzw. das gesellschaftliche Leben des Menschen auf den Kampf des vernunftmäßig Moralischen gegen das bloß Sinnliche bezieht und daher den Reichtum des Lebens und dessen Vielfältigkeit nicht begreifen kann. "Ein Mann, der den Menschen in seiner Ganzheit wiederherstellen wollte, konnte einen solchen Weg unmöglich einschlagen, der der Zerrissenheit des Menschen nur einen hartsinnigen Dünkel zugesellt. Im Geiste der Gesetze handeln konnte ihm nicht heißen, aus Achtung für die Pflicht mit Widerspruch der Neigungen handeln." 35 TPF FPT Die Moralität Kants, die von der Entgegensetzung zwischen Pflicht und Neigung, dem Geistigen und dem Sinnlichen oder dem Sollen und dem Sein ausgeht, führt letztlich zur Herrschaft des ersten über das zweite, d. h. zur "Unterjochung des Einzelnen unter das Allgemeine" bzw. zum "Sieg des Allgemeinen über sein entgegengesetztes Einzelnes." 36 Bei der Kantischen Ethik ist der Mensch bloß "Sklave gegen einen TPF 34 PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 337. Hervorhebung im Original. TP 35 PT A.a.O., S. 324. TP 36 TP FPT PT G. W. F. Hegel, Grundkonzept zum Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 299. 94 Tyrannen, und zugleich Tyrann gegen Sklaven." 37 Insofern sie "die Form des TPF FPT Gesetzes" 38 in sich enthält oder sich von der Herrschaftsstruktur nicht befreit, kann sie TPF FPT die Positivität nicht überwinden, weil die Gesetze, seien es bürgerliche oder moralische, "natürliche Beziehungen des Menschen in der Form von Geboten ausdrücken." 39 Hegel TPF FPT widerspricht daher der Kantischen Ethik entschieden: "Durch diesen Gang ist aber die Positivität nur zum Teil weggenommen [denn das Pflichtgebot ist eine Allgemeinheit, die dem Besonderen entgegengesetzt bleibt, und dieses ist das Unterdrückte, wenn sie herrscht. (von Hegel gestrichen)]; und zwischen dem tungusischen Schamanen […] und dem seinem Pflichtgebot Gehorchenden ist nicht der Unterschied, daß jene sich zu Knechten machten, dieser frei wäre; sondern daß jener den Herrn außer sich, dieser aber den Herrn in sich trägt, zugleich aber sein eigener Knecht ist; für das Besondere, Triebe, Neigungen, pathologische Liebe, Sinnlichkeit, oder wie man es nennt, ist das Allgemeine notwendig und ewig ein Fremdes, ein Objektives; es bleibt eine unzerstörbare Positivität übrig, die vollends dadurch empörend wird, daß der Inhalt, den das allgemeine Pflichtgebot erhält, eine bestimmte Pflicht, den Widerspruch eingeschränkt und allgemein zugleich zu sein enthält und um der Form der Allgemeinheit willen für ihre Einseitigkeit die härtesten Prätentionen macht. Wehe den menschlichen Beziehungen, die nicht gerade im Begriff der Pflicht sich finden, der, sowie er nicht bloß der leere Gedanke der Allgemeinheit ist, sondern in einer Handlung sich darstellen soll, alle anderen Beziehungen ausschließt oder beherrscht." 40 TPF FPT Die Grenze der Kantischen Ethik liegt also darin, daß diese nicht den lebendigen Menschen berücksichtigt, sondern die Moral für den lebendigen Menschen zu etwas Totem macht, indem sie das wirkliche Leben aus der Ethik ausschließt und es durch lebensfremde Gebote unterjocht, und daß sie den Menschen infolgedessen nur als einen "Geizigen" behandelt, "der sich immer Mittel zusammenscharrt und bewahrt, ohne je zu genießen." 41 TPF 37 PT A.a.O., S. 302. TP 38 PT A.a.O., S. 338. TP 39 PT A.a.O., S. 321. TP 40 PT A.a.O., S. 323. TP 41 TP FPT PT A.a.O., S. 307f. 95 In der Frankfurter Zeit steht die Auseinandersetzung Hegels mit der Kantischen Ethik, die in seiner Berner Zeit keine zentrale Rolle gespielt hat, im Vordergrund. Diese auf die Ethik beschränkte Kritik erweitert sich allerdings in der Jenenser Zeit zu einer Polemik gegen die Kantische Philosophie überhaupt. Diese Polemik kommt in der Kritik der sogenannten Reflexionsphilosophie zum Ausdruck, die eigentlich in einer Zeitkritik besteht. 1.2. Die Kritik des jungen Hegel an der Reflexionsphilosophie Die Jenaer Schriften Hegels werden in der Gegenwart besonders stark rezipiert, weil sie systematischer sind als seine früheren Werke und konkreter als seine späteren Werke, so daß man durch diese Schriften sowohl den historischen Entwicklungsprozeß seiner Gedanken als auch die Darstellungen des späten Hegels besser verstehen kann. Besonders wichtig sind Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (1801), Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie (1802), System der Sittlichkeit (1802/3), Ueber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschaften (1803) und Jenenser Systementwürfe I, II (1803/4, 1805/6). In den ersten beiden Schriften, auf die ich mich hier beschränken werde, übt Hegel eine umfangreiche und systematische Kritik an der sogenannten Reflexionsphilosophie. Hegel geht davon aus, daß der Mensch erst mit der Moderne als das aus sich heraus denkende und handelnde Subjekt auf der Bühne der Geschichte erscheint, d. h. daß seiner Ansicht nach die Subjektivität in der Moderne zum Prinzip nicht nur der Philosophie, sondern auch der gesamten Lebenswelt wurde. Die Selbstbeziehung in der Erkenntnis (Reflexion) und die Selbstbestimmung in dem Handeln (Freiheit) gehören zu den wesentlichen Bestimmungen der Subjektivität. Er sieht aber die Grenze der modernen Philosophie in deren erkenntnistheoretischem Schema. Im Prozeß der Säkularisierung das Erkenntnisvermögen des Menschen zu untersuchen scheint unentbehrlich zu sein. Die Erkenntnis setzt einerseits die Trennung von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt voraus. Andererseits ist sie ein Vermögen, das Objekt ins Subjekt aufzunehmen und dadurch zu bearbeiten und zu 96 'versubjektivieren', d. h. das erkennende Subjekt kehrt in der Reflexion auf ein Objekt zugleich wieder zu sich zurück. Also handelt es sich beim Erkennen um die absolute Trennung zwischen Subjekt und Objekt einerseits und um die absolute Abhängigkeit des Objektes vom Subjekt andererseits. Das erkennende Subjekt ist zwar endlich, da es außer sich das Objekt hat, aber es verabsolutiert sich selbst in dem Sinne, daß es das Objekt bearbeitet und subjektiviert. Gerade in dieser erkenntnistheoretischen Wende besteht das Hauptmerkmal der modernen Philosophie. Allerdings ist es problematisch, die Erkenntnistheorie zur Philosophie überhaupt zu erweitern. Der Jenenser Hegel kritisiert diese Erweiterung unter dem Namen der 'Reflexionsphilosophie'. Der Kern seiner Kritik an dieser Philosophie besteht darin, daß diese, wie die Erkenntnistheorie, nur im 'Vorhof der Philosophie' bleibe, weil sie dem leeren S-O-Schema verhaftet sei. Von daher ließen sich in ihr die Selbstbeweglichkeit und die unendliche Geistigkeit des Objektes niemals begreifen. 'Reflexion' ist ein Terminus aus der Optik und meint eigentlich 'zurückbeugen'. Er wurde später im philosophischen sowie umgangssprachlichen Bereich mit der Metapher des Sich-Spiegelns, d. h. mit der Selbsterkenntnis und mit dem Selbstbewußtsein, verbunden. 42 Bei der modernen Philosophie, die die Subjektivität als Prinzip hat, geht es TPF FPT bei der Reflexion um die Struktur der Selbstbeziehung des erkennenden Subjekts, das sich auf sich als Objekt 'zurückbeugt', um sich wie in einem Spiegelbild zu begreifen. Das erkennende Subjekt zeichnet sich durch die Selbstverabsolutierung des endlichen Subjekts aus und kann daher von Natur aus die geistige Unendlichkeit des Gegenstandes nicht begreifen; vielmehr sieht es im Gegenstand nur eine endliche Dinglichkeit. Dies bedeutet bei Hegel folgendes: "Es ist gerade durch ihre Flucht vor dem Endlichen, und das Festseyn der Subjectivität, wodurch ihr das Schöne zu Dingen überhaupt, der Hayn zu Hölzern, die Bilder zu Dingen, welche Augen haben und nicht sehen, Ohren, und nicht hören und, wenn die Ideale nicht in der völlig verständigen Realität genommen werden können als Klötze und Steine, zu Erdichtungen werden, und jede Beziehung auf sie als wesenloses Spiel oder als Abhängigkeit von Objecten und als Aberglauben erscheint." 43 TPF 42 TP L. Zahn, Reflexion, in: HWPh, Bd. 8, Sp. 396ff. PT 43 TP FPT PT G. W. F. Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Katische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie, in: GW, Bd. 4, 97 Die Reflexionsphilosophie, die ihre Geltung nur im Rahmen der Erkenntnistheorie haben könnte, besteht daher im 'endlichen Erkennen von Endlichkeiten'. Hegel hält sie daher für einen "Idealismus des Endlichen", 44 der niemals eine lebendige, d. h. geistige TPF FPT und unendliche Einheit zwischen Subjekt und Objekt bzw. Endlichem und Unendlichem hervorbringen könne. Er hält vor allem den subjektiven Idealismus von Kant und Fichte für ein typisches Muster dieser Philosophie. Subjektiver Idealismus wird, wie auch in der Logik, als eine Vorstellung definiert, "als ob im Gegenstand nichts sey, was nicht in ihn hineingelegt werde", so daß man "in der Analyse die Thätigkeit des Erkennens allein für einseitiges Setzen nimmt, jenseits dessen das Ding-an-sich verborgen bleibt." 45 Die Objektivität TPF FPT der Dinge wird bei Kant nur durch die Kategorien des Verstandes sowie die Anschauung der Sinnlichkeit, d. h. durch das endliche Subjekt, garantiert. Diese Vorstellung setzt eine epistemologische Gewißheit voraus, daß das Subjekt der einzige Schöpfer der phänomenalen Welt ist und diese Welt durch das transzendentale Ich konstruiert wird; die Erkenntnis wird hier durch die Anwendung der transzendental bestimmten Schemata auf die Gegenstände erzeugt; die objektive Welt ist nichts anderes als ein Produkt des Monologs des transzendentalen Subjekts, d. h. ein von der Selbstbeziehung des Subjekts Hervorgebrachtes. Von daher ist das Objekt für das Subjekt bloß "ein subjektives Subjektobjekt". 46 Die Objekt-Erkenntnis ist letztlich TPF FPT nichts anderes als die Selbsterkenntnis des Subjekts. Auch Fichte überwindet nach Hegel den Kantischen Idealismus nicht, weil auch bei ihm die Einheit der Welt nur innerhalb des reinen Bewußtseins konstituiert wird. Dies drückt sich nach Hegel bei Fichte so aus, "daß die höchste Synthese, die das System aufzeigt, ein Sollen ist." 47 Das Ich "producirt in dem unendlichen Progreß des verlängerten TPF FPT Daseyns endlos Theile von sich, aber nicht sich selbst in der Ewigkeit des sich selbst Jenaer Kritische Schriften, H. Buchner / O. Pöggeler (Hg.), Hamburg 1968, (=Glauben und Wissen) S. 317. 44 PT A.a.O., S. 322. TP 45 PT G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik II, Die subjektive Logik, in: GW, Bd. 12, F. Hoggemann / W. TP Jaeschke (Hg.), Hamburg 1981, S. 203. 46 PT G. W. F. Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, in: GW, Bd. TP 4, a.a.O., (=Differenzschrift), S. 6f. TP 47 PT A.a.O., S. 45. 98 Anschauens als Subjekt-Objekt." 48 Das Nicht-Ich bzw. die Natur hängt vollständig von TPF FPT der Setzung des Ich ab. Das Setzen eines Objekts verwandelt sich aber "in ein - der freyen Thätigkeit absolut entgegensetztes – sich selbst beschränken." 49 Die Natur, die TPF FPT vom absoluten Ich gesetzt wird, ist bei Fichte nichts anderes als etwas Totes, das keine eigenen Beweggründe besitzt. Diese erkenntnistheoretische Struktur liegt auch seiner praktischen Philosophie zugrunde. Bei der praktisch-philosophischen Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft z. B. erscheint die Gesellschaft nur als ein Gegenstand, der keine eigenen Beweggründe hat und sogar die Freiheit des Menschen verhindert, welche ein zentrales Thema seiner Philosophie ist. Für Fichte, der mit dem Begriff der absoluten Ich-Identität eine 'Philosophie der Freiheit' entwirft, ist die Freiheit des Menschen außerhalb der Gesellschaft, d. h. nur innerhalb des Willens des Menschen möglich. Derartige Gesellschaftskonzeptionen, die – wie Fichte – einen solchen atomistischen Ausgangspunkt haben, kritisiert Hegel wie folgt: 50 TPF FPT "Wenn die Gemeinschaft der Vernunftwesen wesentlich ein Beschränken der wahren Freyheit wäre, so würde sie an und für sich die höchste Tyrannei seyn." 51 TPF FPT Bei dem subjektiven Idealismus, dessen Ausgangspunkt das endliche Einzelne als Subjekt ist, scheint der Kampf zwischen dem die Freiheit suchenden Ich und der sie beschränkenden Gesellschaft daher unvermeidbar zu sein. Ein solcher Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft ist nach Hegel eine notwendige Folge, wenn die moderne Subjektivität zum Prinzip der Philosophie erhoben wird, weil diese "isolierte Reflexion" 52 ein Prinzip der Entzweiung darstellt. TPF FPT Hegel geht allerdings davon aus, daß die Erhebung der isolierten Reflexion oder der Subjektivität zum Prinzip der Philosophie Ausdruck einer entzweiten Zeit ist. Er hält die Subjektivität also nicht nur für das Prinzip des subjektiven Idealismus, sondern auch für 48 A.a.O., S. 48. TP PT 49 Ebd. TP PT 50 TP PT Darin, daß Hegel eine kollektive Gesellschaftskonzeption hat, während Hobbes und Fichte eine atomistische haben, sieht Honneth einen entscheidenden Unterschied zwischen beiden Positionen. Vgl. A. Honneth, Kampf um Anerkennung, a.a.O., besonders das 1. Kapitel. 51 PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 55. TP TP 52 PT A.a.O., S. 16. 99 das der Zeit selbst. Das ist der Grund, warum er sowohl Kant und Fichte als auch Jacobi als Reflexionsphilosophen angesehen hat. 53 Im Gegensatz zu Kant geht Jacobi in der TPF FPT Erkenntnistheorie weder von einer Priorität der Vernunft oder der Reflexion noch von einer vernünftigen Begreifbarkeit des Seins aus. Er trennt das Objekt und auch das Absolute vom Denken oder dem Subjekt und setzt das Absolute jenseits der Reflexion. Hegel bezeichnet eine solche Trennung als ein zentrales Merkmal der Reflexionsphilosophie. Also kann eine Versöhnung beider Faktoren auch bei Jacobi nicht stattfinden. Während es bei Kant und Fichte um eine "nur endliches denkende Vernunft" 54 geht, geht es bei Jacobi um eine Vernunft, die "das Ewige nicht denken TPF FPT kann". 55 Beide sind Ausdruck derselben Denktradition. Also spiegeln die Philosophien TPF FPT sowohl von Kant und Fichte als auch von Jacobi trotz der Unterschiede im Detail die damalige Reflexionskultur wider, die den absoluten Gegensatz vom Endlichen und Unendlichen voraussetzt: "Es ist also in diesen Philosophieen nichts zu sehen, als die Erhebung der Reflexions-Cultur zu einem System; eine Cultur des gemeinen Menschenverstandes, der sich bis zum Denken eines Allgemeinen erhebt, den unendlichen Begriff aber, weil er gemeiner Verstand bleibt, für absolutes Denken nimmt und sein sonstiges Anschauen des Ewigen und den unendlichen Begriff schlechthin auseinander läßt." 56 TPF FPT Die Reflexionskultur ist also bei Hegel nichts anderes als eine Kultur einer entzweiten Zeit, und die Reflexionsphilosophie ist eine Philosophie, die diese Entzweiung theoretisch rechtfertigt. Bei dieser Philosophie findet eine wahre Vereinigung des Gegensatzes niemals statt, weil "das wahrhaft Absolute ein absolutes Jenseits im Glauben oder im Gefühl und nichts für die erkennende Vernunft" ist.57 Die Kritik an der TPF FPT Reflexionsphilosophie richtet sich deswegen auch gegen den damaligen Zeitgeist, 53 PT Siehe zum Verhältnis des jungen Hegel zu Jacobi H.-J. Gawoll, Glauben und Positivität. Hegels frühes TP Verhältnis zu Jacobi, in: M. Bondeli / H. Linneweber-Lammerskitten (Hg.), Hegels Denkentwicklung in der Berner und Frankfurter Zeit, a.a.O., S. 87-104. 54 PT G. W. F. Hegel, Glauben und Wissen, S. 322. TP 55 PT Ebd. TP 56 PT A.a.O., S. 322f. TP TP 57 PT A.a.O., S. 383. 100 welcher den nicht spekulativen, d. h. der wahren Vereinigung des Gegensatzes unfähigen Verstand 'bis zum Denken eines Allgemeinen' erhebt. Indem die Reflexionsphilosophie den Verstand verabsolutiert, erhält die Mannigfaltigkeit einer in sich zerfallenen Welt "einen objectiven Zusammenhang und Halt, Substantialität, Vielheit und sogar Wirklichkeit und Möglichkeit", - "eine objective Bestimmtheit, welche der Mensch hin-sieht und hinauswirft." 58 TPF FPT In der Reflexionskultur, deren Wesen in der Verabsolutierung und Verselbständigung der zerstörerischen Kraft der Reflexion liegt, sieht Hegel daher eine Verwandlung der Emanzipation, die das Ziel der Moderne war, in Unfreiheit. Aus diesem Grund nennt Hegel die reflexionsphilosophische Vereinigung eine 'falsche Identität': "Eine falsche Identität ist das Kausal-Verhältniß zwischen dem Absoluten und seiner Erscheinung, denn diesem Verhältniß liegt die absolute Entgegensetzung zum Grunde. […] die Vereinigung ist gewaltsam, das eine bekommt das andre unter sich; das eine herrscht, das andre wird bottmäßig; Die Einheit ist in einer nur relativen Identität erzwungen, die Identität, die eine absolute seyn soll, ist eine unvollständige." 59 TPF FPT 1.3. Die Idee der Lebenstotalität beim jungen Hegel Für Hegel ist es die einzige Aufgabe der Philosophie, das Absolute zu begreifen. Er geht davon aus, daß diese Aufgabe durch die moderne Vernunft, den Verstand oder die isolierte Reflexion nicht erfüllt werden kann, da sie auf dem Geist der Trennung basieren. Das Absolute darf für ihn nicht jenseits des Endlichen vorhanden sein, weil es in dem Fall von dem Endlichen begrenzt würde und insofern ein Beschränktes wäre. Aber es ist gleichzeitig nach der Definition kein Endliches. Es muß daher als das betrachtet werden, was die Endlichkeit und Unendlichkeit in sich umfaßt. 60 Das TPF FPT Absolute darf allerdings dabei nicht als Substanz oder als Objekt begriffen werden, weil es sich in diesem Fall in eine Schranke der Bedingtheit setzt. Vielmehr muß es als 58 PT A.a.O., S. 330. TP 59 PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 32. TP TP 60 PT Hegel entwickelt diesen Gedanken in der Logik unter dem Thema von negativer Unendlichkeit und affirmativer bzw. wahrer Unendlichkeit. 101 Subjekt begriffen werden wie bei Schelling: "Indem ich es als Objekt festhalten will, tritt es in die Schranken der Bedingtheit zurück. Was Objekt für mich ist, kann nur erscheinen; sobald es mehr als Erscheinung für mich ist, ist meine Freiheit vernichtet. […] Soll ich das Unbedingte realisieren, so muß es aufhören, Objekt für mich zu sein. Ich muß das Letzte, das allem Existierenden zugrunde liegt, das absolute Sein, das in jedem Dasein sich offenbart, als identisch mit mir selbst, mit dem Letzten, Unveränderlichen in mir denken." 61 So ist das Absolute identisch mit dem Ich, das TPF FPT nichts anderes als das sich bewegende Subjekt ist, d. h. sich als Endliches erscheinen läßt und von daher wieder zu sich zurückkommt. In diesem Punkt stimmt Hegel mit der Philosophie der Subjektivität überein. Der junge Hegel findet die jenem Absoluten entsprechende Vorstellung im Begriff des Lebens. Das Leben gehörte zu seiner Zeit z. B. bei Jacobi, bei Fichte und auch bei Schelling zu einem der wichtigsten philosophischen Begriffe; bei Jacobi und auch bei Fichte wird das Leben als Prinzip des Bewußtseins aufgenommen; Schelling versteht das Leben als die organische Tätigkeit des Lebendigen bzw. der Natur überhaupt. Auch Hegel geht von einem lebendigen Organismus aus und erweitert den Begriff des Lebens, so daß er alles Sein im allgemeinen und die Geschichte der menschlichen Gesellschaft im besonderen umfaßt. Ein Lebewesen besteht als ein Organismus aus verschiedenen Gliedern. Jedes Glied existiert zwar unabhängig von den anderen Gliedern, aber es trägt im allgemeinen zum Leben jenes Lebewesens bei. Also besteht das Leben bei Hegel aus verschiedenen Individuen und besonderen Teilen, deren Sein nur darin liegt, Glieder des Ganzen zu sein. Ein Lebewesen ist daher nichts anderes als eine unendliche Bewegung, in der es sich zum Endlichen entwickelt, darin wieder zu sich zurückkehrt und dadurch bei sich bleibt. Die Bestimmungen des jungen Hegel über das Leben, die aus widersprüchlich aussehenden Termini zusammengesetzt werden, wie z. B. "der Zusammenhang des Unendlichen und des Endlichen" 62 , "die Vereinigung von Körper TPF FPT und Geist" 63 , "ein unendlich Endliches, ein unbeschränkt Beschränktes" 64 sowie "die TPF FPT TPF Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung" 65 TPF FPT FPT etc. spiegeln gerade diesen Gedanken wider. Hegel wollte, von diesem Charakter des Lebens ausgehend, die Entwicklung aller Vorgänge des menschlichen Lebens deuten. Er versteht das 61 PT F. W. J. Schelling, Werke, M. Schröter (Hg.), Jena 1926, Bd. 1, S. 108. TP 62 PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in : TW, Bd. 1, S. 378. TP 63 PT A.a.O., S. 414. TP 64 PT A.a.O., S. 420. TP TP 65 PT A.a.O., S. 422. 102 menschliche Leben als das, was in den gesellschaftlichen sowie geschichtlichen Bereichen sich zum Gegenstand macht oder sich entzweit und danach wieder vereinigt. Das Absolute zu begreifen – das ist seine einzige philosophische Aufgabe – ist daher, "das Seyn in das Nichtseyn – als Werden, die Entzweyung in das Absolute – als seine Erscheinung, – das Endliche in das Unendliche – als Leben zu setzen." 66 Entzweiung, TPF FPT welche als Erscheinung des Absoluten verstanden wird, ruft "das Bedürfniß der Philosophie" 67 hervor. In dieser Hinsicht kann und muß der Begriff des Lebens, wie TPF FPT Kroner sagt, als "das geschichtliche Leben" 68 verstanden werden. TPF FPT Das Begreifen des Lebens verdankt sich nach Hegel der spekulativen Fähigkeit des Menschen, d. h. der wahren Reflexion bzw. der vereinigenden Vernunft, nicht der modernen subjektiven Vernunft bzw. der isolierten Reflexion. Die wahre Reflexion sieht in der wirklichen Entzweiung eine Erscheinung des Absoluten und bezieht sich daher direkt auf das Absolute. Wenn die erkennende Vernunft dabei eine Fähigkeit wäre, die stets vollständig von dem Absoluten unterschieden wäre, würden das erkennende Subjekt und das erkannte Objekt sich unvermittelt gegenüber stehen. Daher dürfen sich die begreifende Vernunft und das begriffene Absolute nicht voneinander unterscheiden: "[…] die Reflexion hat als Vernunft Beziehung auf das Absolute, und sie ist nur Vernunft durch diese Beziehung; die Reflexion vernichtet insofern sich selbst und alles Seyn und Beschränkte, indem sie es aufs Absolute bezieht; zugleich aber eben durch seine Beziehung auf das Absolute hat das Beschränkte ein Bestehen." 69 TPF FPT Aus diesem Grund identifiziert der junge Hegel das Leben mit dem Geist bzw. der Vernunft: "Das unendliche Leben kann man einen Geist nennen […], denn Geist ist die lebendige Einheit des Mannigfaltigen […]." 70 Also sind für Hegel das Leben und der TPF FPT Geist nur verschiedene Worte für das Absolute: jenes akzentuiert die objektive Seite des 66 PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 16. TP 67 PT A.a.O., S. 14. TP 68 PT R. Kroner, Von Kant bis Hegel, Bd. 2, a.a.O., S. 145. TP 69 PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 16f. TP TP 70 PT G. W. F. Hegel, Systemfragment von 1800, in: TW, Bd. 1, S. 421. 103 Absoluten und dieses im Gegenteil dessen subjektive Seite. Von daher ist es gerechtfetigt, das Absolute Hegels mit dem "Leben des Geistes" 71 zu identifizieren. TPF FPT Die Kritik des jungen Hegel an der Positivität und der Reflexionsphilosophie läßt sich nun vom Standpunkt des Lebens deuten. Die Positivität, die einer der wichtigsten kritischen Begriffe des Berner und Frankfurter Hegels ist, bedeutet die Aufhebung der Subjektivität bzw. der moralischen Autonomie des Subjekts. In dem positiven System bewegt man sich im Bereich der Legalität und dabei ist eine gesetzliche Herrschaftsstruktur übermächtig. Außerdem kann auch die Moralität Kants die Positivität nicht aufheben, weil sie auf der Herrschaft des Sollens gegenüber dem Sein basiert. Diese Positivität, sei es aus der Legalität oder aus der Moralität, bedeutet vom Standpunkt des Lebens her nichts anderes als eine Zementierung der Trennung des Lebens. In der Frankfurter Zeit wurde das Leben zu einem Hauptgegenstand der Hegelschen Philosophie. Zu dieser Zeit hat er das Problem der fehlenden Einheit des Lebens besonders im Zusammenhang mit dem Begriff des 'Schicksals' betrachtet. Hegel sieht z. B. das Judentum als eine Urform der Positivität an, weil der Geist des Judentums die Einheit des Lebens zerstört und diese Trennung festschreibt. Hegel versteht die Trennung des Lebens als die 'Zerreißung des Zusammenlebens' unter den Menschen. In dieser Hinsicht betrachtet er den Akt Abrahams, der das Schicksal der Juden bestimmte: "Der erste Akt, durch den Abraham zum Stammvater einer Nation wird, ist eine Trennung, welche die Bande des Zusammenlebens und der Liebe zerreißt, das Ganze der Beziehungen, in denen er mit Menschen und Natur TP 71 PT R. Kroner, Von Kant bis Hegel, Bd. 2, a.a.O., S. 145. Allerdings erkennt Hegel nach und nach, daß 'Geist' und 'Leben' kategorisch unterschieden sind. Denn er verwendet immer häufiger statt des Lebensbegriffs den Begriff des Geistes als Hauptgegenstand seiner Philosophie. Dies bedeutet den Übergang von seiner frühen romanistischen, lebensphilosophischen Ausrichtung zu einem objektiven Idealismus. Aber Dilthey hält nach Rodi den Lebensbegriff des jungen Hegel bis zuletzt als eine für seine Philosophie konstitutive Kategorie fest, um "den Strukturzusammenhang zwischen Selbst und Milieu" bezeichnen zu können. Anders gesagt, 'Leben' und 'Geist' sind weder austauschbare Begriffe noch aufeinander reduzierbar: "Dieser Lebensbegriff wird durch den des objektiven Geistes nicht ersetzt, sondern vielmehr ergänzt, indem die Geschichtlichkeit des Lebenszusammenhanges durch die Teilhabe des subjektiven Lebens an den Strukturen des überindividuellen 'Mediums von Gemeinsamkeiten' (= objektiver Geist) dargetan wird." F. Rodi, 'Der Rhythmus des Lebens selbst'. Hegel und Hölderlin in der Sicht des späten Dilthey, in: ders., Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1990, S. 57. 104 bisher gelebt hatte; diese schönen Beziehungen seiner Jugend (Jos. 24, 3) stieß er von sich." 72 TPF FPT Die jüdische Geschichte sei nichts anderes als ein Vorgang, in welchem der erste Akt Abrahams auf den ganzen Bereich des Lebens erweitert wurde. Alles, was als die Eigenschaften des Judentums bezeichnet werden, z. B. die Trennung von Gott und dem Menschen, den Juden und den anderen Völkern sowie dem Geist und der Natur etc., die gesetzliche Beziehung zwischen beiden Elementen und die Herrschaftsstruktur, ist nach Hegel das bloße Resultat des 'Geistes der Trennung' Abrahams. Solch eine tragische Entwicklung nennt Hegel das 'Schicksal'. Dieser Begriff bezeichnet also eine tragische Notwendigkeit der Geschichte, welche bei der Zerstörung des Zusammenlebens entsteht, gegenüber der der Einzelne machtlos ist, und welcher er sich unterwerfen muß. 73 Erst TPF FPT unter dem Gesichtspunkt des Schicksals wird das zerrissene Leben selbst als ein Leben angesehen, während es in der Hinsicht des Gesetzes nichts anderes als ein 'Nicht-Leben' ist. 74 Hierin liegt der Unterschied zwischen dem Leben und dem Gesetz. TPF FPT Dieser Gedanke spiegelt wider, daß allein das Leben das sich rein auf sich selbst beziehende einzige Subjekt ist, das heißt, daß das Leben sogar bei einem starren positiven System nicht auf die gesetzlichen Beziehungen reduziert werden kann und das Leben somit über das positive Gesetz hinausgeht. Dies gilt nicht nur für die positive Religion, welche das Leben nur in legalen Beziehungen betrachtet, sondern auch für die Kantische Ethik, welche das Leben nach dem Moralgesetz beurteilt. Das Gesetz sollte nach Hegel als eine 'lebendige Modifikation der Menschennatur' vom Menschen bestimmt werden und nicht umgekehrt den Menschen bestimmen, das Gesetz sollte zum Menschen und nicht der Mensch zum Gesetz gehören. 75 Dies ist der Grund, warum das TPF FPT Gesetz von Natur aus notwendig ein positives Element enthält: "Da sie [s.c. die Gesetze] natürliche Beziehungen des Menschen in der Form von Geboten ausdrücken, so besteht die Verirrung in Ansehung derselben darin, wenn sie entweder ganz oder zum Teil objektiv werden. Da Gesetze Vereinigungen Entgegengesetzter in einem Begriff sind, der sie also als 72 PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Judentums, in: TW, Bd. 1, S. 277. TP 73 PT Vgl. Steven B. Smith, Hegels Critique of Liberalism, Chicago 1991, S. 50. TP 74 PT Vgl. Hegel, Der Geist der Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 400. TP TP 75 PT A.a.O., S. 318. 105 Entgegengesetzte läßt, der Begriff aber selbst in der Entgegensetzung gegen Wirkliches besteht, so drückt er ein Sollen aus." 76 TPF FPT Das Leben, das in der Form des Gesetzes erscheint, sei es bürgerliches oder moralisches Gesetz, wird dadurch versteinert. Jenes, das von "einer fremden Macht" stammt, schränkt "die Entgegensetzung Lebendiger gegen Lebendige" ein, während dieses, das von einer inneren Macht stammt, "die Entgegensetzung einer Seite, einer Kraft eines Lebendigen gegen andere Seiten, andere Kräfte eben desselben Lebendigen" einschränkt. 77 Weil sie beide aber trotz dieses Unterschiedes auf der Trennung des TPF FPT Sollens und des Wirklichen und der daraus entstehenden Herrschaftsstruktur basieren, enthalten sie von Anfang an den Keim der Positivität in sich. Hegel erhellt den Unterschied des reinen Lebens vom gesetzlichen Leben vor allem durch die Analyse der Art und Weise, wie das Phänomen des Verbrechens behandelt wird. Indem das Gesetz den Verbrecher für die Verletzung des Lebens eines anderen straft, füllt es sein 'Fehlendes' und seine 'Lücke', welche durch das Verbrechen entstanden ist. 78 Hier erscheinen das Gesetz als Allgemeines und der Verbrecher als TPF FPT Besonderes, das sich jenem unterwerfen muß. Hegel sagt über die Notwendigkeit der dem Verbrecher gegebenen Strafe folgendes: "Die Strafe ist Wirkung eines übertretenen Gesetzes, von dem der Mensch sich losgesagt hat, aber von welchem er noch abhängt und welchem, weder der Strafe noch seiner Tat, er nicht entfliehen kann. Denn da [der] Charakter des Gesetzes Allgemeinheit ist, so hat der Verbrecher zwar die Materie des Gesetzes zerbrochen, aber die Form, die Allgemeinheit bleibt, und das Gesetz, über das er Meister geworden zu sein [glaubte], bleibt, erscheint aber seinem Inhalt nach entgegengesetzt, es hat die Gestalt der dem vorigen Gesetz widersprechenden Tat; der Inhalt der Tat hat jetzt die Gestalt der Allgemeinheit und ist Gesetz; diese Verkehrtheit desselben, daß es das Gegenteil dessen wird, was es vorher war, ist die Strafe - indem sich der Mensch vom Gesetz losgemacht hat, bleibt er ihm noch untertan; und da das 76 PT A.a.O., S. 321. TP 77 PT A.a.O., S. 321f. Hervorhebung im Original. TP TP 78 PT A.a.O., S. 340. 106 Gesetz als Allgemeines bleibt, so bleibt auch die Tat, denn sie ist das Besondere." 79 TPF FPT Das Problem ist aber hier nach Hegel, daß die Notwendigkeit des Gesetzes nicht dessen Anwendungsnotwendigkeit, also nicht eine wirkliche Notwendigkeit, sondern nur eine begriffliche ist. Das Gesetz setzt die Trennung zwischen dem Begriff und dem Wirklichen sowie dem Sollen und dem Sein voraus, die niemals aufhebbar ist und daher keine wahre Einheitskonzeption hervorbringen kann: "Die Notwendigkeit des Verdienens der Strafe steht fest, aber die Übung der Gerechtigkeit ist nichts Notwendiges, weil sie als Modifikation eines Lebendigen auch vergehen, eine andere Modifikation eintreten kann; und so wird Gerechtigkeit etwas Zufälliges." 80 TPF FPT Der Geist des Gesetzes will zwar das Leben bis in die letzten Teile hinein gesetzlich bestimmen, um solche Zufälligkeit zu vermeiden, aber das Netz des trockenen Gesetzes kann die sittliche Totalität des Lebens nicht umfassen. Die Kritik Hegels an Fichte geht von diesem Hintergrund aus. Fichte, der in seiner Ethik alles zu reglementieren und alle Regeln aus dem Wesen der Philosophie a priori zu deduzieren versucht, bestimmt sogar, wie durch Vorschriften die Fälschung von Wechseln und Geld vermieden werden könne, mit welchem Paß die Menschen versehen sein müssen, wie dieser Paß ausgestellt sein müsse usw. 81 Hegel wertet diese Art und Weise von Fichte, das Handeln sorgsam durch TPF FPT ein Gesetzbuch zu bestimmen, als einen "Preißcourant" 82 ab. TPF FPT Als einen Gegenbegriff der Strafe, deren Notwendigkeit nur in der Ebene des Rechts gilt, hat Hegel einen anderen Begriff, nämlich den des Schicksals, mit dem die wirkliche Notwendigkeit der Strafe erklärt werden kann. Die Strafe als Schicksal ist eine Qual, die der Verbrecher oder der Schuldner in den realen Lebensvorgängen erleidet. Hegel sieht das Leben, wie erwähnt, als 'Zusammenleben' an. Er versteht daher die Verletzung des Lebens oder das Verbrechen als Zerstörung des Zusammenlebens oder der sittlichen 79 PT A.a.O., S. 341f. TP 80 PT Ebd. TP 81 PT Siehe Hegels Anmerkung 1 in der Differenzschrift, S. 56f. TP TP 82 PT G. W. F. Hegel, Ueber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschften, in: GW, Bd. 4, a.a.O., (=Naturrechtschrift), S. 449. 107 Prinzipien. Wer das Leben eines anderen vernichtet, verletzt nicht nur das Andere, sondern auch sich selbst, weil er durch sein Verbrechen das Zusammenleben zerstört, in dem sein Leben besteht. Daher scheint es unentbehrlich zu sein, daß der Verbrecher wegen seines Tuns einen Schmerz empfindet: "Vernichtung des Lebens ist nicht ein Nicht-Sein desselben, sondern seine Trennung, und die Vernichtung besteht darin, daß es zum Feinde umgeschaffen worden ist." 83 Dieser Schmerz ist also Strafe als Schicksal, TPF FPT d. h. die Strafe, die das Leben sich selbst auferlegt. Weil dieses Schicksals allerdings ein Schmerz des Lebens selbst ist, der mit dessen Trennung anfängt oder dadurch entsteht, daß das Leben seine Zerstörung als Trennung erkennt, ist hierin zugleich eine Möglichkeit für die Wiedervereinigung des Lebens gegeben. Dieser Gedanke wird in der Jenaer Zeit wie folgt formuliert: "Entzweiung ist der Quell des Bedürfnisses der Philosophie". 84 Z. B. kann die Askese der das TPF FPT Abschneiden von dem ursprünglichen Leben erkennenden Wallfahrer in dieser Hinsicht verstanden werden als ein Selbstheilungsprozeß des Lebens, um das zerstörte Leben wiederherzustellen. 85 TPF FPT Es wird hier klar, daß Hegel eine 'versöhnende Vernunft' entwirft, die sich von der modernen Vernunft, vom Verstand, unterscheidet, welcher sich nur mit der äußeren Kausalität der Objekte befaßt und daher keine wahre lebendige Vereinigung des Gegensatzes zustandebringen kann. Er nennt diese Aufgabe die "Versöhnung des Schicksals". 86 Die 'versöhnende Vernunft' setzt eine Fähigkeit des Subjekts voraus, das TPF FPT Andere als eine unentbehrliche Bedingung für seine Existenz zu erkennen. Hegel sieht im Begriff der 'Liebe', die er für die "Blüte des Lebens" 87 hält, eine Vorstellung dieser TPF FPT Vernunft, die sich später zur dialektischen Vernunft bzw. zum Begriff des Geistes entwickelt. Er sagt in einem Berner Fragment über das Wesen der Liebe: "die [s.c. Liebe hat] etwas analoges mit der Vernunft insofern - als die Liebe in anderen Menschen sich selbst findet, oder vielmehr sich selbst 83 PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in : TW, Bd. 1, S. 342. TP 84 PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 12. Hervorhebung im Original. TP 85 PT Vgl. G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 345. Hegel hat hier die griechische TP Tragödie im Sinn. Der Grund, daß der Protagonist der Tragödie sein Schicksal annimmt, welches "das Bewußtsein des Bösen, den Schmerz verlängert und vervielfältigt" (ebd.), liegt in seiner Erkenntnis, daß allein dieser Weg seinen Verlust ersetzen kann. Dies wird in seiner Jenaer Zeit noch deutlicher. 86 PT A.a.O., S. 341. TP TP 87 PT A.a.O., S. 308. 108 vergessend - sich ausser seiner Existenz heraussetzt, gleichsam in andern lebt, empfindet und thätig ist – so wie die Vernunft als Princip allgemeingeltender Geseze sich selbst wieder in jedem vernünftigen Wesen erkennt, als Mitbürgerin einer intelligiblien Welt." 88 TPF FPT Und in der berühmten Schrift Liebe schreibt er wie folgt: "Wahre Vereinigung, eigentliche Liebe findet nur unter Lebendigen statt, die an Macht sich gleich und also durchaus füreinander Lebendige, von keiner Seite gegeneinander Tote sind; sie schließt alle Entgegensetzungen aus. […]. In der Liebe ist dies Ganze [s.c. die Mannigfaltigkeit des Lebens] nicht als in der Summe vieler Besonderer, Getrennter enthalten; in ihr findet sich das Leben selbst, als eine Verdoppelung seiner selbst, und Einigkeit desselben; das Leben hat, von der unentwickelten Einigkeit aus, durch die Bildung den Kreis zu einer vollendeten Einigkeit durchlaufen; der unentwickelten Einigkeit stand die Möglichkeit der Trennung und die Welt gegenüber; in der Entwicklung produzierte die Reflexion immer mehr Entgegengesetztes, das im befriedigten Triebe vereinigt wurde, bis sie das Ganze des Menschen selbst ihm entgegensetzte, bis die Liebe die Reflexion in völliger Objektlosigkeit aufhebt, dem Entgegensetzten allen Charakter eines Fremden raubt und das Leben sich selbst ohne weiteren Mangel findet. In der Liebe ist das Getrennte noch, aber nicht mehr als Getrenntes, [sondern] als Einiges, und das Lebendige fühlt das Lebendige." 