Hintergrundinformation zu Modul 10 Geschichte der europäischen Integration Geschichte der europäischen Einigung 1918 bis 1958 Paneuropa-Bewegung und Völkerbund An politischen Bemühungen um die europäische Einheit nach dem Ersten Weltkrieg ist die Bewegung des österreichischen Grafen Coudenhove-Kalergi seit 1919 (Paneuropa-Union) zu nennen, der die 26 (formalen) europäischen Demokratien zu einem Staatenbund nach dem Muster der Panamerikanischen Union zusammenfassen wollte. Die „Vereinigten Staaten von Europa“ sollten ein neues Machtzentrum neben den bereits bestehenden (Sowjetunion, USA, Großbritannien, Ostasien) werden. Coudenhove-Kalergis Buch „Paneuropa“ (1923) war ein großer Wurf. Darin geht er von der Tatsache aus, dass die Welt sich von der europäischen Vorherrschaft befreit hätte. Als Stufen im paneuropäischen Programm wurden vorgeschlagen: eine paneuropäische Konferenz, ein verpflichtender Schieds- und Garantievertrag, ein paneuropäischer Zollverein und der Zusammenschluss Europas zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet. Der erste offizielle Aufruf zur europäischen Einheit ging nach dem Ersten Weltkrieg vom französischen Ministerpräsidenten Edouard Herriot 1925 aus, indem er Coudenhove-Kalergis Pläne aufgriff. Aber erst als Aristide Briand, der frühere französische Außenminister und seinerzeitige Präsident des Völkerbundes, am 5. September 1929 in seiner berühmt gewordenen Rede vor der X. Völkerbundsversammlung die europäische Initiative ergriff, wurden die Regierungen gezwungen, sich mit der europäischen Idee auseinanderzusetzen. Gustav Stresemann, der national-liberale deutsche Außenminister, antwortete vier Tage später voll zustimmend auf Briands Ausführungen. Stresemann, der angesichts der starken parlamentarischen Opposition im Deutschen Reich dringend einen Erfolg nötig hatte, ging es vor allem um eine sichtbare und spürbare Erleichterung im Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland (Ruhrbesetzung). Die Engländer unter Führung von Ramsay MacDonald hielten die Europa-Idee für verfrüht, Mussolini machte seine Unterstützung davon abhängig, dass alle Kolonien in den gemeinsamen Besitz einer europäischen Föderation übergehen sollten. Briand wurde von den 27 europäischen Völkerbundsvertretern einstimmig beauftragt, seine Gedanken in Form eines für die Regierungen bestimmten Memorandums niederzulegen. 2 Dieses Dokument wurde im Mai 1930, nach Stresemanns Tod, den europäischen Regierungen zugeleitet. Es trug den Titel: „Memorandum über die Organisation eines Systems europäischer föderativer Union“. Das Ziel bestand in der Errichtung einer Föderation und nicht eines Einheitsstaates. Die nationale Souveränität sollte in keiner Weise beeinträchtigt werden dürfen. Für die Zusammenfassung Europas wurde von dem Memorandum vorgesehen: 1. Ein allgemeiner Vertrag „zur Aufstellung des Grundsatzes der moralischen Union Europas und zur feierlichen Bekräftigung der zwischen europäischen Staaten geschaffenen Solidarität“. Die Regierungen sollten sich verpflichten, „in periodisch wiederkehrenden oder außerordentlichen Tagungen regelmäßig miteinander Fühlung zu nehmen, um gemeinsam alle Fragen zu prüfen, die in erster Linie die Gemeinschaft der europäischen Völker interessieren können“. 2. Ein Mindestmaß an Institutionen, und zwar a) eine „Europäische Konferenz“ (die der Völkerbundsversammlung entsprochen hätte), b) ein Vollzugsorgan in Form eines ständigen politischen Ausschusses, c) ein Sekretariat. 3. „Eine vorherige Festlegung der wesentlichen Leitgedanken, die den allgemeinen Begriff des europäischen Ausschusses bestimmen und ihn bei seinen Vorarbeiten für die Aufstellung des Programms der europäischen Organisation leiten sollten.