zum Thema Ausgabe Nr. 2 • 2010 Schwerpunkt „Ethik” Moralinstanz Gewissen Seite 4 Werte – Ethische Grundpfeiler Seite 6 Militärethik Seite 10 Wie Normen entstehen Seite 14 Ethik-Entwürfe Seite 20 Was ist Ethik? Moral und Ethik 2 02/2 0 1 0 • Was ist Ethik? zum Thema zum Thema Moral und Ethik Moral Eine erste Annäherung In vielen Bereichen unserer Gesellschaft spielen ethische Fragen eine immer größere Rolle. Das fängt nicht erst an bei der Umweltethik, die angesichts der gravierenden globalen Klimaveränderungen mit all ihren Folgen für die Menschheit vor große Herausforderungen gestellt ist. Das betrifft auch den komplexen Bereich der Bioethik, in der z. B. Fragen des menschlichen Lebens an dessen Anfang und an dessen Ende höchst strittig diskutiert werden, und endet nicht zuletzt bei Fragen zur Sozialethik, wie es denn in Staat und Gesellschaft um die Gerechtigkeit bestellt ist angesichts der immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich. Bei ethischen Fragen handelt es sich im Kern um Wertfragen. Um diese geht es auch, wenn Einzelne in ihrem persönlichen Leben zu Entscheidungen finden oder konkrete Verhaltensweisen bzw. vergangene Taten rechtfertigen wollen. Auch wenn Streitkräfte in einen Auslandseinsatz geschickt werden, sind elementare ethische Fragen berührt: Womit ist der Einsatz gerechtfertigt? Worin besteht das Recht zum Krieg? Und was darf ich im Einsatz und was nicht? Welches Recht gilt im Einsatz? Das sind Fragen, die in die Verantwortung nicht nur der Politik, sondern auch in Ihre Verantwortung als Soldatinnen und Soldaten gehören. So stehen Sie als Staatsbürger wie auch als „Staatsbürger in Uniform” immer wieder vor der Grundfrage der Ethik: Was soll/darf ich tun? Was ist zu tun richtig und was gut? Antworten fallen leichter, wenn wir über ethisches Wissen verfügen. Aber was ist Ethik? Das Heft, das Sie gerade in Händen halten, möchte Sie mitnehmen in „ein weites Feld“ und Einstiege bzw. Impulse zum eigenen Nachdenken bieten. Ihr Manfred Suermann W as Moral und was Ethik ist und was beide Begriffe voneinander unterscheidet, lässt sich vielleicht am besten an einem Beispiel verdeutlichen: Ein Tourist bemerkt bereits aus größerer Entfernung in einer Fußgängerzone einen Mann in abgetragener Kleidung, ungepflegt und mit einem umgedrehten Hut vor sich an einer Hauswand kauernd. Beim Näherkommen – geplagt von dem Impuls, auf die andere Straßenseite zu wechseln – liest er auf einem Plakat neben dem Mann: „Ich bin obdachlos und ohne Arbeit.“ Seine alltagspraktische moralische Ausrüstung sagt dem Touristen unmissverständlich: Menschen in Not muss man helfen! Doch sogleich fallen ihm Einwände ein, die die scheinbar so eindeutige moralische Handlungsentscheidung behindern: „Der trägt meinen Euro ja doch gleich in die nächste Kneipe!” Und weiter denkt er: „Heutzutage muss niemand mehr betteln, entweder er kann arbeiten oder er bekommt Sozialhilfe!” Damit hat unser Tourist seinen ersten moralischen Impuls kritisch hinterfragt; er hat eine Metaebene eingenommen. Doch jede Handlungsalternative lässt sein Gewissen unbefriedigt. Also versucht er, grundsätzlichere Überlegungen anzustellen – und damit bewegt er sich in den Bereich der Ethik. Soll er sich nach der goldenen Regel richten, die da lautet: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch kei- Analyse und Rechtfertigung moralischen Handelns. Wissenschaft, in der über das moralische Verhalten von Menschen nachgedacht wird. Normative Ethik nem andern zu”, und dem Mann, ungeachtet aller subjektiven Erfahrungen oder einschlägigen Geschichten vom Hörensagen anderer, den Euro geben? Oder soll er den kategorischen Imperativ des Philosophen Immanuel Kant bemühen und allein die Vernunft sprechen lassen, d. h. nach Argumenten suchen, die dann für jedes vernünftige Wesen, d. h. immer und überall gültig sind? Und während unser Tourist denkt und abwägt, ist er natürlich an dem Bettler lange vorbei; damit aber hat er keine bewusste Entscheidung getroffen. In der Regel ereignen sich moralische Entscheidungen spontan. Das bedeutet aber: Ethische Argumentationsketten und Prinzipien müssen bekannt und eingeübt sein, damit sie in einer Entscheidungssituation ohne lange Überlegung ihre Wirkung entfalten können. Wie deutlich geworden ist, sind Moral und Ethik sehr eng miteinander verknüpft. Im Grunde weiß jeder Mensch, was Moral ist. Manchmal sagt man ja auch, der hat seine eigene Moral. Der Mensch verhält sich nicht ethisch, sondern moralisch. Das heißt, die Moral gibt ihm vor, was gut und was böse ist, richtig oder falsch. Moral beinhaltet also eine Reihe von gelebten und praktizierten Geboten (z. B.: Du sollst dich an die Gesetze halten!) und Verboten (z. B.: Man soll seinen Müll nicht im Wald abladen!). Jeder Mensch versucht, gut zu han- Deskriptive Ethik Suche nach richtigem Handeln; prüft und bewertet die geltende Sitte und Moral und versucht Handlungsanweisungen zu geben Gesinnungsethik Und Ethik? Sie ist eine Wissenschaft, d. h., in ihr wird über das moralische Verhalten von Men- Beobachtet und beschreibt Verhalten, Sitten, Werte und Moral in verschiedenen Gruppen oder Kulturkreisen. Verantwortungsethik Bemisst die Handlungsweise nach dem zugrunde liegenden Motiv deln; er will das Gute tun, auch wenn er sich mitunter darüber täuscht, was das Gute wirklich ist. Zumeist handelt der Mensch, wenn er gut handelt, instinktiv, da er gewisse Normen und Werte verinnerlicht hat. Bei Moral handelt es sich somit um alles „Gültige” im Leben, was dem Menschen eine Stütze bei der Suche nach richtigen Entscheidungen liefert. Moral meint also einen allgemein anerkannten und durch Überlieferung gesicherten Bestand von Verhaltensregeln und Wertmaßstäben, die in alltäglichen Konfliktsituationen ein selbstbestimmtes und verantwortungsbewusstes Urteilen und Handeln ermöglichen. 