89 TPF FPT Die Liebe, d. h. das Sich-im-Anderen-Finden drückt eine Bewegung des Subjekts aus, in der dieses mittels des Anderen zu sich selbst zurückkehrt. In der Liebe ist die Existenz des Anderen ein notwendiger Teil der Identität des Subjekts. In der Annahme, daß die Selbstbeziehung des Subjekts nur durch seine Beziehung auf den Anderen möglich ist, unterscheidet sich Hegel deutlich von der Reflexionsphilosophie, welche von der Selbstbeziehung des reinen isolierten Subjekts ausgeht. Es ist zwar in der Forschung noch umstritten, ob der junge Hegel die Liebe als ein Ideal für die vereinigende Vernunft angesehen hat, da sich neben vielen positiven auch 88 PT G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 101. TP TP 89 PT G. W. F. Hegel, Entwürfe über Religion und Liebe, in: TW, Bd. 1, S. 245f. 109 zahlreiche negative Äußerungen über die Liebe bei Hegel finden, wie z. B. die These zeigt, daß die Liebe als Gefühl das Problem der Unmittelbarkeit nicht überwinden könne. Daß er in seinem späteren philosophischen System die Liebe als Einheitsprinzip der Familie noch unter die verschiedenen sittlichen Gemeinschaften stellt, ist ein Resultat der Systematisierung seines früheren Denkens. Aber man kann beim jungen Hegel in dem Begriff der Liebe eine erste Ausprägung der Idee einer vereinigenden Vernunft erkennen: die Notwendigkeit des Anderen für die Existenz oder für die Identität des Subjekts wird ausdrücklich anerkannt. Habermas sieht in dieser Konzeption den ersten philosophischen Versuch, eine Versöhnung der mit sich selbst zerfallenen Moderne zu leisten, die auch Habermas als seine philosophische Aufgabe ansieht. In dem folgenden Kapitel soll daher die Auseinandersetzung von Habermas mit dem jungen Hegel untersucht werden. 110 2. Die Bedeutung des jungen Hegel für die Philosophie von Habermas - Eine intersubjektivitätstheoretische Interpretation des Begriffs des Lebens Es wurde bereits erwähnt, daß Habermas die negativen Begleiterscheinungen der Moderne als Ausdruck einer Selbstentzweiung der Moderne betrachtet und daß sein wissenschaftliches Ziel daher "die Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne" 90 ist. Er macht allerdings den sogenannten 'Mentalismus', der mit der TPF FPT erkenntnistheoretischen Wende Descartes' in die Philosophie eingeführt wurde, für diese pathologischen Momente der Gegenwart verantwortlich. Der Mentalismus, der die Objektivität der Welt durch die vorstellende Tätigkeit des erkennenden Subjekts gewährleistet sieht, hat drei Grundannahmen. 91 Erstens: es gibt einen privilegierten TPF FPT Zugang des erkennenden Subjekts durch Introspektion zu den eigenen, deutlichen und unveränderlichen Vorstellungen, die als unmittelbar evidente Erlebnisse gegeben sind. Zweitens: es ist möglich, durch die Überprüfung der subjektiven Vorstellungen in der Erfahrung zu einem Wissen über die Objekte zu gelangen. Drittens: die epistemologischen Aussagen über die Wahrheit werden auf subjektive Evidenz oder Gewißheit zurückgeführt. Diese drei Grundannahmen beruhen wiederum auf drei Dualismen: auf der Trennung zwischen Innen und Außen, zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre sowie zwischen dem unmittelbar Gewissen und mittelbar Gegebenen. Jede dieser Trennungen wirft die Frage auf, wie sich diese beiden Bereiche jeweils zueinander verhalten. Habermas ordnet die wichtigsten philosophischen Strömungen nach Descartes, wie z. B. den Empirismus und den Rationalismus sowie den Realismus und den Idealismus, allesamt dem Mentalismus zu; die ersten beiden suchen u. a. nach dem Ursprung des Wissens und antworten darauf a posteriori bzw. a priori, während sich die letzten beiden auch für eine kausale Erklärung des Wissens interessieren und die Entstehung der Erkenntnis mit dem Schema der Rezeptivität bzw. der Spontaneität des menschlichen Geistes erklären. 90 PT NU, S. 202. TP TP 91 PT Siehe J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung. Von Kant zu Hegel und zurück, in: ders., Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt/M. 1999, S. 190. 111 Er interpretiert die Philosophien von Peirce, Dilthey, Cassirer, Heidegger und Wittgenstein in diesem Zusammenhang als eine Befreiung der Philosophie vom Mentalismus und hält diesen Detranszendentalisierungsvorgang für die "interessanteste Denkbewegung" 92 TPF FPT der Gegenwart. Detranszendentalisierung ist für ihn eine philosophische Bewegung, die durch die Einordnung des transzendentalen Subjekts in den sozialen Raum und in die historische Zeit den "Purismus der Vernunft" 93 TPF FPT überwinden will, der von der Selbstbeziehung der Vernunft ausgeht und daher das Andere der Vernunft nicht in den Blick bekommt. Er sieht insbesondere Hegel deswegen als den ersten Philosoph der Detranszendentalisierung an, weil dieser sich mit der auf der Selbstbeziehung der Vernunft, d. h. auf der Reinheit der Vernunft beruhenden Reflexionsphilosophie auseinandersetzt und dadurch ein neues, weniger abstraktes Vernunftkonzept entwickelt, das aber dennoch die Dualismen der Reflexionsphilosophie versöhnen kann. Diese Vernunft sei als eine Vernunft konzipiert, die die Rationalität der Welt nicht negiere und gleichzeitig ihr Anderes anerkennen könne. Dieses Vernunftkonzept findet vor allem im Begriff des Lebens seinen Ausdruck, der besonders in Hegels Frankfurter Zeit von großer Bedeutung ist. 2.1. Die sozialphilosophische Bedeutung des Lebens beim jungen Hegel Hegel faßt in seiner Zeit die Geburt eines neuen Zeitalters ins Auge, das über die frühere autoritäre, d. h. positive Welt hinaus "einen qualitativen Sprung" 94 wagt. Die TPF FPT folgende berühmte Passage spiegelt diesen Gedanken wider: "Es ist […] nicht schwer, zu sehen, daß unsre Zeit eine Zeit der Geburt und des Uebergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseyns und Vorstellens gebrochen, und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit Umgestaltung." 92 hinab zuversenken, in der Arbeit seiner TPF FPT PT A.a.O., S. 186. TP 93 PT Ebd. TP 94 PT G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: GW, Bd. 9, W. Bonsiepen / R. Heede (Hg.), TP Hamburg 1980, S. 14. 95 TP und 95 PT Ebd. 112 Das wichtigste Merkmal der neuen Zeit besteht für ihn darin, daß der Begriff der Subjektivität in den Vordergrund der Philosophie tritt – die Subjektivität, die die Reflexion im epistemologischen (wie in der Philosophie Kants) und die Freiheit im praktischen Sinne (wie in der Französischen Revolution) als Ziel hat. Die Moderne besteht für ihn also in der Struktur der Selbstbeziehung des Subjekts, während sich die vergangene Zeit durch die Abhängigkeit des Subjekts von irgendeiner Autorität, z. B. von Gott auszeichnet. In der Rechtsphilosophie heißt es: "Das Prinzip der neueren Welt überhaupt ist Freiheit der Subjektivität, daß alle wesentlichen Seiten, die in der geistigen Totalität vorhanden sind, zu ihrem Recht kommend, sich entwickeln." 96 Aus diesem TPF FPT Gedanken Hegels leitet Habermas vier Kennzeichnen der modernen Subjektivität ab: a) Individualismus, b) Recht der Kritik, c) Autonomie des Handelns, d) schließlich die idealistische Philosophie selbst. 97 TPF FPT Aber wir haben schon in seiner Auseinandersetzung mit der positiven Religion sowie mit der Reflexionsphilosophie gesehen, daß Hegel seine Zeit gleichzeitig als eine Zeit der Trennung betrachtet, die überwunden werden muß. Den Grund sieht er darin, daß die moderne Subjektivität höchstens eine 'Metaphysik des Endlichen' erreichen kann, die von dem erkenntnistheoretischen S-O Schema und von einer Herrschaft des Subjekts ausgeht. Nach Hegel ist die Zeit dieser Herrschaft des Subjekts nichts anderes als 'eine Zeit der Not': "In der Not wird entweder der Mensch zum Objekt gemacht und unterdrückt, oder muß er Natur zu einem Objekt machen und unterdrücken." 98 TPF FPT Um die Trennung der Zeit zu überwinden, konzipiert Hegel eine versöhnende Kraft im Begriff des Lebens und der Liebe. Er sieht das Leben als einziges Absolutes an, das nichts anderes als eine ewige Bewegung ist, sich zum Endlichen zu vergegenständlichen und dadurch zu sich zurückzukehren. Und die Liebe wird als ein Modell der versöhnenden Vernunft vorgeschlagen, das die Charakteristik dieses Lebens gut verdeutlichen kann. In der Liebe findet sich das Subjekt im Anderen, d. h. es kehrt mittels des Anderen zu sich selbst zurück. Die Liebe bedeutet daher die Notwendigkeit 96 PT G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: TW, Bd. 7, S. 439. TP 97 PT PDM, S. 27. TP TP 98 PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 318. 113 des Anderen für die Existenz und die Identität eines Subjekts bzw. die der Anerkennung zwischen den Subjekten. Wir haben schon gesehen, daß Hegel in diesem Zusammenhang sagt: "In der Liebe ist das Getrennte noch, aber nicht mehr als Getrenntes, [sondern] als Einiges, und das Lebendige fühlt das Lebendige." 99 TPF FPT Dies ist der Grund, warum Hegel die Trennung Abrahams von seiner ursprünglichen Gemeinschaft und von dem 'Band der Liebe' als die Wurzel der Positivität des Judentums angesehen hat. 100 In dem positiven System verhält sich ein Entzweites oder TPF FPT Endliches wie ein Ganzes, wie in der Kantischen Moralphilosophie, in der das endliche, abstrahierte Subjekt verabsolutiert wird. Aus diesem Grund ist die Positivität, wie erwähnt, als eine Zementierung des getrennten Lebens zu bestimmen. 101 TPF FPT Der Gedanke Hegels, daß das Subjekt nur im gesellschaftlichen Leben seine wahre Existenz hat, unterscheidet sich vor allem von der traditionellen Gesellschaftstheorie, u. a. von dem sogenannten atomistischen Gesellschaftsverständnis. 102 'Atomistisch' TPF FPT bedeutet hier, daß die voneinander isolierten Subjekte die Grundlage der Gesellschaftstheorie bilden. Nach Hegel wird in einer solchen Gesellschaftstheorie die Gemeinschaft unter den Menschen bloß als eine von einem Anderen und Fremden nachträglich hinzugefügte Organisation angesehen. Hegel betrachtet die formalistische Philosophie von Fichte und die empirische Naturrechtslehre von Hobbes als Beispiele einer solchen atomistischen Gesellschaftstheorie. Fichtes Gesellschaftstheorie ist deswegen formalistisch, weil sie von den transzendentalen Begriffen der praktischen Vernunft ausgeht, während die Naturrechtslehre von Hobbes insofern empirisch ist, als sie von anthropologischen Bestimmungen der menschlichen Natur ausgeht, um eine vernünftige Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu entwerfen. Trotz dieser äußerlichen Unterschiede stimmen beide Theorien inhaltlich darin überein, daß sie ''das Seyn des Einzelnen als das Erste und Höchste'' voraussetzen. 103 Bei der TPF FPT atomistischen Sozialphilosophie ist die Gesellschaft mit Blick auf die Freiheit ein TP 99 PT G. W. F. Hegel, Entwürfe über Religion und Liebe, in: TW, Bd. 1, S. 246. 100 G. W. F. Hegel, Der Geist des Judentums, in: TW, Bd. 1, S. 277. TP PT 101 Vgl. den Abschnitt 1.3, Kapitel III dieser Abhandlung. TP PT 102 TP PT In Bezug auf diese Problematik siehe die folgenden Untersuchungen: A. Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1994, L. Siep, Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt/M. 1992, A. Wildt, Autonomie und Anerkennung. Hegels Moralitätskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption, Stuttgart 1982 und E. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein, Köln 1986. TP 103 PT G. W. F. Hegel, Naturrechtsschrift, S. 431. 114 notwendiges Übel, weil sie die Freiheit des Einzelnen einschränkt, um den Anderen bzw. das Ganze zu schützen. Sie ist daher im strengen Sinne ein System, das die Freiheit einschränkt. Ein konkretes Beispiel dieses Gedankens findet sich bei Hegel in seiner Auseinandersetzung mit der Aufforderungstheorie bei Fichte und mit der Lehre vom Gesellschaftsvertrag bei Hobbes. In seiner Aufforderungstheorie wollte Fichte zeigen, daß das individuelle Selbstbewußtsein und die Existenz des Anderen gleichursprünglich sind, oder, daß das Du für die Bildung und vollkommene Selbstwerdung des Ich prinzipiell notwendig ist und der Sinn der realen und anerkannten Existenz des Du im Bewußtsein des Ich konstituiert wird. Fichte sagt in diesem Zusammenhang: ''Im wechselseitigen Auffordern zu freiem Handeln und in der simultanen Begrenzung der eigenen Handlungssphäre zugunsten des Anderen bildet sich zwischen Subjekten das gemeinsame Bewußtsein heraus, das im Rechtsverhältnis dann zu objektiver Geltung gelangt.'' 104 TPF FPT Für Fichte scheint es notwendig zu sein, daß sich das personale Verhältnis zwischen Subjekten zu einem Rechtsverhältnis entwickelt, in dem das Recht ein Allgemeines ist, das zu einer Bedingung der Freiheit des Menschen wird. Diese Überlegungen von Fichte führen daher bezüglich der Problematik der Freiheit zu dem folgenden Widerspruch: Einerseits gilt die Freiheit als das höchste Ziel, andererseits muß die Freiheit zugleich in der Gemeinschaft mit anderen um dieser Gemeinschaft willen eingeschränkt werden. Das führt dazu, daß die Freiheit in der Gemeinschaft mit anderen also zumindest partiell aufgegeben werden muß; obwohl die Freiheit ihrem Wesen nach eigentlich alle Schranken überwinden sollte, kann sie nur eingeschränkt verwirklicht werden. 105 TPF FPT Dasselbe Problem ergibt sich auch bei der Lehre vom Gesellschaftsvertrag bei Hobbes, die Hegel unter dem Begriff des empirischen Naturrechts untersucht. 106 Hobbes hat das TPF 104 FPT PT J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke, TP I.H. Fichte (Hg.), Bd. 3: Zur Rechts- und Sittenlehre, Berlin 1971, S. 1ff., hier: § 3 u. § 4. 105 PT Vgl. E. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein a.a.O., S. 297. TP 106 TP PT Um die Souveränität des Staates mit Blick auf die Vertragslehre zu begründen, nimmt Hobbes die anthropologische Annahme von N. Machiavelli auf, daß die einzelnen Subjekte in einem permanenten Zustand feindseliger Konkurrenz gegeneinander kämpfen. Im Vergleich zur Theorie Machiavellis, die bloß auf einigen anthropologischen Annahmen basiert, ist aber die Theorie Hobbes insofern 115 menschliche Wesen als eine Art sich selbst bewegenden Automaten verstanden, das sich vorsorglich um sein zukünftiges Wohlergehen bemüht; 107 dieses antizipierende TPF FPT Verhalten entwickelt sich bei der Begegnung mit dem Anderen zur Form der präventiven Machtsteigerung, die letztlich zu einem Krieg aller gegen alle führt; um diesen Krieg zu beenden, braucht man eine politische Verfassung. Es ist daher die erste Aufgabe der politischen Praxis, den stets drohenden Konflikt immer wieder neu zu verhindern. Die Gesellschaft ist für Hobbes also nur dann möglich, wenn die Freiheit der Einzelnen eingeschränkt wird. Die Kritik des jungen Hegel an diesen beiden Theorien fokussiert sich darauf, daß die Gesellschaft oder Gemeinschaft bei ihnen nachträglich eingeführt wird, um bestimmte Konflikte zu vermeiden; in dieser Position wird die Gesellschaft oder die Gemeinschaft nur als eine die menschliche Freiheit beschränkende Institution angesehen. Die Gemeinschaft ist also bei der atomistischen Theorie nichts anderes als ''die höchste Tirannei''. 108 Um die Gemeinschaft nicht nur als eine die Freiheit der Individuen TPF FPT einschränkende Organisationsform zu verstehen, muß man in der Gesellschaftstheorie einen ganz anderen Ausgangspunkt wählen, d. h. das Schema der Gegenüberstellung zwischen dem Menschen und der Gemeinschaft bzw. den Anderen muß aufgehoben werden, um die Gemeinschaft oder die Anderen nicht als Beschränkung der Freiheit der Menschen verstehen zu müssen. Hegel geht, wie in seinem Begriff des Lebens als Zusammenleben angedeutet, von der Denktradition aus, die das Wesen des menschlichen Lebens auf die Gemeinschaft bezieht. Dies ist der Grund, warum er bezüglich der Bestimmung des Menschen die Philosophie des Aristoteles ins Auge faßt, in der die Gemeinschaftlichkeit als ein entscheidendes Wesen des Menschen bestimmt wird. Er zitiert eine berühmte Passage von Aristoteles als Ausgangspunkt seiner Überlegungen: ''das Volk ist eher der Natur nach, als der einzelne; denn wenn der einzelne abgesondert nichts selbstständiges ist, so muß er gleich allen Theilen in Einer Einheit mit dem Ganzen seyn; wer aber nicht gemeinschaftlich seyn fortschrittlicher, als er mit Hilfe der erfolgreichen naturwissenschaftlichen Forschung Galileis und der philosophischen Erkenntnislehre Descartes' jenen anthropologischen Annahmen ein wissenschaftliches Fundament gibt. Vgl. A. Honneth, Kampf um Anerkennung, a.a.O., S. 16ff. 107 PT Vgl. Th. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, TP Neuwied 1966, S. 75. TP 108 PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 55. 116 kann, oder aus Selbstständigkeit nichts bedarf, ist kein Theil des Volks, und darum entweder Thier oder Gott.'' 109 TPF FPT Dieses Zitat zeigt, daß der Ausgangspunkt einer neuen philosophischen Soziologie nicht die Handlungen der isolierten Subjekte, sondern die sittlichen Verhältnisse sein muß, in denen Subjekte gemeinschaftlich leben. Hegel setzt also die Sozialität des Menschen als natürliche Basis der Gesellschaft voraus. In diesem Sinne muß die Freiheit nicht als Idee des isolierten, für sich seienden Individuums, sondern als ein Allgemeines verstanden werden. ''die Gemeinschaft der Person mit andern muß daher wesentlich nicht als eine Beschränkung der wahren Freyheit des Individuums sondern als eine Erweiterung derselben angesehen werden. Die höchste Gemeinschaft ist die höchste Freyheit.'' 110 TPF FPT 2.2. Die Idee der Intersubjektivität beim jungen Hegel Aus diesem Grund läßt sich erklären, warum der junge Hegel das Leben von vornherein als Zusammenleben versteht, warum er nicht den Mechanismus der Entstehung der sittlichen Gemeinschaft, sondern die Art und Weise untersucht, wie die sittliche Totalität, d. h. das Leben, von sich getrennt und wieder vereinigt wird, und warum er sich nicht für den Kampf um die Selbsterhaltung zwischen Subjekten, der in dem vorgesellschaftlichen Zustand stattfinden soll, sondern für die Konflikte innerhalb einer Gesellschaft wie z. B. Verbrechen oder Kampf um Anerkennung interessiert. Vor diesem Hintergrund analysiert Hegel den Begriff des Lebens, dessen Merkmale sich besonders in der Analyse des Verbrechens und des daraus resultierenden Schicksals zeigen, in der Habermas bereits 'Spuren einer kommunikativen Vernunft' erkennt. Das Verbrechen und das Schicksal stehen also in einer engen Verbindung mit dem Begriff des Lebens als Zusammenleben. Habermas deutet daher den Begriff des Lebens bei Hegel als eine Form einer sittlichen Totalität, die ''einen gesellschaftlichen Zustand 109 PT G. W. F. Hegel, Naturrechtsschrift, S. 467f. Hegel zitiert diesen Satz aus Aristoteles, Politik I. 2. Er TP sieht Aristoteles folgend den Menschen als ein soziales Wesen an. TP 110 PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 54. 117 bedeutet, in dem alle Glieder zu ihrem Recht kommen und ihre Bedürfnisse befriedigen, ohne die Interessen anderer zu verletzen.'' 111 D. h. er interpretiert das Leben als eine TPF FPT Gesellschaft, in der sich die Subjekte intersubjektiv verhalten können. Er sieht also in der Vorstellung des Lebens bei Hegel ein Modell für eine zwangfreie Intersubjektivität. Von dieser Position aus betrachtet, bedeutet das Verbrechen nicht nur die Verletzung eines Anderen; vielmehr zerstört der Verbrecher auch sich selbst, weil er mit dem Verbrechen zugleich die sittliche Totalität zerstört, die sein Wesen ausmacht. Aus der Erfahrung der Negativität des Lebens kann daher eine Sehnsucht nach der Wiedervereinigung des entzweiten Lebens entstehen. Daß die entzweite Gemeinschaft erst dann versöhnt werden kann, wenn der Verbrecher im zerstörten Anderen die Entzweiung seines eigenen Wesens erkennt, ist der Kern der sogenannten Dialektik des Schicksals. Habermas deutet diese Dialektik des Schicksals dahingehend, daß die Zerstörung des Lebens nichts anderes als die Störung der intersubjektiven Anerkennungsverhältnisse ist und daß in ihr die Subjekt-Objekt-Trennung als Spiegel dieser Störung zum Vorschein kommt. ''Die Dynamik des Schicksals resultiert […] aus der Störung der Symmetriebedingungen und der reziproken Anerkennungsverhältnisse eines intersubjektiv konstituierten Lebenszusammenhangs, von dem sich der eine Teil isoliert und damit auch alle anderen Teile von sich und ihrem gemeinsamen Leben entfremdet. Dieser Akt des Losreißens von einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt erzeugt erst eine Subjekt-ObjektBeziehung. Diese wird als ein fremdes Element, jedenfalls erst nachträglich in Verhältnisse eingeführt, die von Haus aus der Struktur einer Verständigung zwischen Subjekten - und nicht Vergegenständlichung durch ein Subjekt gehorchen.'' 112 TPF der Logik der FPT Also stellt Habermas sich eine symetrische intersubjektive Gemeinschaft vor, in der die Herrschaftsstruktur in der Praxis keinen Platz einnehmen kann, die der S-O-Trennung im epistemologischen Bereich entspricht. Diese Vorstellung zeigt, daß nach Habermas für die Philosophie des jungen Hegel die Idee der Intersubjektivität zentral ist. 111 PT PDM, S. 40. TP TP 112 PT Ebd. 118 Ein Problem besteht allerdings nach Habermas darin, daß diese fruchtbare Idee vom jungen Hegel in seinem System keinen geeigneten Platz einnimmt. Sie wurde in seiner Berner und Frankfurter Zeit mit der Idee der Volksreligion verbunden, die jedoch keine Wurzeln in der Moderne hat, sondern von dem Vorbild der griechischen Polis und der urchristlichen Gemeinschaft abgeleitet ist. Wir haben schon gesehen, daß es nach Habermas für die Selbstbezüglichkeit der Moderne wesentlich ist, daß sie ihre Geltungskriterien niemals von irgendeiner anderen Zeit übernimmt. Dies ist der Grund, warum er die Moderne auf den Begriff der Mode bezogen hat, der nicht in äußeren bzw. klassischen Vorschriften, sondern im Augenblick eine ewige Schönheit sucht. 113 Wenn TPF FPT Hegel die Moderne als eine qualitativ ganz neue Zeit bzw. als eine Zeit der Geburt versteht, so hat er damit nach Habermas die Selbstbezüglichkeit der Moderne erkannt; aber dadurch, daß er die Idee der idealen Gemeinschaft nach dem Vorbild einer vergangenen Zeit entwirft, habe er die Leistung der Moderne verkannt, die ''ihr Selbstbewußtsein durch eine Reflexion errungen [hatte], die den systematischen Rückgriff auf solche exemplarischen Vergangenheiten verwehrte''. 114 In diesem Sinn TPF FPT schreibt Habermas folgendes: ''Kurzum – eine noch so kraftvoll interpretierte Sittlichkeit von Polis und Urchristentum kann nicht mehr den Maßstab abgeben, den sich eine mit sich entzweite Moderne zu eigen machen könnte.'' 115 TPF FPT Die Kritik des jungen Hegel an der Subjektphilosophie führt also nach Habermas paradoxerweise zugleich dazu, daß die Idee der Moderne als einer Zeit der Geburt nicht ernst genommen wird. Diese ambivalente Stellung des jungen Hegel zur Moderne verschwindet mit der Entwicklung seines philosophischen Systems. Seine Philosophie gewinnt dadurch an Kohärenz, daß er z. B. in seiner Jenaer Zeit auf den Begriff de Lebens verzichtet und statt dessen seinem System die Entwicklung des Begriffs des Absoluten zugrunde legt. 116 Aber in diesem System mußte er die fruchtbare Idee der Intersubjektivität TPF 113 PT Siehe zu dieser Problematik den 1. Abschnitt des II. Kapitels dieser Arbeit. TP 114 PT PDM, S. 42. TP 115 PT A.a.O., S. 43. TP 116 TP FPT PT Habermas ist der Meinung, daß sich diese Positionsänderung Hegels seinem Studium der politischen Ökonomie verdankt. PDM, S. 43. Dies zeigt, daß er eine These von Lukács über den jungen Hegel aufnimmt. Vgl. G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., 225ff. und 398ff. 119 aufgeben, die mit dem Begriff des Lebens gegeben ist, weil im Begriff des Absoluten nur eine bloße Erweiterung der Idee der modernen Subjektivität gesehen wird, die in der Selbstbeziehung des Subjekts besteht. Wir haben schon gesehen, daß Hegel die Reflexionsphilosophie darin kritisiert, daß sich in ihr das Subjekt trotz seiner Endlichkeit und Bedingtheit zum Absoluten erhebt. Dieses Absolute setzt also den Gegensatz zwischen dem Bedingten und dem Unbedingten voraus. Es scheint daher bei diesem Schema unausweichlich zu sein, daß das Subjekt sein Objekt negiert. Das Subjekt als Absolutes bei Hegel geht dagegen von der Idee der reinen, absoluten Selbstbeziehung aus, in der sowohl die Differenz als auch die Einheit zwischen Endlichem und Unendlichem problemlos koexistieren. Aber Habermas sieht in dieser Vorstellung des Absoluten bei Hegel nur eine Erweiterung der Selbstbeziehung der abstrakten Reflexion bzw. der Subjektivität. Das Hegelsche Absolute, das in dem ''Prozeß der Beziehung des Endlichen und Unendlichen aufeinander'' bestehe, sei folglich nichts anderes als eine ''verzehrende Tätigkeit des Zusichkommens selbst''. 117 Von daher ließe sich das Problem der Subjektphilosophie TPF FPT durch diese Konzeption nicht lösen; Hegel setze ''die Mittel der Subjektphilosophie zum Zweck einer Überwindung der subjektzentrierten Vernunft'' 118 ein. TPF FPT Habermas' Kritik an Hegel besteht also darin, daß der junge Hegel seinen Begriff des Absoluten nur dadurch gewinnt, daß er den Blickpunkt vom Individuum zur Gesellschaft wendet, ohne dabei das Paradigma der Subjektivität zu überwinden. Statt zur Reziprozität zwischen Subjekten überzugehen, löst Hegel das Problem der Reflexionsphilosophie in einer Hierarchie zwischen dem Individuum und dem Ganzen oder dem Einzelnen und der Gesellschaft auf, die sich durch die Priorität der Gesellschaft oder des Staates vor dem Individuum auszeichnet. Dieser Gedanke bestimmt seine Sozialphilosophie seit der Jenaer Zeit. Es ist daher eine notwendige Folge, daß Hegel in der Rechtsphilosophie den Staat als 'höheres Subjekt' gegenüber der individuellen Freiheit bevorzugt. Daher stimmt Habermas vollständig der Ansicht von D. Henrich zu, wenn dieser über den starken Institutionalismus der Hegelschen Staatsphilosophie sagt: ''Der einzelne Wille, den Hegel den subjektiven nennt, ist in die 117 PT PDM, S. 46. TP TP 118 PT Ebd. 120 Ordnung der Institutionen ganz eingebunden und überhaupt nur insofern gerechtfertigt, als diese selbst es sind.'' 119 TPF FPT Der frühe Ansatz des jungen Hegel, der zu einer Konzeption der Staatsphilosophie hätte führen können, in der die Einzelnen in der Allgemeinheit eines ungezwungenen Konsenses auch gegenüber den Institutionen des Staates eine zentrale Rolle spielen, scheiterte am Ende an dem starken Institutionalismus des späten Hegel, der von der Idee der sich auf sich beziehenden absoluten Subjektivität ausgeht. Habermas ist in diesem Zusammenhang der Meinung, daß eine bescheidene Form der Vernunft notwendig ist, um Ansatz des frühen Hegel, d. h. die Idee einer wahrhaften Intersubjektivität der ungezwungenen Willensbildung in einer Gemeinschaft zu verwirklichen. Dies ist der Grund, warum er die die linguistische Wende in der Philosophie begrüßt. Zusammengefaßt: Das Fazit der Auseinandersetzung mit Hegel ist für Habermas, daß Hegel zwar eine fruchtbare Vernunftidee hatte, aber sie in seinem späteren System nicht weiter verfolgt hat. Habermas, der die Ursache für die gegenwärtigen pathologischen Probleme in der Idee der narzißtisch in sich gekehrten, d. h. hochmütigen Vernunft sieht, ist vollkommen einverstanden mit Hegels Zeitdiagnose. Er versucht die von Hegel aufgegebene bescheidene Vernunft zu verwirklichen, um einen Ausweg aus den gegenwärtigen pathologischen Erscheinungen der Moderne zu finden. Er sieht eine Möglichkeit für diesen Ausweg in der linguistischen Wende der Philosophie. 120 TPF 119 FPT PT D. Henrich, Einleitung, in: G. W. F. Hegel, Philosophie des Rechts: die Vorlesung von 1819/20 in TP einer Nachschrift, D. Henrich (Hg.), Frankfurt/M. 1983, S. 31. 120 TP PT Neben der Frankfurter Zeit Hegels versucht Habermas auch in den Jenaer Fragmenten des jungen Hegel Ansätze einer Theorie der Intersubjektivität zu finden. Er weist darauf hin, daß Hegel in seiner Jenaer Zeit die Sprache, die Arbeit (bzw. das Werkzeug) und die Familie (bzw. die Liebe) dem subjektiven Geist untergeordnet hat; dies eröffnet eine Möglichkeit, den Geist als eine Form der Verbindung von Subjekt und Objekt zu deuten, wobei erst durch den Bezug auf die Objekte das Selbstbewußtsein konstituiert wird. Dieser Gedanke unterscheidet sich stark von dem Begriff des Selbstbewußtseins der Reflexionsphilosophie, den Habermas eine 'narzißtische', transzendentale Subjektivität nennt, weil er auf dem "reinen, sich auf sich selbst beziehenden Bewußtsein der ursprünglichen Apperzeption" basiert. (J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 195). Im Gegensatz dazu wird der Geist bei Hegel als eine Einheit zwischen Subjekt und Objekt konzipiert: "Es muß eigentlich weder von einem solchen Subjekte noch Objekte die Rede sein, sondern vom Geiste." (Jenaer Systementwürfe I, in: GW, Bd. 6, Hamburg 1986, S. 205). Habermas schreibt dazu: "Anstelle der fruchtlosen Kontroversen der Erkenntnistheorie will Hegel die Diskussion auf jene 'Medien' lenken, die die Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt bereits vor jeder aktuellen Begegnung strukturieren. Beide Seiten, Subjekt und Objekt, sind Relata, die nur mit und in ihren Beziehungen zueinander existieren. [...] Gleichwohl gebraucht Hegel den Terminus 'Geist' für die Medien von Sprache, Arbeit und Interaktion 121 [...]." (J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 195f.). Wenn das Subjekt in der Welt als ein in den Weltzusammenhang eingelassenes Element vorhanden ist, dann kann es keine philosophische Aufgabe des Subjekts sein, eine Kluft zwischen sich und einem von ihm separierten Anderen zu überbrücken. 122 VI. Die linguistische Wende von Habermas: der Übergang von der Subjektivität zur Intersubjektivität Die bisherige Betrachtung hat ergeben, daß Habermas in der Auseinandersetzung des jungen Hegel mit der positiven Religion und der Reflexionsphilosophie ein Vorbild für die Vernunftkritik der gegenwärtigen philosophischen Diskurse sieht; Hegels Ausgangspunkt ist, daß die sogenannte Reflexionsphilosophie wegen ihres epistemologischen Schemas der Trennung von S-O, das zur autoritären, 'positiven' Einheit führt, die wahre Vernünftigkeit der Welt nicht adäquat in den Blick bekommt; Hegel führt, um die Probleme der positiven Systeme und der Reflexionsphilosophie zu vermeiden, die spekulative oder dialektische Vernunft ein, die das Schema von S-O wieder auf das Subjekt bezieht, so daß die Beziehung als S-<S-O> schematisiert werden kann. Die Reflexionsphilosophie ist nach ihm nur eine Philosophie der Aufklärung, die "die Gemeinheit des Verstandes, und seine eitle Erhebung über die Vernunft aus[drückt]". 1 TPF FPT Die Vernunftkritiken der gegenwärtigen philosophischen Diskurse wiederholen Hegels Auseinandersetzung mit der Reflexionsphilosophie in dem Punkt, daß sie damit einverstanden sind, daß sich die moderne Vernunft um das Denkschema von S-O bewege und dieses Schema für die moderne Herrschaftsstruktur verantwortlich sei. Die Unterschiede zwischen ihnen ergeben sich jedoch daraus, daß die einen aufgrund dieser Diagnose die Vernunft insgesamt kritisieren, während die anderen die Vernunft zu erneuern versuchen. Präziser formuliert: die radikalen Vernunftkritiker verstehen die Vernunft überhaupt als eine Macht, die alles, was ihr begegnet, bloß als ein Objekt unterwirft und nur eine autoritäre oder asymmetrische Einheit herstellt. Dieses Problem läßt sich daher nach ihnen nur durch die Einführung des Anderen der Vernunft lösen; im Gegensatz dazu ist Habermas, der an der Rolle der Vernunft festhält, der Ansicht, daß die Vernunft, mit der sich die radikalen Vernunftkritiker auseinandersetzen, nur eine verkürzte Form der Vernunft ist, nämlich die instrumentelle Vernunft. Es gibt daher für Habermas keinen Grund, daß man die Vernunft überhaupt aufgeben müsse. Vielmehr versucht er mit der Konzeption einer erweiterten Vernunft das Problem der Moderne zu lösen. Er sieht sogar im Begriff des Anderen nur ein TP 1 PT G. W. F. Hegel, Kritisches Journal der Philosophie, in: GW, Bd. 4, S. 125. 123 "Spiegelbild der gewalthabenden" 2 Vernunft. Das Andere der Vernunft sei im Kern TPF FPT "eine spontane, seinsgründende, stiftende, zugleich vitale und undurchsichtige Gewalt", 3 also als eine unversöhnliche Macht. Aus dieser Sicht ist das Andere der TPF FPT Vernunft selbstwidersprüchlich, weil die radikalen Vernunftkritiker über etwas diskutieren, über das eigentlich nicht vernünftig diskutiert werden kann. Eine Diskussion im Sinne eines Austausches der verständlichen bzw. rationalen Argumente über das Andere der Vernunft ist nämlich letztlich gar nicht möglich: "Konsequenterweise müßte ihre eigene Untersuchung im Anderen der Vernunft einen der Vernunft schlechthin heterogenen Posten beziehen. Aber was zählen noch Konsequenzen an einem Ort, welcher der vernünftigen Rede a priori unzugänglich ist?" 4 TPF FPT Habermas betrachtet die Entstehung des Anderen der Vernunft in Zusammenhang mit dem Normalitätsproblem der intersubjektiven kommunikativen Gesellschaft. Er geht davon aus, daß die Rolle des Anderen um so größer wird, je unvernünftiger eine Gesellschaft ist, d. h. je weiter eine Gesellschaft von der 'Normalität' entfernt ist. Aus dieser Perspektive ist das Andere der Vernunft nur eine entfremdete innere und äußere Natur. So erklärt sich, daß Habermas zustimmend H. und G. Böhme zitiert: "Das Andere der Vernunft, das ist die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle." 5 TPF FPT Habermas ergänzt allerdings diese Äußerung dahingehend, daß das Andere nicht vernunftlos, sondern eine Erscheinungsform 'verkehrter Vernunft' ist, während hingegen Böhme behaupte, daß das Andere alles das sei, was sich die Vernunft nicht aneignen könne. 6 Daß die Problematik des Anderen eines der zentralen Themen der Moderne war, TPF 2 PDM, S. 360. TP PT 3 A.a.O., S. 356. TP PT 4 A.a.O., S. 353. TP PT 5 TP FPT H. Böhme / G. Böhme, Das Andere der Vernunft, Frankfurt/M. 1983, S. 13 und J. Habermas, PDM, S. PT 357. 6 TP PT Dieser Gedanke zeigt, daß Habermas den Begriff der versöhnenden Vernunft des jungen Hegel übernimmt. Er unterscheidet Hegel von den radikalen Vernunftkritikern, die der Vernunft keine Versöhnung mit der Welt zutrauen: Hegel hat nach ihm "die Grenzziehungen der subjektzentrierten Vernunft nicht als Ausgrenzungen, sondern als Entzweiungen interpretiert, und der Philosophie den Zugang zu einer die subjektive Vernunft und deren Anderes in sich begreifenden Totalität zugemutet." PDM, S. 354. 124 die von den Kritikern als Zeit der Subjektivität oder der Vernunft begriffen wird, benutzt Habermas als einen weiteren Beleg für seine These. So entwickelte z. B. die Romantik innerhalb einer neuen Form der Subjektivität das Konzept des Anderen und wollte damit über die Grenze der aufklärischen bzw. instrumentellen Vernunft hinausgehen. Im Anschluß an die oben zitierte Aussage sagt Habermas: "Nun also sind es unmittelbar die vitalen Kräfte einer abgespaltenen und unterdrückten subjektiven Natur; sind es jene in der Romantik wieder entdeckten Phänomene des Traumes, der Phantasie, des Wahns, der orgiastischen Erregung, der Ekstase; sind es die ästhetischen, leibzentrierten Erfahrungen einer dezentrierten Subjektivität, die als Statthalter für das Andere der Vernunft fungieren." 7 TPF FPT Dieser Äußerung liegt sein zentraler Gedanke zugrunde, daß selbst eine radikale Vernunftkritik als ein letzter, sich selbst überbietender Akt der Vernunft, als ein Akt der Selbstreflexion betrachtet werden muß. Habermas sieht also seine philosophische Aufgabe darin, die verkehrte, eingeschränkte Vorstellung der 'Vernunft' zu berichtigen. Er entwirft dafür "eine ausgreifendere, eine komprehensive Vernunft", 8 anstatt auf das TPF FPT Andere der Vernunft zurückzugreifen. Er präzisiert diesen Gedanken einer komprehensiven Vernunft mit Hilfe der von Peirce bis Austin und Searle entwickelten Sprachpragmatik. Vor der Betrachtung dieser Sprachtheorie soll im folgenden die Bedeutung der sprachphilosophischen Wende für das Denken von Habermas behandelt werden. 