“ Briand schwebte vor, die Wirtschaftsfragen den politischen Problemen unterzuordnen, d. h. den Vorrang der Politik hervorzukehren. Innerhalb der Politik sollte der Sicherheitsfrage die überragende Rolle zugewiesen werden. Wirtschaftlich ging es ihm um eine „gegenseitige Annäherung der europäischen Volkswirtschaften unter der Verantwortung der solidarischen Regierungen“. Dazu regte Briand einen weiteren Vertrag „der wirtschaftlichen Solidarität“ an. In ihm sollte das Ziel der gemeinsamen Zoll- und Handelspolitik festgelegt werden: „Errichtung eines gemeinsamen Marktes zur Höchststeigerung des Niveaus der menschlichen Wohlfahrt auf dem Gesamtgebiet der europäischen Gemeinschaft.“ „Mit Hilfe einer solchen allgemeinen Einstellung könnte praktisch die Herbeiführung einer rationellen Organisation der Erzeugung und des europäischen Güteraustausches unmittelbar angestrebt werden, und zwar durch fortschrittliche Erleichterung und methodische Vereinfachung des Güter-, Kapital- und Personenverkehrs, lediglich unter dem Vorbehalt der Bedürfnisse der nationalen Verteidigung in jedem Staate.“ Briand wollte ein „einfaches Bundverhältnis“. Er sicherte zu: „Die Verständigung zwischen europäischen Staaten muss auf dem Boden unbedingter Souveränität und völliger politischer 3 Unabhängigkeit erfolgen.“ Die Zeit für einen Zusammenschluss war noch nicht reif. Die Regierungen wichen den Forderungen des Memorandums aus, machten Vorbehalte und verschanzten sich vor allem hinter ihrer Völkerbundstreue. Auf journalistischem Gebiet traten für die deutsch-französische Einigung nach dem Ersten Weltkrieg der Kreis um den Herausgeber der „Sozialistischen Monatshefte“, Josef Bloch, und der Kreis um den Leiter der „Vossischen Zeitung“, Georg Bernhard, dem Stresemann nahe stand, ein. Als einzige politische Partei hat die SPD, die sich seit ihrer Gründung zur internationalen Solidarität der arbeitenden Menschen bekennt, die Vereinigung Europas in ihr Heidelberger Programm von 1925 aufgenommen: „Die deutsche Sozialdemokratie tritt für die zwingend gewordene Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit ein, um zur Bildung der Vereinigten Staaten von Europa zu gelangen, die zur Selbstbehauptung des europäischen Kontinents notwendig ist.“ Aus dieser Zeit sind auch Gelehrte wie der Spanier José Ortega y Gasset und Alfred Weber zu nennen. 2.2 Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg Aus der Zwischenkriegszeit ist als weitere herausragende Persönlichkeit der britische Lord Lothian (Philip Kerr, 1882 – 1940), persönlicher Berater von Premierminister Lloyd George und Botschafter in Washington, bekannt geworden. Er war der Mitbegründer der „Federal Union“ in Großbritannien und mit deutschen Widerstandskreisen in Kontakt. Für Lothian war das föderalistische Prinzip grundlegend, das den pluralistischen Charakter einer zwischenstaatlichen Assoziation von Völkern sichern sollte. Deshalb kritisierte er den Völkerbund, weil er am Grundsatz der nationalstaatlichen, internationalen Politikverflechtung nicht wirklich interessiert war. So plädierte Lothian Anfang der dreißiger Jahre für die Schaffung von zwischenstaatlichen Organisationen, für gemeinsame Institutionen und politische Aufgaben. Eine erfolgreiche Integrationspolitik – zu der er allerdings keine detaillierten konstitutionellen oder institutionellen Vorschläge gemacht hat, dagegen vor allem auf das christliche Erbe als gemeinsame geistige Grundlage (völkerverbindende Wirkung des Sozialen, Verantwortung gemeinschaftlichen Handelns, humanistische Gesinnung) für die Zusammenarbeit der europäischen Staaten verwies – könne es nur geben, wenn die beteiligten Staaten einen Souveränitätsverzicht leisteten, der