Geschichte der europäischen Einigung 1918 bis 1958

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Basisinformation zu Modul 10 Geschichte der europäischen Integration
Geschichte der europäischen Einigung 1918 bis 1958
Paneuropa-Bewegung und Völkerbund
An politischen Bemühungen um die europäische Einheit nach dem Ersten Weltkrieg ist die
Bewegung des österreichischen Grafen Coudenhove-Kalergi seit 1919 (Paneuropa-Union) zu
nennen, der die 26 (formalen) europäischen Demokratien zu einem Staatenbund nach dem
Muster der Panamerikanischen Union zusammenfassen wollte. Die „Vereinigten Staaten von
Europa“ sollten ein neues Machtzentrum neben den bereits bestehenden (Sowjetunion, USA,
Großbritannien, Ostasien) werden. Coudenhove-Kalergis Buch „Paneuropa“ (1923) war ein
großer Wurf. Darin geht er von der Tatsache aus, dass die Welt sich von der europäischen
Vorherrschaft befreit hätte. Als Stufen im paneuropäischen Programm wurden vorgeschlagen:
eine paneuropäische Konferenz, ein verpflichtender Schieds- und Garantievertrag, ein
paneuropäischer Zollverein und der Zusammenschluss Europas zu einem einheitlichen
Wirtschaftsgebiet.
Der erste offizielle Aufruf zur europäischen Einheit ging nach dem Ersten Weltkrieg vom
französischen Ministerpräsidenten Edouard Herriot 1925 aus, indem er Coudenhove-Kalergis
Pläne aufgriff. Aber erst als Aristide Briand, der frühere französische Außenminister und
seinerzeitige Präsident des Völkerbundes, am 5. September 1929 in seiner berühmt
gewordenen Rede vor der X. Völkerbundsversammlung die europäische Initiative ergriff,
wurden die Regierungen gezwungen, sich mit der europäischen Idee auseinanderzusetzen.
Gustav Stresemann, der national-liberale deutsche Außenminister, antwortete vier Tage später
voll zustimmend auf Briands Ausführungen. Stresemann, der angesichts der starken
parlamentarischen Opposition im Deutschen Reich dringend einen Erfolg nötig hatte, ging es
vor allem um eine sichtbare und spürbare Erleichterung im Verhältnis zwischen Frankreich
und Deutschland (Ruhrbesetzung). Die Engländer unter Führung von Ramsay MacDonald
hielten die Europa-Idee für verfrüht, Mussolini machte seine Unterstützung davon abhängig,
dass alle Kolonien in den gemeinsamen Besitz einer europäischen Föderation übergehen
sollten.
Briand wurde von den 27 europäischen Völkerbundsvertretern einstimmig beauftragt, seine
Gedanken in Form eines für die Regierungen bestimmten Memorandums niederzulegen.
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Dieses Dokument wurde im Mai 1930, nach Stresemanns Tod, den europäischen Regierungen
zugeleitet. Es trug den Titel: „Memorandum über die Organisation eines Systems
europäischer föderativer Union“. Das Ziel bestand in der Errichtung einer Föderation und
nicht eines Einheitsstaates. Die nationale Souveränität sollte in keiner Weise beeinträchtigt
werden dürfen. Für die Zusammenfassung Europas wurde von dem Memorandum
vorgesehen:
1. Ein allgemeiner Vertrag „zur Aufstellung des Grundsatzes der moralischen Union Europas
und zur feierlichen Bekräftigung der zwischen europäischen Staaten geschaffenen
Solidarität“. Die Regierungen sollten sich verpflichten, „in periodisch wiederkehrenden oder
außerordentlichen Tagungen regelmäßig miteinander Fühlung zu nehmen, um gemeinsam alle
Fragen zu prüfen, die in erster Linie die Gemeinschaft der europäischen Völker interessieren
können“.
2. Ein Mindestmaß an Institutionen, und zwar a) eine „Europäische Konferenz“ (die der
Völkerbundsversammlung entsprochen hätte), b) ein Vollzugsorgan in Form eines ständigen
politischen Ausschusses, c) ein Sekretariat.