7 PT PDM, S. 357f. TP TP 8 PT A.a.O., S. 352. 125 1. Die sprachphilosophische Wende im Habermasschen Denken Eine der entscheidenden Bemühungen Habermas', um "die mit sich zerfallene Moderne zu versöhnen" 9 , d. h. das Projekt der Aufklärung weiterzuführen, zeigt sich in seinem TPF FPT Versuch, den Historischen Materialismus sprachphilosophisch zu rekonstruieren. Er gibt hier dem Begriff der 'Rekonstruktion' eine bestimmte Bedeutung; während die 'Restauration' als "die Rückkehr zu einem Ausgangszustand" und die 'Renaissance' als "die Erneuerung einer Tradition" verstanden werden, bedeutet die 'Rekonstruktion', "daß man eine Theorie auseinandernimmt und in neuer Form wieder zusammensetzt, um das Ziel, das sie sich gesetzt hat, besser zu erreichen." 10 Die neue Form hat für Habermas TPF FPT etwas mit der gegenwärtigen Sprachphilosophie zu tun. Er betrachtet es also als eine wichtige Aufgabe, mit Hilfe der gegenwärtigen Sprachphilosophie den von K. Marx stammenden Historischen Materialismus zu rekonstruieren. In diesem Abschnitt soll daher untersucht werden, was Habermas unter dem Historischen Materialismus versteht und warum dieser umformuliert werden muß, um sein ursprüngliches Projekt zu erfüllen. Bei seiner Auseinandersetzung mit dem Marxismus steht Habermas besonders unter dem Einfluß von K. Korsch und G. Lukács, die sich beide mit dem von Engels entwickelten sogenannten szientistischen orthodoxen Marxismus auseinandersetzen; 11 TPF FPT jener interpretiert den Marxismus weder als Philosophie noch als Wissenschaft, sondern als eine Kritik; dieser entwickelt den Marxismus mit Hilfe der Hegelschen Philosophie zu einer Theorie der Verdinglichung in der kapitalistischen Gesellschaft weiter. Habermas trennt im Anschluß an Korsch und Lukács Marx von Engels: während in der Theorie von Marx die Beziehung zwischen Theorie und Praxis sowie zwischen Arbeit und Interaktion unklar bleibt, löst Engels diese Unklarheit durch eine naturalistische Metaphysik des dialektischen Materialismus. Marx versucht eigentlich, mit dem Begriff der 'Praxis' die Tradition der theoriaorientierten 'scholastischen', spekulativen Philosophie zu überwinden, wie er es 9 TP PT NU, S. 202. 10 TP J. Habermas, Historischer Materialismus und die Entwicklung normativer Strukturen, in: ders, Zur PT Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M. 1976, S. 9. 11 TP PT Es handelt sich dabei um das Werk Marxismus und Philosophie von K. Korsch und das Buch Geschichte und Klassenbewußtsein von G. Lukács. Die Einflüsse dieser Marxisten auf Habermas werden besonders in seinen frühen Arbeiten über den Marxismus deutlich, wie z. B. in dem Artikel Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik, in: J. Habermas, Theorie und Praxis, Frankfurt/M. 1971, S. 228-289. 126 in den Thesen über Feuerbach zum Ausdruck bringt. 12 Die Praxis, die nach ihm beim TPF FPT gesellschaftlichen Reproduktionsvorgang eine entscheidende Rolle spielt, kann allerdings einerseits als die Arbeit, bei der es um die materielle Produktion geht, und andererseits als die Interaktion zwischen Menschen verstanden werden, bei der es sich um eine die institutionelle Organisation der Gesellschaft stiftende, selbstgenerative Tätigkeit der Menschheit handelt. Die Praxis als Arbeit meint dabei nichts anderes als die Beziehung des Menschen zur Natur, die besonders seit der industriellen Revolution ausgebeutet wird, während die Praxis als Interaktion die Beziehung zwischen den Menschen meint, die besonders seit der Französischen Revolution eine für die Moderne charakteristische Form angenommen hat. Die Idee der Praxis enthält also bei Marx schon zwei Deutungen: eine technologische und zugleich eine institutionelle Dimension; während die erste darin besteht, die Natur nach dem Willen des Menschen zu beherrschen, ist die zweite Dimension der Praxis die gesellschaftliche Tätigkeit des Menschen. Das Buch Zur Kritik der Politischen Ökonomie (1859), in dem Marx die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse voneinander unterscheidet, liest Habermas vor diesem Hintergrund. Die Produktivkräfte bezeichnen die Ebene der instrumentellen Handlungen, die sich auf die Vergrößerung der Herrschaft gegenüber der Natur richteten, während sich die Produktionsverhältnisse auf die Ebene symbolisch vermittelter Formen sozialer Interaktion beziehen, zu denen insbesondere die Form der sozialen Integration (Herrschaft) und die des sozialen Konflikts (Klassenkampf) gehören. Das Problem ist aber, daß Marx trotz seiner gründlichen Analyse der zwei unterschiedlichen Bedeutungen der Praxis dazu neigt, die intersubjektiven Aktivitäten (soziale Interaktion) wieder auf die instrumentellen Handlungen (Arbeit) zurückzuführen. Nach Habermas ist die Ursache dieser reduktionistischen Tendenz der Marxschen Theorie die Tatsache, daß Marx zwar den Unterschied zwischen beiden Handlungskategorien andeutet, aber daß seine Theorie letztlich alles auf eine Kategorie zurückführt. Diese reduktionistische Tendenz kritisiert Habermas wie folgt: ''Die Befreiung von Hunger und Mühsal konvergiert nicht notwendig mit der Befreiung von Knechtschaft und Erniedrigung, denn ein entwicklungs12 TP PT Siehe K. Marx, Thesen über Feuerbach, in: Marx Engels Werke, Bd. 3, Berlin 1962, S. 5ff. besonders die erste, zweite, dritte, achte und neunte These. 127 automatischer Zusammenhang zwischen Arbeit und Interaktion besteht nicht.'' 13 TPF FPT Also liegt im Historischen Materialismus bei Marx eine Ambiguität in dem Punkt, daß Marx zwar die Wichtigkeit des Unterschiedes von Arbeit und Interaktion erkennt, er aber dennoch die Kategorie der Interaktion der Arbeit unterordnet. Engels überwindet diese Ambiguität mit Hilfe des dialektischen Materialismus, der die Naturwissenschaft als methodologisches Vorbild hat. Für ihn ist die Dialektik ein Bewegungsprinzip einer 'Substanz', nämlich der Materie, und er versucht mit Hilfe dieser so verstandenen Dialektik ein monistisches Weltbild zu entwerfen, das Natur und Gesellschaft gleichermaßen umfaßt. Nach dieser Auffassung ist das Bewußtsein nur ein bloßes 'Abbild' der Materie. Innerhalb dieser Theorie ist daher nach Habermas keine 'Kritik' im echten Sinne möglich, die die (relative) Autonomie des Bewußtseins von der materiellen Basis voraussetzt. 14 Die Anwendung dieses dialektischen Materialismus auf TPF FPT die Kritik der Politischen Ökonomie bringt also eine Reduktion des Bewußtseins auf die Materie und der Interaktion auf die Arbeit mit sich. In diesem Zusammenhang beurteilt Habermas die sogenannte marxistische Orthodoxie, die den dialektischen Materialismus Engels' dogmatisch übernimmt, wie folgt: ''Die Abhängigkeit des Bewußtseins vom gesellschaftlichen Sein wird zum Spezialfall des allgemeinen ontologischen Gesetzes, demzufolge Höheres vom Niederen, und schließlich alles vom 'materiellen Substrat' abhängt." 15 TPF FPT Der szientistische Materialismus von Engels widerspricht in dieser Hinsicht fundamental der emanzipatorischen Absicht von Marx, aus der heraus er seine Theorie eine 'Kritik', wie im Titel seines Buchs Kritik der Politischen Ökonomie, genannt hatte. 13 PT J. Habermas, Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser 'Philosophie des Geistes', in: TP ders, Technik und Wissenschaft als 'Ideologie', Frankfurt/M. 1969, S. 46. 14 PT A. Wellmer behauptet in diesem Zusammenhang, daß die Dialektik Engels wegen dieser Abhängigkeit TP des Bewußtseins von der Materie nur "einen Rückfall auf eine vorkantische Form der Ontologie" darstellt. A. Wellmer., Kommunikation und Emanzipation. Überlegungen zur 'sprachanalytischen Wende' der kritischen Theorie, in: U. Jaeggi / A. Honneth (Hg), Theorien des Historischen Materialismus, Frankfurt/M. 1977, S. 471. 15 TP PT J. Habermas, Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus, in: ders., Theorie und Praxis, a.a.O., S. 396. 128 Habermas versucht diesen Gedanken von Engels dadurch zu überwinden, daß er die Marxsche Unterscheidung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erneut hervorhebt. Sein Versuch, die Differenz zwischen technischem Fortschritt und politischer Emanzipation oder die zwischen Wissenschaft und Kritik nicht zu verwischen, schlägt sich in der Unterscheidung zwischen 'instrumentalem' oder 'zweckrationalem' einerseits und 'kommunikativem' Handeln andererseits nieder. Er rekonstruiert damit die wechselseitig voneinander abhängigen historischen Prozesse der beiden Kategorien. Den Unterschied zwischen beiden Formen der Handlung beschreibt er wie folgt: ''Während das instrumentale Handeln dem Zwang der äußeren Natur korrespondiert und der Stand der Produktivkräfte das Maß der technischen Verfügung über Gewalten der Natur bestimmt, steht das kommunikative Handeln in Korrespondenz zur Unterdrückung der eigenen Natur: der institutionelle Rahmen bestimmt das Maß einer Repression durch die naturwüchsige Gewalt sozialer Abhängigkeit und politischer Herrschaft. Die Emanzipation von äußerer Naturgewalt verdankt eine Gesellschaft den Arbeitsprozessen, nämlich der Erzeugung technisch verwertbaren Wissens […]; die Emanzipation vom Zwang der internen Natur gelingt im Maße der Ablösung gewalthabender Institutionen durch eine Organisation des gesellschaftlichen Verkehrs, die einzig an herrschaftsfreie Kommunikation gebunden ist. Das geschieht nicht unmittelbar durch produktive Tätigkeit, sondern durch die revolutionäre Tätigkeit kämpfender Klassen […]. Beide Kategorien von gesellschaftlicher Praxis zusammengenommen ermöglichen, was Marx, Hegel interpretierend, den Selbsterzeugungsakt der Gattung nennt.'' 16 TPF FPT Habermas versucht mit dieser Kategorienunterscheidung vor allem den Begriff der Interaktion in der sozialphilosophischen Hinsicht wiederaufzuwerten, der in Engels' Marx-Deutung keine eigenständige Rolle mehr spielt. Dieses Konzept trennt ihn von anderen Vertretern der Frankfurter Schule, die sich auch mit dem szientistischen Materialismus sehr gründlich auseinandergesetzt und bei der Entwicklung des Habermasschen Denkens eine große Rolle gespielt haben. Horkheimer TP 16 PT J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1991, S. 71f. 129 und Adorno z. B. sind der Meinung, daß das Maß der Industrialisierung dem der Verdinglichung des Bewußtseins und dieses wiederum dem Maß der berechnenden formalen Rationalität entspricht. Die Autoren der Dialektik der Aufklärung fassen also die Umformung der äußeren Natur (Technologie, Industrie, Naturbeherrschung) und der inneren Natur (Individualisierung, Repression, soziale Herrschaftsformen) als einen einzigen Vorgang auf; die instrumentelle Vernunft drückt sich in der Entwicklung der Industrie sowohl in der Natur als auch in der Gesellschaft in gleicher Art und Weise aus, und der technische Fortschritt, der von dieser Vernunft geleitet wird, ist daher für die gegenwärtigen pathologischen Erscheinungen bzw. für die Entfremdung der Menschen direkt verantwortlich. So identifizieren Horkheimer und Adorno den Industrialisierungsprozeß mit dem Vorgang der Aufklärung, und die Kritik an jenem Prozeß ist daher mit der Kritik an der Aufklärung identisch. Ihre Kritik an der Aufklärung wird daher zu einer umfassenden Vernunftkritik, indem sie, was die Aufklärung mit dem Mythos machte, noch einmal auf den Prozeß der Aufklärung im ganzen anwenden, d. h. sie wenden ihre Kritik nun gegen die Vernunft als einzige Grundlage möglicher Geltungsansprüche. Sie vernachlässigen dabei die geschichtliche Entstehung der Aufklärung. Was ihnen, die mit der These des Umschlagens der Aufklärung in einen neuen Mythos das vernünftige Denken als ganzes in Zweifel ziehen, übrig bleibt, ist nur ein geschichtlicher Pessimismus. Daher ist Wellmer der Ansicht, daß ihre Kritische Theorie nicht mehr eine rationale, d. h. vernünftige Form der Kritik ist, sondern ihre Legitimation aus einem anderen Bereich gewinnen muß. 17 TPF FPT Habermas findet aber in ihrer Kritik an der Aufklärung ein Paradox, weil diese Kritik "im Augenblick der Beschreibung noch von der totgesagten Kritik Gebrauch machen muß. Das Totalitärwerden der Aufklärung denunziert sie mit deren eigenen Mitteln." 18 TPF FPT Dies bedeutet, daß die Vernunft nicht nur die instrumentelle Funktion, sondern auch die Funktion der Kritik hat. Habermas vertritt also die These, daß die instrumentelle 17 PT Wellmer ordnet ihre Kritik einer 'eschatologischen Kategorie' zu. Daß er die Frankfurter Schule mit TP diesem einen hoffnungsvollen Zukunftsoptimismus ausdrückenden religiösen Begriff charakterisiert, verweist allerdings bei ihm auf einen philosophischen Pessimismus, weil dieser Begriff die Vernachlässigung der kritischen Funktion der Vernunft deutlich machen soll. A. Wellmer, Kommunikation und Emanzipation, a.a.O., S. 482. Diese Kritik an der Frankfurter Schule ergibt sich für Habermas auch bei seiner Auseinandersetzung mit Benjamins Geschichtsphilosophie. J. Habermas, Exkurs zu Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen, in: PDM, S. 21ff. TP 18 PT PDM, S. 144. 130 Vernunft nur eine Form der Vernunft ist und daß das Projekt der Aufklärung dadurch weitergeführt werden kann, daß die kritische Funktion der Vernunft wiederhergestellt wird, die zwar bei der Entstehung der Aufklärung eine entscheidende Rolle gespielt hat, die aber mit der Erweiterung der instrumentellen Vernunft ihre Kraft verloren hat. Der Historische Materialismus hat nach Habermas schon in seiner Unterscheidung von Arbeit und Interaktion, von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen sowie von 'technischer' und 'praktischer' Vernunft noch den Ansatz der aufklärerischen Kritik beibehalten, obzwar er die letzten Faktoren letztendlich auf die ersten reduziert hat. Die Wiederherstellung der kritischen Rolle der 'praktischen' Vernunft oder die Erweiterung des eingeschränkten Vernunftverständnisses zeigt eine Möglichkeit auf, den Pessimismus der Kritischen Theorie zu vermeiden. Die Habermassche Unterscheidung zwischen 'instrumentalem' und 'kommunikativem' Handeln deutet diese Möglichkeit an. Wie das 'kommunikative' Handeln schon im Namen andeutet, spielt die Sprachwissenschaft oder –philosophie für Habermas eine entscheidende Rolle, um die kritische Funktion der Vernunft und eine rationale Betrachtung der Welt wieder zu ermöglichen; wenn man die Ergebnisse der Sprachphilosophie auf die Handlungstheorie anwendet, löst sich nicht nur die Ambiguität des Marxschen Historischen Materialismus auf und wird das pessimistische Resultat von Horkheimer und Adorno vermieden, sondern viele schwierige sozialphilosophische Fragen können dann auch rational beantwortet werden. Habermas sieht eine Möglichkeit der Einbeziehung sprachlicher Phänomene in die Philosophie in der Hermeneutik Diltheys gegeben. 19 TPF FPT Diltheys Hermeneutik unterscheidet sich vor allem vom Neukantianismus Rickerts, der die Kantische Erkenntniskritik auf den Bereich historischer Erkenntnis auszuweiten versucht. Dilthey bezweifelt, daß dieser Versuch erfolgreich sein kann. Denn die Theorie des Kantischen Erkenntnissubjekts gilt nur im Bereich der Erscheinungswelt bzw. der Naturwissenschaften, in dem die Methode der Erklärung von großer Bedeutung ist. Anders gesagt, diese Theorie kann keine konstitutive Rolle im Bereich der sozialen und geschichtlichen Wissenschaften spielen und daher ist für diesen Bereich eine andere Theorie erforderlich. Der Grund dafür liegt darin, daß es in dem Bereich der historischen Tatsachen immer die paradoxe Situation gegeben ist, daß das die Konstitution der historischen Tatsachen erklärende transzendentale Subjekt TP 19 PT Siehe zur Auseinandersetzung von Habermas mit Dilthey besonders: J. Habermas, Diltheys Theorie des Ausdrucksverstehens: Ich-Identität und sprachliche Kommunikation, in: ders., Erkenntnis und Interesse, a.a.O., S. 178-203. 131 wiederum von diesen Tatsachen selber konstituiert wird. Weil das Konstituierende und das Konstituierte im gesellschaftlich-historischen Bereich zusammenfallen, kann es in diesem Bereich keine erklärende, beobachtende, d. h. objektive Instanz geben. Aus diesem Grund ist Dilthey gegenüber Rickerts Anliegen sehr skeptisch. Dilthey eröffnet für die Geisteswissenschaften bzw. die Sozialwissenschaften eine andere Möglichkeit ihres Selbstverständnisses, in dem die Methode des Verstehens von großer Bedeutung ist. Um das eigentümliche Verhältnis von Subjektivität und Intersubjektivität sowie von 'Transzendentalem' und 'Empirischem' zu deuten, analysiert Dilthey die Struktur umgangsprachlicher Kommunikation. Davon leitet er die Besonderheit der Methode der 'Geisteswissenschaft' ab. Er geht davon aus, daß, da der vorgegebene 'Eigensinn', den die sozialwissenschaftlichen Gegenstände und Daten haben, 20 durch den symbolischen Zusammenhang einer Lebensform bestimmt wird, ihr TPF FPT interner Bezug zur Gesamtheit einer Sprache berücksichtigt werden muß. Daher ist das hermeneutische Verstehen bzw. die linguistische Analyse in diesem Bereich unvermeidbar und wird sogar als die einzig adäquate Untersuchungsmethode angesehen. Dies ist der Grund, warum Dilthey in seinen späteren Schriften von einer psychologischen zu einer hermeneutischen Theorie der Geisteswissenschaften übergegangen ist. Trotz vieler wichtiger Einsichten ist Diltheys Hermeneutik nach Habermas noch insofern problematisch, als das hermeneutische Verstehen keine Instanz darstellt, die die Objektivität der Untersuchungsergebnisse der Geisteswissenschaften garantiert. Der TP 20 PT Ob das Verstehen bei der wissenschaftlichen Betrachtung der menschlichen Gesellschaft eine Rolle spielt, ist immer noch umstritten; die positivistischen Gesellschaftstheoretiker behaupten, daß die Sozialwissenschaft, um eine Wissenschaft zu sein, den Gegenstand mit objektiven Methoden, wie z. B. Experiment, vergleichenden oder statistischen Studien, analysieren muß, nicht mit subjektiven Methoden, wie z. B. Verstehen, während die hermeneutisch ausgerichteten Soziologen von der Unentbehrlichkeit des Verstehens für die Gesellschaftsforschung sprechen. T. Abel, einer der Positivisten, schreibt: "Die Operation des Verstehens […] erweitert weder unser Wissen, weil sie in der Anwendung des von persönlicher Erfahrung schon gerechtfertigten Wissens besteht; noch dient sie als ein Mittel der Verifikation. Die Wahrscheinlichkeit einer Korrelation kann nur durch objektive, experimentalische und statistische Teste bestätigt werden". T. Abel, The Operation Called Verstehen (1948/49), in: H. Albert (Hg.), Theorie und Realität: Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften, Tübingen 1964, S. 188. Im Gegensatz dazu behauptet D. Leat, eine der Hermeneutiker, folgendes: "Verstehen spielt eine integrale Rolle im Beweis jeder spezifisch soziologischen Generalisierung." D. Leat, Das mißverstandene 'Verstehen' (1972), in: K. Acham (Hg.), Methodologische Probleme der Sozialwissenschaften, Darmstadt 1978, S. 111. 132 Grund dafür liegt darin, daß Dilthey das Verstehen und die Erklärung voneinander unterscheidet und die Objektivität nur der Ebene der Erklärung zuordnet. Es gibt also bei der Hermeneutik keine externe Erklärungsinstanz jenseits der internen, für die handelnden Individuen prinzipiell zugänglichen Sinnbeziehungen, durch welche die Elemente einer Sprache miteinander verbunden sind. Es ist daher fraglich, ob innerhalb der Diltheyschen Hermeneutik das Selbstverständnis der Handelnden ideologiekritisch hinterfragt werden kann, wenn ihr Handeln entgegen ihrer Selbstdeutung in Wirklichkeit durch andere, unbewußte, objektiv erklärbare Motive bestimmt wird. Habermas sieht gerade in dieser Unzulänglichkeit den Grund, warum die Hermeneutik über die Interpretation und das Verständnis des sogenannten 'Normalfalls' nicht hinausgehen und auch keine Möglichkeit der Selbstkritik entwickeln kann. Die hermeneutische Annahme, daß der Zusammenhang zwischen den sprachlichen Äußerungen, dem leibgebundenen Ausdrucksverhalten und den Handlungen beim kommunikativen Handeln in allen Bereichen der sozialen Interaktion konsistent und einheitlich interpretierbar ist, ist aber nichts anderes als eine Verallgemeinerung des 'Normalfalls', weil es häufig vorkommt, daß Teile des sozialen Lebenszusammenhanges für die Handelnden und Sprechenden selbst dort scheinbar verständlich sind, obwohl faktische Inkonsistenz und Widersprüche im System umgangsprachlicher Kommunikation vorhanden sind. 21 Als Ergebnis seiner Beschäftigung mit Dilthey hält TPF FPT Habermas fest, daß Dilthey zwar einerseits durch seinen Bezug auf die Sprache und auf das Verstehen den Dogmatismus des S-O Schemas überwunden hat, daß seine Philosophie aber andererseits in einen Relativismus führt, weil er den erklärenden, objektiven Ansatz der Naturwissenschaft im Bereich der Geisteswissenschaften ablehnt bzw. stark einschränkt. Habermas erkennt den außerhalb des Bereichs des normalen Verständnisses liegenden sogenannten 'Grenzenfall' der Kommunikation als eine gesellschaftliche Tatsache an TP 21 PT Die Hermeneutik Diltheys gilt nach Habermas nur für den 'Normalfall' der Kommunikation, nicht für den 'Grenzenfall', der der Gegenstand der von Habermas als 'Tiefenhermeneutik' angesehenen Psychoanalyse ist. "Zwar hat Dilthey das psychologische Ausdrucksverstehen zugunsten des hermeneutischen Sinnverstehens überwunden, 'an die Stelle des psychologischen Raffinements [ist] das Verstehen geistiger Gebilde' getreten. Aber auch die auf den Zusammenhang von Symbolen gerichtete Philologie bleibt auf eine Sprache eingeschränkt, in der sich bewußt Intendiertes ausdrückt. [...] Insofern übernimmt die Philologie nur Hilfsfunktionen für eine unter normalen Bedingungen funktionierende Kraft der lebensgeschichtlichen Erinnerung." J. Habermas, Selbstreflexion als Wissenschaft: Freuds psychoanalytische Sinnkritik, in: ders., Erkenntnis und Interesse, a.a.O., S. 265. 133 und versteht ihn als ein Resultat einer Kommunikationsstörung, die die Möglichkeiten der öffentlichen Kommunikation systematisch einschränkt. Die Inkonsistenz und Unverständlichkeit sprachlicher Äußerungen müssen daher als Anzeichen einer systematischen Einschränkung der Kommunikation verstanden werden, die nun einen nur scheinbaren Konsens erzeugt, und zwar hinsichtlich der in einer Gesellschaft allgemein als 'wahr' und 'gerecht' geltenden Überzeugungen und Normen. Solche Überzeugungen und Normen sind aber häufig nicht das Resultat eines rationalen Konsenses oder eines zwanglosen Lernprozesses. Man muß daher von der Möglichkeit systematisch 'verzerrter' Kommunikation ausgehen, in der anerkannte Normen in Wirklichkeit Machtinteressen verschleiern oder Machtansprüche legitimieren. Also wäre die Anwendung Hermeneutik in den Sozialwissenschaften nur dann angemessen, wenn die sozialen Lebenszusammenhänge immer schon der Norm gewaltfreier intersubjektiver Verständigung entsprechen würden. Der sprachphilosophisch verstandene Historische Materialismus untersucht die Beziehung der vielfältigen Sprachspiele zu den von allen Sprachspielen vorausgesetzten, aber zunächst verfehlten Normen. Denn nur durch diese Beziehung ist ein kritisches Hinterfragen der in der Sprache verkörperten Sinnrelationen und der Selbstdeutungen der Handelnden möglich. Durch diesen internen Bezug, den jede Gesellschaft zu der Norm der gewaltfreien Intersubjektivität hat, können die Geistes- bzw. Sozialwissenschaften die Selbstdeutung von Gruppen und Individuen hinterfragen und sowohl deren Selbsttäuschungen als auch die 'rationale' Funktion des falschen Bewußtseins erklären. Der neue Historische Materialismus beschäftigt sich also mit der Analyse der Bedingungen der Möglichkeit einer normativen materialistischen Gesellschafts- und Geschichtstheorie. Gerade in der Wiederherstellung der kritischen Funktion der Vernunft besteht somit die Pointe der Habermasschen sprachphilosophischen Transformation des Historischen Materialismus. Aus diesem Grund beurteilt Wellmer diese 'linguistische Wende' wie folgt: "Durch die 'linguistische Wende' der kritischen Theorie werden politische und ökonomische Gewaltverhältnisse, d. h. Unterdrückung und Ausbeutung, nicht etwa in grammatische Beziehungen aufgelöst; insofern sie vielmehr als sprachlich vermittelte Beziehungen analysiert werden, werden sie als 134 Verhältnisse faßbar, die über sich selbst das Urteil sprechen: sie verdienen es, zugrunde zu gehen." 22 TPF FPT Die Habermassche Kritik an dem szientistischen Materialismus sowie dem hermeneutischen Verfahren ist aber gleichzeitig verbunden mit der Aufnahme beider sich wechselseitig ergänzenden Methoden; jener ist für seine Theorie notwendig, um die Abhängigkeit des geschichtlichen Sinns von den Subjekten erklären zu können, die die Geschichte 'mit Willen und Bewußtsein' hervorbringen, und dieses ist auch notwendig, um die Bedeutsamkeit jeder historischen Realität und also deren jeweils eigenen Bezug zur Idee gewaltfreier Intersubjektivität deuten zu können. Die sozialwissenschaftliche Analyse, die nach wissenschaftlicher Objektivität strebt, hat daher wegen der Sinnhaftigkeit ihres Gegenstandbereiches nur innerhalb des jeweiligen Sprachspiels ihre Gültigkeit. Der Historische Materialismus muß also diese Erkenntnis praktisch ausarbeiten, d. h. er muß das instrumentelle und das kommunikative Handeln voneinander unterscheiden und gleichzeitig ihre wechselseitige Beziehung analysieren. Also ist auch innerhalb der Sozialwissenschaft die Objektivierung der sozialen Realität möglich, die es für Dilthey nur im Bereich der Erklärung, also der Naturwissenschaft geben kann. Das bedeutet erstens, daß die Sozialwissenschaft ein Wissen produziert, das zum Zweck der sozialen Steuerung 'technologisch' genutzt werden kann, und zweitens, daß sie eine Methode entwickelt, mit der man die Selbstinterpretation der 'objektivierten' Individuen hinterfragen und darüber hinaus den verborgenen Sinn, d. h. die 'Tiefengrammatik' ihrer Interaktionen entschlüsseln kann. Mit der Analyse dieser Tiefengrammatik lassen sich die Kommunikationsstörungen erkennen, die von der als Ausdruck institutionalisierter oder verinnerlichter Gewaltverhältnisse verstandenen 'Oberflächengrammatik' der Sprache verborgen wurden. 23 TPF Das Ziel der sozialwissenschaftlichen FPT Objektivierung ist es, hinter der Oberflächengrammatik eines Sprachspiels die soziale Gewalt sichtbar zu machen, die in seinen tiefengrammatischen Beziehungen und Regeln verborgen ist. Dadurch dient sie vor allem dem Interesse der Überwindung quasi-kausaler Mechanismen, d. h. einer 'Denaturalisierung' der Geschichte. Gerade darin liegt eine Möglichkeit, sowohl die sozialen Gewaltverhältnisse aufzulösen als auch die individuelle Autonomie zu 22 PT A. Wellmer, Kommunikation und Emanzipation, a.a.O, S. 492. TP TP 23 PT Habermas ist also der Meinung, daß die Hermeneutik psychoanalytisch weiterentwickelt werden muß, um die verborgenen Motive erkennen zu können. 135 erweitern, die nur unter der Bedingung einer herrschaftsfreien Kommunikation möglich ist. Solch eine 'kritische' Sozialwissenschaft bezieht sich auf Prozesse der Selbstreflexion, die nicht technisch verwertbares, sondern 'praktisches' Wissen erzeugen. Dahinter steht das Interesse an Emanzipation, das Habermas als eine ebenso unscheinbare wie explosive Kraft im Prozeß der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ansieht. Das emanzipatorische Interesse bildet sich mit der Entstehung der Sprache sowie mit dem Aufbau symbolisch vermittelter sozialer Beziehungen aus. 24 Dieses Interesse leitet die TPF FPT Erkenntnis des Historischen Materialismus und bezieht sich also gleichzeitig auf ein praktisches Projekt. Es richtet sich also auf eine Emanzipation von allen Formen sozialer Gewalt und Repression. Das Ergebnis des Kapitels läßt sich also wie folgt zusammenfassen: die Hermeneutik Diltheys kann trotz ihrer wichtigen sprachphilosophischen Einsichten keine objektive Instanz anbieten, die die Gültigkeit der wissenschaftlichen Objektivierungen prüfen kann, weil es sich bei ihr nur um das umgangsprachliche Verständnisproblem, also die Deutung der 'Oberflächengrammatik' handelt. Sie kann sich dem Relativismus nicht entziehen. Darüber hinaus haben diese Objektivierungen es nicht mit der Emanzipation von Fremdbestimmung, sondern mit der Interpretation einer Welt zu tun, weil sie die Möglichkeit einer systematisch verzerrten Kommunikation nicht in Betrachten ziehen. Um eine Selbstkritik und -reflexion der Subjekte möglich zu machen, muß also nicht nur die Umgangsprache sondern auch die als deren Norm angesehene 'Tiefengrammatik' gedeutet werden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer sprachphilosophischen Transformation des Historischen Materialismus, damit dieser eine wirklich 'kritische' Theorie sein kann, die nicht bloß zu einer pessimistischen Weltsicht führt. Diese Transformation darf sich aber nicht auf die kritische Übernahme der Diltheyschen hermeneutischen Methode beschränken, weil bei ihr die Möglichkeit einer objektiven Erklärung verborgener TP 24 PT Wellmer erklärt diesen Begriff, der einerseits als eine anthropologische und andererseits als eine sozialwissenschaftliche Kategorie verstanden wird, wie folgt: "Von einem Interesse an Emanzipation dürfen wir deshalb sprechen, weil durch die Versprachlichung der Lebensprozesse Probleme symbolisch vermittelter persönlicher und kollektiver Identität zu (Über-)Lebensproblemen werden; von einem Interesse an Emanzipation aber deshalb, weil materielle Bedürfnisse und Interessen, sobald sie zu sprachlich vermittelten Bedürfnissen und Interessen geworden sind, mit Notwendigkeit auf die Ideen der Wahrheit und Gerechtigkeit sich beziehen." A. Wellmer, Kommunikation und Emanzipation, a.a.O., S. 497. Hervorhebungen im Original. 136 Handlungsmotive fehlt. Diese Überlegungen führen bei Habermas zu der Unterscheidung zwischen instrumentalem und kommunikativem Handeln, die nicht aufeinander reduziert werden können. Der auf dieser Unterscheidung beruhende Historische Materialismus hat daher, wie Wellmer sagt, einerseits eine materialistische Komponente, weil er "mit theoretisch nicht auflösbaren, empirisch zu erforschenden Kontingenzen rechnet, die die Ausgangssituation, die Randbedingungen und die Mechanismen sozialer Evolution bestimmen", und andererseits ein hermeneutisches Element, weil er "mit dem Faktum einer durch Sprache, also durch einen internen Bezug auf Wahrheit vermittelten Reproduktion der Gattung rechnet." 25 TPF FPT Die Kritische Theorie von Habermas wird daher mehr und mehr von der Sprachphilosophie beeinflußt. Das bedeutet vor allem, daß er die von der Sprache ausgehende Intersubjektivität zum Prinzip seiner Philosophie erhebt. Dies wird vor allem in seiner späteren Philosophie seit der Theorie des kommunikativen Handelns deutlich, die besonders auf der Sprachpragmatik von Austin beruht. 26 TPF 25 TP A. Wellmer, a.a.O., S. 498. Ob diese Rekonstruktion noch ein Historischer Materialismus ist, ist PT umstritten; im Gegensatz zu Wellmer, der diese Rekonstruktion in der Linie des Historischen Materialismus versteht, behauptet z. B. Rockmore: "Now, in the proposed refutation of the labor theory of value, we saw that Habermas identifies problems leading him to renounce historical materialism as an even possibly viable theory. […] it is reasonable to regard his own position, especially the theory of communicative action, as an effort to achieve by other means what historical materialism only intended to reach. […] Since Marx und Engels, one of its main themes has always been the relation of theory and practice [Praxis]." Tom Rockmore, Habermas on historical materialism, Bloomington, Indianapolis 1989, S. 147. Für ihn ist Habermas näher an Popper und Kolakowski, die den Kernpunkt des Historischen Materialismus nicht in der Lehre vom Arbeitwert, sondern in der Deutung des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis sehen und jene Theorie nicht als eine wissenschaftliche Hypothese ansehen, weil sie nicht falsifiziert werden kann. Siehe zur Kritik Kolakowskis an der Marxschen Arbeitswertlehre L. Kolakowski, Main Currents of Marxism. Its Rise, Growth and Dissolution, Oxford 1978, S. 329. 26 TP PT Habermas stellt seit seiner Theorie des kommunikativen Handelns alle Arten des Handelns der Menschen, wie z. B. strategisches, normenreguliertes sowie dramaturgisches Handeln, als Formen der sprachlich vermittelten Interaktionen darstellt; alle diese Handlungsweisen werden als Grenzenfälle des kommunikativen Handelns angesehen. Anders gesagt, er verwendet die Sprachphilosophie zur Ablehnung aller reduktionistischen Theorien. 137 2. Die Sprachpragmatik und die Theorie des FPT kommunikativen Handelns 2.1. Die Sprachpragmatik Die Sprachtheorie wird gewöhnlich in die Bereiche Syntaktik, Semantik und Pragmatik unterteilt; während die Syntaktik "die syntaktischen Beziehungen der Zeichen zueinander unter Absehung von ihren Beziehungen zu Objekten und Interpreten", d. h. die Beziehung eines Zeichens zu anderen Zeichen sowie einer sprachlichen Äußerung zu anderen sprachlichen Äußerungen, 27 und die Semantik "die Beziehung der Zeichen TPF FPT zu ihren Designaten und darum zu den Objekten, die sie denotieren oder denotieren können", 28 d. h. die Beziehung eines Zeichens zu dessen Bedeutung sowie einer TPF FPT sprachlichen Äußerung zu deren Gegenstand, untersucht, befaßt sich die Pragmatik mit der "Beziehung der Zeichen zu ihren Interpreten," 29 d. h. mit der Sprechsituation, mit TPF FPT der Intention sowie der Rolle der beteiligten Sprecher etc. In dieser Hinsicht behandelt die Pragmatik einen umfassenderen Bereich als die Syntaktik und die Semantik. Einer der wichtigsten Ausgangspunkte der Sprachtheorie, sei es die Wahrheitssemantik seit Frege oder die Sprachpragmatik Austins, ist, daß jede konkrete Sprechhandlung die Geltungsproblematik begleitet; jede Sprechhandlung enthält also die Momente des Realen und zugleich des Transzendentalen, des Empirischen und gleichzeitig der Idealität in sich. Die Äußerung: "Dies ist ein Kugelschreiber" z. B. ist insofern auf die Wahrheitsfrage bezogen, als diese Äußerung entweder mit "Es ist wahr" oder mit "Es ist nicht wahr" beurteilt werden kann. Anders gesagt, diese Aussage erhebt einen Geltungsanspruch der Wahrheit. Dies bedeutet, daß bei einer sprachlichen Äußerung zwar Faktizität und Geltung unterschieden sind, aber dennoch eine enge Beziehung zwischen beiden existiert. 27 PT Ch. W. Morris, Grundlagen der Zeichentheorie, München 1972, S. 32. TP 28 PT A.a.O., S. 42. TP TP 29 PT A.a.O., S. 52. 138 Habermas beschäftigt sich besonders mit der von Austin entwickelten Theorie der Sprechakte. 30 Austin setzt sich mit den herkömmlichen Sprachtheorien auseinander, die TPF FPT angenommen haben, "das Geschäft von 'Feststellungen' oder 'Aussagen' [statements] sei einzig und allein, einen Sachverhalt zu 'beschreiben' oder 'eine Tatsache zu behaupten', und zwar entweder zutreffend oder unzutreffend." 31 Diese Theorien machen also nur TPF FPT den als wahr oder falsch zu beurteilenden assertorischen Satz zum Gegenstand der Sprachanalyse. Nach der Wahrheitssemantik dieser Theorien versteht man einen Satz, wenn man weiß, wann dieser Satz wahr ist. Die Geltungsproblematik wird daher bei dieser Theorie auf das Verhältnis der Sprache zur Welt als der Gesamtheit der Tatsachen reduziert. Wegen der Identifizierung der Geltung mit der Aussagenwahrheit entsteht ein Zusammenhang zwischen der Behauptung und der Geltung sprachlicher Ausdrücke ausschließlich in der Tatsachen feststellenden Rede. 32 TPF FPT Austin geht aber davon aus, daß es verschiedene Geltungsansprüche gibt, die nicht auf eine Bedeutungsebene zurückbezogen werden können. Eine der eigentümlichen Charakteristiken seiner Sprachtheorie ist es, das Sprechen als eine Handlung zu betrachten. Daher untersucht er besonders die Fälle, "in denen wir etwas tun, dadurch daß wir etwas sagen", 33 wie dies z. B. bei Befehlen, Versprechen und Wünschen der TPF FPT Fall ist. Solche Sprechakte, die er 'performative Äußerungen' nennt, 34 sind nicht die TPF FPT Äußerungen, welche einen Sachverhalt beschreiben oder eine Tatsache behaupten und deren Geltung deswegen in der Wahrheitsproblematik bereits entschieden ist, sondern diejenigen Äußerungen, die zugleich eine 'Handlung' sind, die den Sprecher und den Hörer auf bestimmte Weise verbinden. Ein Beispiel von ihm: "Ja! (ich nehme die hier anwesende XY zur Frau)" ist eine performative Aussage, weil der Sprecher mit dieser Aussage nicht eine Tatsache des Heiratens berichtet, sondern etwas tut, und zwar heiratet. 