Teil eines Gewaltverzichts sein sollte, und ein System wechselseitiger Abhängigkeit der Staaten mit föderativen Strukturen entstehe (vgl. Kant). Weiterhin verlangte er die absolute Bindung der Mitglieder der Völkerfamilie an das Völkerrecht, dem durch ein internationales, föderatives 4 Exekutivorgan Geltung zu verschaffen sei. Seine föderalistische Konzeption europäischer Integration erlangte Einfluss – besonders in Italien. Die ersten Pläne für eine europäische Integration gingen von Verbänden, nicht von Regierungen während des Zweiten Weltkrieges aus. Vertreter west- und osteuropäischer Widerstandsbewegungen – aus Dänemark, Frankreich, Italien, Jugoslawien, der Tschechoslowakei und aus Deutschland – kamen fünfmal, vom Frühjahr bis zum Sommer 1944, in Genf zusammen. In einer „Deklaration über die europäische Zusammenarbeit“ verlangten sie, dass die Staaten „das Dogma der absoluten Souveränität abstreifen“ und sich in einen europäischen Bund eingliedern. Die durch die Existenz von 30 souveränen europäischen Staaten hervorgerufene „Anarchie“ müsse durch die Schaffung einer „Bundesordnung für die europäischen Völker“ überwunden werden. Die europäische Bundesordnung sollte in Zukunft 1. Kriege zwischen europäischen Staaten unmöglich machen; 2. die Streitigkeiten um Gebiete mit gemischter Bevölkerung aufheben; 3. eine Hegemoniepolitik innerhalb Europas verhindern; 4. Grundlagen schaffen, um den wirtschaftlichen Wiederaufbau gemeinsam zu lösen; 5. eine Abtretung von Souveränitätsrechten herbeiführen (u. a. Verteidigung, Außenpolitik); 6. das Recht jedes Mitgliedstaates gewährleisten, „die ihm eigenen Probleme in Übereinstimmung mit seinen völkischen und kulturellen Eigenarten zu lösen“. Die deutschen Widerstandskreise formulierten in ihrer von Goerdeler und Beck verfassten Denkschrift „Das Ziel“ die gleichen Absichten. Außerdem entwickelte Goerdeler einen Friedensplan. Zuletzt hatte Hitler, wie einst Napoleon, versucht, Europa gewaltsam neu zu ordnen und zu einigen. Dabei sollte nach beider Diktatoren Konzept das eigene Land zum Kernstaat werden, der durch Angliederung fremden Gebiets „arrondiert“ würde und die absolute Vormachtstellung erhalten sollte. Eine einheitliche und zentral gelenkte Verwaltung sowie eine einheitliche Sprache, ferner ein vereinheitlichtes Maß- und Münzsystem sollten Fundamente dieser Herrschaft sein. Ein einheitliches Wirtschaftsgebiet mit voller „Autarkie“ für Kriegs- und Friedenszeiten sollte völlige Unabhängigkeit von Übersee und vom Außenhandel garantieren. Napoleon hatte Europa eine Reihe wichtiger Neuerungen gebracht: das bürgerliche Recht (Code Napoléon), die Durchbrechung des Ständesystems und die Aufhebung der Leibeigenschaft. Für Hitler galt die imperialistische Formel von der „Verteidigung Europas gegen den Bolschewismus“, die Goebbels so kommentierte: „Aus 5 alledem hat der Führer die Konsequenz gezogen, dass das Kleinstaatengerümpel, das heute noch in Europa vorhanden ist, so schnell wie möglich liquidiert werden muss. Es muss das Ziel unseres Kampfes bleiben, ein einheitliches Europa zu schaffen. Europa kann eine klare Organisation nur durch die Deutschen erfahren. Eine andere Führungsmacht ist praktisch nicht vorhanden. Der Führer gibt seiner unumstößlichen Gewissheit Ausdruck, dass das Reich einmal ganz Europa beherrschen wird.“ (Tagebucheintragung über eine Ansprache Hitlers vor Reichs- und Gauleitern) Die Alliierten des Zweiten Weltkrieges hatten verschiedene Auffassungen von einer künftigen Gliederung Europas. Der amerikanische Präsident Roosevelt war gegenüber einer europäischen Einigung wenig aufgeschlossen, da er regionale Bündnisse ablehnte. Er vertrat die Konzeption von der Einen Welt (one world). Dazu war ihm vor allem die Niederwerfung Nazi-Deutschlands wichtig. Im Gegensatz zu Stalin und Churchill hatte Roosevelt keine Europakonzeption. Bald war er mit der Aufteilung Europas in eine östliche und in eine westliche Einflusssphäre einverstanden. Churchill hatte dagegen schon in einer Rede am 21. 