3 Ethik Durch Überlieferung gesicherter Bestand von Verhaltensregeln und Wertmaßstäben. Gelebte und praktizierte Gebote. Was ist gut? Was ist böse? Richtig oder falsch? Liebe Leserin, lieber Leser, liebe Soldatinnen und Soldaten! Was ist Ethik? • 02/2010 schen nachgedacht und werden die zugrunde liegenden Prinzipien, Grundsätze etc. reflektiert. Im Deutschen ist der Begriff „Ethik” seit dem 17. Jahrhundert im Sinne von „Sittenlehre” oder „Moralphilosophie” in Gebrauch und der praktischen Philosophie zugeordnet; sie befasst sich mit der Analyse und Rechtfertigung moralischen Handelns, das einem allgemein verbindlichen Sollensanspruch genügt. Die deskriptive Ethik beobachtet und beschreibt Verhalten, Sitten, Werte und Moral in verschiedenen menschlichen Gruppen oder ganzen Kulturkreisen; diese Aufgabe erfüllt sie gemeinsam mit der Ethnologie, Psychologie und Soziologie. Die normative Ethik prüft und bewertet die geltende Sitte und Moral und versucht, Handlungsanweisungen zu geben; sie ant- Bemisst den Wert einer Handlung nach dem Wert ihrer Folgen wortet also auf die Frage „Was soll/darf ich tun?”. Wie diese Unterscheidung deutlich macht, ist der Begriff der Moral für die Ethik von großer Bedeutung. Bei der Suche nach dem richtigen Handeln, die Aufgabe der normativen Ethik ist, hat sich eine weitere Untergliederung eingebürgert, die auch allgemein bekannter ist: Die unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach dem moralisch richtigen Verhalten (siehe den Artikel über Ethik-Entwürfe in diesem Heft) werden entweder als Gesinnungsethik oder als Verantwortungsethik charakterisiert. Die Gesinnungsethik – auch Pflichtenethik genannt – bemisst eine Handlungsweise daran, ob sie und das ihr zugrunde liegende Motiv als solche gut sind. Beispiele: Ich sage als Arzt dem Patienten die Wahrheit über seine schwere Er- krankung. Oder: Ein Land mit z. B. großen Getreideüberschüssen liefert diese regelmäßig an ein armes Land, in dem Hunger herrscht. Die Verantwortungsethik bemisst dagegen den Wert einer Handlung nach dem Wert ihrer Folgen. Auf die beiden eben genannten Beispiele bezogen fragt sie also: Welche Folgen hat die Kenntnis der Wahrheit für den Patienten? Bin ich auch dann zur Wahrheit verpflichtet, wenn ich Anhaltspunkte habe, dass der Patient die Wahrheit nicht verkraftet? Oder: Helfe ich dem armen Land so, dass es den Hunger der Bevölkerung langfristig selber bewältigen kann? Oder ist es nur ein guter Absatzmarkt für meine Überschussproduktion, wodurch es weiter in Abhängigkeit gehalten wird? MS 4 02/2 0 1 0 • Was ist Ethik? zum Thema zum Thema D Das Gewissen als moralische Urteilskraft u hast hoffentlich ein schlechtes Gewissen”, „Das kann ich mit meinem Gewissen gut vereinbaren” oder „Ich habe Gewissensbisse” – Aussagen wie diese sind wohl jedem Menschen gut bekannt. Immer beziehen sie sich auf Lebenssituationen, in denen Menschen gehandelt haben oder handeln wollen und dabei aber – ganz allgemein gesprochen – den Anforderungen bzw. Ansprüchen der jeweiligen Situation und den daran beteiligten Menschen nicht gerecht geworden sind. Im Folgenden soll dargelegt werden, was es mit dem Gewissen auf sich hat. Dabei wird sich zeigen, dass Moral bzw. Ethik und Gewissen eng zusammengehören. Einen ersten Einstieg in die Gewissensproblematik soll ein Fallbeispiel ermöglichen: Eine junge Frau erfährt, nachdem ihr Freund allein in Urlaub gefahren war, erst einige Zeit später, dass dieser HIV-positiv ist, und vermutet ein sexuelles Urlaubserlebnis. Als auch der zweite Test den Befund bestätigt, ist der Freund so deprimiert, dass er sich mit Selbstmordgedanken trägt. Ihre Eltern raten ihr, sich sofort von diesem untreuen Freund zu trennen und einen längeren Urlaub anzutreten, um dadurch Abstand zu gewinnen. Während ihres Urlaubes aber wird die Frau zunehmend von Gewissensbissen heimgesucht. Was zeigt nun dieses Fallbeispiel für unsere Gewissensthematik? Offenkundige Fakten, nämlich die Untreue des Freundes, die daraus erwachsene HIV-Infektion und die Möglichkeit, der unangenehmen Situation durch einen Urlaub zu entfliehen, haben zu einer Handlung der Frau geführt, bei der sich nun aber das Gewissen regt. Ihr Gefühl und wohl auch ihr moralisches Wissen vermitteln ihr, dass man einen nahestehenden Menschen in Not nicht im Stich lassen soll. Nach dieser ersten, eher emotionsbestimmten Regung wird sie vielleicht weiter überlegen: War es richtig, sofort die Freundschaft aufzukündigen und in einen längeren Urlaub zu flüchten als Antwort auf die Untreue des Freundes und in Anbetracht sowohl einer lange bestehenden Freundschaft als auch der Selbstmordgedanken des Freundes? Und vielleicht fragt sie sich auch: Würde ich als Betroffene wollen, dass mit mir ebenfalls so umgegangen wird? Damit aber überprüft sie – bewusst oder intuitiv – ihren konkreten Einzelfall anhand eines ethischen Prinzips, nämlich der goldenen Regel, die da lautet: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu! In ihrem Gewissen wendet sie also mithilfe der Vernunft eine moralische Norm an, mit der sie ihre Handlung, die sie als offensichtlich moralisch problematisch erlebt, überprüft. Das Gewissen erscheint damit als „Vermögen”, „Anlage”, „Gesetz in uns”, als ein „Instinkt, sich selbst moralisch zu richten” oder als „Instanz der Vernunft, die uns unsere Pflichten vorhält”. Nach diesem Verständnis, das auf den Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) zurückgeht, begegnet im Gewissen dem Menschen eine Sollensforderung. Diese kann kol- lidieren mit einem Auftrag oder einer Dienstpflicht, die ja auch so etwas wie eine Sollensanforderung darstellt. So erging es z. B. einem Soldaten der Bundeswehr, der an der Entwicklung eines IT-Projektes mitarbeiten sollte, von dem er nicht ausschließen konnte, dass es im Irak-Krieg der USA, gegen den „gravierende rechtliche Bedenken im Hinblick auf das Gewaltverbot der UN-Charta und das sonstige geltende Völkerrecht” (aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. 