35 Die Äußerung ist zugleich eine Tat, nämlich das Heiraten. Sie ist außerdem TPF FPT nur in einem bestimmten Kontext, z. B. im Laufe der standesamtlichen Trauung verständlich. Ein anderes Beispiel: der Satz: "die Katze ist auf der Matte" ist wahr, 30 TP PT Siehe zur Problematik der Anwendung der Sprechakttheorie auf die philosophischen Bereichen besonders: K.-O. Apel, Die Logosauszeichnung der menschlichen Sprache. Die philosophische Tragweite der Sprechakttheorie, Frankfurt/M. 1984. 31 PT J. L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1998, S. 26. TP 32 PT Vgl. ND, S. 76. TP 33 PT J. L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, a.a.O., S. 35. TP 34 PT A.a.O., S. 29. TP TP 35 PT A.a.O., S. 35. 139 wenn die Katze wirklich auf der Matte ist. Aber die Unbedingtheit der Bedeutung des Gesagten verschwindet mit der Einsicht, daß dieser Geltungsanspruch vom explizit oder implizit bestimmten Kontext eingeschränkt wird. Der oben eingeführte Satz enthält implizit z. B. eine Äußerung der Art: "Hiermit bestätige ich, daß […]", die weder wahr noch falsch ist, sondern durch die der Sprecher eine Handlung vollzieht, in diesem Beispiel die Bestätigung eines Sachverhaltes. Dieser Teil der Rede setzt einen Hörer voraus, der die soziale oder performative Bedeutung des 'Bestätigens' versteht. "Die Katze ist auf der Matte" kann daher in diesem Fall als eine verkürzte Version von: "Hiermit bestätige ich, daß die Katze auf der Matte ist" verstanden werden. Die performative Einstellung, die man in einer konkreten Situation einnimmt, enthält also die folgenden Voraussetzungen: 1) der Sprecher kommuniziert über etwas in der Welt mit einer zweiten Person, 2) der potentielle Hörer, der sich als zweite Person verhält, nimmt nicht eine Beobachterperspektive ein, von der aus er die Wahrheit oder die Falschheit der Aussage beurteilen kann, sondern eine Teilnehmerperspektive, von der aus er durch den Meinungsaustausch seine Position ändern kann, 3) Sprecher und Hörer sehen sich als Mitglieder der historisch-kulturellen Welt einer konkreten Sprachgemeinschaft an. Die performative Aussage setzt also voraus, daß der Sprecher aus der Perspektive seines Partners sich selbst besser verstehen lernen kann, genauso wie der Hörer umgekehrt sich die Perspektive des Sprechers aneignen kann, um von ihm zu lernen. Dabei stellt sich nun die Frage, unter welcher Bedingung eine Sprechhandlung erfolgreich ausgeübt wird. Austin geht davon aus, daß, um zu wissen, ob z. B. ein 'Versprechen' tatsächlich erfüllt wurde, man nicht (nur) berücksichtigen muß, was die Aussage des (Ver-)Sprechers ist, sondern auch, in welchen Umständen diese Sprechhandlung getätigt wird. Er versucht die allgemeinen Eigenschaften des Versprechens an Fällen zu verdeutlichen, in denen die Äußerung entsprechender Sätze tatsächlich als ein Versprechen fungiert. Austin nennt folgende Bedingungen für den Erfolg einer performativen Äußerung: "(A.1) Es muß ein übliches konventionales Verfahren mit einem bestimmten konventionalen Ereignis geben; zu dem Verfahren gehört, daß bestimmte Personen unter bestimmten Umständen bestimmte Wörter äußern. (A.2) Die betroffenen Personen und Umstände müssen im gegebenen Fall für die Berufung auf das besondere Verfahren passen, auf welches man sich 140 beruft. (B.1) Alle Beteiligten müssen das Verfahren korrekt (B.2) und vollständig durchführen." 36 TPF FPT Hierbei ist auffällig, daß er die 'Konvention' als einen wichtigen Maßstab für den Erfolg einer Sprechhandlung ansieht. Dies bedeutet vor allem, daß die Bedeutung einer Sprechhandlung einerseits nicht bloß auf einen psychischen oder geistigen Zustand des Subjekts reduziert werden darf und daß andererseits jede Sprechhandlung "mindestens zu einem gewissen Grade ein Mißerfolg" 37 sein kann. Mit anderen Worten, "die TPF FPT Möglichkeit des Mißerfolgs", wie Culler sagt, ist "der performativen Äußerung inhärent und Ausgangspunkt der Untersuchung." 38 Der (Miß-)Erfolg oder die Bedeutung einer TPF FPT Sprechhandlung steht daher schon im engen Zusammenhang mit der Situation, in der diese Sprechhandlung erfolgreich ist. Die Gültigkeit z. B. eines Versprechens hängt vollständig von der Situation ab, die dem Hörer die Aussage des Sprechers als Versprechen verständlich macht. Gerade in diesem Punkt ist jede Sprechhandlung gleichzeitig gewissermaßen ein Mißerfolg, weil die Situation, in der man beurteilen kann, ob eine Sprechhandlung erfolgreich ist, keine unveränderliche Konstante ist. Es ist ein wichtiger Bestandteil der Sprechakttheorie, die wechselseitige Beziehung zwischen der performativen Sprechhandlung und der Situation, in der diese Sprechhandlung eine wahre Aussage ist, zu untersuchen. 39 TPF FPT Im Rahmen der Sprechakttheorie hat die Sprache, besser gesagt, die Sprechhandlung drei Funktionen: die Darstellung der Sachverhalte, die Herstellung der Beziehungen zu dem Adressaten und den Ausdruck der Intention eines Sprechers. Die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks muß also nicht nur im Zusammenhang mit dem darin Gesagten, auf dessen Analyse sich die herkömmlichen Sprachtheorien konzentrieren, sondern auch in Zusammenhang mit der Art seiner Verwendung im Sprechakt sowie mit dem mit ihm Gemeinten analysiert werden. In Hinblick auf die drei Funktionen einer Sprechhandlung unterscheidet Austin zwischen dem lokutionären, dem illokutionären sowie dem perlokutionären Akt. Wie gesagt, ist sein Ausgangspunkt, daß eine Äußerung zugleich eine Handlung ist. Er nennt 36 PT A.a.O., S. 37 und 47. TP 37 PT A.a.O., S. 36. TP 38 PT J. Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Hamburg 1999, S. TP 128. TP 39 PT Habermas erweitert diese Beziehung zwischen Sprechhandlung und Situation zu der Relation zwischen dem Handeln des sprech-handelnden Subjekts und der Lebenswelt. 141 dabei die gesamte Handlung, etwas zu sagen, d. h. das Ganze des wirklich Gesagten den lokutionären Akt. 40 Dieser Akt findet sich besonders im propositionalen Gebrauch der TPF FPT Sprache, wie z. B. in der objektiven Darstellung des Sachverhaltes, in Berichten und in Vorhersagen etc., die entweder wahr oder falsch sein können. Die lokutionäre Äußerung hat also etwas mit dem zu tun, worüber man spricht. Die illokutionäre Äußerung bezieht sich aber auf das, in welcher Form man etwas über einen Sachverhalt sagt. Während die erste der Akt ist, daß man etwas sagt, ist die zweite der Akt, den man vollzieht, indem man etwas sagt. 41 Dieser Akt findet sich besonders z. B. im TPF FPT Versprechen und Befehlen etc., die eine Form der sozialen Beziehung zwischen den Beteiligten etablieren. Bemerkenswerterweise geht Austin davon aus, daß der illokutionäre Akt den performativen Sinn der Sprache am besten zum Ausdruck bringt. Er sagt in diesem Zusammenhang: "Einen lokutionären Akt vollziehen heißt im allgemeinen auch und eo ipso einen illokutionären […] Akt vollziehen." 42 Übrigens TPF FPT spricht Austin ferner von einem dritten Sprachakt, der weder lokutionär noch illokutionär ist und als Resultat der Rede gewisse Wirkungen auf die Gefühle, Gedanken oder Handlungen der Adressaten intendiert oder hat. Er nennt diese Handlung den perlokutionären Akt, der sich besonders z. B. in der Überredung, der Überzeugung und der Besänftigung etc. findet. Während die lokutionäre die Objektivität der Tatsache berichtet und die illokutionäre die intersubjektive oder soziale Beziehung voraussetzt, drückt die perlokutionäre Äußerung die subjektiven Wirkungen der Sprechhandlung aus. Aus dieser Sicht gehören z. B. "Er hat gesagt, daß […]", in dessen Form der Sprecher die Tatsache objektiv berichten will, zur Äußerung des lokutionären Aktes, "Er hat die Meinung vertreten, daß […]", in dessen Form der Sprecher seine von seinem Sprechpartner unterschiedene Position äußern will, zum illokutionären Akt, und "Er hat mich überzeugt, daß […]", in dessen Form der Sprecher seine Position dem Adressaten nahe bringen will, zum perlokutionären Akt. 43 Austin zeigt auch an einem anderen TPF FPT Beispiel den Unterscheid dieser drei Sprechakte. Im perlokutionären Akt (C) kommen der lokutionäre und illokutionäre Akt nur indirekt (C.a) oder überhaupt nicht (C.b) vor: 40 PT J. L. Austin. Zur Theorie der Sprechakte, a.a.O., S. 112. TP 41 PT A.a.O., S. 117. TP 42 PT A.a.O., S. 116. TP TP 43 PT A.a.O., S. 119. 142 "Akt (A), Lokution Er hat zu mir gesagt: 'Das kannst du nicht tun!' Akt (B), Illokution Er hat dagegen protestiert, daß ich das täte. Akt (C), Perlokution (C.a) Er hat mir Einhalt geboten. (C.b) Er hat mich davon abgehalten, mich zur Besinnung gebracht, mich gestört." 44 TPF FPT Diese Einteilung der Sprechakte zeigt, daß ein Sprechakt nicht nur die objektive Darstellungsfunktion der Sachverhalte, sondern auch die soziale, intersubjektive Konvention sowie die subjektive Intention des Sprechers in sich enthält. Dies bedeutet vor allem, daß nicht nur die Objektivität der Darstellung der Sachverhalte oder die Wahrheit, sondern die soziale, normative Richtigkeit sowie die subjektive Authentizität oder die Wahrhaftigkeit als Kriterien für die Geltungen eines Sprechakts fungieren. Diese Einsicht unterscheidet sich daher besonders von der Wahrheitssemantik, die das Wesen der Sprache nur in der Darstellungsfunktion der Sachverhalte, also in der Wahrheitsproblematik sieht. Habermas sieht daher in dieser Sprechakttheorie eine Möglichkeit, sich der Instrumentalisierung der Vernunft in der modernen Zeit entziehen zu können, die in der Distanzierung des erkennenden Subjekts vom erkannten Objekt besteht. 2.2. Die sprachpragmatische Deutung des Handelns Um einen Ausweg "zwischen der Scylla des Absolutismus und der Charybdis des Relativismus" 45 zu finden, untersucht Habermas die Sprachwissenschaft und u.a. die TPF FPT Sprechakttheorie. Die Gründe dafür, daß Habermas diese Theorie analysiert, lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: 1) die sprachwissenschaftliche Voraussetzung, daß jeden Sprechakt die Geltungsdimension begleitet, bedeutet, daß in jedem konkreten Sprechakt Empirisches und Transzendentales sowie Konkretheit und Idealität miteinander verbunden sind. Hierin sieht Habermas eine Möglichkeit, sowohl den 44 PT A.a.O., S. 119. TP TP 45 PT PDM, S. 351. 143 Relativismus des Empirismus als auch den Dogmatismus des Purismus der transzendentalen Vernunft zu vermeiden. 2) Der Ausgangspunkt der Sprechakttheorie ist die These, daß eine Äußerung zugleich eine Handlung ist. Hierin sieht Habermas eine Möglichkeit des Übergangs von der Sprachtheorie zur Handlungstheorie. 3) Die Einteilung der Sprache in drei Funktionen, die nicht auf eine Funktion reduziert werden können, ist ein zentrales Ergebnis der Sprechakttheorie. Hierin sieht Habermas eine Möglichkeit, den modernen 'Polytheismus der Werte' rational zu deuten. Habermas wendet die wissenschaftlichen Ergebnisse der Sprechakttheorie auf die Handlungstheorie an und entwickelt eine Theorie des kommunikativen Handelns. Nach dieser Theorie ist selbst das nicht sprachliche Handeln eine sprachlich vermittelte Handlung. Diese Handlung, die das kommunikative Handeln genannt wird, wird also als Einheit von dem nicht-sprachlichen einfachen Handeln und dem Sprechakt angesehen. Habermas unterscheidet diese Form der Handlung vor allem von dem Begriff der Handlung der sogenannten Handlungstheorie, die nur zweckrationale Handlungen analysiert. Um die Charakteristik des kommunikativen Handelns deutlich zu machen, vergleicht Habermas die sprachliche Äußerung mit dem nicht-sprachlichen, einfachen Handeln. Dieses Handeln, wie es sich z. B. in der Arbeit und im Laufen etc. zeigt, ist darauf gerichtet, "durch die Wahl und den Einsatz geeigneter Mittel gesetzte Ziele zu realisieren." 46 Weil bei diesem Handeln die Zweck-Mittel-Beziehung ausschlaggebend TPF FPT ist, wird es die Zwecktätigkeit oder das instrumentale Handeln genannt. Aus diesem Grund wird das zweckrationale Handeln als handlungstheoretische Version der Subjektphilosophie verstanden, die die erkenntnistheoretische Trennung von Subjekt und Objekt voraussetzt und deren Handlungsmodell nichts anderes als ein monologisches, instrumentales Handeln ist. Hierbei erscheinen das Subjekt als Beobachter und das Objekt als beobachtet. Dahingegen werden sprachliche Äußerungen, wie z. B. Befehle oder Geständnisse, die nicht einen bestimmten Sachverhalt darstellen, als Akte verstanden, "mit denen sich ein Sprecher mit einem anderen über etwas in der Welt verständigen möchte." 47 Sie TPF FPT bestehen darin, daß der Sprecher nicht als Beobachter oder als eine dritte Person fungiert, die den Gegenstand beobachtet, darstellt oder bearbeitet, sondern als ein 46 PT ND, S. 63. TP TP 47 PT Ebd. 144 Beteiligter, der nach der Intention einer Handlung des Gesprächpartners fragt und deren Sinn versteht. Habermas verdeutlicht den Unterschied zwischen beiden Handlungen mithilfe der Sprachanalyse: 48 Er unterscheidet den Satz: "Er eilt über die Straße" von dem Satz: TPF FPT "Lasse die Waffe fallen!" Sie sind ganz andere Typen der Äußerungen. Jener Satz ist eine Darstellung meiner Beobachtung, daß ein Freund im Laufschritt die Straße überquert. In dieser Darstellung zeigt sich, daß der Freund darauf abzielt, die andere Straßenseite schnell zu erreichen. Aber warum er diese Tätigkeit ausführt, bleibt noch interpretationsbedürftig. D. h. ob er z. B. seinen Zug nicht verpassen oder nicht zu spät zur Vorlesung kommen möchte, ist in der Aussage nicht angegeben, und eine Deutung seiner Motive hängt daher von der hypothetischen Interpretation des Beobachters ab. Der Beobachter bleibt hier nur eine dritte Person, die den Handelnden beobachtet und dessen Handlung objektiv darstellt. Diese Beobachterperspektive ist allerdings nichts anderes als eine Version des erkenntnistheoretischen S-O-Schemas der Subjektphilosophie. Der zweite Satz ist eine Befehlsaussage, die mir ein Freund macht. Wenn ich diese Äußerung verstehe, dann weiß ich ziemlich genau, welche Handlung ich ausführen soll. Diese Sprechhandlung bleibt nicht in demselben Sinne interpretationsbedürftig wie der Laufschritt des vorbeieilenden Freundes, weil der illokutionäre Bestandteil dieses Sprechaktes in der konkreten Kommunikation den Verwendungssinn des Gesagten festlegt. In dem Punkt, daß die Sprechakte eine sich selbst interpretierende selbstbezügliche Struktur, d. h. die Reflexivität der impliziten Selbstkommentierung haben, unterscheiden sie sich von den nichtsprachlichen Handlungen. 49 Während das TPF FPT Ziel der nichtsprachlichen Handlung, unabhängig von den Mitteln, als ein in der objektiven Welt kausal zu bewirkender Zustand bestimmt wird, 50 richten sich die TPF FPT Sprechakte auf illokutionäre Ziele, die nicht den Status eines innerweltlich zu realisierenden Zwecks einnehmen und die ohne die ungezwungene Kooperation und Zustimmung eines Adressaten nicht verwirklicht und nur mit Rekurs auf das Konzept der Verständigung erklärt werden können, das dem sprachlichen Medium selbst innewohnet. 51 TPF 48 PT Siehe ND, S. 64. TP 49 PT A.a.O., S. 65. TP 50 PT A.a.O., S. 66. TP 51 TP FPT PT A.a.O., S. 67. 145 Dieses Beispiel zeigt, daß die Zwecktätigkeit bzw. das teleologische Handeln und die Interaktion voneinander unterschieden werden müssen und nicht aufeinander reduziert werden dürfen. Habermas versucht aber diese unterschiedlichen Handlungstypen unter dem Begriff des 'kommunikativen Handelns' zu vereinigen, der als sprachlich vermittelte Interaktion definiert wird. Diese Definition unterscheidet sich sowohl vom 'Objektivismus', der von der vorsprachlichen Realität oder von nicht sprachlichen Handlungen ausgeht, als auch vom Strukturalismus, der davon spricht, daß nichts außer der Welt der Sprache vorhanden ist. Die Sozialwissenschaft hat im Grunde die Interaktion zwischen den Subjekten als ihren Gegenstand. In diesem Punkt ist das Schema der Trennung von S-O ungeeignet für die Erklärung der gesellschaftlichen Erscheinungen. Aber die traditionelle Sozialwissenschaft hängt trotzdem vom Subjekt-Objekt-Schema ab, weil ihr Handlungsbegriff teleologischen nach Handelns Habermas ist, nur das eine eine soziologische Erweiterung handlungstheoretische Variation des des erkenntnistheoretischen S-O-Schemas ist: das instrumental-strategische Handeln. Dieses richtet sich vor allem auf die Realisierung eines Plans, der sich auf die Situationsdeutung des Aktors stützt. 52 Bei diesem erfolgsorientierten Handeln geht es TPF FPT um das Paradigma von Zweck und Mittel, so daß sich das Verhalten der Interaktionsteilnehmer bei dem Ausführen ihrer Handlungspläne an der Maximierung des Nutzens orientiert und daher egozentrisch ist. Die Orientierung an diesem Handlungstyp findet besonders im Utilitarismus seinen Ausdruck. Der Begriff des 'kommunikativen Handelns' trägt dazu bei, die Einseitigkeit der Konzeption des instrumental-strategischen Handelns zu entlarven. Kommunikatives Handeln zielt darauf ab, durch interpretierende Rollenübernahme oder durch kooperative Deutungsprozesse "ein rational motiviertes Einverständnis" zwischen den Akteuren herzustellen. 53 Dieses Handeln geht daher von der reziproken Beeinflussung TPF FPT der Interaktionsteilnehmer aus. Die sprachlich vermittelte Interaktion setzt also die Handlungskoordinierung zwischen Ego und Alter voraus, durch die die Akteure ihre Handlungen auf eine bestimmte Weise aneinander anschließen und somit die Wahl möglicher Handlungen eingeschränkt wird. Insofern ist kommunikatives Handeln in der Tat eine auf der Intersubjektivität basierende Form des Handelns. 52 PT Siehe J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns (=VE), TP Frankfurt/M. 1995, S. 575. TP 53 PT Ebd. 146 Im Übrigen nimmt aber dieses Handeln auch die weiteren performativen Ebenen der Sprache auf, anders als die bloße Tatsachenbehauptung, die nur auf erkenntnistheoretische Wahrheit oder Falschheit abzielt. Denn wer etwas verspricht, der versteht nicht nur seine Aussage, sondern fühlt auch in einer bestimmten Situation, daß sein Versprechen erfüllt werden soll. Kommunikatives Handeln ist also ein Oberbegriff, der auch alle Ziele und Folgen einer Handlung impliziert, die über das bloß sprachliche Verständnis der Aussagewahrheit hinausgehen. Die Problematik der Handlungskoordinierung ist bei der Interaktion besonders deswegen unvermeidbar, weil die Verwirklichung von Plänen und Handlungszielen eines Aktors in der Regel nur mit Hilfe der Handlungen anderer Aktoren durchgeführt werden kann. Je nachdem, wie die Pläne und Handlungen des Alter an die Handlungen des Ego angeschlossen werden, ergeben sich verschiedene Typen sprachlich vermittelter Interaktion. Bei der Einteilung der Handlungstypen beruft sich Habermas wieder auf die Theorie der Sprechakte. Ein Sprechakt hat, wie erwähnt, drei Bestandteile: den lokutionären Akt, in dem die Sachverhalte objektiv dargestellt werden, den illokutionären Akt, der die Art der intersubjektiven Beziehung zwischen Sprecher und Hörer zum Ausdruck bringt, und den perlokutionären Akt, in dem sich die Intention des Sprechers zeigt. Er wendet diese drei Bestandteile des Sprechaktes auf das menschliche Handeln an und teilt es in teleologisches, normatives und dramaturgisches Handeln ein. 54 TPF FPT 1) Teleologisches (zielgerichtetes) Handeln zielt darauf ab, einen Zweck durch die Wahl der in der gegebenen Situation erfolgversprechenden Mittel und deren Anwendung zu realisieren, im Bereich der Interaktion nimmt es daher die Form des strategischen Handelns an. Bei diesem Handlungstyp geht es daher um Nutzenmaximierung. Aus der Perspektive dieses Handlungsmodells erscheinen die Akteure als erfolgsorientiert handelnde Subjekte, weil jeder von ihnen seinen Interaktionspartner als Mittel für den jeweils eigenen Zweck betrachtet. Sie sind also als einsame Subjekte aufeinander bezogen. Für diesen Standpunkt ist die Gesellschaft nichts anderes als eine instrumentelle Ordnung, die die Handlungen der zweckrationalen Subjekte verbindet. Für diese strategischen Handlungen sind daher die normativen Begriffe, wie z. B. Gerechtigkeit und Legitimation, "Fremdkörper". 55 Das TPF FPT Problem ist aber, daß die soziale Ordnung auf Dauer nicht allein durch 54 PT Siehe dazu TkH 1, S. 126ff. und VE, S. 575ff. TP TP 55 PT VE, S. 577. 147 ineinandergreifende Interessen gewährleistet werden kann, wenn die Normativität bei dieser Ordnung fehlt. Nach Habermas ist der Begriff der Normativität selbst bei einer radikal strategischen Handlung unvermeidbar. Er geht also von der Notwendigkeit der Normen für die soziale Ordnung aus. Daß P. Blau seine Theorie des Tauschhandelns durch den Begriff der Gerechtigkeit und R. Darendorf seine Konflikttheorie durch den Begriff der Legitimation ergänzen mußten, sieht er als eine Bestätigung seiner Theorie an, daß eine gesellschaftliche Ordnung ohne normative Begriffe keinen Bestand haben kann. Das Modell der strategischen Handlung spielt nach Habermas bei den entscheidungs- und spieltheoretischen Ansätzen in Ökonomie, Soziologie und Sozialpsychologie eine entscheidende Rolle. 2) Normatives Handeln bezieht sich nicht auf einen einsamen Aktor, der erst nachträglich in eine Verbindung mit anderen Aktoren tritt, sondern auf Gruppen, die ihr Handeln an gemeinsamen Werten orientieren. Die Befolgung der Normen wird von allen Mitgliedern erwartet. Bei diesem Modell wird die soziale Ordnung als ein System anerkannter Normen begriffen. Das Problem ist hierbei, daß die Individualität des Einzelnen vollständig hinter der Erklärung der gesellschaftlichen Erwartungen verschwindet. Jeder Aktor ist dem Großsubjekt der Gesellschaft untergeordnet und daher gibt es keinen Raum für die Freiheit des einzelnen Aktors. 56 Nach Habermas liegt TPF FPT dieses Modell besonders der Rollentheorie (Durkheim und Parsons) zugrunde. 3) Dramaturgisches Handeln bezieht sich nicht auf einen einsamen Aktor oder auf Gruppen, sondern auf die expressive Selbstrepräsentation vor einem Publikum (z. B. bei Goffman). Die Beteiligten können den öffentlichen Zugang zur jeweils eigenen Subjektivität kontrollieren. Die Selbstrepresentation bedeutet deshalb "nicht ein spontanes Ausdrucksverhalten, sondern die zuschauerbezogene Stilisierung des Ausdrucks eigener Erlebnisse." 57 Das Problem besteht aber bei dieser Handlung darin, TPF FPT daß bei der Theorie der dramaturgischen Handlungen gesellschaftliche Institutionen und Normen keine Rolle spielen. Ist beim normativen Handeln der Aktor gleichsam 'übersozialisiert', da sein Handeln vollständig den gesellschaftlichen Erwartungen entspricht, so ist im Gegensatz dazu bei der Theorie des dramaturgischen Handelns der Aktor 'untersozialisiert', da er keine Normen befolgt und den anderen Aktoren stets etwas vormacht. Dieses dramaturgische Handlungsmodell findet nach Habermas bei einigen phänomenologisch geprägten Interaktionsbeschreibungen Verwendung. 56 PT A.a.O., S. 581. TP TP 57 PT Ebd. 148 Bei dieser Einteilung der Handlungen ist auffällig, daß Habermas nicht nur normatives und dramaturgisches, sondern auch teleologisches (bzw. instrumentales oder strategisches) dem kommunikativen Handeln zuordnet. Ebenso wie der Kern seiner Kritik an der modernen Philosophie in der Erhebung der instrumentellen Vernunft zur Vernunft überhaupt liegt, fokussiert sich gleichfalls seine Kritik an der modernen Handlungstheorie besonders auf die Erhebung des instrumentalen bzw. strategischen Handeln zum Handeln überhaupt. Diese Erhebung ist nach ihm nur eine Verallgemeinerung eines Besonderen. Aus der Perspektive der Theorie des kommunikativen Handelns haben die drei oben erwähnten Handlungstypen jedoch allein innerhalb des Begriffs des kommunikativen Handelns ihre Gültigkeit. Also müssen diese drei Handlungstypen nur als Grenzfälle des kommunikativen Handelns verstanden werden, weil sie alle die interagierenden, sprachfähigen Subjekte voraussetzen. In jenen drei Grenzfällen kommt jeweils nur eine der vielfältigen Funktionen der Sprache zum Zuge: bei der teleologischen bzw. strategischen Handlung funktioniert die Sprache nur als Instrument für eine Verständigung der Aktoren, die jeweils ihre eigenen Zwecke im Auge haben. Hier verliert die Sprache ihre Bindungskraft zwischen den Beteiligten im hohen Maß und funktioniert nur als Informationsmedium, weil die assertorischen Sprechakte bei diesem Handlungstyp überwiegen, die im Modus der Wahrheit bzw. der Nützlichkeit operieren; bei dem normativen Handlungstyp funktioniert die Sprache als bloßes Aussprechen eines schon vorhandenen normativen Einverständnisses, das sich besonders in dem sittlichen und praktischen Wissen einer Gesellschaft ausdrückt. Bei einer Bewertung dieser Handlungen geht es um die soziale Angemessenheit bzw. um die normative Richtigkeit der Handlung; bei dem dramaturgischen Handlungstyp dient die Sprache nur der Selbstdarstellung der Subjekte, und eine Bewertung dieser Handlungen bezieht sich daher auf die vorhandene oder fehlende Wahrhaftigkeit der Selbstdarstellung. Wenn diese drei Handlungstypen als Grenzenfälle des kommunikativen Handelns verstanden werden, müssen die Geltungsansprüche der drei Handlungen, d. h. die Wahrheit bzw. die Nützlichkeit, die soziale bzw. normative Richtigkeit und die Wahrhaftigkeit im Rahmen der Kategorie der Verständigung interpretiert werden. Die Kommunikationsbeteiligten "nehmen nicht mehr gerade hin auf etwas in der objektiven, 149 sozialen oder subjektiven Welt Bezug, sondern relativieren ihre Äußerungen an der Möglichkeit, daß deren Geltung von anderen Aktoren bestritten wird." 58 TPF FPT Beim Begriff des kommunikativen Handelns gibt es drei aufeinander nicht reduzierbare Handlungstypen, und jeder von ihnen hat seinen eigenen Geltungsanspruch. Es handelt sich daher bei der menschlichen Gesellschaft nicht nur um eine Welt der Objekte, die uns in der Einstellung eines Beobachters begegnet, sondern auch um eine Welt der Normen, die wir in der Einstellung eines Beteiligten befolgen oder verletzen können. Wenn normatives und expressives Handeln nicht auf strategisches Handeln reduzierbar sind und wenn man annimmt, daß die normative Richtigkeit und die subjektive Wahrhaftigkeit wahrheitsanaloge Geltung haben, wird deutlich, daß die bewußtseinsphilosophische Wahrheitsauffassung zu eng bzw. stark verkürzt ist, für die sich die Wahrheit über die Welt in der Summe der durch wahre assertorische Propositionen ausgedrückten Tatsachen erschöpft. Die Theorie des kommunikativen Handelns ist also ein Resultat der Auseinandersetzung mit der Einseitigkeit des Begriffs des instrumentalen Handelns, der als Gegenstand der Handlungstheorie der modernen Sozialwissenschaft als praktisch-philosophischer Ausdruck des subjektphilosophischen S-O-Paradigma verstanden wird. Natürlich spielt das instrumentale Handeln auch für Habermas in der Gesellschaftstheorie eine wichtige Rolle; aber er ergänzt das kommunikative Handeln, das zuvor vernachlässigt wurde. Daher unterscheidet er zwischen dem System (der sozialen Funktion des instrumentalen Handelns) und der Lebenswelt (des Bereichs des rein kommunikativen Handelns). Um zu beurteilen, ob seine Theorie überzeugend ist, ist es daher wichtig zu analysieren, wie Habermas genau die Beziehungen zwischen beiden Handlungstypen bestimmt. Das Verhältnis zwischen Handlungsart, Geltungsanspruch und Weltzusammenhang läßt sich wie folgt darstellen: Handlungsart TP 58 PT Geltungsanspruch Weltzusammenhang TkH 1, S. 148. Ich gehe davon aus, daß Habermas trotz vieler widersprüchlicher Aussagen das kommunikative Handeln nicht als vierten Handlungstyp, sondern als eine jene drei Handlungen umfassende Handlung betrachtet. Zwar erwähnt er beim Sprechakt vier Geltungsansprüche, d. h. Verständlichkeit, Wahrheit, normative Richtigkeit und Wahrhaftigkeit, aber er spricht sonst von "genau drei Geltungsansprüchen" (z. B. in VE, S. 588). Die Verständlichkeit muß daher als Voraussetzung jener drei Geltungsansprüche gedeutet werden. 150 Teleologisches Handeln Wahrheit Objektive Welt Normatives Handeln Richtigkeit Soziale Welt Dramaturgisches Handeln Wahrhaftigkeit Subjektive Welt Kommunikatives Handeln Verständigung Reflexiver Bezug auf alle drei 'Welten' 2.3. Die sprachpragmatische Deutung der Lebenswelt Besonders auffällig ist in der Theorie des kommunikativen Handelns der Begriff der sprachphilosophisch neu interpretierten Lebenswelt, den Habermas als 'komplementären' Begriff zu dem kommunikativen Handeln entwirft. 59 Für Habermas TPF FPT ist die Dimension der Lebenswelt eine wichtige, ja sogar eine notwendige Bedingung möglicher Kommunikation. Er versteht unter der Lebenswelt den Bereich der 'Ressourcen' des kommunikativen Handelns, "aus dessen Beiträgen sie wiederum reproduziert wird." 60 TPF FPT Husserl erhebt den Begriff der Lebenswelt zu einem Gegenstand der Philosophie. 61 Der TPF FPT Ausgangspunkt seines Buchs Die Krisis der europäischen Wissenschaften ist, daß die moderne Wissenschaft die alltägliche 'triviale' Wahrheit der Lebenswelt, die von ihm als "vergessenes Sinnesfundament der Naturwissenschaft" 62 verstanden wird, gar nicht TPF FPT berücksichtigt und dadurch die europäische Menschheit in eine 'radikale Lebenskrisis' gestürzt hat. Husserl nennt diese Verdrängung der Lebenswelt den wissenschaftlichen oder physikalischen Objektivismus. Indem die moderne naturwissenschaftliche Methode alle Erfahrungen der Subjekte durch ihre formalisierte Sprache objektiviert, 59 TkH 1, S. 376 und 452. TP PT 60 PDM, S. 396. K.-O. Apel und Habermas, die beide als Vertreter der Konsenstheorie angesehen werden, TP PT unterscheiden sich in diesem Punkt voneinander: während jener in dem performativen Widerspruch des Irrationalismus die Letztbegründung des den Rationalismus sieht, findet dieser die Grundlage des rationalen Diskurses gerade in der Lebenswelt, die als ein vorrationaler Bereich angesehen werden kann. Vgl. Wiljo Doeleman, Philosophische Methodik: Apel vs. Habermas, in: W. van Reijen / K.-O. Apel (Hg.), Rationales Handeln und Gesellschaftstheorie, Bochum 1984, S. 115-130, bes. S. 122. TP 61 Bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts forderten R. Avenarius und E. Mach einen Rückgang auf PT die vorwissenschaftliche, unmittelbare und reine Erfahrung, die allen Wissenschaften zugrunde liegt. Husserl nimmt ihren wesentlichen Gedanken zu seinem Begriff der Lebenswelt auf. Siehe P. Janssen, Lebenswelt, in: HWPh, Bd. 5, Sp. 151ff. 62 TP PT E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und transzendentale Phänomenologie, Hamburg 1977, S. 52. 151 rechtfertigt sie die Abwertung der alltäglichen Wahrheiten der Lebenswelt, obwohl diese der Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Arbeit sind. Die moderne Naturwissenschaft hilft zwar den Menschen, die Natur besser zu verstehen und effektiv zu erobern, aber sie trägt zugleich die Gefahr in sich, uns diese Welt als unsere Welt zu verdecken. Das ist der Grund, warum Husserl den als Stifter der modernen Naturwissenschaft geltenden Galilei einen "zugleich entdeckenden und verdeckenden Genius" 63 nennt. Husserl versucht mit dem Konzept der Lebenswelt die trivial TPF FPT erscheinende Wahrheit über unsere Welt wieder zu entdecken. Die Lebenswelt ist nicht starr und unwandelbar, sondern ändert sich als Horizont je nach der Situation eines Menschen, d. h. sie vergrößert oder verkleinert sich und bildet für die beteiligten Subjekte den unbefragten, aber stets fragwürdigen Hintergrund, vor dem jede Untersuchung beginnt. 64 TPF FPT Habermas nimmt diese Bestimmung der Lebenswelt in seine Sozialphilosophie auf. Er bezweifelt aber, daß der Begriff der Lebenswelt, so wie Husserl ihn versteht, zur Deutung einer auf der Interaktion der Subjekte beruhenden Handlungstheorie beitragen kann, weil dieser Begriff bei Husserl nach Habermas nur vor dem Hintergrund des erkenntnistheoretischen S-O-Schema analysiert wird. Sein Hauptkritikpunkt an der phänomenologischen Auffassung der Lebenswelt ist also, daß diese nichts anderes in den Blick bekommt als notwendige subjektive Bedingungen der Erfahrung des 'egologischen Bewußtseins', d. h. des transzendentalen Ich. 65 Mit diesem Modell TPF FPT können daher die auf der Intersubjektivität basierenden Momente der Handlungen sowie die intersubjektive Dynamik der Strukturen der Lebenswelt nicht erfaßt werden. Auch A. Schütz und Th. Luckmann, die das erkenntnistheoretische Modell Husserls handlungstheoretisch zu deuten versuchten, lösen dieses Problem nicht. 66 Ihre TPF FPT Handlungstheorie überträgt das in Psychologie und Soziologie verwendete Modell des einsamen, in einer Situation durch Reize stimulierten oder planmäßig handelnden Aktors auf die phänomenologische Analyse der Lebenswelt und der Handlungssituation. Sie interpretieren die Situation des handelnden Subjekts als Umwelt für das Persönlichkeitssystem. Das Schema von Subjekt und Lebenswelt als Umwelt, das an 63 PT A.a.O., S. 56. TP 64 PT Siehe W. E. Mühlmann, Lebenswelt, in: HWPh, Bd. 5, Sp. 156. TP 65 PT TkH 2, S. 196. TP TP 66 PT A.a.O., S. 196ff. 152 das systemtheoretische Paradigma von System und Umwelt erinnert,67 ist nur eine TPF FPT phänomenologisch-soziologische Version des subjektphilosophischen Paradigmas von Subjekt und Objekt. Schütz und Luckmann fassen daher das 'erlebende Subjekt' als letzten Bezugspunkt der Analyse auf. Insofern entwickeln sie ihre Gesellschaftsphilosophie innerhalb des Systems der transzendentalen Phänomenologie. Von daher werden alle Veränderungen der Lebenswelt bei der phänomenologischen Soziologie nach Habermas nur als Resultat der Selbsttätigkeit des transzendentalen Subjekts begriffen. 68 TPF FPT Die Habermassche Kritik an der phänomenologischen Auffassung der Lebenswelt besteht also darin, daß der Begriff der Lebenswelt, der eigentlich zum Zweck der Überwindung der monologischen Subjektphilosophie eingeführt worden ist, die die Moderne in eine 'radikale Lebenskrisis' geführt hat, schließlich lediglich dazu beiträgt, das subjektphilosophische Paradigma zu verlängern. Habermas ist dagegen der Ansicht, daß nur unter dem kommunikationstheoretischen Standpunkt der eigentliche Sinn der Lebenswelt, nämlich der Paradigmenwechsel von der monologischen Subjektivität zur dialogischen Intersubjektivität, ans Licht gebracht werden kann. Er reformuliert das Konzept der Lebenswelt kommunikationstheoretisch wie folgt: "Indem sich Sprecher und Hörer frontal miteinander über etwas in einer Welt verständigen, bewegen sie sich innerhalb des Horizonts ihrer gemeinsamen Lebenswelt; die bleibt den Beteiligten als ein intuitiv gewußter, unproblematischer und unzerlegbarer holistischer Hintergrund im Rücken. [...] Die Lebenswelt kann nur a tergo eingesehen werden. Aus der frontalen Perspektive der verständigungsorientiert handelnden Subjekte selber muß sich die immer nur mitgegebene Lebenswelt der Thematisierung entziehen. Als Totalität, die die Identitäten und lebensgeschichtlichen Entwürfe von Gruppen und Individuen ermöglicht, ist sie nur präreflexiv gegenwärtig. Aus der Perspektive der Beteiligten läßt sich zwar das praktisch 67 in Anspruch genommene, in Äußerungen PT Aus diesem Grund bezieht Habermas die phänomenologische Lebensweltanalyse auf das Luhmannsche TP systemtheoretische Schema von System und Umwelt. Siehe dazu TkH 2, S. 197. 68 TP sedimentierte PT A.a.O., S. 197f. 153 Regelwissen rekonstruieren, nicht aber der zurückweichende Kontext und die im Rücken bleibenden Ressourcen der Lebenswelt im ganzen." 