3. 1943 den Plan eines europäischen Staatenbundes unter britischer Führung und unter Ausschluss der Sowjetunion vorgetragen. Europäische Einigungspolitik nach 1945 Europapolitische Ausgangssituation Das Jahr 1945 stellt eine historische Zäsur und das Ende der selbstständig agierenden Nationalstaaten in Europa dar. Ab 1945 avancierten die beiden Supermächte USA und UdSSR zu nahezu unbestrittenen Weltmächten und dominierten Europa bis zum Ende der 80er Jahre als eine von ihnen abhängige Einflusssphäre (Auflösung der UdSSR 1991). In dieser Situation und geschwächt durch den Zweiten Weltkrieg konnten die ehemaligen europäischen Mittelmächte ihre politischen und wirtschaftlichen Positionen nicht länger halten. Ein sektoraler Zusammenschluss lag aus militärischen, ökonomischen und politischen Gründen nahe, wollte man nicht zu bloßen Satelliten einer der Großmächte werden. Die nationalen Probleme waren in wichtigen Bereichen mithin nicht mehr singulär, sondern nur noch in einem übernationalen Verbund zu lösen. Von daher versteht sich – befördert durch den raschen Zerfall des Kriegsbündnisses zwischen Ost und West sowie durch den bald ausbrechenden Kalten Krieg (vgl. Berlin-Blockade 1948/49, kommunistischer Staatsstreich in der CSSR 1948, kommunistischer Partisanenkrieg in Griechenland, sowjetischer Druck auf 6 den Iran und die Türkei, Korea-Krieg 1950/53, Suez-Konflikt 1956, Aufstände in der DDR 1953, in Ungarn und Polen 1956, Berlin-Krisen, Mauerbau in Berlin 1961, Kuba-Krise 1962, CSSR-Krise 1968 usw.) und zunächst auch durch die Furcht vor einem deutschen Revanchismus – der rasche Abschluss von Bündnisverträgen sowie die amerikanische Unterstützung (Marshall-Plan) für den wirtschaftlichen Wiederaufbau der kriegszerstörten Länder, u. a. unter der Bedingung einer engeren politischen Annäherung untereinander. Der (günstige) europäische Rahmen dafür ergab sich aus dem gemeinsamen historisch-kulturellen Erbe wie aus den traditionell engen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Verflechtungen. Sie stellten das Glacis für großräumiges Denken und Handeln in Gestalt einer grenzüberschreitenden Politik in wesentlichen Problembereichen und die Chance eines Eigengewichts innerhalb der Weltpolitik und des Welthandels dar. Das föderalistische Moment der europäischen Einigung wurde besonders von Winston Churchill, Léon Blum, Alcide de Gasperi und Salvador de Madariaga hervorgehoben. Während die föderalistische „Europäische Bewegung“ mit der Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“ nicht zum Zuge kam, setzte sich die funktionalistische Schule der Technokraten um den Franzosen Jean Monnet - Integration Stück um Stück bis zum „spillover-Effekt“ - durch. Unterschiedliche Konzeptionen der westdeutschen Parteien Die politischen Parteien in Westdeutschland optierten unterschiedlich. Die CDU versprach sich von der Favorisierung der westeuropäischen Integration (bei Betonung der atlantischen Bindung) eine beschleunigte Wiedergewinnung der vollen Souveränität des Landes sowie Handlungsfreiheit gegenüber den USA und der Sowjetunion und glaubte, diese für die Wiedervereinigung aktiv einsetzen zu können. Adenauers (CDU-Vorsitzender und erster deutscher Bundeskanzler, 1949–1963) Europakonzept war defensiv: Westeuropa als Bollwerk gegen den Osten. Im Sinne der (westlichen) Ellipsentheorie ging man nicht von einem monolithischen Block aus, sondern