3. „Eine vorherige Festlegung der wesentlichen Leitgedanken, die den allgemeinen Begriff
des europäischen Ausschusses bestimmen und ihn bei seinen Vorarbeiten für die Aufstellung
des Programms der europäischen Organisation leiten sollten.“ Briand schwebte vor, die
Wirtschaftsfragen den politischen Problemen unterzuordnen, d. h. den Vorrang der Politik
hervorzukehren. Innerhalb der Politik sollte der Sicherheitsfrage die überragende Rolle
zugewiesen werden. Wirtschaftlich ging es ihm um eine „gegenseitige Annäherung der
europäischen Volkswirtschaften unter der Verantwortung der solidarischen Regierungen“.
Dazu regte Briand einen weiteren Vertrag „der wirtschaftlichen Solidarität“ an. In ihm sollte
das Ziel der gemeinsamen Zoll- und Handelspolitik festgelegt werden: „Errichtung eines
gemeinsamen Marktes zur Höchststeigerung des Niveaus der menschlichen Wohlfahrt auf
dem Gesamtgebiet der europäischen Gemeinschaft.“ „Mit Hilfe einer solchen allgemeinen
Einstellung könnte praktisch die Herbeiführung einer rationellen Organisation der Erzeugung
und des europäischen Güteraustausches unmittelbar angestrebt werden, und zwar durch
fortschrittliche Erleichterung und methodische Vereinfachung des Güter-, Kapital- und
Personenverkehrs, lediglich unter dem Vorbehalt der Bedürfnisse der nationalen Verteidigung
in jedem Staate.“
Briand wollte ein „einfaches Bundverhältnis“. Er sicherte zu: „Die Verständigung zwischen
europäischen Staaten muss auf dem Boden unbedingter Souveränität und völliger politischer
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Unabhängigkeit erfolgen.“ Die Zeit für einen Zusammenschluss war noch nicht reif. Die
Regierungen wichen den Forderungen des Memorandums aus, machten Vorbehalte und
verschanzten sich vor allem hinter ihrer Völkerbundstreue.
Auf journalistischem Gebiet traten für die deutsch-französische Einigung nach dem Ersten
Weltkrieg der Kreis um den Herausgeber der „Sozialistischen Monatshefte“, Josef Bloch, und
der Kreis um den Leiter der „Vossischen Zeitung“, Georg Bernhard, dem Stresemann nahe
stand, ein. Als einzige politische Partei hat die SPD, die sich seit ihrer Gründung zur
internationalen Solidarität der arbeitenden Menschen bekennt, die Vereinigung Europas in ihr
Heidelberger Programm von 1925 aufgenommen: „Die deutsche Sozialdemokratie tritt für die
zwingend gewordene Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit ein, um zur Bildung der
Vereinigten Staaten von Europa zu gelangen, die zur Selbstbehauptung des europäischen
Kontinents notwendig ist.“ Aus dieser Zeit sind auch Gelehrte wie der Spanier José Ortega y
Gasset und Alfred Weber zu nennen.
2.2 Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg
Aus der Zwischenkriegszeit ist als weitere herausragende Persönlichkeit der britische Lord
Lothian (Philip Kerr, 1882 – 1940), persönlicher Berater von Premierminister Lloyd George
und Botschafter in Washington, bekannt geworden. Er war der Mitbegründer der „Federal
Union“ in Großbritannien und mit deutschen Widerstandskreisen in Kontakt. Für Lothian war
das föderalistische Prinzip grundlegend, das den pluralistischen Charakter einer
zwischenstaatlichen Assoziation von Völkern sichern sollte. Deshalb kritisierte er den
Völkerbund, weil er am Grundsatz der nationalstaatlichen, internationalen Politikverflechtung
nicht wirklich interessiert war. So plädierte Lothian Anfang der dreißiger Jahre für die
Schaffung von zwischenstaatlichen Organisationen, für gemeinsame Institutionen und
politische Aufgaben. Eine erfolgreiche Integrationspolitik – zu der er allerdings keine
detaillierten konstitutionellen oder institutionellen Vorschläge gemacht hat, dagegen vor
allem auf das christliche Erbe als gemeinsame geistige Grundlage (völkerverbindende
Wirkung des Sozialen, Verantwortung gemeinschaftlichen Handelns, humanistische
Gesinnung) für die Zusammenarbeit der europäischen Staaten verwies – könne es nur geben,
wenn die beteiligten Staaten einen Souveränitätsverzicht leisteten, der Teil eines
Gewaltverzichts sein sollte, und ein System wechselseitiger Abhängigkeit der Staaten mit
föderativen Strukturen entstehe (vgl. Kant). Weiterhin verlangte er die absolute Bindung der
Mitglieder der Völkerfamilie an das Völkerrecht, dem durch ein internationales, föderatives
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Exekutivorgan Geltung zu verschaffen sei. Seine föderalistische Konzeption europäischer
Integration erlangte Einfluss – besonders in Italien.