69 TPF FPT Der Begriff der kommunikationstheoretisch umgedeuteten Lebenswelt gestattet den Handelnden nicht mehr die Perspektive eines Beobachters, in der die Lebenswelt objektiviert bzw. thematisiert werden kann; sondern sie erschließt eine Teilnehmerperspektive, in der die Handelnden miteinander integriert sind. Aus der Perspektive der Beteiligten erscheint die Lebenswelt als 'holistischer', sprachlich organisierter Vorrat an Deutungsmustern, der die Verständigung überhaupt erst ermöglicht, als solcher aber stets 'im Rücken' der Interaktionsteilnehmer bleibt. Das lebensweltlich garantierte Vorverständnis fungiert für den Beteiligten als Ausdruck einer gemeinschaftlichen, intersubjektiv geteilten Weltsicht. Die Lebenswelt zeichnet sich also durch die Eigenschaften der 'Selbstverständlichkeit', der 'Präreflexivität' und der 'Unhintergehbarkeit' aus. Allerdings ist die Erscheinungsweise der Lebenswelt nach Habermas je nach konkreter Handlungs- oder Sprechsituation verschieden. Die konkrete Handlungs- oder Sprechsituation setzt je nach der Handlungsart einen bestimmten Kontext voraus, und die Lebenswelt funktioniert in dem Fall als kontextbildender Horizont. Wir haben schon gesehen, daß Habermas das kommunikative Handeln entsprechend den Sprachbestandteilen einteilt in das strategische, das normative, und das dramaturgische Handeln. Die Lebenswelt erscheint je nach der Handlungs- oder der Sprechsituation jeweils als Kultur, als Gesellschaft und als Persönlichkeit. 70 Diese drei Aspekte der TPF FPT Lebenswelt definiert Habermas wie folgt: "Kultur nenne ich den Wissensvorrat, aus dem sich die Kommunikationsteilnehmer, indem sie sich über etwas in einer Welt verständigen, mit Interpretationen versorgen. Gesellschaft nenne ich die legitimen Ordnungen, über die die Kommunikationsteilnehmer ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen regeln und damit Solidarität sichern. Unter Persönlichkeit verstehe ich die Kompetenzen, die ein Subjekt sprach- 69 PT PDM, S.348f. TP TP 70 PT Habermas folgt hier dem Versuch Durkheims, die modernen Differenzierungsvorgänge in der Hinsicht des Auseinandertretens von Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit zu erklären, und rechtfertigt diese These gleichzeitig sprachpragmatisch. Siehe dazu TkH 2, S. 203. 154 und handlungsfähig machen, also instandsetzen, an Verständigungsprozessen teilzunehmen und dabei die eigene Identität zu behaupten." 71 TPF FPT Habermas zielt durch diese formalpragmatische Einteilung der Lebensweltstruktur darauf ab, daß die Lebenswelt aus mehreren nebeneinander stehenden Komponenten besteht. Darüber hinaus unterscheidet sich Habermas durch diesen Gedanken von allen reduktionistischen Tendenzen, die die Lebenswelt lediglich auf einen Bereich reduzieren und diesen Bereich dann verabsolutieren. Wenn sich das Interesse an der Lebenswelt nur auf einen ihrer Bestandteile konzentriert, entsteht nach Habermas ein einseitiges Lebensweltkonzept. So gebe es z. B. bei Husserl eine "kulturalistisch verkürzte", bei Durkheim eine "institutionalistisch verengte" und bei Mead "sozialisationstheoretisch verengte" Fassung der Lebenswelt. 72 TPF FPT Die formalpragmatische Auffassung der Lebenswelt erhellt zwar deren formale Struktur, aber sie erklärt die Dynamik der Lebenswelt noch nicht, weil der Aktor hier verstanden wird nur als Produkt von kulturellen "Überlieferungen, in denen er steht, von solidarischen Gruppen, denen er angehört, [sowie] von Sozialisation- und Lernprozessen, denen er unterworfen ist". 73 In diesem Verständnis der Lebenswelt ist TPF FPT schwer vorstellbar, welche Rolle das handelnde Subjekt bei der Veränderung der Lebenswelt spielt. Anders gesagt, in der formalpragmatischen Auffassung ist es nicht leicht, einen Skeptizismus bzw. Relativismus zu vermeiden, bei dem das Subjekt einseitig von der Lebenswelt abhängig ist und diese weder begreifen noch verändern kann. Daher soll nun untersucht werden, wie sich die Strukturen der Lebenswelt verändern. Die 'Reproduktion der Lebenswelt' besteht für Habermas darin, neu auftretende Situationen an die bestehenden Weltzustände anzuschließen. 74 In der kulturellen, TPF FPT semantischen Dimension werden konsensfähige Deutungsschemata ebenso beibehalten wie in der räumlichen, sozialen Dimension legitim geordnete, interpersonelle Beziehungen und in der zeitlichen, historischen Dimension Interaktionsfähigkeiten. Die Reproduktion der Kultur sichert die traditionelle Kontinuität und eine Kohärenz des 71 PT TkH 2, S. 209. TP 72 PT A.a.O., S. 210ff. Habermas bemängelt ferner an der Luhmannschen Systemtheorie u.a., daß sie die TP Lebenswelt zur 'Gesellschaft' hypostasiert und ihre anderen Bestandteile nur als ihre Umwelten ansieht. Siehe TkH 2, S. 232. 73 PT A.a.O., S. 204. TP TP 74 PT Siehe dazu TkH 2, S. 209 und PDM, S. 398. 155 Wissens, die Reproduktion der Gesellschaft sorgt für die Koordinierung von Handlungen und stärkt dadurch die Identität von Gruppen, und schließlich sichert die Reproduktion der Person den Erwerb generalisierter Handlungsfähigkeiten für nachwachsende Generationen und sorgt für die Abstimmung zwischen den individuellen Lebensgeschichten und der kollektiven Identität. Für das kommunikative Handeln fungiert die Lebenswelt als kontextbildender Horizont, auf dessen Grundlage die Akteure ihre Handlungspläne mithilfe einer gemeinsamen Situationsdefinition koordinieren. Dies bedeutet, daß die kommunikativ Handelnden eine "Erzählerperspektive" 75 haben, durch die Inhalte der Lebenswelt rekonstruiert TPF FPT werden können und die sich vorrangig von der Beobachtungsperspektive unterscheidet, die die Welt vollständig objektiviert oder verdinglicht. Die kommunikativ Handelnden, die sich innerhalb des Horizontes der Lebenswelt bewegen, sind daher gleichzeitig in der Lage, eine Situation unverkürzt zu erfassen: Die Lebenswelt funktioniert für sie also als "der transzendentale Ort, an dem sich Sprecher und Hörer begegnen; wo sie reziprok den Anspruch erheben können, daß ihre Äußerungen mit der Welt […] zusammenpassen; und wo sie diese Geltungsansprüche kritisieren und bestätigen, ihren Dissens austragen und Einverständnis erzielen können." 76 TPF FPT Dieser Gedanke unterscheidet sich sowohl von der atomistischen Sozialphilosophie, welche die individuellen Subjekte als einzigen entscheidenden Faktor für die Veränderung in der Gesellschaft ansieht, als auch von der holistischen Sozialphilosophie, welche die Gesellschaft zu einem sich selbst bewegenden Makrosubjekt macht. Die Reproduktion der Lebenswelt ist nach Habermas erst durch die Mitwirkung des sprech-handelnden Subjekts einerseits und der Lebenswelt als Horizont andererseits möglich: "Die Reproduktion der Lebenswelt speist sich aus Beiträgen des kommunikativen Handelns, während dieses wiederum auf die Ressourcen der Lebenswelt angewiesen ist." 77 Habermas beschreibt die Art und Weise, in der sich TPF FPT die strukturellen Faktoren der Lebenswelt und das kommunikative Handeln aufeinander beziehen, wie folgt: "Indem sich die Interaktionsteilnehmer miteinander über ihre Situation verständigen, stehen sie in einer kulturellen Überlieferung, die sie 75 PT TkH 2, S. 208. TP 76 PT A.a.O., S. 192. TP TP 77 PT PDM, S. 396. 156 gleichzeitig benützen und erneuern; indem die Interaktionsteilnehmer ihre Handlungen über die intersubjektive Anerkennung kritisierbarer Geltungsansprüche koordinieren, stützen sie sich auf Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen und bekräftigen gleichzeitig deren Integration; indem die Heranwachsenden an Interaktionen mit kompetent handelnden Bezugspersonen teilnehmen, internalisieren sie die Wertorientierungen ihrer sozialen Gruppe und erwerben generalisierte Handlungsfähigkeiten." 78 TPF FPT Kommunikatives Handeln dient also der Überlieferung kulturellen Wissens und dessen Erneuerung im Bereich der Kultur, der sozialen Integration und der Herstellung von Solidarität im Bereich der Gesellschaft und der Ausbildung von personalen Identitäten im Bereich der Person. Also besteht die Reproduktion der Lebenswelt in einer dialektischen Einheit von Kontinuität und Bruch, d. h. in "einer Traditionsfortsetzung und -erneuerung, die sich zwischen den Extremen der bloßen Fortschreibung von, und eines Bruches mit Traditionen bewegt." 79 TPF FPT Habermas verwendet diese theoretische Darstellung der Strukturwandlung der Lebenswelt für die Analyse der modernen Gesellschaft: die Moderne ist im Bereich der Lebenswelt durch eine reflexive Kultur, durch generalisierte Werte und Normen (Gesellschaft) und durch eine starke Betonnng des Individuums (Person) gekennzeichnet. Im Bereich des Subjekts zeichnet sich die Moderne durch ihr kritisches Bewußtsein (Selbstbewußtsein), durch autonome Willensbildung (Selbstbestimmung) und durch den Gedanken der Individuierung (Selbstverwirklichung) aus. Wenn man diese Phänomene nur in Hinsicht auf die strukturelle Komponente der Lebenswelt berücksichtigt, erscheint der Strukturwandel der Lebenswelt als "ein Zustand der Dauerrevision verflüssigter, d. h. reflexiv gewordener Traditionen" (Kultur), als "ein Zustand der Abhängigkeit legitimer Ordnungen von formalen, letztlich diskursiven Verfahren der Normsetzung und Normbegründung" (Gesellschaft) und als "ein Zustand der riskanten Selbststeuerung einer hoch abstrakten Ich-Identität" (Person). 80 Und wenn TPF FPT jene Phänomene nur in der Hinsicht der handelnden Subjekte berücksichtigt werden, reduziert sich die Strukturwandlung der Lebenswelt auf die Begriffe von 'Selbstbewußtsein', 78 und PT TkH 2, S. 208. TP 79 PT A.a.O., S. 210. TP 80 TP 'Selbstbestimmung' PT PDM, S. 399f. 157 'Selbstverwirklichung', die als Grundbegriffe der Subjektsphilosophie angesehen werden können. Für eine rationale Deutung der Veränderungen der Lebenswelt müssen nach Habermas aber sowohl der strukturelle Bereich der Lebenswelt als auch die Rolle des handelnden Subjekts berücksichtigt werden, die sich seiner Ansicht nach nicht gegenseitig ausschließen: "Im semantischen [sc. kulturellen] Feld müßten die Kontinuitäten auch dann nicht abreißen, wenn die kulturelle Reproduktion nur noch über Kritik laufen könnte. [...]. Ebenso wenig müßte im sozialen Raum jenes aus reziproken Anerkennungsverhältnissen geknüpfte intersubjektive Netz reißen, wenn die soziale Integration nur noch über einen abstrakten und zugleich individualistisch zugeschnittenen Universalismus laufen könnte. [...]. Nicht einmal die Substanz des Allgemeinen in der historischen Folge der Geschlechter müßte sich in Nichts auflösen, wenn Sozialisationsvorgänge nur noch über die Schwelle extremer Individuierung laufen könnten." 81 TPF FPT Es handelt sich also bei der modernen Lebensweltreproduktion um die Verstärkung der Kontinuität einer kulturellen Überlieferung durch die diskontinuierenden Mitteln der Kritik, um die Festigung der Solidarität in Lebenszusammenhängen durch die riskanten Mitteln des universalistischen Verfahrens diskursiver Willensbildung sowie um die Stabilisierung eines Prozesses der Vergesellschaftung durch das Mittel der erweiterten Spielräume für Individuierung. Nur in den Spannungsverhältnissen zwischen einander gegenüberstehenden Faktoren entfaltet sich die Lebenswelt. Die Reproduktion der Lebenswelt faßt Habermas tabellarisch wie folgt zusammen: 82 TPF FPT 1) Beiträge der Reproduktionsprozesse zur Erhaltung der strukturellen Komponenten der Lebenswelt. - kulturelle Reproduktion: konsensfähige Deutungsschemata (gültiges Wissen) - soziale Integration: legitim geordnete interpersonelle Beziehungen - Sozialisation: Interaktionsfähigkeit (personale Identität) 2) Krisenerscheinungen bei Reproduktionsstörungen (Pathologien) 81 PT A.a.O., S. 401. TP 82 TP kulturelle Reproduktion: Sinnverlust PT Vgl. Fig. 21, 22 und 23 in: TkH 2, S. 214ff. 158 - soziale Integration: Anomie - Sozialisation: Psychopathologien 3) Reproduktionsfunktion verständigungsorientierten Handelns - kulturelle Reproduktion: Überlieferung, Kritik, Erwerb von kulturellen Wissen - soziale Integration: Koordinierung von Handlunge über intersubjektiv anerkannte Geltungsansprüche - Sozialisation: Identitätsbildung 2. 4. Das Grundproblem der Modernisierung der Gesellschaft: die Kolonialisierung der Lebenswelt Die Darstellung des Strukturwandels der Lebenswelt, der vor allem durch die dialektische Beziehung zwischen dem kommunikativen Handeln und der Lebenswelt zustande kommt, enthält die Antwort von Habermas auf die 'Paradoxie der Rationalisierung', die darin besteht, daß die sozialpathologischen Erscheinungen durch die Rationalisierung paradoxerweise verstärkt werden. Habermas vertritt die These, daß erst die Auseinandersetzung des modernen Denkens mit der mittelalterlichen Metaphysik die Ausdifferenzierung des Seins in eine objektive, eine soziale und eine subjektive Welt möglich machte. 83 Diese Zerstörung eines TPF FPT einheitsstiftenden metaphysischen Weltbildes steht als ein Resultat der sozialen Evolution oder der gesellschaftlichen Rationalisierung in Zusammenhang mit dem Projekt der Emanzipation. Habermas betrachtet also die Gesellschaftstheorie unter dem Gesichtspunkt der Rationalitätstheorie. Die Theorie des kommunikativen Handelns ist nichts anderes als eine Erweiterung der Rationalitätstheorie zu einer Handlungs- bzw. Gesellschaftstheorie. In der Theorie des kommunikativen Handelns verdeutlicht Habermas diesen Unterschied zwischen dem modernen und dem metaphysischen oder mythischen Denken besonders TP 83 PT Habermas definiert diese Welten jeweils wie folgt: "Die objektive Welt wird gemeinsam als die Gesamtheit der Tatsachen unterstellt, wobei Tatsache bedeutet, daß die Aussage über die Existenz eines entsprechenden Sachverhalts >p< als wahr gelten darf. Und eine soziale Welt wird gemeinsam als die Gesamtheit aller interpersonalen Beziehungen unterstellt, die von den Angehörigen als legitim anerkannt werden. Demgegenüber gilt die subjektive Welt als die Gesamtheit der Erlebnisse, zu denen jeweils nur ein Individuum einen privilegierten Zugang hat." TkH 1, S. 84. 159 anhand des jeweiligen Sprachgebrauchs. Für das mythischen Denken ist die direkte Verbindung der Namen der Objekte mit den Objekten selbst besonders kennzeichnend, durch die ein mythischer Schein hergestellt wird, so daß z. B. "das moralische mit dem physischen Versagen, das Böse mit dem Schädlichen ebenso verwoben [ist] wie das Gute mit dem Gesunden und dem Vorteilhaften." 84 Daher kann in dieser Denkform "das TPF FPT sprachlich konstituierte Weltbild so weitgehend mit der Weltordnung selbst identifiziert werden, daß es nicht als Weltdeutung […], die dem Irrtum unterliegt und der Kritik zugänglich ist, durchschaut werden kann." 85 Habermas schreibt über den Charakter TPF FPT dieser mythischen Denkform: "Mythische Weltbilder [verhindern] eine kategoriale Entkoppelung von Natur und Kultur, und dies nicht nur im Sinne einer konzeptuellen Vermengung von objektiver und sozialer Welt, sondern auch im Sinne einer Reifzierung des sprachlichen Weltbildes, was zur Folge hat, daß das Konzept der Welt mit bestimmten, der rationalen Stellungnahme und damit der Kritik entzogenen Inhalten dogmatisch besetzt wird." 86 TP F FPT Mythische Weltbilder trennen folglich nicht zwischen Natur und Kultur. Die Natur teilt Habermas in äußere und innere Natur ein, jene bezeichnet die objektive Welt und diese die subjektive Welt. 87 Der Grund, daß mythische Weltbilder geschlossen sind, liegt TPF FPT daher in ihrer "mangelnden Differenzierung zwischen den fundamentalen Einstellungen zur objektiven, zur sozialen und zur subjektiven Welt" und in ihrer "fehlenden Reflexivität des Weltbildes, das nicht als Weltbild, als kulturelle Überlieferung identifiziert werden kann." 88 Von daher ist die Ausdifferenzierung des sprachlichen TPF FPT Weltbildes der erste Schritt, eine rationale Kommunikation, d. h. das moderne Denken zu ermöglichen. Das moderne Denken zeichnet sich also durch eine Trennung der Aussagen über die objektive, die soziale und die subjektive Welt sowie durch die Anerkennung der unabhängigen Werte der wahren Tatsachenaussagen (Wissenschaft), der normativen Richtigkeit (Moral) und der subjektiven Authentizität (Kunst) aus: "Aktoren, die Geltungsansprüche erheben, müssen darauf verzichten, das Verhältnis 84 PT A.a.O., S. 80. TP 85 PT A.a.O., S. 81f. TP 86 PT A.a.O., S. 83. TP 87 PT Ebd. TP TP 88 PT A.a.O., S. 85. 160 von Sprache und Wirklichkeit, von Kommunikationsmedien und dem, worüber kommuniziert wird, inhaltlich zu präjudizieren." 89 TPF FPT Die Moderne, die sich durch das Projekt der Emanzipation auszeichnet, beginnt mit dem Zweifel an der metaphysischen Einheitslehre. Es geht nun um die Frage, ob das einheitliche Denken nach der Ausdifferenzierung der modernen Werte bzw. der verschiedenen Rationalitätsformen wirklich vollständig überholt ist, und in welchem Verhältnis die verschiedenen Werte zueinander stehen. Denn einerseits leben wir in nur einer Welt, so daß sich eine Beziehung zwischen den verschiedenen Formen der Rationalität und den verschiedenen Geltungsansprüchen denken lassen muß, und andererseits setzt z. B. eine Theorie über die verschiedenen Rationalitätsformen eine einheitliche rationale Metaebene voraus. Es stellt sich also erneut die Frage nach der Einheit, die das alte metaphysische Denken so sehr beschäftigt hat. Natürlich lehnt Habermas aber eine gewaltsame, zwanghafte Einheit ab, weil sie die historische Leistung der Moderne nicht ernst nimmt. Dies ist der Grund, warum er die moderne Bewußtseinsphilosophie stark kritisiert, die häufig als die wichtigste Inkarnation des modernen Denkens betrachtet wird. Das Subjekt ist nach dieser Philosophie in der Lage, den Gegenstand objektiv zu beobachten, darzustellen und sogar zu konstituieren. So richten sich z. B. nach der kopernikanischen Wende von Kant die Objekte nach dem Subjekt und nicht umgekehrt das Subjekt nach den Objekten. Dies bedeutet letztlich, daß es als eine Art Schöpfer erscheint, der die Existenzbedingung des Objektes bestimmt. Also ist die Bewußtseinsphilosophie durch und durch vom epistemologischen S-OSchema abhängig. Dieses erkenntnistheoretische S-O-Schema wiederholt sich nach Habermas bei der Bewußtseinsphilosophie auch in der praktischen Philosophie; das Subjekt ist dabei in der Lage, das Objekt zu bearbeiten und zu ändern, und dieses ist nur ein Gegenstand, der von dem Subjekt verändert werden muß. Dieses praktisch-philosophische Schema legt es nahe, die Zweckrationalität auch in der Handlungs- bzw. Gesellschaftstheorie als einziges Kriterium für vernünftiges Denken bzw. Handeln anzusehen. Daß die Kategorie der instrumentellen Handlung, wie z. B. die 'Arbeit', als Hauptbegriff in vielen klassischen Gesellschaftstheorien der modernen Zeit eine zentrale Rolle spielt, ist vor diesem Hintergrund verständlich. Das strategische Handeln, das als ein gesellschaftstheoretisch erweiterter Begriff der instrumentellen Handlung heutzutage besonders in dem 'Tausch- und Machtverhältnis' TP 89 PT A.a.O., S. 82. 161 eine Rolle spielt, folgt insofern der Kategorie der Zweckmäßigkeit, als daß der strategisch Handelnde seine Interaktionspartner egozentrisch behandelt, indem er sie als Mittel für seine Zwecke einsetzt. Es geht bei diesem Handeln darum, "daß der Aktor Mittel und Zwecke unter Gesichtspunkten der Maximierung von Nutzen bzw. Nutzenerwartungen wählt und kalkuliert." 90 Der 'egozentrische Nutzenkalküle' ist daher TPF FPT der Schlüsselbegriff dieses Handelns. Das teleologische bzw. strategische Handeln, das von der instrumentellen Rationalität geleitet wird und in dessen Zentrum daher die 'Zweck-Mittel-Beziehung' steht, beruht auf einem 'monologisch gefaßten Handlungsmodell'. 91 Also sind die moderne Erkenntnis- sowie Handlungstheorie, so TPF FPT Habermas, offensichtlich vom Paradigma der Subjektivität geprägt. Die Paradoxie der Rationalisierung wird gerade durch diesen Zusammenhang hervorgerufen. Die Rationalisierung ist ein Vorgang, in dem die ausdifferenzierten Werte und Rationalitäten, die als Resultat der Überwindung der mythischen Einheit zum Vorschein gekommen sind, mit der Modernisierung allmählich einer bestimmten Denkrichtung untergeordnet werden: dem bewußtseinsphilosophischen S-O-Schema. Dabei steht die Zweckrationalität im Mittelpunkt. Habermas betrachtet diesen Vorgang vor allem unter dem Gesichtspunkt der Handlungs- bzw. Gesellschaftstheorie. Die Gesellschaft ist nach ihm ein Teil der Lebenswelt, der für die systemischen, legitimen Ordnungen sorgt, "über die die Kommunikationsteilnehmer ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen regeln und damit Solidarität sichern." TP 92 F FPT Dies bedeutet, daß sie sowohl als eine Lebenswelt als auch als ein System betrachtet werden muß, das einer eigenen Logik folgt. Diese 'zweistufige Gesellschaftstheorie' von System und Lebenswelt unterscheidet sich besonders von der systemtheoretischen Gesellschaftsauffassung von Parsons und Luhmann, die die Gesellschaft nur als ein System betrachten. Die Gesellschaft zeigt sich also zum einen aus dem Gesichtspunkt der Beteiligten als eine Lebenswelt der sozialen Gruppen. Die Lebenswelt, aus der heraus sich die sprechhandelnden Subjekte über etwas in der objektiven, sozialen und subjektiven Welt verständigen, 93 ist für Habermas ein anderer Name für den Ort, in dem die soziale TPF FPT Integration symbolisch reproduziert wird. 94 Sie bleibt den Beteiligten als Hintergrund im TPF 90 PT VE, S. 576. TP 91 PT Siehe TkH 1, S. 379. TP 92 PT TkH 2, S. 209. TP 93 PT A.a.O., S. 193. TP 94 TP FPT PT A.a.O., S. 208f. 162 Rücken und bietet ihnen einen gemeinsamen Kontext für die Verständigungsprozesse. 95 TPF FPT Die sprachlich strukturierte Lebenswelt hilft vor allem dabei, die Beziehung zwischen den Bereichen der Lebenswelt sowie zwischen den kulturell verschiedenen Lebenswelten zu deuten. Die Lebenswelt setzt aufgrund ihrer sprachlich organisierten formal-allgemeinen Struktur schon die Möglichkeit der Kommunikation zwischen den Subjekten voraus. Der Versuch der Beteiligten, einen Konsens über etwas in einer Lebenswelt z. B. durch 'kooperative Deutungsprozesse' herzustellen, liegt schon der Natur der menschlichen Sprache zugrunde, weil diese in der Verständigung besteht. In dieser Hinsicht hat die Lebenswelt durchaus etwas mit der kommunikativen Rationalität zu tun. Die Gesellschaft zeigt sich zum anderen aus dem Gesichtspunkt der Beobachter als ein System der Handlungen. Das System ist, so Luhmann, nichts anderes als "jeder soziale Kontakt […] bis hin zur Gesellschaft als Gesamtheit der Berücksichtigung aller möglichen Kontakte." 96 TPF FPT Dies bedeutet, daß Luhmann alle gesellschaftlichen Beziehungen als System betrachtet. Die Systemtheorie versucht, den Mechanismus der Systeme der modernen Gesellschaft, wie z. B. der Subsysteme der Ökonomie oder der Verwaltung, zu erklären. Sie geht also davon aus, daß die Ökonomie und die Verwaltung nicht Teile der Lebenswelt, sondern Systeme sind, für die das jeweils andere System die Umwelt darstellt. Das System hat dabei eine 'autopoetische', d. h. selbstgesteuerte Struktur, die die für seine Existenz notwendigen Mittel aus seiner Umwelt nimmt. Diese 'metabiologische' Beziehung von System und Umwelt in der Luhmannschen Systemtheorie erinnert an die Beziehung von Subjekt und Objekt in der Subjektphilosophie. In dieser Hinsicht behauptet Habermas, daß Luhmann sich 'die subjektivistische Erbmasse' systemtheoretisch aneignet: "An die Stelle der Innen-AußenBeziehung zwischen dem Erkennenden und der Welt […] tritt die System-UmweltBeziehung. […] Die Selbstbezüglichkeit des Systems ist der des Subjekts nachgebildet." 97 TPF FPT Das Schema von System und Umwelt der Systemtheorie nimmt keine Rücksicht darauf, wie das moderne Ökonomie- und Verwaltungssystem entstanden ist, und wie sich beide Subsysteme entwickeln. Die Entstehungs- und Entwicklungsprozesse können nach Habermas erst seit der modernen Rationalisierung der Lebenswelt richtig gedeutet 95 PT PDM, S. 348. TP 96 PT N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1985, S. 33. TP TP 97 PT PDM, S. 427. 163 werden, in der die Medien, wie z. B. Geld und Macht, einen bestimmten Grad der Entwicklung erreicht haben. Aus diesem Grund ist fraglich, ob die Betrachtung der sozialen Welt als System trotz ihrer Vorteile bei der Deutung ihrer Mechanismen einen rationalen Maßstab für die 'Bewertung sozialer Prozesse' begründen kann. 98 Die TPF FPT systemtheoretische Vernunft hat also ein ähnliches Schicksal wie die subjektivistische Vernunft, die wegen ihrer monologischen Selbstreflexivität ihre Entstehungsgeschichte vergißt und daher die Kritik an sich selbst verhindert. Gerade im Wesen der Systemtheorie, die sich für die sozialen Entwicklungsprozesse nicht interessiert, sieht Habermas den Grund, warum die Systemtheoretiker der massiven Zivilisationskritik in den 60er Jahren des Studentenprotestes durchweg verständnislos gegenüberstanden. 99 Talcott Parsons zum Beispiel, einer der Systemtheoretiker, vertritt TPF FPT die Überzeugung, daß "moderne Gesellschaften für die Masse der Bevölkerung einen unvergleichlichen Zuwachs an Freiheit" gebracht haben; 100 das System der modernen TPF FPT Gesellschaft vergrößert die Freiheit der Individuen im Bereich der Lebenswelt. Daher wendet er sich dagegen, die sozialpathologischen Erscheinungen, wie z. B. die Isolierung der Individuen und die Probleme des Sinn- und des Freiheitsverlusts, auf die Bürokratisierung zu beziehen, und spricht davon, daß das Netzwerk der modernen Massenkommunikation nicht nur dem entgegenwirkt, sondern eine Gemeinschaft schafft, die den Individuen die Chance einer selektiven Partizipation entsprechend den eigenen Standards und Bedürfnissen ermöglicht. 101 Die sozialpathologischen Erscheinungen TPF FPT können daher nach ihm durch eine Komplexitätssteigerung des Gesellschaftssystems gelöst werden, die er mit dem Rationalisierungsvorgang der Gesellschaft gleichsetzt. Parsons lehnt es also entschieden ab, die Sozialpathologien unmittelbar auf die Komplexitätssteigerung des gesellschaftlichen Systems zu beziehen, vielmehr können umgekehrt die Probleme der modernen Gesellschaften nur durch eine Steigerung der Komplexität der gesellschaftlichen Systeme gelöst werden. Auch Habermas bezieht die Steigerung der Komplexität der Systeme nicht ohne weiteres auf die Paradoxie der Rationalisierung. Er kritisiert aber Parsons, weil dieser unterschätze, wie sehr die Bürokratisierung zu einer einseitigen Rationalisierung der 98 PT TkH 2, S. 422. TP TP 99 PT A.a.O., S. 431ff. 100 PT T. Parsons, Religion in Postindustrial America, New York 1978 320ff. und ders., The System of TP Modern Societies, Englewood Cliffs 1971, S. 114f. TP 101 PT Siehe T. Parsons, The System of Modern Societies, a.a.O., S. 116f. 164 kommunikativen Alltagspraxis, d. h. zur "Privatisierung des Lebensstils" 102 beiträgt. TPF FPT Außerdem betont er, daß "die Verallgemeinerung formaler Rechtsansprüche" durch das Netzwerk der modernen Massenkommunikation nicht unbedingt die "Erweiterung demokratischer Willensbildungsprozesse" bedeutet. 103 TPF FPT Die Verdinglichung der kommunikativen Alltagspraxis entsteht also nach ihm dort, wo die Systemrationalität, d. h. die Bürokratisierung bzw. die Form ökonomischer und administrativer Rationalität in Handlungsbereiche eindringt, "die sich der Umstellung auf die Medien Geld und Macht widersetzen, weil sie auf kulturelle Überlieferung, soziale Integration und Erziehung spezialisiert sind und auf Verständigung als Mechanismus der Handlungskoordinierung angewiesen bleiben." 104 TPF FPT Aus der Sicht dieser Unterscheidung zwischen System und Lebenswelt besteht der Vorgang der Modernisierung bzw. der Rationalisierung auf der Ebene der Gesellschaftstheorie darin, daß sich die einzelnen Systeme von der Lebenswelt abkoppeln und ihrer eigenen Logik folgen. 105 Die Rationalisierung innerhalb eines TPF FPT Systems meint dann die Entwicklung von detaillierten Subsystemen, die zu einer Steigerung der Komplexität des Gesamtsystems führt. 106 Aber in den Systemen, die von TPF FPT den 'entsprachlichten Kommunikationsmedien', wie z. B. Geld und Macht, gesteuert werden, wird das Rationalitätspotential sprachlicher Verständigung nur in dem Maße aktualisiert, in dem es für Nutzenmaximierung notwendig ist. Die sprachliche Konsensbildung, auf die sich die sprachliche Kommunikation eigentlich richten sollte, wird also hierbei weitgehend ignoriert. Es geht innerhalb dieser Systeme lediglich darum, für einen gegebenen Zweck die effektivsten Mittel auszuwählen, und nicht um die Richtigkeit der Zielsetzung oder um die normative Bewertung der Mittel. 107 Das Resultat TPF FPT der Rationalisierung ist, daß die Zweckrationalität, die sich von allen normativen Kontexten loslöst, in der Moderne die verschiedenen Systeme mehr und mehr dominiert und die Wertrationalität verdrängt. Je komplexer die einzelnen Systeme werden, umso mehr tritt die Zweckrationalität in den Vordergrund. Habermas nennt diesen Vorgang eine Technisierung der Lebenswelt: 102 PT TkH 2, S. 433. TP 103 PT Ebd. TP 104 PT A.a.O., S. 488. TP 105 PT A.a.O., S. 230. TP 106 PT A.a.O., S. 246-256. TP TP 107 PT A.a.O., S. 271f. 165 "Die Umstellung des Handelns auf Steuerungsmedien erscheint deshalb aus der Lebensweltperspektive sowohl als eine Entlastung von Kommunikationsaufwand und –risiko, wie auch als eine Konditionierung von Entscheidungen in erweiterten Kontingenzspielräumen, in diesem Sinne als eine Technisierung der Lebenswelt." 108 TPF FPT Ein gesunder Gesellschaftszustand ist bei Habermas durch ein Gleichgewicht zwischen der von der kommunikativen Rationalität gesteuerten Lebenswelt und dem von der instrumentellen Rationalität gesteuerten System gekennzeichnet. Eine massive Verdrängung der Kommunikationsstruktur der Lebenswelt durch die Zweckrationalität des Systems, d. h. die Überhandnahme der Zweckrationalität in der Gesellschaft bedeutet daher eine Zerstörung des Gleichgewichtes der gesellschaftlichen Rationalisierung. 109 TPF FPT Habermas nennt das Phänomen dieser 'systemisch induzierten Lebensweltpathologie' "die Kolonialisierung der Lebenswelt". 110 TPF FPT Die These der 'Kolonialisierung der Lebenswelt' kann als die Habermassche Antwort auf das Problem der Paradoxie der Rationalisierung angesehen werden. Er versucht mit dieser Formulierung den Rückgang der Wertrationalität aus einer erweiterten gesellschaftstheoretischen Perspektive erneut zu analysieren. Der Kerngedanke dieser These ist also, daß mit der Entwicklung des Kapitalismus und des modernen Verwaltungssystems die Zweckrationalität im ganzen Gebiet der Lebenswelt mehr und mehr an Bedeutung gewinnt und damit schließlich die verständigungsorientierte Wertrationalität beinahe vollständig verdrängt. Die These der 'Kolonialisierung der Lebenswelt', die als wichtigstes Element der Habermasschen Zeitdiagnose gelten kann, kann zwar sicherlich erklären, wie sich die Logik des Systems auch auf das Gebiet der symbolischen Reproduktion ausweitert, also wie die Lebenswelt vom System abhängig wird. Aber in dieser These bleibt noch ungeklärt, welche Rolle die kommunikative Rationalität, die die normative Basis für die Gesellschaftskritik ist, innerhalb des Systems spielen kann, und ob die auf Konsens ausgerichteten kooperativen Deutungsprozesse der Subjekte innerhalb des Systems eine Rolle spielen können, obwohl dort eigentlich die sich jeder Wertrationalität entziehende Zweckrationalität vorherrscht, wenn es um die Wahl des wirksamen Mittels zum Zweck 108 PT A.a.O., S. 273. TP 109 PT A.a.O., S. 293. TP TP 110 PT Ebd. 166 bzw. um die effektive Organisation der Arbeit geht. Das System ist bei Habermas aber der Ort, in dem die instrumentelle Verengerung der Rationalität ausnahmsweise erlaubt wird; die sozialen Konflikte finden für ihn nur innerhalb der Lebenswelt und im besten Fall an den "Nahtstellen zwischen System und Lebenswelt" 111 statt, und das System TPF FPT selbst ist von solchen Konflikten frei. Deshalb ignoriert Habermas in seiner Theorie die Möglichkeit, daß die kommunikative Rationalität auch in formal zweckrational organisierten Systemen stark gemacht werden kann, wie es z. B. bei den autonomen Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geschieht, durch die der ökonomische Bereich demokratisiert wird. Daher muß man sagen, daß die Theorie des kommunikativen Handelns weder diesen sozialpathologischen Erscheinungen vorbeugen noch die Konflikte innerhalb des Systems lösen kann und im besten Fall nur dazu in der Lage ist, die Entstehung der Kolonialisierung der Lebenswelt zu erklären. Die eigentliche Absicht von Habermas, die gegenwärtigen negativen Begleiterscheinungen der Moderne als Ausdruck der instrumentellen Verengung der Rationalität zu kritisieren und zu überwinden, wird also nicht vollständig erreicht. Die Ursache dafür, daß er sein Ziel nicht erreicht, liegt m. E. schon in seinem Verständnis der Rationalität, das in zwei Punkten kritisiert werden kann. Erstens: Habermas' Rationalitätstheorie besteht darin, einerseits den jeweiligen Sinn der theoretischen, der moralischen und der expressiven Rationalität zu verdeutlichen und andererseits ihre wechselseitigen Beziehungen unter dem Namen der kommunikativen Rationalität zu analysieren. In Wirklichkeit erörtert er zwar jede der drei Rationalitäten ausführlich 'getrennt', aber er behandelt die 'unverkürzte' kommunikative Rationalität selbst, also einen jene drei Rationalitäten umfassenden Rationalitätsbegriff, nicht ausreichend. Er steht also noch vor der Aufgabe, den 'inneren Zusammenhang' der drei voneinander getrennten Rationalitäten sowie den Charakter der umfassenden kommunikativen Rationalität zu verdeutlichen, weil er die wechselseitigen Beziehungen zwischen den verschieden Rationalitäten nur an den 'Nahtstellen' zwischen ihnen erörtert, aber nicht in ihren 'inneren Zusammenhang'. Zweitens: Habermas versucht die Einheit der getrennten Rationalitäten in einer Idee der 'argumentativen Begründung' zu finden. Aber diese 'prozedurale Rationalität' als Argumentation ist eher theorieorientiert und nicht praktisch oder ästhetisch ausgerichtet. Somit entsteht der Eindruck, daß er die Rationalitätsform der theoretischen TP 111 PT A.a.O., S. 581. 167 Argumentation auch auf andere Diskurse unzulässigerweise anwendet und damit die Unterschiede der verschiedenen Formen der Rationalitäten verwischt. Von daher kann man die Frage stellen, ob nicht eine solche Identifizierung verschiedener Rationalitätsformen unter dem Namen der einen kommunikativen Vernunft dazu führt, daß man das Verfahren der argumentativen Begründung überbewertet. Stellt nicht auch dieser Versuch von Habermas eine Verdrängung verschiedener Rationalitätsformen durch eine bestimmte Form dar, so daß bei ihm die ästhetische und die praktische Vernunft reduziert werden auf die Form argumentativer Begründung? Wenn man die drei getrennten Bereiche der kommunikativen Vernunft auf diese Art in eine theoretische Einheitsform bringt, ergibt sich daher das Problem, wie man die Unterschiede zwischen der theoretischen, der praktischen und der ästhetischen Vernunft erklärt. 168 V. Die Rolle der Vernunft für die Gesellschaft bei Habermas 1. Die Idee der 'Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen' Die kommunikative Vernunft wurde, wie erwähnt, entworfen, um den Begriff der subjektivistischen sowie der relativistischen Vernunft zu überwinden und um gleichzeitig das Projekt der Aufklärung gegenüber den relativistischen bzw. skeptizistischen Positionen der Gegenwart zu verteidigen. Die Aufklärung ist nach Habermas ein Projekt der "Emanzipation der Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit und erniedrigenden Lebensumständen." 1 Dies bedeutet bei ihm vor allem die Wende von der mythischen und ontologischen zur vernünftigen Weltauffassung und, sozialphilosophisch gesagt, eine Herstellung von "Formen des vernünftigen Zusammenlebens", 2 die der junge Hegel unter dem Begriff der sittlichen Totalität analysiert hat. Also interpretiert Habermas die Idee der sittlichen Totalität des jungen Hegel als die "reziproken Anerkennungsverhältnisse eines intersubjektiv konstituierten Lebenszusammenhangs." 3 Daher ist das vernünftige Zusammenleben bei Habermas eine gesellschaftliche Form, in der "wirklich Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhalten treten." 4 Die Dialektik des Verbrechens, die Hegel in seiner Frankfurter Zeit behandelt, verdeutlicht diese Idee der sittlichen Totalität; das Verbrechen besteht darin, den Anderen nicht als eine Person des Zusammenlebens, sondern als ein Objekt, das vernichtet werden kann, zu betrachten; dabei wird der Andere wie ein objektives Ding in der Welt behandelt. Das Verhältnis von S-O, das dem Verbrechen zugrunde liegt, bedeutet daher eine Störung des Gleichgewichts der sittlichen Totalität. Die Dialektik des Verbrechens beim jungen Hegel besteht also in der Wiederherstellung der Erkenntnis, daß die Zerstörung des Lebens des Anderen gleichzeitig die des eigenen Lebens ist. 5 Habermas bezweifelt aber, ob die Polis und die frühchristliche Gemeinschaft, die Hegel mit dem Begriff der 'versöhnenden Vernunft' in Verbindung bringt und als wirkliche 1 J. Habermas, Die nachholende Revolution, Frankfurt/M. 1990, S. 202. 