die USA und ein vereinigtes Westeuropa wurden als die beiden Brennpunkte verstanden. Die SPD blieb bis zum Ende der 50er Jahre bei der Ansicht Kurt Schumachers (1895–1952), ihres Vorsitzenden, den freien Teil Deutschlands nicht in übernationale Bindungen einzufügen, solange eine nationale Wiedervereinigung oder annäherung nicht in Sicht waren. So stimmte die SPD gegen den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Europarat und gegen den Schuman-Plan, sie lehnte einen deutschen Verteidigungsbeitrag und den Plan einer Europäischen Politischen Gemeinschaft zunächst ab. 7 Andererseits forderte die SPD als erste deutsche Partei nach dem Zweiten Weltkrieg in ihren „Politischen Leitsätzen“ (erster Nachkriegsparteitag im Mai 1946) die „Vereinigten Staaten von Europa“. Die CSU zog mit konkreten programmatischen Aussagen in ihrem „Grundsatzprogramm“ vom Dezember 1946 nach. Sie trat ein für eine „europäische Konföderation“, um gemeinsam die „christlich-abendländische Kultur“ zu wahren und weiterzuführen, sowie für eine „europäische Wirtschafts- und Währungsunion“. Europa wurde als „übernationale Lebensgemeinschaft (...) im Rahmen der europäischen Völkerfamilie“ gewertet. Als partielle Völkerrechtssubjekte konnten sich vor allem der Europarat und die Europäische (Wirtschafts-)Gemeinschaft (E[W]G) etablieren. Die Gründung der West-Union und des Europarats Politisch bedeutsam wurde Winston Churchills Rede in der Züricher Universität am 19. September 1946. Darin knüpfte er an die paneuropäischen Pläne Coudenhoves und Briands (s. Abschn. 2.1) an. Den beiden Motiven der europäischen Föderalisten – nie wieder Krieg und eine bessere Welt für die Menschen in Europa – fügte er hinzu: Schutz gegen die sowjetische Gefahr. Er plädierte für die Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“: „Der erste Schritt hierzu ist die Bildung eines Europarats.“ Großbritannien wollte er wegen seiner Commonwealth-Verpflichtungen allerdings hiervon ausklammern. Die europäischen Föderalisten führten die von den Widerstandsgruppen initiierten Einigungsbestrebungen nach dem Kriege fort. Die Schweizer Europa-Union, 1934 in Basel gegründet, veranstaltete vom 14. bis 21. September 1946 einen Kongress in Hertenstein am Vierwaldstätter See und entwickelte ein Rahmenprogramm für eine europäische politische Union, das Hertensteiner Programm. Churchills Rede wurde mit Beifall aufgenommen. Im Jahre 1948 hatte die britische Regierung die Initiative zur Gründung der West-Union ergriffen, die aus Großbritannien, Frankreich und den Benelux-Ländern bestehen sollte; dabei knüpfte London an das bestehende Militärbündnis zwischen Großbritannien und Frankreich an (sog. Dünkirchener Vertrag von 1947 gegen eine erneute deutsche Aggression). Am 17. März 1948 wurde der Vertrag von Brüssel unterzeichnet (Brüsseler Pakt). Nach Errichtung der NATO wurde der militärische Teil des Paktes auf diese übertragen, die West-Union im Oktober 1954 durch den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland und Italiens zur Westeuropäischen Union (WEU) umgestaltet. (Später traten weitere Länder bei.) In ihrem Rahmen wurde ein „Komitee zur Förderung der europäischen Einheit“ geschaffen. 8 Der erste große Versuch einer gemeinsamen europäischen Willensbildung „von unten“ war der Haager Kongress der Europa-Union im Mai 1948. Dort erging die Forderung nach einem Europarat, die von den Regierungen in Großbritannien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg aufgegriffen und auf Veranlassung des Rates der Außenminister, des obersten Organs der West-Union, bereits ein Jahr darauf – am 5. Mai 1949 – verwirklicht wurde. Weitere Erstunterzeichner der Satzung des Europarats waren Dänemark, Irland, Italien, Norwegen und Schweden; später kamen viele Staaten hinzu (Europarat; Stand 2011: 47 Vertragsstaaten). Der Europarat in Straßburg ist ein relativ lockerer Staatenverband (über 580 Mio. Menschen) ohne eigene Machtbefugnisse, mit aber immer wieder erheblichem internationalen politischen Gewicht. Mit der EU finden regelmäßige Kontakte statt (vgl. Briefwechsel zwischen dem Präsidenten der EG-Kommission und dem Generalsekretär des Europarats vom 16. 