Die ersten Pläne für eine europäische Integration gingen von Verbänden, nicht von
Regierungen während des Zweiten Weltkrieges aus. Vertreter west- und osteuropäischer
Widerstandsbewegungen – aus Dänemark, Frankreich, Italien, Jugoslawien, der
Tschechoslowakei und aus Deutschland – kamen fünfmal, vom Frühjahr bis zum Sommer
1944, in Genf zusammen. In einer „Deklaration über die europäische Zusammenarbeit“
verlangten sie, dass die Staaten „das Dogma der absoluten Souveränität abstreifen“ und sich
in einen europäischen Bund eingliedern. Die durch die Existenz von 30 souveränen
europäischen Staaten hervorgerufene „Anarchie“ müsse durch die Schaffung einer
„Bundesordnung für die europäischen Völker“ überwunden werden. Die europäische
Bundesordnung sollte in Zukunft
1. Kriege zwischen europäischen Staaten unmöglich machen;
2. die Streitigkeiten um Gebiete mit gemischter Bevölkerung aufheben;
3. eine Hegemoniepolitik innerhalb Europas verhindern;
4. Grundlagen schaffen, um den wirtschaftlichen Wiederaufbau gemeinsam zu lösen;
5. eine Abtretung von Souveränitätsrechten herbeiführen (u. a. Verteidigung, Außenpolitik);
6. das Recht jedes Mitgliedstaates gewährleisten, „die ihm eigenen Probleme in
Übereinstimmung mit seinen völkischen und kulturellen Eigenarten zu lösen“.
Die deutschen Widerstandskreise formulierten in ihrer von Goerdeler und Beck verfassten
Denkschrift „Das Ziel“ die gleichen Absichten. Außerdem entwickelte Goerdeler einen
Friedensplan. Zuletzt hatte Hitler, wie einst Napoleon, versucht, Europa gewaltsam neu zu
ordnen und zu einigen. Dabei sollte nach beider Diktatoren Konzept das eigene Land zum
Kernstaat werden, der durch Angliederung fremden Gebiets „arrondiert“ würde und die
absolute Vormachtstellung erhalten sollte. Eine einheitliche und zentral gelenkte Verwaltung
sowie eine einheitliche Sprache, ferner ein vereinheitlichtes Maß- und Münzsystem sollten
Fundamente dieser Herrschaft sein. Ein einheitliches Wirtschaftsgebiet mit voller „Autarkie“
für Kriegs- und Friedenszeiten sollte völlige Unabhängigkeit von Übersee und vom
Außenhandel garantieren. Napoleon hatte Europa eine Reihe wichtiger Neuerungen gebracht:
das bürgerliche Recht (Code Napoléon), die Durchbrechung des Ständesystems und die
Aufhebung der Leibeigenschaft. Für Hitler galt die imperialistische Formel von der
„Verteidigung Europas gegen den Bolschewismus“, die Goebbels so kommentierte: „Aus
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alledem hat der Führer die Konsequenz gezogen, dass das Kleinstaatengerümpel, das heute
noch in Europa vorhanden ist, so schnell wie möglich liquidiert werden muss. Es muss das
Ziel unseres Kampfes bleiben, ein einheitliches Europa zu schaffen. Europa kann eine klare
Organisation nur durch die Deutschen erfahren. Eine andere Führungsmacht ist praktisch
nicht vorhanden. Der Führer gibt seiner unumstößlichen Gewissheit Ausdruck, dass das Reich
einmal ganz Europa beherrschen wird.“ (Tagebucheintragung über eine Ansprache Hitlers vor
Reichs- und Gauleitern)
Die Alliierten des Zweiten Weltkrieges hatten verschiedene Auffassungen von einer künftigen
Gliederung Europas. Der amerikanische Präsident Roosevelt war gegenüber einer
europäischen Einigung wenig aufgeschlossen, da er regionale Bündnisse ablehnte. Er vertrat
die Konzeption von der Einen Welt (one world). Dazu war ihm vor allem die Niederwerfung
Nazi-Deutschlands wichtig. Im Gegensatz zu Stalin und Churchill hatte Roosevelt keine
Europakonzeption. Bald war er mit der Aufteilung Europas in eine östliche und in eine
westliche Einflusssphäre einverstanden. Churchill hatte dagegen schon in einer Rede am 21.