6. 2005) bestanden und den er selbst für völkerrechts- Verpflichtung jedes Bundeswehrsoldaten, erteilte Befehle ‚gewissenhaft‘ (nach besten Kräften vollständig und unverzüglich) auszuführen, fordert keinen bedingungslosen, sondern einen mitdenkenden und insbesondere die Folgen der Befehlsausführung – gerade im Hinblick auf die Schranken des geltenden Rechts und die ethischen ‚Grenzmarken‘ des eigenen Gewissens – bedenkenden Gehorsam.” Der Stimme des eigenen Gewissens ist eher Gehorsam zu leisten als irgendeiner weltlichen Macht, denn: „Eine Gewissensent- Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu! Die goldene Regel widrig hielt, eingesetzt werden könnte. Sein Gewissen untersagte es ihm, in irgendeiner Form in diesen völkerrechtswidrigen Krieg involviert zu sein. In dem abschließenden Prozess vor dem Bundesverwaltungsgericht im Jahre 2005 ging es im Kern dann um nichts anderes als um das Menschenrecht „Gewissensfreiheit”. Die in jeder Armee geltende grundsätzliche Struktur von „Befehl und Gehorsam” findet dort ihre Grenze. So schreibt das Bundesverwaltungsgericht: „Die durch § 11 Abs. 1 S. 1 und 2 SG begründete zentrale scheidung ist jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt innerlich verpflichtend erfährt, sodass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte.” „Hat ein Soldat eine von dem Grundrecht der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) geschützte Gewissensentscheidung getroffen, hat er Anspruch darauf, von der öffentlichen Gewalt nicht daran gehindert zu werden, sich gemäß den ihn bin- Was ist Ethik? • 02/2010 5 denden und unbedingt verpflichtenden Geboten seines Gewissens zu verhalten.” Damit wurde erstmalig dem Grundrecht der Gewissensfreiheit Vorrang gegenüber dem Befehl eingeräumt. Zugleich wurde die bisher gängige Praxis verboten, dass Soldaten, die aus Gewissensgründen an bestimmten Militäraktionen nicht teilnehmen wollten, aus dem Dienst ausscheiden mussten. „Was soll ich tun?” Diese ethische Grundfrage stellt das Gewissen, wenn es darum geht, für mein jetziges oder zukünftiges Tun eine Entscheidung zu treffen. „Was hab ich getan?” So fragt das Gewissen, wenn es darum geht, vergangenes bzw. geschehenes Handeln, das nun nicht mehr zu ändern ist, zu beurteilen. Das Recht auf Gewissensfreiheit, d. h. das Recht, gemäß seines Gewissens so und nicht anders handeln zu müssen, und die Anerkennung der unbedingten Verpflichtung, dem eigenen Gewissen zu folgen, gilt selbst für ein irrendes Gewissen. Um das zu verstehen, muss man folgende Unterscheidung beachten: Der Respekt vor dem Gewissen gilt nicht dem Gewissensurteil selber, sondern dem Menschen, der sich dem Anspruch verpflichtet fühlt, das Gute zu tun und das Böse zu vermeiden, und der damit für seine moralische Identität Sorge trägt. Allerdings: Ein Handeln nach dem eigenen Gewissen muss dennoch verantwortet werden und kann unter Umständen auch – z. B. strafrechtliche – Konsequenzen haben. MS 6 02/2 0 1 0 • Was ist Ethik? zum Thema zum Thema Was ist Ethik? • 02/2010 7 Ethik praktisch Werte Grundpfeiler der Ethik wiederum überlässt es dem Einzelnen, welche Werte er für sich als verbindlich erachten möchte. In der postmodernen Gesellschaft geht man davon aus, dass es keine ewigen, unveränderlichen Werte gibt. Werte werden als relativ angesehen; sie seien nur insofern und so lange gültig, wie es Menschen gebe, die diese Werte anerkennen und nach ihnen leben würden. Insofern muss eine solche Gesellschaft es aushalten, dass in ihr Menschen ihr Leben nach persönlichen Werten leben wollen. Allerdings kommt keine Gesellschaft ohne elementare Grundwerte aus, die alle Individuen für sich als verpflichtend anerkennen, welcher Weltanschauung oder Religion sie auch anhängen mögen. Nur auf dieser Basis gemeinsamer Grundwerte kann dann jeder Einzelne „nach seiner Fasson selig werden”. Gesundheit Treue sind so tiefgreifend wie kaum jemals zuvor in einer früheren Epoche. Gerade in Zeiten des schnellen Wandels ist es umso wichtiger, eine Grundorientierung über das, was uns wirklich etwas wert ist, einen ethischen Kompass für unser Leben zu haben. Das Thema „Werte” beschäftigt deshalb zunehmend nicht nur Politiker, Wissenschaftler und Pädagogen, auch namhafte Wochenmagazine und Tageszeitungen greifen das Thema immer wieder auf. Die postmoderne Gesellschaft ist wesentlich durch drei Erscheinungen geprägt, die in besonderer Weise die Wertefrage betreffen: Säkularismus, Pluralismus und Individualismus. Während der Säkularismus die Wertefrage vom christlichen Glauben losgelöst hat und Werte areligiös versteht, verzichtet der Pluralismus prinzipiell auf die Wahrheitsfrage und lässt einander ausschließende Aussagen gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Der Individualismus MS Bildung Macht Hilfsbereitschaft oder Ideen, Beziehungen u. a. von Menschen beigelegt werden. Dabei können einzelne Individuen andere Werte bevorzugen, als sie in einer sozialen Gruppe, einem Verein, einer Partei oder allgemein in einer Gesellschaft gelten. Dann kann es mitunter zu Wertekollisionen kommen. Wer sich z. B. als Soldatin oder Soldat nicht an den in Streitkräften üblichen Werten orientiert, wird schnell zum Außenseiter. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall: Eine soziale Gruppe, z. B. bestimmte Manager in der Finanzwelt oder eine Partei, setzt bestimmte Werte an oberste Stelle und gerät damit in Widerspruch zu den in einer Gesellschaft geltenden Grundwerten. Im einen Fall führte das bekanntermaßen zur weltweiten Finanzkrise, im anderen Fall kann das zur Überprüfung der Verfassungskonformität dieser Partei führen. Werte sind also Lebensinhalte, Handlungsziele, Sinndeutungen, die Individuen, eine Gruppe, eine Schicht oder die ganze Gesellschaft für erstrebenswert halten. Doch Werte sind nicht unwandelbar. Das zeigt sich in einer Welt, die sich in einem immer schnelleren Tempo ändert. Die Veränderungen Geld M it Werten kann vieles gemeint sein. Da gibt es materielle Werte, z. B. Geld, Macht oder Eigentum, und immaterielle (ideelle) Werte wie etwa Gesundheit. Zu den immateriellen Werten zählen auch moralische Werte wie etwa Ehrlichkeit und Treue, geistige Werte wie etwa Weisheit oder Bildung, religiöse Werte wie z. B. Hilfsbereitschaft oder soziale Werte; hier wäre an Gerechtigkeit zu denken. Werte sind also Vorstellungen über Eigenschaften, die Dingen Themen und Fragestellungen D er Fortschritt unserer technisch-wissenschaftlichen Zivilisation sowie die viele Bereiche umfassende Globalisierung haben die Menschheit vor zahlreiche schwerwiegende Herausforderungen gestellt. Dementsprechend spielen ethische Fragen seit einiger Zeit in vielen gesellschaftlichen Bereichen eine wachsende Rolle. So haben sich Bereichsethiken gebildet. Zu nennen wären etwa Umweltethik, Wirtschaftsethik, Medienethik, Bioethik, Sexualethik, Berufsethik, Wissenschaftsethik und viele andere mehr. Diese Ethikbereiche beschäftigen sich mit der Anwendung von moralischen Prinzipien der allgemeinen – oder genauer: der normativen – Ethik auf konkrete moralische Konfliktfälle und Entscheidungen. Deshalb spricht man auch von angewandter bzw. praktischer Ethik. Statt auf jede Bereichsethik gesondert einzugehen, fragen wir, ob es Grundthemen gibt, die manche Bereichsethiken gemeinsam haben. Im Folgenden sollen anhand vier solcher Grundthemen die Fragestellungen und Probleme der angewandten Ethik exemplarisch skizziert werden. Die vier Grundthemen lauten: Natur – Leben – Verantwortung – Gerechtigkeit. Die ökologische Ethik oder Umweltethik versucht, die richtige Handlungsweise des Menschen gegenüber der Natur insgesamt zu bestimmen. Die vielfältige globale Bedrohung und die damit verbundene ökologische Krise rückte die Gesamtnatur ins Zentrum ethischer Betrachtung. Klar ist, dass der Mensch ein seine Umwelt in starkem Ausmaß veränderndes Lebewesen war und ist. Eine der zentralen Fragen ist jedoch, wie weit die kultivierende Tätigkeit des Menschen in die Natur eingreifen soll bzw. wie weit sie das darf. Im heutigen Zeitalter der Globalisierung muss der Mensch zu einer ganzheitlichen Sicht der Natur kommen, um nicht nur das Wohlergehen und Überleben der eigenen Spezies zu sichern, sondern auch das Wohlergehen und Überleben der ganzen Natur. Die Menschheit muss für die heute lebenden und zukünftigen Generationen, aber auch für alle Wesen der Natur Verantwortung übernehmen. Dass es zur Umweltkrise heutigen Ausmaßes überhaupt kommen konnte, hatte historisch seinen Grund u. a. in dem jeweilig dominierenden Naturverständnis. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde die Natur als Material menschlicher Wunscherfüllung verstanden. Diese Auffassung wurde mit der unterstellten Überlegenheit und Höherwertigkeit des Geistes gegenüber der Natur begründet. In der Romantik dann verstand man die Natur als unantastbar; Natur und das Natürliche galten als das Gute schlechthin; der Mensch wurde als der Natur untergeordnet angesehen. Schließlich wurde die Natur als Kosmos, als gemeinsamer Lebensbereich einer Vielfalt von Individuen und Arten aufgefasst. Der Mensch ist hier ein gleichgeordneter Teil der Natur, auch wenn allgemein akzeptiert wird, dass allein der Mensch zu moralischem Verhalten fähig ist. Unabhängig von der Frage, ob der Natur eine eigene moralische Wertigkeit und damit ein eigener moralischer Anspruch zukommt, und auch unabhängig davon, mit welch unterschiedlichen Motiven bzw. Begründungen sich Menschen für oder gegen Umweltschutz einsetzen, lassen die Entwicklungen in globaler Hinsicht den Schluss zu, dass die Menschheit die Natur als ihr Eigentum betrachtet und sich ihrer Schätze bedient, wobei sie sich außerordentlich schwertut, die negativen Folgen ihres Handelns, die sich besonders in der Klimaveränderung und deren Auswirkungen zeigen, zu begrenzen. 8 02/2 0 1 0 • Was ist Ethik? zum Thema zum Thema Leben Mit dem Leben beschäftigt sich nicht nur die Bioethik, sondern auch die Medizin- und Tierethik. Am Beispiel der Bioethik sollen einige grundlegende Aspekte der ethischen Fragestellungen zum menschlichen Leben vorgestellt werden. schung, die künstliche Befruchtung, der Schwangerschaftsabbruch, die Präimplantations- und Pränataldiagnostik, etwa zur Bestimmung von Erbkrankheiten, sowie nicht zuletzt das Klonen eine zentrale und öffentlichkeitswirksame Rolle spielen. Unter Bioethik wird die ethische Reflexion des Umgangs von Menschen mit der belebten Umwelt, besonders des Umgangs von Menschen mit anderen Menschen verstanden. Vorherrschende bio-ethische Problembereiche sind die Gentechnologie, die sich mit Fragen des Erbgutes von Lebewesen und dessen gezielter Veränderung (Gentherapie) beschäftigt, sowie die Reproduktionsmedizin, in der die