6. 1987 sowie die „Resolution über institutionelle Aspekte“ des Europarats vom 5. 5. 1989). Seit dem Ende der 1980er Jahre entstand der Wunsch fast aller ost(mittel)europäischen Länder nach besseren Kontakten und engerer Zusammenarbeit, vor allem auf den Gebieten der Menschenrechte, des Umweltschutzes, der Kultur und des Gesundheitswesens. Als Bedingung für eine solche Kooperation werden von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats erfolgreiche Reformen beim Schutz der Menschenrechte und der Demokratisierung des politischen Systems vorausgesetzt. Im Mai 1989 wurde ein „besonderer Gaststatus“ für europäische Nichtmitglieder beschlossen, wonach es einer pluralistisch zusammengesetzten Delegation von Parlamentariern ermöglicht werden sollte, an den Beratungen der Parlamentarischen Versammlung teilzunehmen. Davon haben einige ost(mittel)europäische Staaten Gebrauch gemacht und sind danach Vollmitglieder geworden. Die Rolle Frankreichs Frankreich hat im europäischen Integrationsprozess von Anfang an eine besondere Rolle gespielt. Die Auswirkungen der Konferenz von Jalta (1945) spalteten Europa in West und Ost und ließen Westeuropa enger zusammenrücken. Die geschwächte Lage Frankreichs in einem geteilten Europa ließ die Einsicht wachsen, Deutschland könne nicht isoliert werden, Schutz vor Deutschland gebe es nur durch Einbindung seines westlichen Teils in eine europäische Konstruktion (Schuman-Plan). 9 Als französischer Ministerpräsident setzte sich de Gaulle bereits 1945 für die europäische Einigung ein; als Staatspräsident (1958–1969) vertrat er – in Ablehnung eines supranationalen Europa – das „Europa der Vaterländer“, wobei er Frankreich – nach dem Verlust seiner Kolonien in den fünfziger Jahren und mit der Aufgabe Algeriens 1962 – eine neue Rolle in Europa zuschrieb. Das deutsch-französische Verhältnis wurde von de Gaulle und Bundeskanzler Adenauer durch den Abschluss des Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrages (sog. Elysée-Vertrag von 1963) gefestigt. Darin sind u. a. gemeinsame Regierungsberatungen „vor jeder Entscheidung in allen wichtigen Fragen“ der Außenpolitik von gemeinsamem Interesse verabredet. Hinzu kommt der Jugendaustausch. Die französische Politik bemühte sich lange um die Führungsrolle in Westeuropa. De Gaulle wandte sich gegen die „Technokraten“ in Brüssel und Luxemburg, die unter Kommissionspräsident Walter Hallstein ein Europäisches Parlament mit übernationalen Gesetzgebungsrechten und eigenen Finanzmitteln erstrebten. Zum Schutz der nationalen Souveränität bei Abstimmungen (damals insb. im Agrarsektor) praktizierte Frankreich von Mitte 1965 bis Anfang 1966 die „Politik des leeren Stuhls“ in der EWG (erste große Krise der Europäischen Gemeinschaft; 1973/74 Erdölkrise; 1980 britische Beitragskrise), die durch die Luxemburger Vereinbarung von 29. Januar 1966 (Einstimmigkeit bei „wesentlichen Fragen“ im EU-Ministerrat) mit Hilfe eines „gentlemen agreement“ politisch gelöst wurde. Während der Regierungszeit de Gaulles entwarf eine Kommission unter Vorsitz des französischen Diplomaten Fouchet zwei Pläne (sogenannte Fouchet-Pläne 1961/62), wonach die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten eine „unauflösliche“ Staatenunion bilden