3. 1943 den Plan eines europäischen Staatenbundes unter britischer Führung und unter
Ausschluss der Sowjetunion vorgetragen.
Europäische Einigungspolitik nach 1945
Europapolitische Ausgangssituation
Das Jahr 1945 stellt eine historische Zäsur und das Ende der selbstständig agierenden
Nationalstaaten in Europa dar. Ab 1945 avancierten die beiden Supermächte USA und
UdSSR zu nahezu unbestrittenen Weltmächten und dominierten Europa bis zum Ende der
80er Jahre als eine von ihnen abhängige Einflusssphäre (Auflösung der UdSSR 1991). In
dieser Situation und geschwächt durch den Zweiten Weltkrieg konnten die ehemaligen
europäischen Mittelmächte ihre politischen und wirtschaftlichen Positionen nicht länger
halten. Ein sektoraler Zusammenschluss lag aus militärischen, ökonomischen und politischen
Gründen nahe, wollte man nicht zu bloßen Satelliten einer der Großmächte werden. Die
nationalen Probleme waren in wichtigen Bereichen mithin nicht mehr singulär, sondern nur
noch in einem übernationalen Verbund zu lösen. Von daher versteht sich – befördert durch
den raschen Zerfall des Kriegsbündnisses zwischen Ost und West sowie durch den bald
ausbrechenden Kalten Krieg (vgl. Berlin-Blockade 1948/49, kommunistischer Staatsstreich in
der CSSR 1948, kommunistischer Partisanenkrieg in Griechenland, sowjetischer Druck auf
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den Iran und die Türkei, Korea-Krieg 1950/53, Suez-Konflikt 1956, Aufstände in der DDR
1953, in Ungarn und Polen 1956, Berlin-Krisen, Mauerbau in Berlin 1961, Kuba-Krise 1962,
CSSR-Krise 1968 usw.) und zunächst auch durch die Furcht vor einem deutschen
Revanchismus – der rasche Abschluss von Bündnisverträgen sowie die amerikanische
Unterstützung (Marshall-Plan) für den wirtschaftlichen Wiederaufbau der kriegszerstörten
Länder, u. a. unter der Bedingung einer engeren politischen Annäherung untereinander. Der
(günstige) europäische Rahmen dafür ergab sich aus dem gemeinsamen historisch-kulturellen
Erbe wie aus den traditionell engen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen
Verflechtungen. Sie stellten das Glacis für großräumiges Denken und Handeln in Gestalt einer
grenzüberschreitenden Politik in wesentlichen Problembereichen und die Chance eines
Eigengewichts innerhalb der Weltpolitik und des Welthandels dar.
Das föderalistische Moment der europäischen Einigung wurde besonders von Winston
Churchill, Léon Blum, Alcide de Gasperi und Salvador de Madariaga hervorgehoben.
Während die föderalistische „Europäische Bewegung“ mit der Gründung der „Vereinigten
Staaten von Europa“ nicht zum Zuge kam, setzte sich die funktionalistische Schule der
Technokraten um den Franzosen Jean Monnet - Integration Stück um Stück bis zum „spillover-Effekt“ - durch.