Embryonenfor- Eines der besonders umstrittenen Themen der Bioethik ist die Frage, ab wann dem menschlichen Leben die volle, uneingeschränkte Menschenwürde und somit der volle Lebensschutz zuzugestehen sei. Dies betrifft vor allem das Leben des Menschen an seinem Anfang und an seinem Ende. Im Kern gibt es darauf zwei Antworten: Für die einen beginnt das menschliche Leben ab der Verschmelzung der Samen- und der Eizellkerne, da diese befruchtete Eizelle schon das uneingeschränkte Potenzial zur Entstehung eines Menschen besitzt. Folgerichtig verbietet diese Ansicht jegliche Manipulation des Embryos, therapeutisches bzw. reproduktives Klonen und nicht zuletzt auch den Schwangerschaftsabbruch (auch wenn dieser unter bestimmten Bedingungen straffrei bleibt) und wird auch im Embryonenschutzgesetz vertreten. – Für die anderen beginnt menschliches Leben später, entweder mit der Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter, mit der Entstehung des zentralen Nervensystems, mit dem Auftauchen der ersten Empfindungen, mit der Geburt oder mit dem Zeitpunkt des Auftretens der Persönlichkeit. Die genannten Festsetzungen entspringen gesellschaftlich-pragmatischen Überlegungen und haben weitreichende Folgen: So propagiert etwa der australische Philosoph Peter Singer, dass erst der Mensch mit Selbstbewusstsein, er spricht dann von der Person, ein Recht auf Lebensschutz bzw. Menschenwürde besitze; andere betrachten den Einnistungszeitpunkt für ausschlaggebend, nicht zuletzt um die embryonale Stammzellproduktion durch therapeutisches Klonen zu rechtfertigen, oder die Entstehung des zentralen Nervensystems, um Schwangerschaftsabbrüche befürworten zu können. Auch das Problem, wie mit überzähligen befruchteten Embryonen, die bei einer künstlichen Befruchtung nicht eingepflanzt wurden, umgegangen werden soll, hängt direkt mit der Frage des Manifestwerdens von Menschenwürde zusammen. Hier wie bei so vielen anderen Problemen steht allerdings immer wieder die Frage im Raum: Darf der Mensch alles, was er (inzwischen) kann? Auch in der Medizinethik geht es um den Umgang mit dem Leben des Menschen. Das beginnt beim Arzt-Patienten-Verhältnis und endet nicht zuletzt beim Umgang mit Sterben und Tod. Gerade die Frage der Sterbehilfe ist ein hochsensibler ethischer Bereich und wird gesellschaftlich kontrovers diskutiert. Generell scheint Übereinstimmung heute in folgenden Punkten zu bestehen: dass die moderne Medizin nicht alle lebensverlängernden Maßnahmen einsetzen muss und soll, insbesondere wenn solche Maßnahmen das Leiden des Patienten unzumutbar verlängern würden. Ebenso scheint Konsens darüber zu bestehen, dass ein urteilsfähiger Patient das Recht hat, die Beendigung lebenserhaltender technischer Maßnahmen zu veranlassen. Der Begriff „Verantwortung“ spielt vor allem in der Berufsethik, Gen-Ethik, Medienethik, pädagogischen Ethik, Technikethik und Wissenschaftsethik eine Schlüsselrolle. Was meint Verantwortung? Der Begriff hat mit „Antwort” zu tun. Die umgangssprachlichen Redewendungen „Ich trage Verantwortung für ...”, „Ich muss mich verantworten” oder „Ich werde zur Verantwortung gezogen ...” weisen darauf hin, dass der Mensch vor einer Aufgabe (z. B. der Erziehungsaufgabe eines Vaters oder der Informationsaufgabe eines Journalisten) steht, die einen Anspruch an ihn stellt, auf den er antwortet, indem er ihm gerecht zu werden versucht. Das heißt, er kann gegenüber diesem Anspruch auch versagen, indem er seine Aufgabe nicht gut, sondern schlecht erfüllt. Er als Antwortgebender ist der Verantwortungsträger und ist verantwortlich für etwas bzw. für jemanden (z. B. sein Kind oder den Zeitungsleser) und muss sich verantworten vor einer moralischen Instanz; es kann sich dabei um das eigene Gewissen, ein Gericht, einen Mitmenschen oder Gott handeln. Auch wenn man oft sagt, jeder mache doch mal einen Fehler oder kein Mensch sei vollkommen, so spürt doch jeder Mensch irgendwann einmal, dass er da oder dort etwas schlecht gemacht hat und damit seiner Verantwortung nicht nachgekommen ist. Nach dem griechischen Philosophen Aristoteles (384-322 v. Chr.) ist jemand für seine Handlung verantwortlich, wenn er sie freiwillig ausgeführt hat. Das heißt, Verantwortung haben können setzt einerseits die Freiheit des Willens voraus. Andererseits bedeutet Verantwortung nach dem Soziologen Max Weber (1864-1920), dass man für die voraussehbaren Folgen seines Handelns aufzukommen hat. Damit ist eine Verantwortungsethik gemeint, die später dann besonders der Philosoph Hans Jonas (1903-1993) als Ethik für die technische Zivilisation entfaltet hat. Um die Reichweite von Verantwortung näher in den Blick zu nehmen, stellen sich weitere Fragen: Können nur einzelne Individuen oder auch Gruppen, Institutionen oder gar eine ganze Gesellschaft Verantwortung tragen? Kann man auch für die Unterlassung einer Handlung zur Verantwortung gezogen werden? Sind wir für die Spätfolgen unserer Handlungen verantwortlich? Haben wir Verantwortung für zukünftige Generationen? An wenigen Beispielen aus den oben genannten Ethikbereichen sollen nun diese Fragen konkretisiert werden. Spätestens seit der Erfindung der atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen ist die Verantwortung der Wissenschaftler Gegenstand intensiver Diskussion. Es geht dabei immer wieder auch um die Frage, ob wissenschaftliche Forschung wertfrei sein kann bzw. wer für die Verwendung oder Anwendung wissenschaftlicher For-schungsergebnisse verantwortlich ist. In der Gen-Ethik geht es um eine besonders weit reichende Verantwortung, steht hier doch die Frage im Raum, ob Eingriffe in das Erbgut des Menschen, aber auch in das