sollten, die in „Fragen von gemeinsamem Interesse“ eine einheitliche Außenpolitik betrieben, eine Koordinierung und Verstärkung der Verteidigung sowie eine enge Zusammenarbeit in Wirtschaft und Kultur. Ziel war eine Konföderation im Sinne de Gaulles mit organisierten Beratungen auf Regierungsebene. Unter de Gaulles Nachfolgern Pompidou, Giscard d’Estaing und Mitterand wich dann die starre und nationalistische Haltung Frankreichs zugunsten von mehr Integration und dem Ruf nach Selbstständigkeit gegenüber den USA. Die enge deutsch-französische Zusammenarbeit hat sich bewährt und wird seither kontinuierlich fortgesetzt; integrationspolitisch tendiert sie allerdings zu einem „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ (abgestufte Integration, Kerneuropa). Heute überwiegen in der französischen Europapolitik die EU-Europäer, die sogenannten Föderalen. Sie nehmen 10 Abschied von der traditionellen Etat-Nation und vertreten ein Ja zur europäischen Souveränität jedenfalls auf den Gebieten Wirtschaft, Außenpolitik und Verteidigung. Der Beitrag der USA zur westeuropäischen Einigung Die USA standen der europäischen Bewegung von Anfang an mit Sympathie gegenüber. Dabei spielte nach 1945 die Furcht vor einem wirtschaftlichen Ruin Westeuropas mit seinen politischen Folgen (Machtvakuum) eine wichtige Rolle; ferner galt das Interesse der Festigung des eigenen strategischen Vorfeldes und den künftigen Handelsbeziehungen. Unterschiedliche politische Interessen der westlichen Alliierten und der Sowjetunion machten eine stärkere (west-)europäische Einigung wünschenswert (vgl. z. B. die Stuttgarter Rede von US-Außenminister Byrnes am 6. 9. 1946 und den Widerspruch des sowjetischen Außenministers Molotow vom 16. 9. 1946). Am 5. Juni 1947 hielt der damalige USAußenminister George Marshall eine Rede in der Harvard-Universität und verkündete die Hilfe der USA für den Wiederaufbau Europas unter der politischen Bedingung, dass sich die europäischen Nationen enger zusammenschließen und ein gemeinsames Wiederaufbauprogramm mit einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik entwickeln würden. Zur wirksamen Verwendung des European Recovery Program (ERP oder Marshall-Plan) wurde auf Anregung Großbritanniens, Frankreichs und der USA durch Vertrag vom April 1948 die Organisation für die europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC, in Deutschland Europäischer Wirtschaftsrat genannt, seit 1961 von der Nachfolgeorganisation OECD fortgeführt) als erste gemeinsame europäische Organisation nach dem Kriege gegründet (Die 34 Mitglieder 2011: Australien, Belgien, Chile, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Israel, Italien, Japan, Kanada, Korea, Luxemburg, Mexiko, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Schweden, Schweiz, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Türkei, Ungarn, USA). Die anfängliche amerikanische Vorherrschaft in Europa ist seit Beginn der 60er Jahre einem partnerschaftlichen Verhältnis gewichen, das insbes. in der Rede von Präsident Kennedy (Frankfurter Paulskirche am 25. 6. 1963) in Gestalt seines „Großen Planes“ (Erweiterung der Handelspartnerschaft zu einer politischen atlantischen Partnerschaft) zum Ausdruck gekommen ist. Die USA erwarten allerdings von dem starken europäischen wirtschaftlichen Regionalismus und dem Entstehen neuer präferentieller Märkte u. a. Rücksichtnahme auf ihre Wirtschaftsinteressen (EU und USA sind für einander die wichtigsten Handelspartner). 