2 NU, S. 202. 3 PDM, S. 40. 4 J. Habermas, Die nachholende Revolution, a.a.O., S. 202. 5 Siehe dazu 1.3. vom 1. Abschnitt des II. Kapitels in dieser Arbeit. 169 Vorbilder für die sittliche Gemeinschaft betrachtet, wirklich Ideale für eine neue Gesellschaftsform sein können, in der die Autonomie des Subjekts und dessen Abhängigkeit von der Allgemeinheit im Gleichgewicht sind. Denn in diesen historischen Vorbildern wird die Problematik der Emanzipation des Individuums nicht ausreichend berücksichtigt, die erst mit der Moderne zum Vorschein gekommen ist. Aus dieser Sicht ist die versöhnende Vernunft des jungen Hegel nur eine totalisierende Vernunft, die von Habermas nur als eine weitere Variante der subjektivistischen Vernunft angesehen wird. Habermas führt daher eine 'bescheidene', also die kommunikative Vernunft ein, um das ursprüngliche Ideal des jungen Hegel realisieren zu können. Also entwirft die kommunikative Vernunft eine Gemeinschaft, die intersubjektiv im Gleichgewicht ist, und in der die Einzelnen ihre Individualität nicht verlieren und gleichzeitig ihre Abhängigkeit von der Gemeinschaft anerkennen. Die Theorie von Habermas bezieht sich dabei wieder auf die alte philosophische Frage nach dem Verhältnis von Identität und Differenz, von Einheit und Vielheit sowie von Selbst und Anderem. Vor diesem Hintergrund versucht Habermas in der Tat die Differenz, das Nicht-Vernünftige, das Andere, das Individuum, die Vielheit etc., die heutzutage positiv bewertete Kategorien sind, nicht zu vernachlässigen und gleichzeitig das Ideal der Aufklärung der Vernunftorientierung beizubehalten. Dies unterscheidet ihn sehr von den Dekonstruktivisten, die nach dem Ende der metaphysischen Einheitslehre nun von der Ursprünglichkeit der Differenz, des Anderen und des Individuums ausgehen. Habermas vertritt demgegenüber die Auffassung, daß sie mit der Abwertung des Einen sowie mit der Aufwertung der Differenz und des Anderen den dialektischen Zusammenhang zwischen beiden verdunkeln: 6 "Das Lob des Vielen, der Differenz und des Anderen mag heute auf Akzeptanz rechnen können; aber eine Stimmungslage ersetzt noch keine Argumente." 7 Habermas führt also die gegenwärtige philosophische Diskussion auf die traditionelle philosophische Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Vielheit zurück. Seine 6 ND, S. 180. 7 A.a.O., S. 172. 170 Antwort auf diese Frage wird deutlich, wenn man sie mit der metaphysischen und der bewußtseinsphilosophischen Position vergleicht. Die Metaphysik, die bis zur bewußtseinsphilosophischen Wende die europäische Philosophie überhaupt beherrscht, läßt sich laut Habermas als All-Einheitslehre bezeichnen, deren Anliegen in der Reduktion des Vielen auf das Eine besteht. Die Metaphysik, deren Ursprung in dem Parmenideschen Hen-Panta liegt, geht also durchaus von einem deduktiven Erklärungsansatz aus, bei dem die Vielheit aus einem Prinzip abgeleitet wird. Insofern löst die Metaphysik des Einen die Pluralität der ursprünglichen mythischen Kräfte ab. Aus der Sicht der Metaphysik bewegt sich die Erkenntnis des Mythos nur um die Oberfläche und den Schein und erfaßt nicht das Wesen der Dinge. Das metaphysische Eine gilt dagegen sowohl als Erstes, mit dem der Ursprung des Vielen erklärt werden kann, als auch als Begriff des Begriffes, mit dem der Seinsgrund des Vielen ausgedrückt werden soll. Insofern sie den Ursprung des Vielen und dessen Seinsgrund analysiert und das Viele und das Akzidentielle aus der Perspektive des Wesens und der Substanz behandelt, d. h. soweit sie von einem "Zwang zur Disambiguierung" des Mythos ausging, hatte die Metaphysik, so Habermas, "einen emanzipatorischen Sinn". 8 Habermas weist aber gleichzeitig darauf hin, daß die in der Reduktion der Vielheit und der Besonderheit auf eine Einheit bestehende metaphysische Denkfigur nur "eine gewaltige Abstraktion" 9 ist und unlösbare philosophische Probleme mit sich bringt: das Problem des Verhältnisses von Identität und Differenz (1), das Problem des unaussprechlichen Individuellen (2) und das Unbehagen am affirmativen Denken (3). 1) Habermas stellt eine grundlegende kritische Frage an die Metaphysik, die die Wende zur Bewußtseinsphilosophie möglich machte: die Frage danach, wie das metaphysische Eine gleichzeitig als alles umfassendes Ganzes betrachtet werden kann, anders formuliert, wie die Identität von Identität und Differenz gedachtet werden kann. Diese erkenntnistheoretische Fragestellung bezieht sich vor allem auf Plotins Definition des Einen. Nach Habermas wird das Eine Plotins wie folgt definiert: "Das Eine ist Alles und noch nicht einmal Eins (von Allem)". 10 Dies bedeutet, daß das Eine zwar als Ursprung und Grund jedes individuellen Seienden Alles ist, aber es nichts von Allem gleicht. Bereits Plotin war sich bewußt, daß das Eine nur in dieser widersprüchlichen Weise 8 A.a.O., S. 158. 9 A.a.O., S. 156. 10 A.a.O., S. 159. 171 bestimmt werden kann, weil jede andere Bestimmung das Eine wie ein Ding in der Welt vergegenständliche, d. h. es zu einem Endlichen mache. Er hat der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, also dem Nous, diese widersprüchliche Bestimmung des Einen zugeschrieben. Er will damit ausdrücken, daß sich das Eine, obwohl es seinerseits niemals widersprüchlich ist, mit der Vernunft nur widersprüchlich bestimmt werden kann. 2) Eine andere Eigenschaft der Metaphysik ist, daß sie das Besondere bzw. Individuelle, die Materie, das Zufällige etc. nur relativ zum Allgemeinen, zur Idee sowie zum Notwendigen betrachtet. Bei der Metaphysik wird dieser Gedanke durch die Begriffe 'Gattung' und 'spezifische Differenz' ausgedrückt. Es gibt hier daher keinen Platz für Individuelles, das nicht unter das Allgemeine subsumiert wird. Selbst Johannes Duns Scotus z. B., der dieses Problem erkannt hat und daher mit dem Begriff Haecceitas (dem Individuellen) das Individuelle an sich behandeln wollte, hat letztendlich, nach Habermas, nichts anderes getan, als das "Essentielle bis in die Einzelheit hinein" 11 zu verlängern. 3) Eine weitere Eigenschaft der Metaphysik sieht Habermas in ihrem 'Unbehagen am affirmativen Denken', das sich der Materie verdankt; die Materie liegt in Zeit und Raum und besteht daher aus den konkreten gegenständlichen Bestimmungen. Insofern jede Bestimmung immer die Negation anderer Bestimmungen voraussetzt, ist die Materie ein begrenzt Endliches. Wenn man die allgemeinen Ideen als das wahre Sein auffaßt, ist diese Materie nur ein Nicht-Seiendes. Daher wird die traditionelle metaphysische Frage: 'Warum ist denn überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?' nur dann gestellt, wenn man von dem Vorrang der allgemeinen Ideen vor der Materie bzw. der Einheit vor der Vielheit ausgeht. Die affirmative Kraft der Negation, die der Materie eigen ist, konnte daher als ein zum Intelligiblen gegenläufiges Prinzip gedacht werden. Habermas sieht hierin den Grund, warum die Welt der Materie bzw. der Geschichte innerhalb der Metaphysik nicht zur Welt des wahren Seins gehört und warum bei der alten Metaphysik die Neigung zu einer Kritik an der Vernunft überhand genommen hat und damit die Tradition der negativen Theologie einen festen Platz gewonnen hat. 12 11 A.a.O., S. 160. 12 Aus diesem Grund behauptet Habermas, daß die radikale Vernunftkritik von Nietzsche, Heidegger und Derrida, die die These von der Unvollkommenheit der Vernunft radikalisieren, nur ihre Zugehörigkeit zur europäischen orthodoxen Metaphysik zeige. Vgl. ND. S. 159f. 172 Die oben genannten Probleme der Metaphysik waren sicherlich mitverantwortlich für die bewußtseinsphilosophische Wende der Philosophie. Die Bewußtseinsphilosophie geht von der Frage aus, ob die Einheit des Vielen ein objektives, dem menschlichen Geiste vorgeordnetes Ganzes sein kann oder ob diese Einheit nicht vielmehr ein Ergebnis einer idealisierenden Synthesis der Vernunft ist und ob nicht die widersprüchliche Bestimmung des metaphysischen Einen nur aus einer Unzulänglichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens resultiert. Besonders die Kantische Philosophie gilt als ein Musterbeispiel dieses bewußtseinsphilosophischen Paradigmas; die theoretische Vernunft konstituiert eine objektive Welt, indem sie mit Hilfe der Anschauungsformen und den Kategorien des Verstandes den Erscheinungen eine begriffliche, kategoriale Ordnung gibt. Die Erkenntnis der Erscheinungen in eine Einheit zu bringen ist allerdings eine Leistung der transzendentalen Apperzeption, die bei Kant das formale 'ich denke' bedeutet: das 'ich denke' muß alle meine Vorstellungen begleiten können, um in der Mannigfaltigkeit der Vorstellungen die Einheit eines Selbstbewußtseins bewahren zu können. Während der Begriff des Verstandes etwas mit den Erscheinungen (also mit etwas in der objektiven Welt) zu tun hat, steht die Apperzeption in Zusammenhang mit dem Inbegriff der Erscheinungen, also mit einer Idee. Gerade in diesem Punkt ist der Inbegriff der Erscheinungen eine 'kosmologische Idee' und somit eine regulative Idee. Die Erkenntnis und ihre Einheit, die vom kategorischen, begrifflichen sowie gesetzgebenden Verstand und vom 'denkenden Ich' geleitet werden, sind gerade deswegen durchgängig gesetzmäßig strukturiert. Die Abhängigkeit des Seienden im ganzen von dem Verstand sowie dem denkenden Ich bedeutet also eine Herabsetzung des Kosmos zum Gegenstandsbereich nomologischer Naturwissenschaften. Nun ist die Welt der Erkenntnis kein "absolutes Ganzes nach Prinzipien der Zwecke" 13 mehr. Dieser Gedanke Kants löst die kosmologieorientierte All-Einheitslehre der von der teleologischen Weltauffassung ausgehden Metaphysik in dem Sinne auf, daß er von der Natur bzw. der physischen Welt die Zweckmäßigkeit abtrennt. Der Kosmos wird nun nicht mehr teleologisch, sondern mechanistisch aufgefaßt. Die Kantische Erkenntnistheorie läßt sich als eine Antwort auf die bewußtseinsphilosophische Frage danach lesen, wie die Identität des Einen und des Vielen zu denken sei. Das Problem ist hierbei aber, daß es bei dieser Antwort keinen Platz für 'einen sinnvollen Zusammenhang' des Lebens gibt. Für die Zweckmäßigkeit, 13 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, W. Weischedel (Hg.), Frankfurt/M. 1994, S. 404. 173 die der physischen Welt fehlt, reserviert Kant einen anderen Bereich: das 'Reiche der Zwecke', das als das Ganze eines 'ethisch-bürgerlichen' Gemeinwesens etwas mit der Problematik des Sollens bzw. der Moralität zu tun hat. Diese Kantische Philosophie ruft aber eine neue Frage hervor: In welchem Verhältnis stehen praktische und reine Vernunft, Kausalität der Freiheit und Kausalität der Natur, Moralität und Legalität und intelligible Welt und Sinnenwelt. Diese Frage kann wieder als eine Variante der alten metaphysischen Frage angesehen werden, wie sich Eines und Vieles sowie Unendliches und Endliches zueinander verhalten. Durch diese Frage wird deutlich, daß Kants Versuch, durch die erkenntnistheoretische Wende des Denkens die metaphysische Aporie zu lösen, am Ende zu einem Dualismus der Welten führt. Hegel wird als letzter Philosoph angesehen, der aus der Perspektive der bewußtseinsphilosophischen Philosophie diesen Dualismus überwinden wollte. Er reformuliert das alte metaphysische Thema der All-Einheit, noch radikaler als Kant, bewußtseinsphilosophisch, indem er die Selbstbeziehung der Vernunft bzw. des Geistes zum Absoluten erhebt. Dies unterscheidet sich vor allem vom Denken Plotins, der die wahre Erkenntnis außerhalb des Bereiches der Vernunft sucht, weil diese die widersprüchlichen Bestimmungen des Einen mit sich bringe, das eigentlich gar nicht widersprüchlich sei; die wahre 'Erkenntnis' ist daher ein Zustand von Ekstase, 14 in dem die Seele die Grenzen ihres Bewußtseins überschreitet und sich mit dem Einen vereinigt. Während sich das Subjekt und das Objekt im Denken des Einen noch voneinander unterscheiden, gibt es bei der Ekstase keine Differenz zwischen ihnen. Somit beurteilt Plotin das Erkenntnisvermögen des Subjekts negativ. Im Gegensatz dazu wertet Hegel das Erkenntnisvermögen auf; er interpretiert in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie die Ekstase als 'reines Denken'. 15 Wenn das Denken die Differenz zwischen Vielheit und Einheit bzw. Endlichem und Unendlichem voraussetzt, dann scheint es notwendig zu sein, daß die Bewußtseinsphilosophie, die das Denken zum Absoluten erhebt, diese Voraussetzung als eine der wichtigsten Merkmale des Absoluten betrachtet. Dies ist der Grund, warum Hegel das Absolute "nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt" 16 auffaßte. 14 Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, in: TW, Bd. 19, S. 440. 15 In diesem Kontext schreibt er folgendes: "Plotin spricht allerdings davon, daß das wahrhaft Seiende nur gewußt werde durch die Ekstase. […]. Und Ekstase ist ja nicht bloß Entzückung der Empfindung und Phantasie, sondern vielmehr ein Heraustreten aus dem Inhalt des sinnlichen Bewußtseins. Es ist reines Denken, das bei sich selbst ist, sich zum Gegenstand hat." G. W. F. Hegel, a.a.O., S. 442f. 16 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: GW, Bd.9, S. 18. 174 Das sich auf sich beziehende absolute Subjekt wird als eine Sinnenwelt und moralische Welt bzw. Form und Inhalt vermittelnde Bewegung aufgefaßt, die sich in der Geschichte entwickelt. Daher ist die Geschichte die Selbstentwicklung des absoluten Subjekts bzw. des Geistes. Mit der Bestimmung des Einen als absoluten Subjekts, d. h. mit der Verbindung der metaphysischen Position mit dem Begriff der selbsttätigen Subjektivität eröffnet Hegel daher einen neuen Weg, die Geschichte, die bei der traditionellen Metaphysik als eine Welt der Akzidenz außerhalb der philosophischen Kategorien lag, als Medium zu verstehen, durch das das Eine und das Viele sowie das Unendliche und das Endliche vermittelt werden können. Die Erhebung des Denkens zum Absoluten bedeutet also einerseits die Vereinigung der nomologischen und der intelligiblen Welt und andererseits die Vollendung des Übergangs von der alten kosmologischen zur bewußtseinsphilosophischen Weltauffassung. Die Geschichte ist also eine konkrete Gestalt, in der nicht nur die beiden Kantischen Welten vermittelt sind, sondern in der auch die Vernunft mit den Akzidenzien und der Ungewißheit dialektisch versöhnt wird. Die Geschichtsphilosophie Hegels geht also davon aus, daß die Geschichte nichts anderes ist als die Selbstentwicklung der Vernunft bzw. des absoluten Geistes. Sie ist daher eine Geschichtsmetaphysik, die auf eine absolute Freiheitsphilosophie abzielt. Diese Geschichtsmetaphysik hat aber eine massive Kritik des sogenannten Historismus bzw. Kontextualismus hervorgerufen, 17 17 der sich mit der Einzigartigkeit und Der Begriff des Historismus oder Historizismus findet sich, wie G. Scholtz formuliert, in so vielen verschiedenen konkreten Verwendungen, daß er "universelle geschichtliche Betrachtung" (i), "Geschichtsmetaphysik" (ii), "Romantizismus und Traditionalismus" (iii), "historischen Positivismus und Objektivismus" (iv) und "historischen Relativismus" (v) bedeuten kann (G. Scholtz, Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, in: ders., Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis, Frankfurt/M. 1991, S., 132). Bezüglich der Stellung zur Geschichte lassen sich diese fünf Positionen in drei Formen zusammenfassen: 1) Entweder geht man davon aus, daß die ganze Geschichte vernünftig und durch göttliche Vorsehung bestimmt ist (bei i und ii), oder 2) man sieht nur die Vergangenheit vorbildlich an (bei iii). 3) Für die Positionen iv und v wird schließlich die Vernünftigkeit der Geschichte problematisch (A.a.O., S. 133). In dem Sinne der ersten beiden Bedeutungen gehört auch die Hegelsche Geschichtsauffassung als Geschichtsmetaphysik zum Historismus. Aber die Teilnehmer an der Historismusdebatte scheinen heutzutage den Begriff des Historismus in dem Sinne des 'historischen Relativismus' zu benutzen, weil der Historismus, der die Einmaligkeit der historischen, kulturellen und empirischen Tatbestände betont, dem Universalismus der Vernunft kritisch gegenübersteht. Natürlich kann man auf diese Form des Historismus verschieden reagieren; während die Historismusverteidiger den Relativismus als willkommene Basis für das pluralistische Leben ansehen (E. Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, München 175 Besonderheit der historischen, kulturellen und empirischen Tatbestände beschäftigt. Denn eine genaue Betrachtung der historischen und kulturellen Besonderheiten zeige, daß die Geschichte keineswegs einer übergeordneten Logik folge, anders gesagt, die Hegelsche Konzeption der Geschichte erweise sich letztendlich als ein Resultat des metaphysischen Denkens, das die Akzidenzien, die Ungewißheit und das Individuelle unter ein bestimmtes Gesetz subsumiert und eine All-Einheitslehre schafft. Das Besondere hat also seine Existenzberechtigung innerhalb der Hegelschen Geschichtsphilosophie, wie innerhalb des metaphysischen Denkens überhaupt, immer nur in Beziehung auf das Ganze. Die folgende Kritik von Habermas an der Hegelschen Geschichtsauffassung steht in diesem Kontext: "Eine Geschichte, die den Bildungsprozeß der Natur und des Geistes in sich aufnimmt und den logischen Formen der Selbstexplikation dieses Geistes gehorchen muß, sublimiert sich zum Gegenteil von Geschichte. […] eine Geschichte mit festgestellter Vergangenheit, vorentschiedener Zukunft und verurteilter Gegenwart ist keine Geschichte mehr." 18 Der Kern der Habermasschen Kritik an der Hegelschen Geschichtsauffassung liegt also darin, daß auch sie noch von den Kategorien der traditionellen Metaphysik geprägt ist, die Habermas als All-Einheitslehre bezeichnet. Der Kontextualismus von Lyotard und Roty geht davon aus, daß dieses metaphysische Erbe im subjekt-geschichtsphilosophischen Einheitsdenken für die Krisen der Gegenwart verantwortlich ist. Im Gegensatz zu dem einheitlichen metaphysischen Weltbild betont der Kontextualismus den Pluralismus der Lebensformen, indem er die 1965, S. 148. Hervorhebung von mir), ist der Historismus nach seinen Gegnern bloß ein Relativismus, "der sich in analoge skeptische Schwierigkeiten verwickelt" (E. Husserl, Historizismus und Weltanschauungsphilosophie, in: F. Rodi / H.-U. Lessing (Hg.), Materialen zur Philosophie Wilhelm Diltheys, Frankfurt/M. 1984, S. 103. Hervorhebung von mir), und "dessen 'Überwindung' immer noch auf der Tagesordnung steht" (H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt/M. 1983, S. 52). Eine ausführliche Behandlung der Historismusdebatte würde sicherlich den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Zu diesem Thema siehe besonders G. Scholtz, Historismus, Historizismus, in: HWPh, Bd. 3, Sp. 1141ff. und ders., Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, a.a.O., S. 132ff. 18 ND, S. 169. 176 Momente des Nicht-Identischen, des Heterogenen und des Akzidentellen hervorhebt. 19 Er ist also eine Reaktion auf die Hegelsche Geschichtsphilosophie. Habermas deutet diese kontextualistische Einsicht als einen weiteren Schritt in der Emanzipation der Menschheit – nämlich eine Emanzipation von der All-Einheitslehre der Seinsmetaphysik und der geschichtsphilosophischen Weltauffassung. Dies bedeutet, daß auch er die Wende zum 'nachmetaphysischen Denken' für historisch notwendig hält. Diese These ist der Anlaß seiner Auseinandersetzung mit D. Henrich. Henrich spricht noch von der Metaphysik, weil sie ursprünglich als Titel für die aristotelischen Bücher, die in der Bibliotheksordnung nach der Physik kamen, alles das bezeichnet, was auch heute noch als der Bereich, der über die bloße 'Physik' hinausgeht, von der Philosophie thematisiert wird. 20 Seine Kritik an Henrich bedeutet aber freilich nicht, daß Habermas mit dem Kontextualismus vollständig einverstanden wäre. Er versucht vielmehr durch die Einführung einer neuen Form der Vernunft, die von der Einheit der Vernunft ausgehende metaphysische und die kontextualistische Position miteinander zu verbinden, die davon ausgeht, daß die Entstehung und die Tätigkeit der Vernunft durchaus akzidentiell sind: diese neue Form der Vernunft ist die kommunikative Vernunft. Er legt dabei, wie das Wort 'Kommunikation' andeutet, Wert auf den Verfahrensbegriff des 'Diskurses', der hier nichts anderes meint als eine argumentgeleitete Kommunikation. Bei dem 'Diskurs' handelt es sich also um das Verfahren, unter bestimmten Bedingungen die Wahrheit einer bestimmten Aussage bzw. die Richtigkeit einer Handlung herauszufinden. Der Ausgangspunkt der kommunikativen Vernunft ist daher, daß man allein durch das Abwägen von Gründen und Gegengründen die Erkenntnis der Wahrheit von Aussagen und der Richtigkeit einer Handlung erreichen kann. Aus diesem Grund sind die 19 Der kontextualistische Versuch, die versöhnende Fähigkeit der Vernunft grundsätzlich zu bestreiten und sich durch eine radikale Kritik der metaphysischen Tradition der Philosophie entziehen zu wollen, bleibt aber nach Habermas immer noch innerhalb des negativ-metaphysischen Denkschemas befangen, das behauptet, daß die Trennung von S-O nur bei dem Denken entstehe und daß das metaphysische Eine außerhalb des Denkens liege: Der Kontextualismus "gestattet sich gegenüber einem Einheitsdenken […] mindestens sympathisierende Zurückhaltung. Denn der radikale Kontextualismus lebt ja selbst von einer negativen Metaphysik, die eben dasselbe ruhelos umkreist, was der metaphysische Idealismus mit dem Unbedingten immer schon gemeint und freilich immer schon verfehlt hatte." ND, S. 154. 20 Siehe D. Henrich, Was ist Metaphysik – was Moderne? Thesen gegen Jürgen Habermas, in: ders., Konzepte, Frankfurt/M. 1987, S. 11ff. Darauf antwortet Habermas in seinem Artikel Rückkehr zur Metaphysik, in: ND, besonders S. 18ff. 177 informativen theoretischen und praktischen Wahrheiten für Habermas durchaus diskursive, nicht intuitive Wahrheiten. 21 Wenn Vernunft als Fähigkeit verstanden wird, Gründe in Ansehung der Frage zu geben, ob diese oder jene Aussage wahr bzw. diese oder jene Handlung richtig ist, kann sich die Wahrheit, sei es die Wahrheit von Aussagen oder die Richtigkeit einer Handlung, nicht in dem Privatbesitz einer einzelnen Person befinde. Dies ist der Grund, warum Habermas die Vernunft mit der Öffentlichkeit verbindet. Was nach Habermas vernünftig ist, so K. Günther und L. Wingert, "zeigt sich im befreiten und befreienden öffentlichen Austausch von Argumenten über Erfahrenes und Gedachtes." 22 Die Theorie der kommunikativen Vernunft steht also zwischen einem Objektivismus und einem Relativismus; wenn die kommunikative Funktion des Sprechens als Ausgangspunkt der Philosophie genommen wird, so kann der Objektivismus nicht erklären, inwiefern die scheinbar objektiven Tatsachen in Wirklichkeit von der Sprache und den Kontext der Sprechhandlungen abhängen, und der Relativismus gerät in die Aporie, daß auch noch die Gültigkeit des Relativismus selbst von der allgemeinen Geltung der Verständlichkeit abhängt, die dem Phänomen des Sprechens eigen ist. Die beiden Positionen verabsolutieren also "einen der beiden Aspekte des sprachlichen Vernunftmediums, sei es dessen Allgemeinheit oder dessen Besonderheit" 23 und geraten insofern in Aporien. Der Verfahrensbegriff der kommunikativen Vernunft, der zwischen beiden Positionen steht, sieht einerseits alle historischen Tatsache und sogar die Entstehung der Vernunft selbst als kontingent an und erkennt andererseits die Eigenschaft des Mediums sprachlicher Verständigung an, die Grenzen angeblich inkommensurabler Welten zu transzendieren. Deshalb erscheint dieser Vernunftbegriff aus der Sicht der Objektivisten als 'zu schwach', aber aus der Sicht der Relativisten als 'zu stark'. 24 Aber aus der Sicht der kommunikativen Vernunft zeigen sich der metaphysische Vorrang der Einheit vor der Vielheit sowie der kontextualistischer Vorrang der Vielheit vor der Einheit als zwei Seiten derselben Medalle: "Die Einheit der Vernunft [bleibt] allein in der Vielheit ihrer 21 Klaus Günther / Lutz Wingert, Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 2001, S. 7. 22 Ebd. 23 ND, S. 175. 24 A.a.O., S. 154. 178 Stimmen vernehmbar – als die prinzipielle Möglichkeit eines wie immer okkasionellen, jedoch verständlichen Übergangs von einer Sprache in die andere." 25 Die kommunikative Vernunft geht von einer bestimmten Sprachauffassung aus: von der kommunikativ verstandenen Sprachpragmatik. Nach Habermas besteht zwischen der Allgemeinheit und der Besonderheit die folgende Verbindung: "In die Pragmatik eines jeden Sprachgebrauchs ist die Unterstellung einer gemeinsamen objektiven Welt eingebaut. Und die Dialogrollen jeder Gesprächssituation erzwingen eine Symmetrie der Teilnehmerperspektiven. Sie eröffnen zugleich die Möglichkeit der Perspektivenübernahme zwischen Ego und Alter sowie die Austauschbarkeit von Teilnehmer- und Beobachterperspektiven. Diese allgemeinen pragmatischen Voraussetzungen kommunikativen Handelns legen keineswegs den objektivistischen Fehlschluß nahe, wir könnten den extramundanen Standpunkt eines entweltlichten Subjekts einnehmen und uns einer kontextfreien, im Singular auftretenden Idealsprache bedienen, um infallible und erschöpfende, also definitive Aussagen zu machen, die die Wirkungsgeschichte stillstellen würden – Kommentars weder fähig wären noch bedürften. Das ist nicht die Alternative zum behutsamen, ethnozentrisch geständigen Kontextualismus. An die Möglichkeit sprachlicher Verständigung können wir einen Begriff situierter Vernunft ablesen, die ihre Stimme in zugleich kontextabhängigen und transzendierenden Geltungsansprüchen erhebt." 26 Diese Passage zeigt, daß die kommunikative Vernunft in dem Sinne 'immanent' ist, daß sie außerhalb konkreter Sprachspiele und Institutionen nicht existiert, und zugleich als eine regulative Idee diese Kontexte transzendiert. Zwischen dem metaphysischen Denken, das von einem "festen Bestand an Formen" ausgeht, "zu dem es erkennbare Alternativen nicht gibt", und dem Kontextualismus, der "alles in den Strudel der Kontingenzerfahrung" bringt, 27 entwirft die sprachtheoretische Wende der Philosophie ein Konzept einer "schwachen, aber nicht defaistischen" 28 25 A.a.O., S. 155. 26 A.a.O., S. 178f. 27 A.a.O., S. 179. 28 A.a.O., S. 182. 179 Einheit, in dem die Vielheit miteinbezogen ist. Der Geltungsanspruch der Verständlichkeit, die dem jeweiligen Sprachspiel innewohnt, macht diese Einheit möglich. Die Strukturen möglicher sprachlicher Verständigung bilden nach Habermas für alle kommunikativ Handelnde "ein Nicht-Hintergehbares." 29 Von daher eröffnet sich ein Weg, an dem Rationalismus der Aufklärung festzuhalten, indem die Verständlichkeit in die Kategorie der Rationalität eingeführt wird. Vier Geltungsansprüche, die die Umgangsprache begleiten, d. h. objektive Wahrheit, normative Richtigkeit, subjektive Wahrhaftigkeit und intersubjektive Verständlichkeit, fungieren als transzendentale bzw. regulative Ideen, die eine Handlung als rational auszeichnen. Anders gesagt, das rationale Moment eines Handelns liegt in den ihm innewohnenden transzendentalen Geltungsansprüchen. Habermas nennt den Zustand, in dem die regulativen Geltungsansprüche alle erfüllt werden und dadurch eine gewaltlose Kommunikation ermöglichen, 'ideale Sprechsituation'. Er versteht diesen Begriff als eine Art Maßstab oder als eine regulative Idee, nicht aber als ein zu realisierendes Projekt. Wegen des transzendentalen Moments der Geltungsansprüche sowie der Idee der nicht zu realisierenden 'idealen Sprechsituation' fokussiert sich die Kritik an Habermas häufig auf die Frage, ob er damit nicht wieder zur Kantischen Zwei-Welten Lehre zurückkehrt. Die Habermassche Einteilung der Geltungsansprüche, die in einer Analyse der Umgangsprache herausgearbeitet werden, erinnert an die Kantische Deduktion der Kategorien mit Hilfe einer Analyse der Vernunft. Einer der Hauptkritikpunkte, der seit Hegel gegen Kant geltend gemacht wird, ist, daß es keine überzeugende Verbindung zwischen dem Noumenon bzw. der intelligiblen Welt und dem Phaenomenon bzw. der Erscheinungswelt gibt. Man kann sich daher fragen, ob sich nicht die das Handeln a priori regulierenden Geltungen bei Habermas auf die Kantische intelligible Welt beziehen. Wenn diese Kritik richtig ist, führt sie dazu, daß seine ursprüngliche Absicht, die innerweltliche sittliche Totalität rational zu deuten, und sein Geltungsbegriff miteinander in einer Spannung stehen. Habermas ist sich dieses Kritikpunkts bewußt: "Ernster ist das Bedenken, ob nicht mit dem Begriff des kommunikativen Handelns und Geltungsansprüche 29 der ein transzendierenden Idealismus A.a.O., S. 179f. 180 Kraft hergestellt wird, universalistischer der mit den materialistischen Einsichten des Historischen Materialismus unverträglich ist." 30 Um dieses Problem zu vermeiden, muß er daher deutlich machen, daß der Bereich der kommunikativ eingeteilten Geltungen nicht mit dem Bereich der Kantischen Transzendentalität identisch ist. Während die Moral-Lehre Kants von dem "Purismus der Vernunft" 31 ausgeht, setzt der Bereich der kommunikativen Geltungen immer wirkliche Zeiten und Räume voraus. Genauer gesagt, die Theorie des kommunikativen Handelns lehnt nicht nur den empirischen Perspektivismus, sondern auch die Metaphysik der Vernunft oder 'den Purismus der Vernunft' ab, der davon ausgeht, daß die Sprache erst nachträglich zu der Vernunft hinzu kommt. Das Wesen der Geltungsansprüche besteht bei jeder Kommunikation darin, daß sie jeden lokalen Kontext transzendieren und gleichzeitig jeweils nur in bestimmten Kontexten erhoben werden. Das kommunikative Handeln ist also einerseits innerweltlich, weil es in der konkreten Welt ausgeführt wird, und andererseits transzendental, weil es die über diese Welt hinausgehende Normativität voraussetzt. Von daher spricht Habermas davon, daß die in dem kommunikativen Handeln erhobene Geltung 'eine abgeschwächte oder begrenzte Transzendentalität' ist. Gerade in diesem Zusammenhang müssen die beiden oben genannten Punkte verstanden werden, daß die Geltungsansprüche als transzendentale Ideen fungieren, die die Rationalität einer Handlung bestimmen, und daß die ideale Sprechsituation nicht ein real zu verwirklichendes Projekt, sondern eine regulative Idee ist. Habermas betont in einer Abhandlung den Unterschied zwischen seiner Diskurstheorie und der Kantischen Morallehre wie folgt: "Erstens gibt die Diskursethik die Zwei-Rechte-Lehre auf. […] Eine gleichsam transzendentale Nötigung, unter der sich verständigungsorientiert eingestellte Subjekte an Geltungsansprüchen orientieren, macht sich nur in dem Zwang bemerkbar, unter idealisierenden Voraussetzungen zu sprechen und zu handeln. Der Hiatus zwischen Intelligiblem und Empirischem wird zu einer Spannung abgemildert, die sich in der faktischen Kraft kontrafaktischer Unterstellungen innerhalb 30 PDM, S. 374. 31 J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 186. 181 der kommunikativen Alltagspraxis selber bemerkbar macht. Zweitens überwindet die Diskursethik den bloß innerlichen, monologischen Ansatz Kants, der damit rechnet, daß jeder Einzelne in foro interno ('im einsamen Seelenleben', wie Husserl sagte) die Prüfung seiner Handlungsmaximen vornimmt. […] Einzig die Universalien des Sprachgebrauchs bilden eine den Individuen vorgängig gemeinsame Struktur. Drittens erhebt die Diskursethik den Anspruch, jenes Begründungsproblem, dem Kant letztlich durch den Hinweis auf ein Faktum der Vernunft – auf die Erfahrung des Genötigtseins durch Sollen – ausweicht, mit der Ableitung von 'U' [sc. dem Universalisierungsgrundsatz] aus voraussetzungen gelöst zu haben." allgemeinen Argumentations- 32 Von daher braucht die kommunikative Vernunft, die in der auf die Verständigung zielenden Alltagspraxis verwirklicht ist, nicht wie Kant von zwei unversöhnlichen Welten auszugehen. Denn die kommunikativ Handelnden setzen beim Handeln immer die über die Zufälligkeit des jetzigen Handelns hinausgehenden allgemeinen rationalen Geltungsansprüche voraus und sind aber gleichzeitig mit der kontextabhängigen Faktizität verbunden. Folglich wird die unversöhnliche Trennung zwischen den zwei Welten Kants zu einer innerlebensweltlichen Spannung zwischen Geltung und Faktizität abgemildert. 33 Habermas formuliert diesen Gedanke wie folgt: "Die für Propositionen und Normen beanspruchte Geltung transzendiert Räume und Zeiten, aber der Anspruch wird jeweils hier und jetzt, in bestimmten Kontexten erhoben und mit faktischen Handlungsfolgen akzeptiert oder zurückgewiesen." 34 Ferner denkt Habermas, daß die traditionelle Einheitsidee nichts anderes als 'ein transzendentaler Schein' ist, der durch die Hypostasierung der alltagspraktisch vorausgesetzten Lebenswelt zur spekulativen Idee des Einen und Allen entstanden ist: "Mythische, religiöse und eben auch metaphysische Weltbilder haben sich der 32 J. Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: ders., Erläuterung zur Diskursethik, Frankfurt/M. 1991, S. 20f. 33 Vgl. ND, S. 182. 34 ND, S. 179 und PDM, S. 375. 182 vergegenständlichenden Projektion der nur intuitiv gewußten Einheit der Lebenswelt auf die Ebene expliziten Wissens verdankt." 35 Wie schon erwähnt, bleibt die Lebenswelt den Beteiligten als "ein intuitiv gewußter, unproblematischer und unzerlegbarer holistischer Hintergrund im Rücken." 36 Sie bildet den "Horizont an intersubjektiv geteilten Hintergrundannahmen, in die jeder Kommunikationsprozeß vorgängig eingebettet ist." 37 Die Lebenswelt läßt sich daher nie vollständig begreifen oder thematisieren. Die kommunikativ Handelnden müssen daher die Arbeit der weltbildenden Synthesis übernehmen, weil die Lebenswelt "eine implizit und vorreflexiv mitlaufende Totalität [bildet], die im Augenblick ihrer Thematisierung zerfällt – Totalität bleibt sie nur im Modus des abgeschatteten, präsupponierten Hintergrundwissens." 38 Aus diesem Grund erkennt auch Habermas, daß seine Bemühung, das Rationalitätsideal der Aufklärung fortzuführen, nur in abgemilderter Form verwirklicht werden kann. Dies ist der Grund, warum er den Begriff der "transitorischen Einheit" entwickelt hat, "die sich in der porösen und gebrochenen Intersubjektivität eines sprachlich vermittelten Konsenses herstellt" 39 und damit die Pluralisierung der Lebensformen sowie die Individualisierung der Lebensstile ermöglicht. Er formuliert diese Einheit als 'Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen'. Von diesem Hintergrund charakterisiert er das Wesen der kommunikativen Vernunft wie folgt: "Die kommunikative Vernunft ist gewiß eine schwankende Schale – aber sie ertrinkt nicht im Meer der Kontingenzen, auch wenn das Erzittern auf hoher See der einzige Modus ist, in der sie Kontingenzen 'bewältigt'." 40 35 ND, S. 183 36 PDM, S. 348. 37 Vgl. A. Honneth, Kritik der Macht, a.a.O., S. 318. 38 ND, S. 182f. 39 A.a.O., S. 180. 