anderer Lebewesen, überhaupt zulässig sind und, falls ja, unter welchen Bedingungen dies der Fall ist. Die Brisanz zeigt sich darin, dass sich angesichts der Unumkehrbarkeit eines vollzo- Was ist Ethik? • 02/2010 9 genen Eingriffes – ganz gleich ob beim Menschen, beim Tier oder in der Pflanzenwelt – die Frage aufdrängt, ob der Mensch nicht nur die kurz-, sondern auch die langfristigen Folgen abzuschätzen wirklich in der Lage ist. Bereits die kontroversen Diskussionen um gentechnisch veränderten Mais bzw. um gentechnisch veränderte Lebensmittel generell und deren langfristige Folgewirkung auf den Menschen machen die Tragweite diesbezüglicher Entscheidungen sichtbar, wobei erschwerend hinzukommt, dass beträchtliche wirtschaftliche Interessen eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Gerade angesichts dessen ist die Verant- Verantwortung wortung der Wissenschaftler, deren Berufsethos von Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Objektivität, Uneigennützigkeit und Unparteilichkeit geprägt sein sollte, besonders herausgefordert. In der Sozialethik, aber auch in der politischen Ethik oder der Wirtschaftsethik spielt der Begriff der Gerechtigkeit eine Schlüsselrolle. „Jedem das Seine” – und nicht: „Jedem das Gleiche” – ist eine seit der Antike bekannte Formel für Gerechtigkeit, obwohl dies immer wieder auch als ungerecht empfunden wird. Wem es gegeben ist zu studieren, soll studieren; andere machen z. B. eine handwerkliche oder andere Ausbildung. Jedem das Seine – nämlich das, wozu er begabt ist und Fähigkeiten mitbringt. Das gilt etwa für Eltern, die so ihren Kindern Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ist es aber auch noch gerecht, wenn jemand aus Armut nicht studieren kann, obwohl er die Fähigkeit dazu hätte? Wer teilt einem solchen Menschen „das Seine” zu, wenn es die Eltern nicht können? Damit kommt die Gesellschaft in den Blick, die sich ebenfalls der ethischen Forderung zu stellen hat, dass es in ihr gerecht zugehen soll. Hier eröffnet sich ein zentrales Aufgabenfeld der politischen Ethik. „Jedem das Seine” könnte aber auch heißen: „Jedem nach seiner Leistung” oder „Jedem nach seinen Bedürfnissen”. Das kann dann ganz unterschiedliche Konsequenzen haben: Bei den einen führt das zu dem Wahlkampfslogan „Leistung muss sich wieder lohnen” und die anderen fordern bestimmte Menschenrechte ein wie etwa das Recht auf Bildung. Prinzipiell kann man zwei Formen der Gerechtigkeit unterscheiden: Bei der austeilenden Gerechtigkeit geht es um die Verteilung von Rechten und Pflichten, Gütern und Lasten. Hier geht es um elementare Fragen des Sozialstaates, über dessen Aufgaben und Pflichten politisch immer wieder heftig diskutiert wird. Ist die unbestritten sich weiter vergrößernde Kluft zwischen Arm und Reich gerecht? Ist es gerecht, wenn Gewinne privatisiert, Verluste aber sozialisiert, d. h. der Allgemeinheit aufgebürdet werden? Wie steht es um die faire Chancengleichheit aller oder um die Lebensverbesserung der am meisten Benachteiligten? Oder ist die Idee des Sozialstaates überhaupt eine ungerechtfertigte Einschränkung von Freiheit, wie es der Neoliberalismus behauptet? – Die ausgleichende Gerechtigkeit dagegen betrifft den Tausch von Dingen, die Wiedergutmachung von Schaden und die Strafe bei Rechtsverletzungen. Auch hier stellen sich Fragen, so z. B.: Welche Kriterien für gerechte Strafen sollen herangezogen werden? Die Frage nach Gerechtigkeit hat in jüngster Zeit eine Ausweitung erfahren auf die Gerechtigkeit gegenüber zukünftigen Generationen sowie auf Fragen der internationalen und globalen Gerechtigkeit. Hier sind vor allem die politische Ethik und die Wirtschaftsethik herausgefordert. MS 10 02/2 0 1 0 • Was ist Ethik? zum Thema zum Thema F ür Soldatinnen und Soldaten, besonders wenn sie in einen Auslandseinsatz geschickt werden, ist eine Militärethik von zentraler Bedeutung. Aber nicht nur sie, auch Staat und Gesellschaft benötigen eine solche, schließlich sind sie es, die ihre Streitkräfte in einen militärischen Konflikt schicken. Für diesen Auftrag tragen im Letzten sie die Verantwortung, was nicht zuletzt durch die von der Politik definierten Rules of Engagement zum Ausdruck kommt, und sie haben den Einsatz von Streitkräften zu begründen und zu rechtfertigen. Eine Militärethik hat mehrere Bezugsfelder. An dieser Stelle soll auf drei besonders wichtige Ebenen eingegangen werden: Als Erstes wäre die philosophisch-theologische Tradition, die in der „Lehre vom gerechten Krieg” ihren Niederschlag fand, zu nennen. Zweitens spielt die völkerrechtliche Perspektive eine zentrale Rolle. Und drittens geht es um die Bedeutung des Soldaten als ein für sein Handeln verantwortlicher Mensch bzw. um die Frage: „Wie soll ein heutiger Soldat sein?” oder „Aus welcher Grundhaltung heraus soll ein heutiger Soldat handeln und sich verhalten?”