11 Die „Transatlantische Erklärung“ zwischen der EG und den USA vom November 1990 regelte die gegenseitigen Beziehungen neu und nennt „Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Beachtung der Menschenrechte und der individuellen Freiheiten“ als gemeinsame Grundlage der atlantischen Partnerschaft. Die Partner einigten sich erstmalig auf halbjährliche Konsultationen zwischen dem EU-Rats- und dem Kommissionspräsidenten sowie dem USPräsidenten. Hin und wieder entstehen Spannungen im wirtschaftlichen Bereich („Handelskriege“). Für eine jüngere Generation von amerikanischen Politikern haben sich die Interessen teilweise von Europa weg nach Asien verlagert. Die Neue Transatlantische Agenda (NTA) vom Dezember 1995 sieht halbjährliche Gipfeltreffen EU/USA zur Ausräumung von Konflikten und Anbahnung von Kontakten vor. Durch den Lissabon-Vertrag (vgl. Art. 42 ff. EUV) dürfte jetzt zunehmend auch die engere militärische Kooperation zwischen EU und USA wichtig werden. Die Entstehung der Europäischen Gemeinschaften Das Verlangen der USA nach einer Beteiligung Westdeutschlands an der gemeinsamen militärischen Verteidigung Westeuropas schon wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzte den Abbau des Besatzungsregimes in Westdeutschland voraus, vor allem die Beseitigung der durch das Ruhrstatut über die deutsche Montanindustrie verfügten, wesentlich im Misstrauen Frankreichs begründeten Ruhrkontrolle. Nachdem der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, im März 1950 überraschend eine vollständige Union zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland vorgeschlagen hatte, unterbreitete am 9. Mai 1950 der französische Außenminister Robert Schuman, gestützt auf ein Memorandum seines Mitarbeiters Jean Monnet (demzufolge die Rohstoffe aus Rheinland und Westfalen als Kriegspotential Deutschlands der deutschen Verfügungsgewalt entzogen werden sollten), seinen Plan einer Zusammenlegung der französischen und deutschen Produktion von Kohle und Stahl unter einer gemeinsamen supranationalen Autorität (Schuman-Plan). Der von Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden im April 1951 abgeschlossene sektorale Pariser Vertrag (in Kraft getreten am 23. Juli 1952) über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, Montanunion; 12 sektoraler Vertrag) sah einen von Zöllen und Handelsbeschränkungen freien Gemeinsamen Markt für die wichtigsten Grundstoffe vor (Großraumwirtschaft). Die Hohe Behörde der Montanunion wurde zur ersten europäischen Regierungsbehörde mit supranationalen, bindenden Befugnissen. Die Außenministerkonferenz der sechs Schuman-Plan-Länder beschloss Ende Mai 1955 in Messina, das Verfahren der Montanunion auf die gesamte Wirtschaft der sechs Staaten anzuwenden und für die Entwicklung der Kernenergie eine gemeinsame Organisation zu schaffen. Nach langwierigen Verhandlungen wurden am 25. März 1957 die sogenannten Römischen Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG; Rahmenvertrag) mit einem „Protokoll über den innerdeutschen Handel und damit zusammenhängende Fragen“ (die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten war demnach keine Zollgrenze) und über die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM; sektoraler Vertrag) unterzeichnet und am 1. Januar 1958 in Kraft gesetzt. Diese Verträge dürfen als die wichtigste Etappe zur politischen Einheit Europas angesehen werden. EWG-Krisen haben allerdings gezeigt, dass die Einigungspolitik nicht kontinuierlich verläuft, dass vor allem wirtschaftliche Verflechtungen nicht automatisch zu politischen Fortschritten werden. Die integrativen Bemühungen wurden zunächst unterbrochen infolge der Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) durch die französische Nationalversammlung im Jahr 1954. Quelle: Wolfgang W. Mickel / Jan Bergmann, Zur Geschichte der europäischen Einigung. In: Bergmann (Hrsg.), Handlexikon der Europäischen Union. Baden-Baden 2012