Unterschiedliche Konzeptionen der westdeutschen Parteien
Die politischen Parteien in Westdeutschland optierten unterschiedlich. Die CDU versprach
sich von der Favorisierung der westeuropäischen Integration (bei Betonung der atlantischen
Bindung) eine beschleunigte Wiedergewinnung der vollen Souveränität des Landes sowie
Handlungsfreiheit gegenüber den USA und der Sowjetunion und glaubte, diese für die
Wiedervereinigung aktiv einsetzen zu können. Adenauers (CDU-Vorsitzender und erster
deutscher Bundeskanzler, 1949–1963) Europakonzept war defensiv: Westeuropa als Bollwerk
gegen den Osten. Im Sinne der (westlichen) Ellipsentheorie ging man nicht von einem
monolithischen Block aus, sondern die USA und ein vereinigtes Westeuropa wurden als die
beiden Brennpunkte verstanden. Die SPD blieb bis zum Ende der 50er Jahre bei der Ansicht
Kurt Schumachers (1895–1952), ihres Vorsitzenden, den freien Teil Deutschlands nicht in
übernationale Bindungen einzufügen, solange eine nationale Wiedervereinigung oder annäherung nicht in Sicht waren. So stimmte die SPD gegen den Beitritt der Bundesrepublik
Deutschland zum Europarat und gegen den Schuman-Plan, sie lehnte einen deutschen
Verteidigungsbeitrag und den Plan einer Europäischen Politischen Gemeinschaft zunächst ab.
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Andererseits forderte die SPD als erste deutsche Partei nach dem Zweiten Weltkrieg in ihren
„Politischen Leitsätzen“ (erster Nachkriegsparteitag im Mai 1946) die „Vereinigten Staaten
von Europa“. Die CSU zog mit konkreten programmatischen Aussagen in ihrem
„Grundsatzprogramm“ vom Dezember 1946 nach. Sie trat ein für eine „europäische
Konföderation“, um gemeinsam die „christlich-abendländische Kultur“ zu wahren und
weiterzuführen, sowie für eine „europäische Wirtschafts- und Währungsunion“. Europa
wurde als „übernationale Lebensgemeinschaft (...) im Rahmen der europäischen
Völkerfamilie“ gewertet. Als partielle Völkerrechtssubjekte konnten sich vor allem der
Europarat und die Europäische (Wirtschafts-)Gemeinschaft (E[W]G) etablieren.
Die Gründung der West-Union und des Europarats
Politisch bedeutsam wurde Winston Churchills Rede in der Züricher Universität am 19.
September 1946. Darin knüpfte er an die paneuropäischen Pläne Coudenhoves und Briands (s.
Abschn. 2.1) an. Den beiden Motiven der europäischen Föderalisten – nie wieder Krieg und
eine bessere Welt für die Menschen in Europa – fügte er hinzu: Schutz gegen die sowjetische
Gefahr. Er plädierte für die Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“: „Der erste
Schritt hierzu ist die Bildung eines Europarats.“ Großbritannien wollte er wegen seiner
Commonwealth-Verpflichtungen allerdings hiervon ausklammern.
Die europäischen Föderalisten führten die von den Widerstandsgruppen initiierten
Einigungsbestrebungen nach dem Kriege fort. Die Schweizer Europa-Union, 1934 in Basel
gegründet, veranstaltete vom 14. bis 21. September 1946 einen Kongress in Hertenstein am
Vierwaldstätter See und entwickelte ein Rahmenprogramm für eine europäische politische
Union, das Hertensteiner Programm. Churchills Rede wurde mit Beifall aufgenommen.
Im Jahre 1948 hatte die britische Regierung die Initiative zur Gründung der West-Union
ergriffen, die aus Großbritannien, Frankreich und den Benelux-Ländern bestehen sollte; dabei
knüpfte London an das bestehende Militärbündnis zwischen Großbritannien und Frankreich
an (sog. Dünkirchener Vertrag von 1947 gegen eine erneute deutsche Aggression). Am 17.
März 1948 wurde der Vertrag von Brüssel unterzeichnet (Brüsseler Pakt). Nach Errichtung
der NATO wurde der militärische Teil des Paktes auf diese übertragen, die West-Union im
Oktober 1954 durch den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland und Italiens zur
Westeuropäischen Union (WEU) umgestaltet. (Später traten weitere Länder bei.) In ihrem
Rahmen wurde ein „Komitee zur Förderung der europäischen Einheit“ geschaffen.