. Militärethik Aus welcher Grundhaltung heraus soll ein heutiger Soldat handeln und sich verhalten? Viele Jahrhunderte beherrschte die „Lehre vom gerechten Krieg” das Nachdenken über Krieg und Frieden. Der Begriff entstand in der griechisch-römischen Antike. Schon Platon ging es um die gerechte Vermeidung und Lösung gewaltsamer Konflikte. In seiner Schrift „Politeia” formulierte er die ersten Bedingungen, die einen Krieg rechtfertigen würden. Auch das Römische Reich versuchte, seine Eroberungsfeldzüge zu legitimieren, weil es annahm, dass nur ein gerechtfertigter Krieg die Unterstützung der Götter habe. Cicero (106-43 v. Chr.), der Konsul war und zugleich Schriftsteller wie Philosoph, nannte in einer seiner Schriften zur praktischen Thomas von Aquin (1225-1274) Ethik fünf Grundbedingungen: Ein Krieg müsse auf erlittenes Unrecht reagieren, auf gescheiterte Verhandlungsversuche erfolgen, von der politischen Zentralmacht geführt und von sakralen Autoritäten formal legitimiert werden sowie den verletzten Rechtszustand wiederherstellen bzw. Schäden wiedergutmachen. Dass Cicero dieses Recht zum Krieg auf die Erhaltung des römischen Weltreiches bezog, sei nur nebenbei erwähnt; aber es zeigt, dass nicht alle Völker als gleichwertig existenzberechtigt angesehen wurden. Auf dieser von der Antike grundgelegten Basis entwickelte vor allem Thomas von Aquin (1225-1274) eine systematische „Lehre vom gerechten Krieg”. In dieser seit dem Mittelalter weiterentwickelten und bis in unsere Zeit hineinreichenden Konzeption wurde ein Kriterienkatalog erarbeitet, mit dessen Hilfe man zu spezifizieren versucht, unter welchen Umständen welche Ziele welche militärische Gewalt oder Gewaltandrohung zu rechtfertigen vermögen. Dabei führte sie die Unterscheidung in ein “„Recht zum Krieg” (ius ad bellum) und ein „Recht im Krieg” (ius in bello) ein. Ein Recht zum Krieg wird als gegeben angesehen, wenn (1) eine legitime Autorität ihn erklärt, wenn (2) ein gerechter Grund vorliegt, wenn (3) die rechte Absicht gegeben ist (und z. B. nicht heimlich ein Eroberungskrieg intendiert ist), wenn (4) Krieg die letzte Möglichkeit darstellt (ultima ratio) und wenn (5) eine berechtigte Aussicht auf Erfolg besteht. Erst bei Erfülltsein sämtlicher Bedingungen kann von einem ethisch zu rechtfertigenden Krieg gesprochen werden. Im Krieg selber sind die Verhältnismäßigkeit der Mittel sowie die Was ist Ethik? • 02/2010 11 Schonung der Zivilbevölkerung als Nichtbeteiligte, gemäß der Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten, ethisch zwingend geboten. Unter dem Eindruck der beiden Weltkriege und der Entwicklung von Massenvernichtungsmitteln war die Rede vom „gerechten Krieg” obsolet geworden und wurde vom „gerechten Frieden” abgelöst. Zu der vom Militär zu leistenden Friedenssicherung rückte die Friedensförderung in den Mittelpunkt. Durch sie sollen die Kriegsursachen bekämpft werden. Wenn die Würde aller Menschen geachtet und die daraus resultierenden Menschenrechte eingehalten werden, wenn im Zusammenspiel der Nationen das Gemeinwohl Vorrang hat und in den internationalen Beziehungen Gerechtigkeit geübt wird und wenn nicht zuletzt die Bewahrung der Schöpfung aktiv und effektiv gestaltet wird, kann kriegerischen Auseinandersetzungen der Boden entzogen und ein gerechter Friede geschaffen werden, in dem die Probleme der Weltgemeinschaft angegangen werden können. Mit dem Einsetzen durch UN-Mandat legitimierter humanitärer militärischer Interventionen erhielten die Kriterien der klassischen Lehre vom gerechten Krieg neue Aktualität, nachdem sie zuvor überwunden schienen. Allerdings wurden sie im Hinblick auf die neue Einsatzrealität erweitert. „Jede militärische Intervention”, so mahnten die Deutschen Bischöfe in ihrem Schreiben „Gerechter Friede” (2000), „muss mit einer politischen Perspektive verbunden sein, die grundsätzlich mehr beinhaltet als die Rückkehr zum Status quo ante.” Neben dieser Forderung nach einem politischen Konzept wird ein Konzept der Konfliktnachsorge angemahnt. Diese beinhaltet z. B. Hilfe beim Wiederaufbau, Wiedereingliederung von Flüchtlingen, die Beseitigung von Kriegsschäden usw. Das Völ- 12 02/2 0 1 0 • Was ist Ethik? zum Thema zum Thema Konfliktnachsorge sollte auch Wiederaufbau, Beseitigung von Kriegsschäden und die Wiedereingliederung von Flüchtlingen beinhalten kerrecht löste die philosophischtheologische Lehre vom gerechten Krieg ab und entwickelte sich zu einem umfassenden Friedensvölkerrecht. Dieses soll einen gerechten Frieden in Freiheit aller Staaten schützen und ermöglichen, doch ging dem eine lange Entwicklungsgeschichte voraus. Seit der Neuzeit, also etwa mit Beginn des 16. Jahrhunderts, setzte eine Entwicklung ein zur Bildung souveräner Nationalstaaten; diese verknüpften Krieg eng mit Politik. Der Souverän, d. h. der jeweilige Herrscher, nahm für sich das Recht in Anspruch, Kriege zu führen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann diese Rechtsauffassung zu bröckeln. Die Haager Landkriegsordnung von 1907 schrieb den damals revolutionären Satz: „Die Staaten haben kein unbegrenztes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Feindes.” Aber im- mer noch galt der Krieg als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln”. Das änderte sich mit dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928, der von insgesamt 62 Nationen unterzeichnet wurde. Diese verzichteten darauf, den Krieg zum Werkzeug ihrer Politik zu machen, und erklärten, in Zukunft Streitigkeiten friedlich zu lösen. Insbesondere der aus nationalen Interessen geführte Angriffskrieg wurde für völkerrechtswidrig erklärt. Der Nationalsozialismus machte all diesen Bemühungen vorübergehend ein Ende. Doch die Idee eines Völkerrechts, dessen Kern in dem Gewaltverbot zwischen Staaten bestand, blieb lebendig. Und die Schrecken der beiden Weltkriege führten zu der Überzeugung, dass die Frage von Krieg und Frieden die Weltgemeinschaft insgesamt angehe und allein von ihr zu beantworten sei. So wurde mit den Vereinten Nationen eine Weltautorität geschaffen, von der man sich erhoffte, sie vereine die nötige Macht auf sich, in Zukunft Kriege zu verhindern. Im Weltsicherheitsrat als dem entscheidenden Gremium der UNO wurde die einzig legitime Autorität gesehen, von der schon in der Lehre vom gerechten Krieg die Rede war und die allein über Krieg und Frieden entscheiden sollte. In ihrer Charta von 1948 wiederholten die Vereinten