40 A.a.O., S. 184f. 183 2. Würdigung und Kritik der Habermasschen Theorie Das 'kommunikative Handeln' und die 'Lebenswelt' als 'komplementärer' Begriff für jenes Handeln sind die beiden Hauptbegriffe der Theorie des kommunikativen Handelns. Der Gedanke der dialektischen Wechselwirkung zwischen beiden Faktoren kann als die Habermassche Antwort auf die klassische sozialphilosophische Frage nach dem Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft gelten; während die traditionelle Sozialphilosophie eine reduktionistische Tendenz hat, indem sie entweder der Gesellschaft oder dem Individuum die Priorität gibt, versucht Habermas die Autonomie des einzelnen Subjekts und gleichzeitig dessen Abhängigkeit von der Lebenswelt, die Kontinuität der Geschichte und deren Diskontinuität sowie die Kritik an der Kultur und die Aufnahme der kulturellen Überlieferungen etc. in einer Theorie zu vereinigen. Im Bezug auf den philosophischen Diskurs der Moderne läßt sich daher die Position von Habermas wie folgt zusammenfassen: Erstens: die Theorie des kommunikativen Handelns übernimmt die Zeitdiagnose der frühen kritischen Theorie, die behauptet, daß die moderne wissenschaftliche Vernunft eine instrumentell verkürzte Vernunft ist, die auf die wertneutrale Objektdarstellung abzielt. Die frühen Vertreter der kritischen Theorie sehen den Ursprung dieser Vernunft in der modernen Subjektphilosophie, die vom erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Schema ausgeht. Die positivistische Tendenz der modernen Wissenschaft, die durch ihre objektivistische Methode gekennzeichnet ist, spiegelt die allmähliche Machterweiterung der instrumentellen Vernunft wider. Das Problem ist, daß diese Vernunft zwar zu dem Fortschritt der modernen Wissenschaft beigetragen hat, aber nicht auf ihre eigene erkenntnistheoretische Stellung reflektiert und kein Interesse an einer Selbstkritik oder an einer Verbesserung des Subjekts hat. Habermas bestätigt mit der Theorie des kommunikativen Handelns die Zeitdiagnose der frühen kritischen Theorie, die den Verlust der kritischen Funktion der Vernunft als die Ursache der pathologischen Erscheinungen der Moderne betrachtet. Darüber hinaus bewahrt er mit seiner Theorie die moderne rationalistische Tradition, indem er nicht der Rationalität selbst, sondern der instrumentell verkürzten Rationalität die Verantwortung für die pathologischen Erscheinungen zuschreibt. Das subjektphilosophische Schema verabsolutiert die instrumentelle Vernunft, und daher führen die Modernitätskritiker, wie z. B. die Postmodernisten, den Grund der modernen pathologischen Erscheinungen auf die Verabsolutierung der Vernunft, also auf 'ein Zuviel an Vernunft' zurück. 184 Habermas ist aber der Meinung, daß sowohl die Subjektphilosophie als auch der Postmodernismus darin übereinstimmen, daß sie die instrumentelle Vernunft als Vernunft überhaupt ansehen. Die Theorie der kommunikativen Vernunft zeigt dagegen in der modernen Wissenschaft überhaupt die Form einer verkürzten Vernunft auf, und somit herrscht "nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Vernunft". 41 Zweitens: diese Habermassche Antwort zeigt einen neuen Weg zu einer normativen Basis für die Gesellschaftskritik, die der kritischen Gesellschaftstheorie fehlt; diese Theorie, die davon ausgeht, daß die Vernunft infolge der Subjektsphilosophie ihre kritische Funktion verliert und nur noch die instrumentelle Vernunft übrig bleibt, ist trotzdem, so Habermas, insofern keinen Schritt über das subjektphilosophische Denkschema hinaus gegangen, als ihre Kritik immer noch vom Ideal der Autonomie und Freiheit geleitet ist. Nach Habermas ist dieses Ideal ein zentraler Bestandteil des subjektphilosophischen Denkens. Der Kernpunkt der Habermasschen Kritik an der kritischen Gesellschaftstheorie ist also, daß diese keine normative Basis hat, die die Gültigkeit ihrer eigenen Kritik an der instrumentellen Vernunft garantieren kann. 42 Die kommunikative Vernunft verabsolutiert sich selbst dagegen nicht. Daher nennt Habermas sie eine 'bescheidene Vernunft'. Gerade weil sie eine Verständigung über etwas in der Welt intendiert, erkennt sie die Differenz zwischen Meinungen und Argumenten an und versucht deshalb diese Differenz durch den Prozeß der argumentativen Auseinandersetzung, also durch eine prozeduale Rationalität, aufzulösen. Jede reale Kommunikation enthält schon das Moment der Rationalität in sich in dem Sinne, daß sie – wenn man der sprachpragmatischen These folgt, daß jeder Sprechakt immer semi-transzendentale Geltungsansprüche erhebt – eine ideale Sprechsituation voraussetzt, von der aus Fälschung, Täuschung und (oder) Mißbrauch der Macht kritisiert werden könnten. Hierdurch kann nach Habermas die kritische Funktion der Vernunft wiederhergestellt werden, die in der kritischen Gesellschaftstheorie verloren gegangen ist, und die Gesellschaftskritik kann einen neuen normativen Maßstab gewinnen, ohne in einen Selbstwiderspruch zu geraten. Die Theorie des kommunikativen Handelns hat allerdings trotz dieser Bemühungen noch die folgenden Schwierigkeiten. Die Verknüpfung von kommunikativem Handeln und Lebenswelt bei Habermas kann, wie erwähnt, sozialwissenschaftlich als ein 41 PDM, S. 361. 42 NU, S. 145, PDM, S. 95ff. Vgl. Anne Créau, Kommunikative Vernunft als 'entmystifiziertes Schicksal', Frankfurt/M. 1991, S. 139f. 185 wechselseitiger Bedingungszusammenhang verstanden werden. Das Problem ist aber, daß es nicht so einfach ist, sich den genauen Inhalt dieser Verknüpfung vorzustellen. Die Lebenswelt wird als 'Ressource' und 'Horizont' des kommunikativen Handelns angesehen. Der kommunikativ Handelnde wird dagegen als Subjekt verstanden, das die Fähigkeit hat, rational zu handeln und durch die ungezwungene Kommunikation mit den Anderen einen Konsens zu erreichen. Damit die Rationalität aber mit dem Begriff der Kritik verbunden werden kann, ist für die Rationalität m. E. das Transzendieren der gegebenen vorbewußten Bedingungen unentbehrlich. Man kann sich daher mit Recht fragen, ob der kommunikativ Handelnde, der der apriorischen Struktur der Lebenswelt verhaftet ist, wirklich einen ungezwungenen Konsens erreichen kann, und weiter, ob die 'ideale Sprechsituation' als theoretischer Begriff bei Habermas wirklich seine Berechtigung hat, wenn das Subjekt stets von der Lebenswelt abhängig ist. Die 'ideale Sprechsituation' kann daher bloß als eine Abstraktion gedeutet werden, die keine Entsprechung in der Wirklichkeit hat. Aus diesem Grund wird Habermas von entgegengesetzten Positionen gleichzeitig kritisiert. Der Kern dieser Kritik an Habermas ist also, daß die Problematik der Totalität bzw. des Ganzen bei dem Begriff des kommunikativen Handelns einerseits und die der Individualität bzw. der Reflexionsfähigkeit des Subjekts bei dem der Lebenswelt andererseits nicht ausreichend berücksichtigt werden können. 1) Kritik am kommunikativen Handeln: Es wurde bereits erwähnt, daß Habermas für seine neue Rationalitätstheorie die Sprachphilosophie auswertet, die es erlaubt, den Begriff der Rationalität mit den Begriffen 'Einverständnis', 'Verständigung' sowie vor allem 'ungezwungener Kooperation' zu verbinden. Also spielt das Sprachparadigma bei der Habermasschen Rationalitätstheorie eine entscheidende Rolle. Die 'Zwanglosigkeit' nimmt einen zentralen Platz in seiner Rationalitätstheorie ein. Die Vorstellung der 'Zwanglosigkeit' zeigt, daß Habermas in der philosophischen Tradition steht, die das Wesen der Demokratie in dem Konzept der freiwilligen Kooperation sieht, d. h. die vertritt, daß die Menschen dann dem Ideal der Rationalität entsprechen, wenn ihre Verträge als freiwillig geschlossene Abmachungen aufgefaßt werden können. Dies spiegelt einen modernen rationalistischen Optimismus wider, der von der Selbständigkeit des einzelnen Subjekts und auch von der Möglichkeit einer grundsätzlichen Kritik an der Kultur ausgeht. In der Tat deutet er selbst auf eine Möglichkeit der Kritik an dem gesamten kulturellen Bereich hin: "Die kulturelle 186 Überlieferung muß ein reflexives Verhältnis zu sich selbst gestatten; sie muß ihrer Dogmatik soweit entkleidet sein, daß die durch Tradition gespeisten Interpretationen grundsätzlich in Frage gestellt und einer kritischen Revision unterzogen werden dürfen." 43 Es fragt sich aber, ob diese grundsätzliche Kritik an der Kultur möglich sein kann, wenn die Interaktionsbeteiligten nicht vollständig frei von äußeren materiellen sowie von internalisierten Zwängen sind, welche außerhalb der Reichweite ihres Bewußtseins liegen und dennoch ihr Verhalten beeinflussen oder sogar verursachen können. Diese skeptische Frage bringt die weiteren Fragen mit sich, ob sich die Interaktionsbeteiligten des Sinns ihrer Aussagen und ihres Tuns vollständig bewußt sein können, ob sie ihre Sprache und ihr Weltbild überhaupt einer rationalen Überprüfung unterwerfen können und ob die sprachlich strukturierten Weltbilder einfach als von Menschen konstituierte Interpretationen betrachtet werden können, die vollständig der Kritik offen sind. Diese Fragestellungen haben wiederum etwas mit einer anderen, für die Habermassche Rationalitätstheorie entscheidenden Frage zu tun, ob ungezwungenes, bewußtes, rationales Einverständnis überhaupt möglich ist, wenn die an der Kommunikation Beteiligten unvermeidlich von der vorbewußten Tiefenstruktur der Symbole und der Zeichenbedeutungen geprägt sind. In seiner Rationalitätstheorie, die von der Vorstellung der Zwanglosigkeit der idealen Sprechsituation ausgeht, scheint Habermas – entgegen seiner Absicht – die Abhängigkeit der Menschen von den unbewußt wirkenden Strukturen der Lebenswelt zu unterschätzen. Um seiner These gerecht zu werden, daß die Rationalität oder die Freiheit des Menschen nicht in der vollständigen Befreiung von solchen Strukturen liegt, sondern nur in dem Maße verwirklicht werden kann, in dem Kooperation innerhalb der Strukturen der Lebenswelt zustande kommt, müßte Habermas statt der Vorstellung der Zwanglosigkeit und der Idee der idealen Sprechsituation die empirischen Tatsachen stärker in seiner Theorie berücksichtigen. Die Erfahrung lehrt, daß die Ansichten einer Gesellschaft über die Gegenstände in der Welt und über die Normen des Handelns in der Regel unkritisch und unhinterfragt von den einzelnen Subjekten übernommen werden. Dies zeigt sich beispielsweise darin, daß selbst die modernen, rationalen Weltdeutungen häufig arationale Momente enthalten und daher nach J. Alexander auch 43 TkH 1, S. 109. 187 in der Moderne das Mystische noch eine Rolle spielt. 44 Das Problem ist, daß es nicht einfach ist zu beurteilen, ob diese Weltdeutungen irrational sind. Aus diesem Grund ist Alexander der Ansicht, daß die Rationalitätstheorie von Habermas, da sie das sprechhandelnde Subjekt zu stark akzentuiert, die vorbewußten Strukturen des Kulturcodes unterschätzt und insofern in den Verdacht gerät, daß sie "in antagonistischer Beziehung zur Kultur" 45 steht. Diese Kritik weist also darauf hin, daß die Habermassche Theorie ebenfalls dem Ideal der modernen Subjektphilosophie verhaftet ist, die zwar von der Idee der absoluten Kritikmöglichkeit bzw. der absoluten Autonomie des transzendentalen Subjekts ausgeht, aber mit der Paradoxie der Rationalität endet. 2) Kritik an der Lebenswelt: Der Begriff der Lebenswelt führt zu einer ganz anderen Kritik. Während der Begriff des kommunikativen Handelns bei Habermas an die typische moderne Auffassung von der Autonomie des Subjekts anknüpft, erhellt am Begriff der Lebenswelt, daß Habermas die Leistungen der Moderne unterschätzt. Er versucht mit Hilfe des Begriffs der Lebenswelt, einerseits die Idee der Totalität der Gesellschaft zu rekonstruieren und andererseits die Beziehungen der einzelnen Handlungen zur Lebenswelt darzustellen. Er betrachtet also das Verhältnis zwischen der Totalität der Lebenswelt und der Autonomie des Handelns. Dies ist die Habermassche Version der alten klassischen Frage nach dem Verhältnis von Einem und Vielem. Es ist aber fraglich, ob die Lebenswelt – als nicht thematisierbare Totalität oder als transzendentaler Ort, auf den sich die Interaktionsteilnehmer gemeinsam beziehen sollen, – ein wissenschaftlicher oder philosophischer Begriff sein kann. Eine der wichtigen Kritikpunkte Luhmanns an Habermas fokussiert sich gerade auf dieses Problem: "Ein unbestreitbar schöner, sich gut anfühlender Begriff: konkret und robust, nah und fern zugleich, reich an empirischem Gehalt und doch mit den Eigenschaften der äußersten Sphäre ausgestattet: se ipsa et omnia continens. Gleichwohl steckt in diesem Begriff eine eigentümliche Ambibalenz, die Aussagen über Lebenswelt unscharf werden lassen. Als Begriff läßt dieser Weltbegriff sich von anderen Weltbegriffen […] und erst recht von allen Sachbegriffen absetzen. Der Sachverhalt, den er bezeichnet, verträgt jedoch 44 Vgl. J. Alexander, Habermas' neue Kritische Theorie: Anspruch und Probleme, in: Kommunikatives Handeln, A. Honneth / H. Joas (Hg.), Frankfurt/M. 1986, S. 103. 45 Ebd. 188 keine Exklusion. 46 Auch die Wissenschaft findet in der Lebenswelt statt. Alles, was ist, ist in der Lebenswelt aufweisbar. Die Lebenswelt ist die Welt. […] Wir haben also einen Begriff, der die Begriffe, die er ausschließt, in den Sachverhalt einschließt, den er bezeichnet. Daß mit dieser paradoxen Struktur jedes Problem, auch das der Intersubjektivität, erfaßt werden kann, ist leicht zu sehen. Aber was hilft die Umsetzung eines Problems in eine Paradoxie?" 47 Auch D. Henrich, der eine ganz andere philosophische Position als Luhmann einnimmt, sieht den Schwachpunkt der Habermasschen Theorie in diesem Begriff. Der Begriff der Lebenswelt relativiert bei Habermas, wie schon erwähnt, den Begriff der Reflexion, der als der Ausgangspunkt der modernen Philosophie gelten kann. Dies bedeutet umgekehrt, daß dieser Begriff dafür Raum lassen könnte, die unmittelbare Totalität oder die metaphysische Einheit wieder zu beleben, der sich die Reflexion einst mühevoll entzogen hat. 'Reflexion' ist nach ihm ein Grundterminus im Denken der Moderne, der nichts anderes meint als "das Bewußtsein von den Unterschieden zwischen den Verständigungsarten, welche sich in der Spontaneität des bewußten Lebens ausgebildet haben", und "eine Distanznahme zu den primären Tendenzen der Verstehensarten und Selbstbeschreibungen insgesamt." 48 Die Reflexion ist also nach Henrich ein Resultat der anstrengenden Bemühungen des menschlichen Denkens, sich der Unmittelbarkeit des Seins zu entziehen. Aber mit der Einführung des Lebensweltbegriffs bringe Habermas nur "eine längst verlorene Unmittelbarkeit"49 in Umlauf und könne dadurch den Begriff der Reflexion und dessen Vorzüge nicht angemessen würdigen. Einer überzeugenden Analyse der Reflexion, so D. Henrich, "weicht aber eine Theoriesprache wie die von Habermas aus, die, wie immer unfreiwillig, für Unmittelbarkeit optiert, 46 Dies bedeutet nach Luhmann, daß die Lebenswelt nur durch interne Distinktion charakterisiert werden kann. N. Luhmann, Intersubjektivität oder Kommunikation: Unterschiedliche Ausgangspunkte soziologischer Theoriebildung, in: Archivio di Filosofia, Marco M. Olivetti (Hg.), Cedam 1986, Anmerkung, S. 49. 47 48 Ebd. Hervorhebung im Original. D. Henrich, Was ist Metaphysik – was Moderne? – Zwölf Thesen gegen J. Habermas; in: ders., Konzepte, Frankfurt/M. 1987, S. 18f. 49 Ebd. 189 indem sie die Ressourcen der Lebenswelt ohne weiteres als zuletzt verläßlich geltend machen will." 50 50 A.a.O., S.19. 190 Zusammenfassung Die Fragestellung Die Philosophie bemüht sich heutzutage darum, das Wesen der Moderne zu verstehen. Die verschiedenen Deutungen der Moderne stehen dabei in einem engen Zusammenhang mit der Art und Weise, wie man viele sozialpathologische Erscheinungen behandelt, die die Entwicklung der Technik mit sich bringt und die das Leben des Menschen selbst gefährden. Die Teilnehmer an dem Diskurs der Moderne gehen in der Regel davon aus, daß die Moderne, um sich von der mythischen, metaphysischen Denkweise und der autoritären Kultur der Vergangenheit zu befreien, in einer erkenntnistheoretischen Wende des Denkens die Problematik der Subjektivität in den Vordergrund gestellt hat. Im Verlaufe der Zeit sei die Moderne, der es um die Freiheit des Menschen ging, aber "einem neuen Mythos zum Opfer" 1 gefallen. TPF FPT Diese Zeitdiagnose hat drei verschiedene philosophische Antworten hervorgerufen: 1) die postmoderne Position, die das Projekt der vernünftigen, rationalen Emanzipation der Moderne als Mißerfolg bestimmt und damit in die Richtung eines Irrationalismus oder Antirationalismus geht, 2) die subjektphilosophische Position, die davon aus geht, daß die sozialpathologischen Erscheinungen der Moderne aus einer inkonsequenten Anwendung der modernen Vernunftidee resultieren und daher nicht daran zweifelt, daß innerhalb der Philosophie die Vernunft der oberste Richter sei; sie vertritt also einen starken rationalistischen Optimismus und geht davon aus, daß das Paradox der Aufklärung durch die Entwicklung der auf der modernen Rationalität basierenden Wissenschaft und Technik aufgehoben werden sollte; 3) die intersubjektivitätsphilosophische Position, die die sozialpathologischen Erscheinungen der Moderne zwar als Resultat der monologischen, vom Subjekt-Objekt-Schema ausgehenden subjektivistischen Vernunft anerkennt, aber gleichzeitig die Wiederherstellung der emanzipatorischen Funktion der Vernunft zu erreichen versucht, indem sie von einem intersubjektiven, dialogischen Vernunftkonzept ausgeht. Anders gesagt, diese Position kritisiert zwar die Moderne in dem Punkt, daß sie die monologische, subjektivistische Vernunft ablehnt, aber sie nimmt durch die Erweiterung des Bereiches der Vernunft die rationalistische Tradition der Moderne über. Dadurch gewinnt sie eine Möglichkeit, innerhalb der rationalistischen Tradition der Moderne das Projekt der Moderne weiter TP 1 PT M. Jay, Dialektische Phantasie, a.a.O., S. 305. 191 zu entwickeln, während die ersten beiden Positionen dem Schema von Vernunft/NichtVernunft verhaftet sind und daher entweder in einen Rationalismus oder in einen Irbzw. Antirationalismus fallen. Also zeichnet sich die erste Position durch eine Radikalisierung der dezentrierenden Tendenzen, die zweite durch die entschlossene Beibehaltung des klassischen Autonomieideals und die dritte durch eine Rekonstruktion der Vernunft durch die Idee der Intersubjektivität aus. 2 TPF FPT Der Ausgangspunkt des Habermasschen Denkens Habermas beurteilt den Paradigmenwechsel von der Subjektivität zur Intersubjektivität als "die eigentliche philosophische Leistung unserer Epoche." 3 Nach ihm sind die erste TPF FPT und die zweite Position insofern einseitig, als sie die subjektivistische bzw. instrumentelle Vernunft als einzige Form der Vernunft betrachten; die Differenz zwischen ihnen liegt nur darin, daß die erste Position diese Vernunftkonzeption abschaffen will, während die zweite an ihr festhalten möchte. Nach Habermas überwindet die Subjektivitätsphilosophie nicht den monologischen, verdinglichenden Charakter der Vorstellung eines einsamen, abgeschlossenen Subjektes, das sich die Welt unterwirft, während die postmoderne Position insofern problematisch, ja selbstwidersprüchlich ist, als sie ihre eigenen ir- oder antirationalistische Ansichten selbst noch mit rationalen, d. h. vernünftigen Argumenten rechtfertigt. Aus dieser Sicht betrachtet Habermas die gegenwärtigen sozialpathologischen Erscheinungen weder als einen direkten Beweis für den Mißerfolg des Projektes der Moderne noch als einen Grund für den Übergang zur Postmoderne, noch sieht er diese Probleme als Resultat einer inkonsequenten Anwendung der modernen Vernunftidee an; vielmehr versteht er sie als Ausdruck der "mit sich selber zerfallenen Moderne".4 Dies TPF FPT bedeutet, daß das Projekt der Moderne mit dem Rationalisierungsprozeß zwar verzogen wurde, aber innerhalb der Moderne weitergeführt werden kann und muß. Er strebt also eine Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne an. Diese Versöhnung bedeutet für ihn vor allem, Formen des vernünftigen Zusammenlebens zu finden, ohne die in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen erscheinenden Differenzierungen 2 Vgl. A. Honneth, Dezentrierte Autonomie, a.a.O., S. 238f. TP PT 3 NU, S. 134. TP PT TP 4 PT TP A.a.O., S. 202. 192 preiszugeben. 5 Vor diesem Hintergrund kann er 'die mit sich zerfallene Moderne' nicht TPF FPT als Scheitern der Moderne bzw. der Aufklärung, sondern als 'ein unvollendetes Projekt' ansehen: 6 "Die Hoffnung auf Emanzipation der Menschen aus selbstverschuldeter TPF FPT Unmündigkeit und erniedrigenden Lebensumständen hat ihre Kraft nicht verloren." 7 TPF FPT Hegel und Habermas Habermas sieht in der Philosophie des jungen Hegel den ersten Versuch, die Moderne nicht als gescheitert, sondern als in sich gespalten zu betrachten. Anders gesagt, Hegel ist der erste Philosoph, der das Problem der 'Entzweiung' der Moderne analysiert. Das ist der Grund, warum Hegel in seiner früheren Zeit den Begriff einer versöhnenden Vernunft entwickelt hat und nicht, wie die Postmoderne, den Begriff der Nicht-Vernunft zur zentralen Kategorie erhebt. "Entzweiung ist der Quell des Bedürfnisses der Philosophie", 8 deren Aufgabe es ist, die Trennung in eine Einheit zu bringen. TPF FPT In seiner Kritik an den positiven Systemen, wie z. B. an der christlichen Religion und an der Reflexionsphilosophie, zeigt er, daß die moderne Subjektivität nichts anderes als eine verengte, einseitige isolierte Reflexion ist. 9 Diese Reflexion erlaubt, so Hegel, zwar TPF FPT eine Emanzipation von der religiösen, mythtischen und metaphysischen Weltsicht, aber sie führt zu einer dualistischen Entzweiung des Lebens und macht eine lebendige Einheit von 'privatem und öffentlichem Leben', von 'Sein und Sollen' und von 'Glauben und Wissen' etc. unmöglich. Der Hauptkritikpunkt von Hegel an der modernen subjektivistischen Vernunft besteht also darin, daß diese Vernunft zwar eine Emanzipation von der christlichen Weltanschauung ermöglicht hat, aber daß sie wegen ihrer strikten Selbstbeziehung keine Einheit mit dem Anderen, wie z. B. mit dem Glauben, herstellen konnte. Hegel geht von dieser kritischen Überlegung zum Entwurf einer 'versöhnenden Vernunft' über, durch die das getrennte Leben wieder vereinigt werden kann. Dieser 5 Vgl. Ebd. TP PT 6 Habermas hielt bei dem Empfang des 'Adorno-Preises' der Stadt Frankfurt 1980 einen Vortrag, dessen TP PT Titel: "Die Moderne – ein unvollendetes Projekt" lautet. Dieser Titel deutet sehr gut die Zielsetzung von Habermas an. Dieser Artikel befindet sich in: J. Habermas, Kleine Politische Schriften, Frankfurt/M. 1981. 7 J. Habermas, Die nachholende Revolution, a.a.O., S. 203. TP PT 8 TP G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 12. Hervorhebung im Original. PT 9 TP PT Vgl. A.a.O., S. 16. Der Jenaer Hegel schlägt statt dieser isolierten Reflexion eine philosophische Reflexion, d. h. die Vernunft bzw. Spekulation als einen philosophischen Begriff für eine wahre Vereinigung vor. 193 Übergang geht von der Überlegung aus, daß die isolierte Reflexion, d. h. die subjekphilosophische Vernunft die Aufgabe der Vereinigung des Lebens nicht erfüllen kann; sie behandelt das Andere in dem erkenntnistheorischen Denkschema von Subjekt und Objekt und enthält daher praktisch schon einen Keim der Herrschaftsstruktur in sich. Hegel konkretisiert dagegen in seiner Frankfurter Zeit die Idee der 'versöhnenden Vernunft' mit Hilfe der Begriffe der Liebe und des Lebens. Liebe bedeutet bei Hegel, das Andere als notwendige Bedingung für die eigene Existenz anzusehen, also das Selbst im Anderen zu finden, und Leben bedeutet für ihn, Manigfaltiges und Einheitliches, Endliches und Unendliches als eine Einheit zu verstehen, ebenso wie ein Organismus viele Glieder in sich vereint. Hegel bezeichnet vor diesem Hintergrund das Leben als "die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung." 10 TPF FPT Es wird also deutlich, daß Hegel das Leben als ein 'Zusammenleben' bzw. als ein gesellschaftliches Leben versteht. Die positiven Institutionen und die Reflexionsphilosophie dienen für Hegel nur dem, die Trennung des einzelnen Lebens vom Zusammenleben zu rechtfertigen, wie anhand der Geschichte Abrahams deutlich wird, dessen Zerreißung der "Bande des Zusammenlebens und der Liebe" 11 ihn zum TPF FPT Stammvater einer Nation machte, die dem Geist der Trennung verhaftet war. Die 'versöhnende Vernunft' bezweckt also die Wiederherstellung einer sittlichen Gemeinschaft. Habermas findet in dem Begriff der 'versöhnenden Vernunft' des jungen Hegel ein Vorbild seiner Philosophie; durch die Erhebung der Liebe und des Lebens zu einer Form der Vernunft konnte Hegel die Vernunft nicht mehr als etwas Substanzielles, sondern als ein Medium betrachten, das das Selbst und das Andere miteinander verbindet. Hegel entwickelt in der Philosophie des Geistes der Jenaer Zeit den Begriff der Vernunft als Medium noch systematischer, wo er den subjektiven Geist in Sprache, Arbeit (bzw. Werkzeug) und Familie (bzw. Liebe) unterteilt; die Funktion der Sprache besteht in der Darstellung des Verhältnisses zwischen dem erkennenden Subjekt und dem erkannten Gegenstand, das Werkzeug vermittelt die Natur und das handelnde Subjekt, und die Liebe bezieht die handelnden Subjekte aufeinander. Dieser Gedanke unterscheidet sich stark von dem Begriff des Selbstbewußtseins der Reflexionsphilosophie, den Habermas eine 'narzißtische', transzendentale Subjektivität nennt, weil er auf dem "reinen, sich auf sich selbst beziehenden Bewußtsein der 10 PT G. W. F. Hegel, TW, Bd. 1, S. 422. TP TP 11 PT A.a.O., S. 277. 194 ursprünglichen Apperzeption" 12 basiert. Der Geist wird dagegen bei Hegel als eine TPF FPT Einheit zwischen Subjekt und Objekt konzipiert: "Es muß eigentlich weder von einem solchen Subjekte noch Objekte die Rede sein, sondern vom Geiste." 13 Habermas TPF FPT schreibt dazu: "Anstelle der fruchtlosen Kontroversen der Erkenntnistheorie will Hegel die Diskussion auf jene 'Medien' lenken, die die Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt bereits vor jeder aktuellen Begegnung strukturieren. Beide Seiten, Subjekt und Objekt, sind Relata, die nur mit und in ihren Beziehungen zueinander existieren. [...] Gleichwohl gebraucht Hegel den Terminus 'Geist' für die Medien von Sprache, Arbeit und Interaktion [...]." 14 TPF FPT Wenn das Subjekt in der Welt als ein in den Weltzusammenhang integrietes Element vorhanden ist, dann kann es keine philosophische Aufgabe des Subjektes sein, eine Kluft zwischen sich und einem von ihm separierten Anderen zu überbrücken. Habermas ist der Ansicht, daß Hegel die problematischen Aspekte der Moderne zwar richtig erkannt hat, aber keine überzeugende Lösung anbietet. Beispiele dafür sind, daß Hegel in der Frankfurter Zeit, entgegen dem Bedürfnis der Moderne nach Selbstbegründung, 15 die vormoderne, antike Gesellschaftsform als Vorbild für eine neue TPF FPT Gesellschaft betrachtete und daß er in der Jenaer Zeit das Problem der modernen Gegensätze mit dem Begriff des absoluten Geistes zu lösen versuchte, der nichts anderes ist als eine alle Unterschiede unter sich subsumierende substanzielle Vernunft; seine zutreffende Kritik an der Aufklärung, von der er sich wegen ihrer Abhängigkeit von der substanziellen, abstrakten Vernunft abgrenzen möchte, endete nach Habermas lediglich mit einer Zementierung der substanziellen Vernunft. Habermas betrachtet dies als die Grenze des mentalistischen Denkens, das seit Descartes die europäische Philosophie beherrscht. 16 TPF FPT Die Linguistische Wende der Philosophie 1) Die Charakteristik des Sprechens: die Erhebung der Geltungsansprüche Das ursprüngliche Projekt des jungen Hegel, eine versöhnende Vernunft zu entwerfen, die die Differenzierung der Moderne als solche anerkennt und gleichzeitig eine rationale 12 PT J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 195. TP 13 PT G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe I, in: GW, Bd. 6, S. 205. TP 14 PT J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 195f. TP 15 PT Siehe zur Auffassung der Moderne den 1. Abschnitt des II. Kapitels in dieser Arbeit. TP TP 16 PT Siehe dazu J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 186. 195 Einheit hervorbringt, kann nach Habermas erst durch den Paradigmenwechsel vom bewußtseinsphilosophischen zum linguistischen Paradigma verwirklicht werden. Eine der interessantesten Eigenschaften der Sprache ist nach ihm, daß jeder Sprechakt immer von einem Geltungsanspruch begleitet wird; jeder konkrete Sprechakt verweist auf einen bestimmten Kontext, in dem er gültig ist, und setzt damit einen die Konkretheit dieses Aktes transzendierenden Bereich voraus. Die Äußerung: "Dies ist ein Kugelschreiber" z. B. verweist um ihrer Gültigkeit willen auf einen bestimmten Kontext, in dem sie beispielsweise als wahr oder als falsch beurteilt werden kann. Diese Äußerung erhebt in diesem Fall den Geltungsanspruch der Wahrheit. Dieses Beispiel zeigt, daß die im Sprechakt vollzogenen Geltungsansprüche als Ansprüche jeden lokalen Kontext transzendieren und zugleich hier und jetzt erhoben sowie faktisch anerkannt werden: Die "Geltung transzendiert Räume und Zeiten, 'tilgt' Raum und Zeit, aber der Anspruch wird jeweils hier und jetzt, in bestimmten Kontexten, erhoben und mit faktischen Handlungsfolgen akzeptiert oder zurückgewiesen." 17 Also TPF FPT geht es bei der sprachphilosophischen, kommunikativen Reflexion um diese konkrete und geschichtliche Transzendentalität, während es bei der bewußtseinsphilosophischen, vorsprachlich-einsamen Reflexion um die formale und überzeitiliche Transzendentalität geht. 18 TPF FPT Habermas sieht in dieser linguistischen Theorie eine Möglichkeit, sowohl den 'Purismus der Vernunft' der Kantischen Ethik, die den von der konkreten Realität unabhängigen Kategorischen Imperativ herstellt, als auch die utilitaristische Ethik des Empirismus zu überwinden, der keine (rein) vernünftige Realität anerkennt. Die Semi- Transzendentalität der den Sprechakt begleitenden Geltungsansprüche kann nach Habermas deutlich machen, daß diese zwei philosophischen Positionen lediglich zwei Extremfälle sind, die in der Ethik jeweils nur einen Aspekt der Sprechakte (Tranzendentalität oder Empirizität) berücksichtigen. Die sprachphilosophische Wende der Philosophie macht die traditionelle philosophische Grundfrage nach dem Verhältnis von Empirie und Transzendentalität sowie Individualität und Universalität etc. gegenstandlos. 2) Das Wesen der Sprache: die Kommunikation Auch die Sprechakttheorie, die für die Habermassche Gesellschaftstheorie eine entscheidende Rolle spielt, nimmt als eine Sprachtheorie die sprachphilosophische 17 PT PDM, S. 375. TP TP 18 PT A.a.O., S. 371. 196 Einsicht auf, daß jeden konkreten Sprechakt semi-transzendentale Geltungsansprüche begleiten. Darüber hinaus sieht sie das Wesen der Sprache in deren kommunikativem Charakter, nicht in deren Sachverhalte darstellender Funktion. Diese Auffassung der Sprache unterscheidet sich vor allem von der Wahrheitssemantik bzw. von der Bedeutungstheorie. Die Bedeutungstheorie geht davon aus, daß die Funktion der Sprache in der objektiven Darstellung der Tatsachen bzw. der Sachverhalte besteht. Die Gültigkeit dieser objektiven Darstellung, die mit den Kategorien wahr/falsch zum Ausdruck gebracht wird, hängt vollständig davon ab, ob das darstellende Subjekt eine objektive Distanz zu dem dargestellten Objekt, d. h. eine Beobachterperspektive, einnimmt. Wenn man unter Rationalität, so Habermas, "die Wissenserwerbung und – 19 verwendung der Subjekte" TPF FPT versteht, bemißt sich Rationalität bei dieser Bedeutungstheorie daran, "wie sich das einsame Subjekt an seinen Vorstellungs- und Aussageinhalten orientiert." 20 Für diese Position ist die objektive Welt bloß das Korrelat TPF FPT aller wahren assertorischen Sätze. Habermas sieht darin eine sprachphilosophische Version der modernen Subjektphilosophie bzw. der positivistischen Neigung der modernen Wissenschaft. Im Gegensatz zur Bedeutungstheorie geht die Sprechakttheorie davon aus, daß für die gesellschaftliche und kulturelle Lebensform der Menschen nicht primär der Gebrauch der Propositionen, die einer Abbildung der Dinge bzw. der Sachverhalte dienen, entscheidend ist, sondern der kommunikative Gebrauch der propositionell konstituierten Sprache. Dies schließt ein, daß das Wesen der Sprache in der 'Verständigung über etwas in der Welt' liegt. Bei diesem Gedanke ist also immer die Interaktion zwischen Subjekten vorausgesetzt. Die Interaktionsteilnehmer nehmen nicht eine objektive Beobachterperspektive für die Darstellung der Sachverhalte ein, sondern eine Teilnehmerperspektive, von der aus sie durch den Austausch ihrer Meinungen bestimmte Resultate erreichen können. Bei dieser Theorie bemißt sich Rationalität an der "Fähigkeit zurechnungsfähiger Interaktionsteilnehmer, sich an Geltungsansprüchen, die auf intersubjektive Anerkennung angelegt sind, zu orientieren", und die Rationalitätsmaßstäbe der kommunikativen Vernunft finden sich in "den argumentativen Verfahren der direkten oder indirekten Einlösung von Ansprüchen auf 19 PT Vgl. TkH 1, 25f. und PDM, S. 366. TP TP 20 PT PDM, S. 366. 197 propositionale Wahrheit, normative Richtigkeit, subjektive Wahrhaftigkeit und ästhetische Stimmigkeit." 21 TPF FPT Die Sprechakttheorie geht von der These aus: "etwas sagen [heißt] etwas tun." 22 Dies TPF FPT bedeutet, daß die Funktion eines Sprechaktes nicht in dem Abbild der Dinge bzw. der Sachverhalte, sondern in der Kommunikation besteht, die als eine Interaktion der Subjekte auf eine bestimmte Verständigung abzielt. Nach dieser Theorie enthalten elementare Sprechakte wenigstens drei Bestandteile: 1) den propositionalen (lokutionären) Akt, in dem die Sachverhalte objektiv dargestellt werden, 2) den performativen (illokutionären) Akt, der den Sprecher und den Hörer in eine intersubjektive Verbindung bringt, und 3) den expressiven (perlokutionären) Akt, in dem sich die Intention des Sprechers zeigt. 23 TPF FPT Wenn alle Sprechakte aus den aufeinander nicht reduzierbaren drei verschiedenen Bestandteilen bestehen, muß jeder Sprechakt, endsprechend jenem sprachphilosophischen Prinzip: 'jeder Sprechakt erhebt Geltungsansprüche', unter drei Geltungsaspekten analysiert werden. Ein Hörer kann z. B. eine Äußerung eines Sprechers zurückweisen, weil sie entweder objektiv nicht wahr, normativ nicht richtig oder subjektiv nicht wahrhaftig ist. Im ersten Fall fungiert die objektive Wahrheit, im zweiten die normative Richtigkeit und im dritten die subjektive Wahrhaftigkeit als Geltungskriterium der Aussage. Aus der Sicht der Sprechakttheorie wird also die Geltung einer Äußerung nicht bloß auf die Problematik der Wahrheit reduziert; vielmehr bezieht sich eine Äußerung je nach dem Kontext auf verschiedene, aufeinander nicht reduzierbare Geltungsbereiche. 24 TP 21 FPT PT Ebd. TP 22 PT John L. Austin, Zur Thoerie der Sprechakte, a.a.O., S. 35. TP 23 PT Siehe dazu PDM, S. 363. TP 24 TP F PT Wie ein Satz kommunikativ benutzt wird, zeigt Habermas durch einen exemplarischen Satz (TkH 1, S. 411f.); wenn ein Professor einen Seminarteilnehmer auffordert: "Bitte, bringen Sie mir ein Glas Wasser!", kann der aufgeforderte Seminarteilnehmer diese Aufforderung prinzipiell im Hinblick auf die drei Geltungsansprüche ablehnen: 1) "Nein, Sie können mich nicht wie einen Ihrer Angestellten behandeln." 2) "Nein, eigentlich haben Sie ja nur die Absicht, mich vor anderen Seminarteilnehmern in ein schiefes Licht zu bringen." 3) "Nein, die nächste Wasserleitung ist so weit entfernt, daß ich vor Ende der Sitzung nicht zurück sein könnte." Er stellt bei der ersten Antwort die normative Angemessenheit der Äußerung des Professors in Frage, bei der zweiten die subjektive Wahrhaftigkeit und bei der dritten die Exsistenzpräsuppositionen der Aussage. Dieses Beispiel verdeutlicht, daß sich ein kommunikatives Handeln je nach den Handlungskontexten ganz verschieden entwickeln kann. 198 Hier ist zu betonen, daß die Sprechakttheorie die Welt nicht nur als die Gesamtheit von Gegenständen oder existierenden Sachverhalten begreift, wie es die Ontologie der Bewußtseinsphilosophie tut; außer der Welt des Objektiven werden auch die Welt des Normativen sowie die Welt des Subjektiven postuliert. "Mit jedem Sprechakt bezieht sich der Sprecher gleichzeitig auf etwas in der objektiven, in einer gemeinsamen sozialen und in seiner subjektiven Welt." 25 Der kommunikativ verstandene Sprechakt TPF FPT besteht also darin, daß das Subjekt den Gegenstand durch die Interaktion mit anderen Subjekten reflexiv rekonstruiert. Die Habermassche Anwendung der Sprechakttheorie auf die Handlungs- und die Gesellschaftstheorie Habermas nimmt den Grundgedanken der Sprechakttheorie als Grundlage für eine neue Handlungs- bzw. Gesellschaftstheorie. Die menschlichen Handlungen werden gewöhnlich als eine Form der Zwecktätigkeit begriffen, mit der "ein Aktor in die Welt eingreift, um durch die Wahl und den Einsatz geeigneter Mittel gesetzte Ziele zu realisieren." 