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Der erste große Versuch einer gemeinsamen europäischen Willensbildung „von unten“ war
der Haager Kongress der Europa-Union im Mai 1948. Dort erging die Forderung nach einem
Europarat, die von den Regierungen in Großbritannien, Frankreich, Belgien, den
Niederlanden und Luxemburg aufgegriffen und auf Veranlassung des Rates der
Außenminister, des obersten Organs der West-Union, bereits ein Jahr darauf – am 5. Mai
1949 – verwirklicht wurde. Weitere Erstunterzeichner der Satzung des Europarats waren
Dänemark, Irland, Italien, Norwegen und Schweden; später kamen viele Staaten hinzu
(Europarat; Stand 2011: 47 Vertragsstaaten).
Der Europarat in Straßburg ist ein relativ lockerer Staatenverband (über 580 Mio. Menschen)
ohne eigene Machtbefugnisse, mit aber immer wieder erheblichem internationalen politischen
Gewicht. Mit der EU finden regelmäßige Kontakte statt (vgl. Briefwechsel zwischen dem
Präsidenten der EG-Kommission und dem Generalsekretär des Europarats vom 16. 6. 1987
sowie die „Resolution über institutionelle Aspekte“ des Europarats vom 5. 5. 1989).
Seit dem Ende der 1980er Jahre entstand der Wunsch fast aller ost(mittel)europäischen
Länder nach besseren Kontakten und engerer Zusammenarbeit, vor allem auf den Gebieten
der Menschenrechte, des Umweltschutzes, der Kultur und des Gesundheitswesens. Als
Bedingung für eine solche Kooperation werden von der Parlamentarischen Versammlung des
Europarats erfolgreiche Reformen beim Schutz der Menschenrechte und der
Demokratisierung des politischen Systems vorausgesetzt. Im Mai 1989 wurde ein „besonderer
Gaststatus“ für europäische Nichtmitglieder beschlossen, wonach es einer pluralistisch
zusammengesetzten Delegation von Parlamentariern ermöglicht werden sollte, an den
Beratungen der Parlamentarischen Versammlung teilzunehmen. Davon haben einige
ost(mittel)europäische Staaten Gebrauch gemacht und sind danach Vollmitglieder geworden.
Die Rolle Frankreichs
Frankreich hat im europäischen Integrationsprozess von Anfang an eine besondere Rolle
gespielt. Die Auswirkungen der Konferenz von Jalta (1945) spalteten Europa in West und Ost
und ließen Westeuropa enger zusammenrücken. Die geschwächte Lage Frankreichs in einem
geteilten Europa ließ die Einsicht wachsen, Deutschland könne nicht isoliert werden, Schutz
vor Deutschland gebe es nur durch Einbindung seines westlichen Teils in eine europäische
Konstruktion (Schuman-Plan).
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Als französischer Ministerpräsident setzte sich de Gaulle bereits 1945 für die europäische
Einigung ein; als Staatspräsident (1958–1969) vertrat er – in Ablehnung eines supranationalen
Europa – das „Europa der Vaterländer“, wobei er Frankreich – nach dem Verlust seiner
Kolonien in den fünfziger Jahren und mit der Aufgabe Algeriens 1962 – eine neue Rolle in
Europa zuschrieb. Das deutsch-französische Verhältnis wurde von de Gaulle und
Bundeskanzler Adenauer durch den Abschluss des Deutsch-Französischen
Freundschaftsvertrages (sog. Elysée-Vertrag von 1963) gefestigt. Darin sind u. a. gemeinsame
Regierungsberatungen „vor jeder Entscheidung in allen wichtigen Fragen“ der Außenpolitik
von gemeinsamem Interesse verabredet. Hinzu kommt der Jugendaustausch.
Die französische Politik bemühte sich lange um die Führungsrolle in Westeuropa. De Gaulle
wandte sich gegen die „Technokraten“ in Brüssel und Luxemburg, die unter
Kommissionspräsident Walter Hallstein ein Europäisches Parlament mit übernationalen
Gesetzgebungsrechten und eigenen Finanzmitteln erstrebten. Zum Schutz der nationalen
Souveränität bei Abstimmungen (damals insb. im Agrarsektor) praktizierte Frankreich von
Mitte 1965 bis Anfang 1966 die „Politik des leeren Stuhls“ in der EWG (erste große Krise der
Europäischen Gemeinschaft; 1973/74 Erdölkrise; 1980 britische Beitragskrise), die durch die
Luxemburger Vereinbarung von 29. Januar 1966 (Einstimmigkeit bei „wesentlichen Fragen“
im EU-Ministerrat) mit Hilfe eines „gentlemen agreement“ politisch gelöst wurde.
Während der Regierungszeit de Gaulles entwarf eine Kommission unter Vorsitz des
französischen Diplomaten Fouchet zwei Pläne (sogenannte Fouchet-Pläne 1961/62), wonach
die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten eine
„unauflösliche“ Staatenunion bilden sollten, die in „Fragen von gemeinsamem Interesse“ eine
einheitliche Außenpolitik betrieben, eine Koordinierung und Verstärkung der Verteidigung
sowie eine enge Zusammenarbeit in Wirtschaft und Kultur. Ziel war eine Konföderation im
Sinne de Gaulles mit organisierten Beratungen auf Regierungsebene. Unter de Gaulles
Nachfolgern Pompidou, Giscard d’Estaing und Mitterand wich dann die starre und
nationalistische Haltung Frankreichs zugunsten von mehr Integration und dem Ruf nach
Selbstständigkeit gegenüber den USA.
Die enge deutsch-französische Zusammenarbeit hat sich bewährt und wird seither
kontinuierlich fortgesetzt; integrationspolitisch tendiert sie allerdings zu einem „Europa der
zwei Geschwindigkeiten“ (abgestufte Integration, Kerneuropa). Heute überwiegen in der
französischen Europapolitik die EU-Europäer, die sogenannten Föderalen. Sie nehmen
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Abschied von der traditionellen Etat-Nation und vertreten ein Ja zur europäischen
Souveränität jedenfalls auf den Gebieten Wirtschaft, Außenpolitik und Verteidigung.
Der Beitrag der USA zur westeuropäischen Einigung
Die USA standen der europäischen Bewegung von Anfang an mit Sympathie gegenüber.
Dabei spielte nach 1945 die Furcht vor einem wirtschaftlichen Ruin Westeuropas mit seinen
politischen Folgen (Machtvakuum) eine wichtige Rolle; ferner galt das Interesse der
Festigung des eigenen strategischen Vorfeldes und den künftigen Handelsbeziehungen.
Unterschiedliche politische Interessen der westlichen Alliierten und der Sowjetunion machten
eine stärkere (west-)europäische Einigung wünschenswert (vgl. z. B. die Stuttgarter Rede von
US-Außenminister Byrnes am 6. 9. 1946 und den Widerspruch des sowjetischen
Außenministers Molotow vom 16. 9. 1946). Am 5. Juni 1947 hielt der damalige USAußenminister George Marshall eine Rede in der Harvard-Universität und verkündete die
Hilfe der USA für den Wiederaufbau Europas unter der politischen Bedingung, dass sich die
europäischen Nationen enger zusammenschließen und ein gemeinsames
Wiederaufbauprogramm mit einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik entwickeln würden. Zur
wirksamen Verwendung des European Recovery Program (ERP oder Marshall-Plan) wurde
auf Anregung Großbritanniens, Frankreichs und der USA durch Vertrag vom April 1948 die
Organisation für die europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC, in Deutschland
Europäischer Wirtschaftsrat genannt, seit 1961 von der Nachfolgeorganisation OECD
fortgeführt) als erste gemeinsame europäische Organisation nach dem Kriege gegründet (Die
34 Mitglieder 2011: Australien, Belgien, Chile, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland,
Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Israel, Italien, Japan, Kanada,
Korea, Luxemburg, Mexiko, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen,
Portugal, Schweden, Schweiz, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Türkei,
Ungarn, USA).
Die anfängliche amerikanische Vorherrschaft in Europa ist seit Beginn der 60er Jahre einem
partnerschaftlichen Verhältnis gewichen, das insbes. in der Rede von Präsident Kennedy
(Frankfurter Paulskirche am 25. 6. 1963) in Gestalt seines „Großen Planes“ (Erweiterung der
Handelspartnerschaft zu einer politischen atlantischen Partnerschaft) zum Ausdruck
gekommen ist. Die USA erwarten allerdings von dem starken europäischen wirtschaftlichen
Regionalismus und dem Entstehen neuer präferentieller Märkte u. a. Rücksichtnahme auf ihre
Wirtschaftsinteressen (EU und USA sind für einander die wichtigsten Handelspartner).