26 Durch die Arbeit, eine besondere Form dieser Zwecktätigkeit, will das TPF FPT Subjekt den gegebenen Gegenstand zu seinem Zweck verändern. Die Arbeit kann also als ein Ausdruck der Zweck-Mittel-Beziehung verstanden werden. Über dieses instrumentelle Handeln herrscht daher die instrumentelle Rationalität bzw. die Zweckrationalität. Die klassische Sozialwissenschaft wie z. B. bei K. Marx betrachtet diese Zwecktätigkeit als ihren Hauptgegenstand. Habermas versteht diese Handlungstheorie, die das Objekt als das ansieht, was vom Subjekt bearbeitet wird oder werden muß, als eine sozialwissenschaftliche Version der Subjektsphilosophie. Bei der Subjektsphilosophie wird "Wissen ausschließlich als Wissen von etwas in der Welt" 27 verstanden, und der Handlungserfolg hängt vollständig TPF FPT davon ab, ob das Subjekt seine Beziehung zur Welt möglicher Objekte richtig beurteilen kann. Wenn man die sprachpragmatischen Annahmen – 1) jeder Sprechakt erhebt Geltungansprüche, die über den konkreten Kontext hinausgehen, 2) es gibt mindestens drei verschiedene Bestandteile in dem Sprechakt und dementsprechend drei Geltungsbereiche und 3) der Sprechakt zielt auf die Verständigung ab – auf diesen Handlungsbegriff anwendet, kann ein ganz anderer Typ der Handlung zum Vorschein 25 PT PDM, S. 365. TP 26 PT ND, S. 63. TP TP 27 PT PDM, S. 366. 199 kommen. Habermas nennt ihn 'sprachlich vermittelte Interaktion', also 'kommunikatives Handeln'. Habermas unterscheidet das kommunikative Handeln nicht nur von jenem einfachen instrumentellen Handeln, sondern auch vom reinen Sprechakt. Der reine Sprechakt wird bei der Sprechakttheorie als eine Handlung unter vielen menschlichen Handlungen angesehen. Habermas geht aber bei seiner Konzeption des kommunikativen Handelns davon aus, daß jedes menschliche Handeln sprachlich vermittelt ist und daß es somit auf die Verständigung abzielt. Dies ist der Grund, warum Habermas die Sprechakttheorie zur 'Universalpragmatik' verallgemeinert. Kommunikatives Handeln ist daher weder eine Handlung, die von der Beziehung des einsamen Subjektes zum Objekt ausgeht, noch ein Sprechakt, der bloß auf eine kognitive Verständigung abzielt, sondern eine Interaktion der sprech-handelnden Subjekte, die sich auf die praktische Verständigung richtet. Das kommunikative Handeln läßt sich entsprechend den drei Bestandteilen des Sprechaktes und dessen drei Geltungsansprüchen jeweils in strategisches, normatives und dramaturgisches Handeln unterteilen. Strategisches Handeln, das dem propositonellen Gebrauch des Sprechaktes entspricht, ist ein anderer Name für die utilitaristische Seite des kommunikativen Handelns, die auf die Realisierung eines Zwecks durch die Wahl der erfolgversprechenden Mittel und deren Anwendung abzielt. Die Interaktionsbeteiligten erscheinen hier als egozentrische bzw. erfolgsorientierte Subjekte. Dieses Handeln findet sich besonders im Tauschverhältnis in dem ökonomischen sowie im Machtverhältnis im politischen Bereich. Die Gesellschaft ist von diesem Standpunkt aus betrachtet als 'eine instrumentelle Ordnung', die die Handlungsgrenze der erfolgsorientiert handelnden Subjekte bestimmt. Normatives Handeln, das dem illokutionären Gebrauch des Sprechaktes entspricht, ist eine Handlung, die von den anderen Mitgliedern einer Gruppe erwartet wird. Die Gesellschaft ist hier nichts anderes als ein System anerkannter Normen. Dramaturgisches Handeln, das dem perlokutionären Gebrauch des Sprechaktes entspricht, ist eine Handlung, durch die die Interaktionsbeteiligten füreinander das Publikum bilden und bei der ein Aktor sich selbst vor dem Publikum präsentiert, indem er sich selbst kontrolliert. Bei diesem Hadeln geht es um die Selbstrepräsentation des Subjektes. Die sprachtheoretische Wende der Handlungstheorie zeigt, daß einerseits die vom teleologischen Handlungsbegriff ausgehende traditionelle Handlungstheorie nur eine 200 sehr begrenzte Gültigkeit hat und nicht alle Formen der Handlungen berücksichtigt. Andererseits können alle Geltungsansprüche, also die Wahrheit (bzw. Nützlichkeit) bei dem teleologischen (bzw. strategischen), die Richtigkeit bei dem normativen und die Wahrhaftigkeit bei dem dramaturgischen Handeln, nur innerhalb der Kategorie der 'Verständigung' bei dem komunikativen Handeln sinnvoll betrachtet werden. Aus dieser Sicht erscheinen die oben beschriebenen drei Handlungstypen als 'Grenzenfälle' des kommunikativen Handelns. Ideale Sprechsituation: Die bei jedem Sprechakt vorausgesetzten Geltungsansprüche bedeuten die Einbeziehung des Aktors in einen universellen Diskurs. Die Mitglieder einer Gemeinschaft können in einem bestimmten Konfliktfall mit Hilfe dieser Geltungsansprüche einen Platz jenseits der bestehenden Ordnung einnehmen, von dem aus sie auch einen Konsens über die gewandelten Sitten und über die Neudefinition von Werten erzielen können. Anders gesagt, die Interaktionsteilnehmer setzen immer eine ideale Sprechsituation voraus, die "die Idee einer unversehrten Intersubjektivität" beinhaltet, die nichts anderes als "symmetrische Verhältnisse freier reziproker Anerkennung" 28 meint. Habermas grenzt sich aber dabei von dem Versuch ab, die Idee TPF FPT der idealen Sprechsituation zur Totalität einer versöhnten Lebensform auszumalen und als Utopie in die Zukunft zu projizieren. Er beschreibt mit dieser Idee die notwendigen Bedingungen für nicht antizipierbare Formen eines nicht verfehlten Lebens. Von zentraler Bedeutung sind dabei nicht die materiellen Inhalte einer nicht verfehlten Lebensform, sondern die formale Wichtigkeit des "eigenen, nicht etwa konfliktfreien, aber solidarischen Zusammenwirkens" 29 der Beteiligten, damit ein besseres Leben TPF FPT überhaupt realisiert werden kann. In dieser Idee konkretisiert Habermas daher eine in den Bedingungen des kommunikativ erreichten Konsenses ausgedrückte Rationalität, d. h. die prozedurale Rationalität. Lebenswelt: Während das Konzept eines nicht verfehlten Lebens bei Habermas als ein Idealtypus fungiert, drückt die Lebenswelt die konkrete Totalität des sittlichen Lebens aus; die Lebenswelt ist den verständigungsorientiert handelnden Subjekten immer nur 'mitgegeben' und kann niemals thematisiert werden. Die Sprechsituation, die die Handelnden in bestimmte Kontexte einbindet, weist auf ihre Beziehung zur Lebenswelt hin. Die Lebenswelt kann selbst nicht thematisiert werden und fungiert bei den konkreten Sprechsituationen nur als 'Ressource' der Interaktionsbeteiligten. Je nach der 28 PT ND, S. 185. TP TP 29 PT A.a.O., S. 186. 201 Sprechsituation erscheint die Lebenswelt, entsprechend der Triade der Sprechakttheorie, mal als Totalität des traditionell anerkannten Wissens (als Kultur), mal als Totalität der gebräuchlichen Normen (als Gesellschaft) und mal als Totalität der Sozialisation der Individuen (als Person). Reproduktion der Lebenswelt: Wenn die Lebenswelt nicht thematisiert werden kann und bei jedem Handeln stets 'präreflexiv' bleibt, wie kann die Reproduktion der Lebenswelt aufgefaßt werden? Habermas erfaßt diesen Vorgang als wechselseitige Beziehung zwischen der Lebenswelt und der kritischen Reflexion der sprechhandelnden Subjekte. Erkenntnissubjektes Während sich die vorsprachliche objektivierend auf sich einsame bezieht Reflexion und daher des eine weltkonstituierende Stellung einnimmt, hat die kommunikative Reflexion eine andere Ausrichtung; jedes konkrete kommunikative Handeln beinhaltet die Geltungsansprüche, über die die Interaktionsteilnehmer mit ihren Ja/Nein-Stellungnahmen streiten können; dieser argumentative Streit über die Geltungsansprüche setzt also schon eine Reflexionsform voraus, die die Selbstbeziehung des Subjekts mit dem intersubjektiven Gegenüber von Proponenten und Opponenten vermittelt. Dies besagt, daß beim Verlauf der Argumentationen schon die Momente der Selbstreflexion der Sprecher vorausgesetzt sind und die Reflexion sich daher nicht auf das Ganze der Lebenswelt bzw. das lebensweltliche Hintergrundwissen bezieht, sondern sie nur indirekt die Lebenswelt ändert, indem sie die bis dahin anerkannten Deutungsmuster transformiert. Diese Reflexion ist also keine weltkonstituierende Fähigkeit des einsamen Subjekts, sondern eine Rekonstruktionsfähigkeit einer intersubjektiven Gemeinschaft. Der Strukturwandel der Lebenswelt bedeutet bei Habermas, neu auftretende Situationen an die bestehenden Weltzustände anzuschließen. 30 Es geht dabei um die Verstärkung TPF FPT der Kontinuität einer kulturellen Überlieferung durch die diskontinuierenden Mittel der Kritik, um die Festigung der Solidarität in Lebenszusammenhängen durch die riskanten Mittel des universalistischen Verfahrens diskursiver Willensbildung sowie um die Stabilisierung eines Prozesses der Vergesellschaftung durch das Mittel der erweiterten Spielräume für Individuierung. Die 'Reproduktion der Lebenswelt' dient also der Überlieferung kulturellen Wissens und dessen Erneuerung in der kulturellen Dimension, der sozialen Integration und der Herstellung neuer Formen der Solidarität in der räumlichen, sozialen Dimension und der Ausbildung von personalen Identitäten in der zeitlichen, historischen Dimension. Die Lebenswelt reproduziert sich also allein durch TP 30 PT Siehe dazu TkH 2, S. 209 und PDM, S. 398. 202 eine dialektische Einheit von Kontinuität und Bruch, d. h. durch "eine Traditionsfortsetzung und -erneuerung, die sich zwischen den Extremen der bloßen Fortschreibung von, und eines Bruches mit Traditionen bewegt." 31 TPF FPT Kolonialisierung der Lebenswelt: Die Darstellung des Strukturwandels der Lebenswelt enthält die Antwort von Habermas auf 'die Paradoxie der Rationalisierung', die darin besteht, daß die sozialpathologischen Probleme der Moderne durch die Rationalisierung paradoxerweise verstärkt werden. Die Analyse der Wechselwirkung zwischen der konstituiven Autonomie des Subjekts und der Funktionsweise der Lebenswelt, die jene Autonomie einschränkt, ist ein wesentlicher Bestandteil der Habermasschen Gesellschaftstheorie. Diese Theorie widmet somit dem Spannungsverhältnis zwischen der Tendenz des Subjekts, die Lebenswelt zu vergegenständlichen, und der Charakteristik der Lebenswelt, sich von solcher Vergegenständlichung immer wieder zu entziehen, besondere Aufmerksamkeit. Sie unterscheidet sich damit vor allem von der Auffassung der Gesellschaft als System, die heutzutage bei der Analyse der 'Tausch- und Machtverhältnisse' vorherrscht. Habermas ist der Ansicht, daß die Systemtheorie die Lebenswelt unzulässigerweise vergegenständlicht, d. h. technisiert. Die Systemtheorie ist nach Habermas eine Variation der klassischen Gesellschaftstheorie, die die gesellschaftlichen Systeme aus der Perspektive des auf der Zweckrationalität beruhenden instrumentellen Handelns ananlysiert. Die klassische Gesellschaftstheorie ist wiederum eine gesellschaftsphilosophische Version der Subjektphilosophie, die als Ausdruck des modernen Denkens angesehen wird, das von einer instrumentell verkürzten Vernunft ausgeht. Von daher läßt sich nach Habermas 'die Paradoxie der Rationalisierung' durch die Systemtheorie nicht auflösen, obwohl sie sich mit dieser Paradoxie gründlich beschäftigt. Im Gegensatz dazu entwirft Habermas eine zweistufige Gesellschaftstheorie von System und Lebenswelt. Der Ausgang vom System betont hierbei die Beobachterperspektive und die konstituive Fähigkeit des Subjekts, sich etwas zum Objekt machen zu können. Die Einbeziehung der Lebenswelt betont im Gegenzug die Teilnehmerperspektive des Subjekts und dessen Abhängigkeit von der Allgemeinheit. Das Wesen der Modernisierung besteht nun nach Habermas in einer massiven Verdrängung der Kommunikationsstruktur der Lebenswelt durch das System, das zu einer Überhandnahme der Zweckrationalität in der Gesellschaft führt. Diese Zerstörung TP 31 PT TkH 2, S. 210. 203 des Gleichgewichtes zwischen System und Lebenswelt nennt Habermas die "systemisch induzierte Lebensweltpathologie" bzw. "die Kolonialisierung der Lebenswelt". 32 TPF FPT Habermas versucht mit dieser zweistufigen Gesellschaftstheorie von System und Lebenswelt die Autonomie des einzelnen Subjekts und gleichzeitig dessen Abhängigkeit von der Lebenswelt, die Kontinuität der Geschichte und deren Diskontinuität sowie die Kritik an der Kultur und die Aufnahme der kulturellen Überlieferungen etc. in einer Theorie zu vereinigen. Hiermit erhellt sich seine Absicht, durch diese Theorie die zeitgenössische Kritik an der Moderne aufzunehmen und dennoch eine von der Rationalität ausgehende Gesellschaftstheorie zu entwerfen. Die 'Vernunft' in der Theorie von Habermas Habermas versteht die sittliche Totalität des jungen Hegel als die "reziproken Anerkennungsverhältnisse eines intersubjektiv konstituierten Lebenszusammenhangs"33 TPF FPT bzw. als die "Formen des vernünftigen Zusammenlebens". 34 Die Realisierung dieser TPF FPT Idee ist nach ihm nur mit dem Paradigmenwechsel von der Subjektivität zur Intersubjektivität möglich. Denn das vernünftige Zusammenleben heißt bei ihm, "Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhalten" 35 einzutreten. TPF FPT Der Gedanke der Autonomie des Subjekts und dessen Abhängigkeit von der Gesellschaft enthält die Habermassche Antwort auf die alte metaphysische Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Einen und Vielen, der Vernunft und dem Anderen, dem Allgemeinen und dem Besonderen sowie der Notwendigkeit und dem Akzidentellen etc. Die Metaphysik, das Besondere nur relativ zum Allgemeinen betrachtet, bringt nach Habermas wegen dieser "gewaltigen Abstraktion" 36 die drei unlösbaren philosophischen TPF FPT Probleme mit sich: (1) das Problem des Verhältnisses von Identität und Differenz, (2) das Problem der Individualität und (3) das Unbehagen am affirmativen Denken. 37 TPF FPT Diese Probleme der metaphysischen All-Einheitslehre rechtfertigen aber den postmodernen bzw. kontextualistischen Versuch nicht, die Einheit der Vernunft vollständig zu verneinen und die Vielheit, das Andere und die Differenz etc. zum 32 PT TkH 2, S. 293. TP 33 PT PDM, S. 40. TP 34 PT NU, S. 202. TP 35 PT J. Habermas, Die nachholende Revolution, a.a.O., S. 202. TP 36 PT ND, S. 156. TP TP 37 PT Siehe dazu oben S. 171ff. 204 Prinzip der Philosophie zu erheben. Denn eine Stimmungslage der Zeit "ersetzt noch keine Argumente." 38 TPF FPT Habermas versucht in dieser Problemlage, die von der Einheit der Vernunft ausgehende metaphysische und die kontextualistische Position miteinander zu verbinden, die davon ausgeht, daß die Entstehung und die Tätigkeit der Vernunft durchaus akzidentiell sind. Die kommunikative Vernunft, die Wert auf den Verfahrensbegriff der argumentgeleiteten Kommunikation legt, richtet sich darauf, unter bestimmten Bedingungen die Wahrheit einer bestimmten Aussage oder die Richtigkeit einer Handlung herauszufinden. Es geht bei dieser Vernunft um das Abwägen von Gründen und Gegengründen, durch das erst die Erkenntnis der Wahrheit von Aussagen und der Richtigkeit einer Handlung erreicht werden kann. Die Theorie der kommunikativen Vernunft steht daher genau zwischen einem Relativismus und einem Objektivismus in dem Sinne, daß diese Vernunft einerseits alle historischen Tatsachen und sogar die Entstehung der Vernunft selbst als kontingent ansieht und andererseits die Eigenschaft des Mediums sprachlicher Verständigung anerkennt, die Grenzen angeblich inkommensurabler Welten zu transzendieren. Dieser Vernunftbegriff erscheint deshalb zwar aus der Sicht der Objektivisten als 'zu schwach', aber aus der Sicht der Relativisten als 'zu stark', 39 aber er entwickelt eine "schwache, TPF FPT aber nicht defaistische" 40 Einheit, in der die Vielheit miteinbezogen ist, indem er den TPF FPT metaphysischen Vorrang der Einheit vor der Vielheit sowie den kontextualistischen Vorrang der Vielheit vor der Einheit als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet. Die Bemühung, das Rationalitätsideal der Aufklärung fortzuführen, kann daher nur in abgemilderter Form verwirklicht werden. Dies ist der Grund, warum Habermas den Begriff der "transitorischen Einheit" entwickelt hat, "die sich in der porösen und gebrochenen Intersubjektivität eines sprachlich vermittelten Konsenses herstellt"41 und TPF FPT damit die Pluralisierung der Lebensformen sowie die Individualisierung der Lebensstile ermöglicht. Er formuliert diese Einheit als "Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen". 42 TPF FPT Die Theorie des kommunikativen Handelns stellt aber andere Probleme her, die daraus entstehen, daß es nicht einfach ist, den wechselseitigen Bedingungszusammenhang von 38 PT A.a.O., S. 172. TP 39 PT A.a.O., S. 154. TP 40 PT A.a.O., S. 182. TP 41 PT A.a.O., S. 180. TP TP 42 PT A.a.O. S. 115. 205 kommunikativem Handeln und Lebenswelt genau vorzustellen; die Lebenswelt fungiert als 'Ressource' des kommunikativen Handelns, und der kommunikativ Handelnde wird als Subjekt angesehen, das durch die ungezwungene Kommunikation mit den Anderen einen Konsens erreichen kann; wenn man aktzeptiert, daß das Transzendieren der gegebenen vorbewußten Bedingungen für die Kritik als Kernbegriff der Rationalität notwendig ist, wie kann der lebensweltabhängig kommunikativ Handelnde wirklich einen ungezwungenen Konsens erreichen? Der Grund, daß Habermas von entgegengesetzten Positionen gleichzeitig kritisiert wird, liegt darin, daß die Problematik der Totalität bei dem Begriff des kommunikativen Handelns einerseits und die der Reflexionsfähigkeit des Subjekts bei dem der Lebenswelt andererseits nicht ausreichend berücksichtigt werden können. 1) Kritik an dem kommunikativen Handeln: Habermas verbindet mit Hilfe der Sprachphilosophie den Begriff der Rationalität mit den Begriffen 'Einverständnis', 'Verständigung' sowie vor allem 'ungezwungener Kooperation'. Die Idee der 'Zwanglosigkeit', eines der zentralen Begriffe der Habermasschen Rationalitätstheorie, spiegelt einen modernen rationalistischen Optimismus wider, der von der Autonomie des Subjekts und auch von der Möglichkeit einer grundsätzlichen Kritik an der Kultur ausgeht. In der Tat deutet er selbst auf eine Möglichkeit der Kritik an dem gesamten kulturellen Bereich hin: "Die kulturelle Überlieferung muß ein reflexives Verhältnis zu sich selbst gestatten; sie muß ihrer Dogmatik soweit entkleidet sein, daß die durch Tradition gespeisten Interpretationen grundsätzlich in Frage gestellt und einer kritischen Revision unterzogen werden dürfen." 43 TPF FPT Aber wenn die Interaktionsbeteiligten nicht vollständig frei von äußeren sowie von internalisierten Zwängen sind, ist diese grundsätzliche Kritik an der Kultur möglich? Können sich die Interaktionsbeteiligten des Sinns ihrer Aussagen und ihres Tuns vollständig bewußt sein? Können die sprachlich strukturierten Weltbilder einfach als von Menschen konstituierte Interpretationen betrachtet werden, die vollständig der Kritik offen sind? Diese Fragestellungen sind daran angeschlossen, ob ungezwungenes, bewußtes, rationales Einverständnis überhaupt möglich ist, wenn die Beteiligten unvermeidlich von der vorbewußten Tiefenstruktur der Symbole geprägt sind. In seiner Rationalitätstheorie scheint Habermas – entgegen seiner Absicht – die Abhängigkeit der Menschen von den unbewußt wirkenden Strukturen der Lebenswelt TP 43 PT TkH 1, S. 109. 206 zu unterschätzen. Um seiner These gerecht zu werden, daß die Rationalität des Menschen nicht in der vollständigen Befreiung von solchen Strukturen liegt, sondern nur in dem Maße verwirklicht werden kann, in dem Kooperation innerhalb der Strukturen der Lebenswelt zustande kommt, müßte Habermas statt der Vorstellung der Zwanglosigkeit die empirischen Tatsachen stärker in seiner Theorie berücksichtigen. Die Erfahrung lehrt, daß es nicht einfach ist zu beurteilen, ob moderne Weltdeutungen, die häufig arationale Momente enthalten, wirklich irrational sind. Aus diesem Grund ist Alexander der Ansicht, daß die Rationalitätstheorie von Habermas, da sie das sprechhandelnde Subjekt zu stark akzentuiert, die vorbewußten Strukturen des Kulturcodes unterschätzt und insofern in den Verdacht gerät, daß sie "in antagonistischer Beziehung zur Kultur" 44 steht. TPF FPT Diese Kritik weist also darauf hin, daß die Habermassche Theorie ebenfalls dem Ideal der modernen Subjektphilosophie verhaftet ist, die zwar von der Idee der absoluten Autonomie des transzendentalen Subjekts ausgeht, aber mit der Paradoxie der Rationalität endet. 2) Kritik an der Lebenswelt: Der Begriff der Lebenswelt führt zu einer ganz anderen Kritik. Habermas versucht mit Hilfe des Begriffs der Lebenswelt einerseits die Idee der Totalität der Gesellschaft zu rekonstruieren und andererseits die Beziehungen der einzelnen Handlungen zur Lebenswelt darzustellen. Es ist aber fraglich, ob die Lebenswelt ein wissenschaftlicher oder philosophischer Begriff sein kann, wenn selbst die Wissenschaft, die dieses Weltkonzept zu einem wissenschaftlichen Begriff erhebt, nach Luhmann paradoxerweise aus diesem Weltbegriff entsteht. Der Begriff der Lebenswelt führt also in eine Paradoxie. Luhmann fragt vor diesem Hintergrund ironisch: "Aber was hilft die Umsetzung eines Problems in eine Paradoxie?" 45 TPF FPT Der Begriff der Lebenswelt von Habermas scheint außerdem die Leistungen der Moderne zu unterschätzen; dieser Begriff relativiert den Begriff der Reflexion, der als der Ausgangspunkt der modernen Philosophie gelten kann. 'Reflexion' ist nach Henrich ein Grundterminus im Denken der Moderne, der nichts anderes meint als "das Bewußtsein von den Unterschieden zwischen den Verständigungsarten, welche sich in der Spontaneität des bewußten Lebens ausgebildet haben", und "eine Distanznahme zu den primären Tendenzen der Verstehensarten und Selbstbeschreibungen insgesamt." 46 TPF 44 PT J. Alexander, Habermas' neue Kritische Theorie: Anspruch und Probleme, a.a.O., S. 103. TP 45 PT N. Luhmann, Intersubjektivität oder Kommunikation, a.a.O., S. 49. TP TP 46 PT D. Henrich, Was ist Metaphysik - was Moderne? - Zwölf Thesen gegen J. Habermas. a.a.O., S. 18f. 207 FPT Die Reflexion ist also ein Resultat der anstrengenden Bemühungen des menschlichen Denkens, sich der Unmittelbarkeit des Seins zu entziehen. Aber mit der Einführung des Lebensweltbegriffs bringe Habermas nach Henrich nur "eine längst verlorene Unmittelbarkeit" 47 oder eine metaphysische Einheit in Umlauf und könne dadurch den TPF FPT Begriff der Reflexion und dessen Vorzüge nicht angemessen würdigen. TP 47 PT Ebd. 208 Literaturverzeichnis Abel, Theodore, The Operation Called Verstehen(1948/49), in: H. Albert(Hg.), Theorie und Realität, Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften, Tübingen 1964. Adorno, Theodor Wiesengrund / Horkheimer, Max, Dialektik der Aufklärung, Gesammelte Schriften, Bd. 3, R. Tiedemann (Hg.), Frankfurt/M. 1981. Alexander, Jeffrey, Habermas' neue Kritische Theorie: Anspruch und Probleme, in: A. Honneth / H. Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1986. Apel, Karl-Otto, Die Logosauszeichnung der menschlichen Sprache. Die philosophische Tragweite der Sprechakttheorie, Frankfurt/M. 1984. ------, Die Vernunftfunktion der kommunikativen Realität. Zum Verhältnis von konsensual-kommunikativer Rationalität, stratgischer Rationalität und Systemrationalität, in: K.-O. Apel/M. Kettner(Hg.), Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten, Frankfurt/M. 1966. Aristoteles, Lehre vom Satz, Philosophische Bibliothek, Bd. 8, 9, Hamburg 1974. Arrivé, Michel, Linguistics and Psychoanalysis. Freud, Saussure, Hjelmslev, Lacan and others, Amsterdam, Philadelphia 1992. Austin, John Langshaw, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1998. Best, Steven / Kellner, Douglas, Postmodern Theory, New York 1991. Blühdorn, Jürgen/JAmme, Christoph, Positiv, Positivität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel, Stuttgart 1998(=HWPh), Bd. 7. Bogner, Christoph, Die Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne. Zum Verhältnis von Ethik und Gesellschaftstheorie bei Jürgen Habermas, München 1990. Bondeli, Martin Vom Kantianismus zur Kantkritik. Der junge Hegel in Bern und Frankfurt, in: M. Bondeli / H. Linneweber-Lammerskitten(Hg.), Hegels Denkentwicklung in der Berner und Frankfurter Zeit, München 1999 Böhme, Helmut / Böhme, Gernot, Das Andere der Vernunft, Zur Entwicklung von Rationalitatsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt/M. 1983 Cooley, Chales Horton, Human Nature and the social Order, New York 1902. ------, Social Organisation, New York 1909 Créau, Anne, Kommunikative Vernunft als 'entmystifiziertes Schicksal', Frankfurt/M. 1991 Culler, Jonathan, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Hamburg 1999 Derrida, Jacques, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976. ------, Grammatologie, Frankfurt/M. 1974. ------, Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls, Frankfurt/M. 1979. ------, Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetta, Wien 1986 ------, Der Schacht und die Pyramide. Einführung in die Hegelsche Semiologie, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988 Doeleman, Wiljo, Philosophische Methodik: Apel vs. Habermas, in: W. van Reijen / K.O. Apel (Hg.), Rationales Handeln und Gesellschaftstheorie, Bochum 1984 Düsing, Edith, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel, Köln 1986 209 Fetscher, Iring, Aufklärung über Aufklärung, in: A. Honneth / T. McCarthy / C. Offe / A. Wellmer (Hg.), Zwischenbetrachtung. Im Prozeß der Aufklärung. J. Habermas zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. 1989. Ferry, Luc / Renaut, Alain, Antihumanistisches Denken. Gegen die französischen Meisterphilosophen, München 1987. Fichte, Johann Gottlieb, Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre (1798), M. Zahn(Hg.), Hamburg 1963. ------, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke, I. H. Fichte (Hg.), Bd. 3: Zur Rechts- und Sittenlehre, Berlin 1971. Finelli, Roberto, Mythos und Kritik der Formen. Die Jugend Hegels (1770-1803), Frankfurt/M., Berlin 2000. Foucault, Michel, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1969. ------, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1971. ------, Die Ordnung des Diskurses, ü. ------, Wahrheit und Macht. Interview von Allessandro Fontatana und Pasquale Pasquino, in: ders., Despositive der Macht, Berlin 1978 ------, Sexualität und Wahrheit, Erster Band: Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 1977. -----, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976 Gawoll, Hans-Jürgen, Glauben und Positivität. Hegels frühes Verhältnis zu Jacobi, in: M. Bondeli / H. Linneweber-Lammerskitten (Hg.), Hegels Denkentwicklung in der Berner und Frankfurter Zeit, München 1999. Klaus Günther / Lutz Wingert, Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 2001 Habermas, Jürgen, Wege der Detranszendentalisierung. Von Kant zu Hegel und zurück, in: ders., Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt/M. 1999. ------, Theorie des kommunikativen Handelns (= TkH), Bd. 1, Frankfurt/M. 1987. ------, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1996 (=PDM). ------, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1996 (= NU). ------, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988 (=ND). ------, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983 ------, Hegels Kritik der Französischen Revolution, in: ders., Theorie und Praxis, Frankfurt/M. 1971. ------, Historischer Materialismus und die Entwicklung normativer Strukturen, in: ders, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M. 1976. ------, Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser 'Philosophie des Geistes', in: ders, Technik und Wissenschaft als 'Ideologie', Frankfurt/M. 1969. ------, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1991. ------, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns (=VE), Frankfurt/M. 1995 ------, Die nachholende Revolution, Frankfurt/M. 1990. -----, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: ders., Erläuterung zur Diskursethik, Frankfurt/M. 1991. ------, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in: ders., Kleine Politische Schriften, Frankfurt/M. 1981 Hartmann, Nicolai, Die Philosophie des Deutschen Idealismus, Berlin, New York 1974. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, E. Moldenhauer / K. M. Michel (Hg.), Frankfurt/M. 1986 (= TW), Bd. 15. ------, Enzyklopadie 1, in: TW, Bd. 8. 210 ------, Frühe Schriften I, F. Nicolin / G. Schüler (Hg.), in: Gesammelte Werke. Die Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften (Hg.) (=GW), Bd. 1. Hamburg 1989. ------, Wissenschaft der Logik I, Die objektive Logik, in: GW, Bd. 11, Hamburg 1981. ------, Wissenschaft der Logik II, Die subjektive Logik, in: GW, Bd. 12, Hamburg 1981 ------, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (=Differenzschrift), in: GW, Bd. 4, Jenaer Kritische Schriften, H. Buchner / O. Pöggeler (Hg.), Hamburg 1968. ------, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Katische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie, in: GW, Bd. 4. ------, Ueber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschften, in: GW, Bd. 4 (=Naturrechtschrift) ------, Phänomenologie des Geistes, in: GW, Bd. 9, W. Bonsiepen / R. Heede (Hg.), Hamburg 1980 ------, Jenaer Systementwürfe I, in: GW, Bd. 6, Hamburg 1975. Heidegger, Martin, Nietzsche, Bd. 2, Pfullingen 1989. ------, Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954 K. Held, 'Intersubjektivität' in: HWPh, Bd. 4. Henrich, Dieter, Einleitung, in: G. W. F. Hegel, Philosophie des Rechts: die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, D. Henrich (Hg.), Frankfurt/M. 1983. ------, Was ist Metaphysik – was Moderne? Thesen gegen Jürgen Habermas, in: ders., Konzepte, Frankfurt/M. 1987 Hobbes, Thomas, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, Neuwied 1966 Honneth, Axel, Dezentrierte Autonomie. Moralphilosophische Konsequenzen aus der modernen Subjektkritik, in: ders., Das Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2000. ------, Anerkennung und Vergesellschaftung: Meads naturalistische Transformation der Hegelschen Idee, in: ders., Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1994. ------, Kritik der Macht, Frankfurt/M. 1989. Husserl, Edmund, Logische Untersuchungen, in: ders, Husserliana XIX/1, U. Panzer (Hg.), Den Haag 1984. ------, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, in: ders., Husserliana X, R. Boehm (Hg.), Den Haag 1966. ------, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und transzendentale Phänomenologie, Hamburg 1977. ------, Historizismus und Weltanschauungsphilosophie, in: F. Rodi / H.-U. Lessing (Hg.), Materialen zur Philosophie Wilhelm Diltheys, Frankfurt/M. 1984 Jaeschke, Jaeschke, Religion, in: HWPh, Bd. 8. Jauß, Hans Robert, Ursprung und Bedeutung der Fortschrittsidee in der sogenannten 'Querelle des Anciens et des Modernes', in: H. Kuhn / F. Wiedmann (Hg.), Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, München 1964. ------, Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M. 1970. Jay, Martin, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt/M. 1976. Joas, Hans, Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von G. H. Mead, Frankfurt/M. 1980. 211 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft,, Hamburg 1971. ------, Kritik der praktischen Vernunft, K. Vorländer (Hg.), Hamburg 1990. ------, Die drei Kritiken in ihrem Zusammenhang mit dem Gesamtwerk, zsgf. von R. Schmidt, Stuttgart 1975. ------, Metaphysik der Sitten, K. Vorländer (Hg.), Hamburg 1959. ------, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), in: ders., Ausgewählte kleine Schriften, Hamburg 1969 ------, Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1796), in; ders., Ausgewählte kleine Schriften Kaufmann, Walter, Hegel. A Reinterpretation, Garden City, New York 1978. Kolakowski, Leszek Main Currents of Marxism. Its Rise, Growth and Dissolution, Oxford 1978. Koselleck, Reinhart,Vergangene Zukunft, Frankfurt/M. 1989. Korsch, Karl, Marxismus und Philosophie, Frankfurt/M. 1975. Kroner, Richard, Von Kant bis Hegel, Bd. 1, 2, Tübingen 1977. Lacan, Jacques, Das Drängen des Buchstabens im Unterbewußtsein oder die Vernunft seit Freud, in: ders., Schriften II, N. Haas (Hg.), Olten, Freiburg 1975. Leat, Diana, Das mißverstandene 'Verstehen' (1972), in: K. Acham (Hg.), Methodologische Probleme der Sozialwissenschaften, Darmstadt 1978. Löwith, Karl, Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz, Stuttgart 1969. Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1985 ------, Intersubjektivität oder Kommunikation: Unterschiedliche Ausgangspunkte soziologischer Theoriebildung, in: Archivio di Filosofia, Marco M. Olivetti (Hg.), Cedam 1986 Lukács, Georg, Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie, Neuwied und Berlin 1967 ------, Geschichte und Klassenbewußtsein: Studien. über die marxistische Dialektik, Neuwied 1967. Lytord, Jean-Francois Das postmoderne Wissen, Wien 1999. Marx, Karl, Thesen über Feuerbach, in: Marx Engels Werke, Bd. 3, Berlin 1962. Mead, Georg Herbert, Cooleys Beitrag zum soziologischen Denken in Amerika (1930), in: Gesammelte Aufsätze, H. Joas (Hg.), Bd. 1, Frankfurt/M. 1987 ------, Soziales Bewußtsein und das Bewußtsein von Bedeutungen, in: ders., Gesammelte Aufsätze, a.a.O. ------, Der Mechanismus des sozialen Bewußtseins, in: ders., Gesammelte Aufsätze, a.a.O. ------, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1973 Mommsen, Wolfgang, Max Weber: Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt/M. 1974 Morris, Chales William, Grundlagen der Zeichentheorie, München 1972. Nagl, Ludwig, Zeigt die Habermassche Kommunikationstheorie einen 'Ausweg aus der Subjektsphilosophie'?, in: M. Frank / G. Raulet / W. Reijen (Hg.), Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt/M. 1988. Ong, Walter I., Oralität und Literalität: Die Technologisierung des Wortes, Darmstadt 1987 Parsons, Talcott, Religion in Postindustrial America, New York 1978. ------, The System of Modern Societies, Englewood Cliffs 1971. Piepmeier, Rainer, Modern, die Moderne, in: HWPh, Bd. 6. 212 Pöggeler, Otto, philosophie und revolution beim jungen hegel, in: Enciclopedia 72, Arti Grafice Marchesi-Roma 1971. Ritter, Joachim, Hegel und die Französische Revolution, in: ders., Metaphysik und Politik, Frankfurt/M. 1977. Rockmore, Tom, Habermas on historical materialism, Bloomington, Indianapolis 1989. Rodi, Frithjof, 'Der Rhythmus des Lebens selbst'. Hegel und Hölderlin in der Sicht des späten Dilthey, in: ders., Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1990. Rothacker, Erich, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, München 1965. Rousseau, Jean-Jacques, Lettere a C. de Beaumont, in: Euveres complètes, Paris 1964. Saussure, Ferdinand de, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von, Werke, M. Schröter (Hg.), Jena 1926, Bd. 1. Schnädelbach, Herbert, Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt/M. 1983. Scholtz, Gunter, Historismus, Historizismus, in: HWPh, Bd. 3. ------, Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, in: ders., Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis, Frankfurt/M. 1991 Schulte, Günter, Immanuel Kant, Frankfurt/M. 1991. Semplici, Stefano, Das Leben Jesu und das Problem des Bösen: Kant oder Rousseau?, in: H.F. Fulda / R.-P. Horstmann (Hg.), Rousseau, die Revolution und der junge Hegel, Stuttgart 1991. Smith, Steven B., Hegels Critique of Liberalism, Chicago 1991 Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, J. Wickelmann (Hg.), Bd. 1, Tübingen 1976. ------, Wissenschaft als Beruf, in: ders, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, J. Winckelmann (Hg.), Tübingen 1988. ------, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen, 1963. Wellmer, Albrecht, Reason, Utopia and the Dialectic of Enlightment in: R. J. Bernstein (Hg..), Habermas and Modernity, Cambridge 1985. ------, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt/M. 1985. ------, Kommunikation und Emanzipation. Überlegungen zur 'sprachanalytischen Wende' der kritischen Theorie, in: U. Jaeggi / A. Honneth (Hg), Theorien des Historischen Materialismus, Frankfurt/M. 1977. Wildt, Andreas, Autonomie und Anerkennung. Hegels Moralitaetskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption, Stuttgart 1982. Zahn, L., Reflexion, in: HWPh, Bd. 8. 213 * Lebenslauf 1964: Geboren in Kohung in S-Korea 1984-1990: Philosophiestudium an der Yonsei Uni. in Seoul(Magisterarbeit: Kritik der Positivitaet vom jungen Hegel) 1991-1992: Militaerdienst 1992-1995: Doktorand an der Uni. Yonsei in Seoul 1993-1995: Dozent an der Uni. Yonsei in Seoul 1996-2003: Promotion an der Ruhr Universitaet Bochum(Dissertation: Von der Subjektivitaet zur Intersubjektivitaet - Die Auseinandersetzung von Habermas mit der Subjektivitaetsphilosophie 214