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Die „Transatlantische Erklärung“ zwischen der EG und den USA vom November 1990
regelte die gegenseitigen Beziehungen neu und nennt „Demokratie, Rechtsstaatlichkeit,
Beachtung der Menschenrechte und der individuellen Freiheiten“ als gemeinsame Grundlage
der atlantischen Partnerschaft. Die Partner einigten sich erstmalig auf halbjährliche
Konsultationen zwischen dem EU-Rats- und dem Kommissionspräsidenten sowie dem USPräsidenten.
Hin und wieder entstehen Spannungen im wirtschaftlichen Bereich („Handelskriege“). Für
eine jüngere Generation von amerikanischen Politikern haben sich die Interessen teilweise
von Europa weg nach Asien verlagert. Die Neue Transatlantische Agenda (NTA) vom
Dezember 1995 sieht halbjährliche Gipfeltreffen EU/USA zur Ausräumung von Konflikten
und Anbahnung von Kontakten vor. Durch den Lissabon-Vertrag (vgl. Art. 42 ff. EUV) dürfte
jetzt zunehmend auch die engere militärische Kooperation zwischen EU und USA wichtig
werden.
Die Entstehung der Europäischen Gemeinschaften
Das Verlangen der USA nach einer Beteiligung Westdeutschlands an der gemeinsamen
militärischen Verteidigung Westeuropas schon wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs setzte den Abbau des Besatzungsregimes in Westdeutschland voraus, vor allem
die Beseitigung der durch das Ruhrstatut über die deutsche Montanindustrie verfügten,
wesentlich im Misstrauen Frankreichs begründeten Ruhrkontrolle.
Nachdem der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, im März
1950 überraschend eine vollständige Union zwischen Frankreich und der Bundesrepublik
Deutschland vorgeschlagen hatte, unterbreitete am 9. Mai 1950 der französische
Außenminister Robert Schuman, gestützt auf ein Memorandum seines Mitarbeiters Jean
Monnet (demzufolge die Rohstoffe aus Rheinland und Westfalen als Kriegspotential
Deutschlands der deutschen Verfügungsgewalt entzogen werden sollten), seinen Plan einer
Zusammenlegung der französischen und deutschen Produktion von Kohle und Stahl unter
einer gemeinsamen supranationalen Autorität (Schuman-Plan).
Der von Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den
Niederlanden im April 1951 abgeschlossene sektorale Pariser Vertrag (in Kraft getreten am
23. Juli 1952) über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, Montanunion;
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sektoraler Vertrag) sah einen von Zöllen und Handelsbeschränkungen freien Gemeinsamen
Markt für die wichtigsten Grundstoffe vor (Großraumwirtschaft). Die Hohe Behörde der
Montanunion wurde zur ersten europäischen Regierungsbehörde mit supranationalen,
bindenden Befugnissen.
Die Außenministerkonferenz der sechs Schuman-Plan-Länder beschloss Ende Mai 1955 in
Messina, das Verfahren der Montanunion auf die gesamte Wirtschaft der sechs Staaten
anzuwenden und für die Entwicklung der Kernenergie eine gemeinsame Organisation zu
schaffen. Nach langwierigen Verhandlungen wurden am 25. März 1957 die sogenannten
Römischen Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG; Rahmenvertrag)
mit einem „Protokoll über den innerdeutschen Handel und damit zusammenhängende Fragen“
(die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten war demnach keine Zollgrenze) und über
die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM; sektoraler Vertrag) unterzeichnet und am 1.
Januar 1958 in Kraft gesetzt.
Diese Verträge dürfen als die wichtigste Etappe zur politischen Einheit Europas angesehen
werden. EWG-Krisen haben allerdings gezeigt, dass die Einigungspolitik nicht kontinuierlich
verläuft, dass vor allem wirtschaftliche Verflechtungen nicht automatisch zu politischen
Fortschritten werden. Die integrativen Bemühungen wurden zunächst unterbrochen infolge
der Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) durch die französische
Nationalversammlung im Jahr 1954.
Quelle: Wolfgang W. Mickel / Jan Bergmann, Zur Geschichte der europäischen Einigung. In: Bergmann (Hrsg.),
Handlexikon der Europäischen Union. Baden-Baden 2012
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