Nationen nicht nur die Ächtung des Krieges, sondern verpflichteten auch alle Mitglieder, nicht nur auf die Anwendung, sondern schon auf die Androhung von Gewalt zu verzichten. Darüber hinaus schufen sie Verfahrensregeln, nach denen es nur ihnen zustand, eine Gefährdung des Weltfriedens festzustellen und geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen (siehe UN-Charta, Kapitel VI und VII). Diese beinhalten z.B. Sanktionen verschiedenster Art und führen erst als letzte Möglichkeit, wenn alle anderen Wege einer friedlichen Beilegung gescheitert sind, zu einem militärischen Einsatz, wobei sich auch hier die Nähe zur klassischen Lehre vom gerechten Krieg und deren Kriterien zeigt. Ein Militäreinsatz ist demnach im Letzten dann nicht völkerrechtswidrig und damit ethisch legitimiert, wenn ein UN-Mandat vorliegt. Dem widerspricht nicht, dass ein Land, das angegriffen wird, sehr wohl zunächst das Recht auf Selbstverteidigung hat. Wenn auch die Realität oft eine andere ist, so besteht doch weitgehende Einigkeit darin, dass nur durch die Anerkennung und Unterstützung dieser einzigen legitimen Autorität der Weltfriede gewahrt bleiben kann. Allerdings ist Frieden mehr als die Abwesenheit von Krieg. Das vielfältige globale Engagement der Vereinten Nationen, für das die Armutsbekämpfung ein Beispiel darstellt, führt vor Augen, dass zum Frieden die Achtung der Menschenwürde, die Geltung elementarer Menschenrechte und anderes mehr unabdingbar dazugehören. Von besonderer ethischer Relevanz ist ein militärischer Einsatz ohne UN-Mandat. Der Kosovo-Krieg kann als Zeichen des Umdenkens hinsichtlich völkerrechtlicher Prinzipien angesehen werden. Bisher galt die völkerrechtliche Maxime, dass in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates nicht eingegriffen werden dürfe. Diese fehlende Legitimation resultiert aus der Blockade eines oder mehrerer Mitglieder im UNWeltsicherheitsrat, die ganz unterschiedliche, zumeist aber nationalstaatliche Interessen betreffende Gründe haben. Ein solcher Einsatz wird heute dann als gerechtfertigt angesehen, wenn folgende Kriterien vorliegen: Entweder muss ein völliger Verfall der staatlichen Ordnung und Gesellschaft gegeben sein oder es müssen massive Verletzungen der Menschenrechte mit der Gefahr der Ausweitung zum Völkermord bzw. massiver Vertreibungen objektiv feststellbar sein. Ein wichtiges Moment im (Kriegs-) Völkerrecht stellen die Genfer Konventionen dar. Sie betreffen – nach einem Begriff der Lehre vom gerechten Krieg - das „Recht im Krieg” (ius in bello). In ihnen geht es u. a. um den menschenwürdigen Umgang mit Gefangenen, um den Schutz der Zivilbevölkerung und um das Schicksal von Flüchtlingen. Soldatinnen und Soldaten sind auch hier als ethisch reflektierte und gebildete Menschen herausgefordert, weil es hier um Werte geht, auf die sich die Weltgemeinschaft als unbedingt gültige Werte geeinigt hat – auch wenn oftmals die deprimierende Erfahrung nicht ausbleibt, dass das eigene ethische Engagement keine Nachahmung findet. Dieser Aspekt verweist auf die Soldatin bzw. den Soldaten selber. „Aus welcher Grundhaltung heraus soll ein heutiger Soldat handeln und sich verhalten?”, lautet die Frage. Worum es geht, mag ein Beispiel verdeutlichen: Den meisten dürften noch die Bilder aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghuraib im Jahre 2004 in Erinnerung sein, die Folterungen von irakischen Gefangenen durch USSoldaten zeigen. Ohne auf den weltweit Entsetzen ausgelöst habenden Folterskandal näher einzugehen, zeigt sich hier, dass die betreffenden Soldaten sehr wahrscheinlich von Hass, Rache oder der Lust am Quälen erfüllt waren und sich einem erschreckendem Machtmissbrauch hingaben. Unterstellen wir ihnen, dass sie das nötige Wissen um das ethisch richtige Handeln gehabt haben, hatte dies aber keine Auswirkungen auf ihr tatsächliches Handeln, das offensichtlich eher von ganz persönlichen Gefühlen gesteuert wurde. Aus Alltagssituationen wissen die meisten, dass die Einsicht in das Richtige das eine, das entsprechende Handeln aber etwas anderes ist. Zwischen Einsicht und Handeln können sich persönliche Interessen, Neigungen, Ängste und Leidenschaften schieben. Dies gilt es immer wieder sehr bewusst wahrzunehmen. Für Soldatinnen und Soldaten heißt dies: Eine Armee ist darauf angewiesen, dass sich ihre Soldaten mit den ethischen Grundlagen der Institution „Bundeswehr” identifizieren; diese haben ihre Basis in den Grundwerten der Verfassung. Andernfalls würde der Armee der notwendige innere Zusammenhalt und den Soldaten der tragende Orientierungsrahmen fehlen; die Folgen können von der inneren Kündigung bis hin zur Korruptionsanfälligkeit oder dem oben beschriebenen Machtmissbrauch reichen. Versucht man, das globale Engagement der Bundeswehr auf dem Hintergrund der Inneren Führung und damit die ethische Grundlage der Streitkräfte mit einer Formel zu bezeichnen, so wird es wahrscheinlich am treffendsten – in Anlehnung an den Militärethiker Dieter Baumann – mit der Leitbestimmung „Gerechter Friede in Freiheit” charakterisiert. Dem entspricht auf soldatischer Seite als Grundhaltung das „Ethos der Achtung der Menschenwürde und der Rechtsbefolgung”. „Darunter”, schreibt Baumann, „wird eine Grundhaltung verstanden, die jeden militärischen Gegner als Mensch akzeptiert”. Auch der Terrorist habe als Mensch prinzipiell die gleiche Würde wie der eigene Was ist Ethik? • 02/2010 13 Kamerad. Und Gewaltanwendung dürfe „nicht aus Hass, Rache oder Lust geschehen, sondern nur aus Zwang oder in Notsituationen für eine rechtlich geordnete Gemeinschaft”. Diese Grundhaltung helfe dem Einzelnen, selbst in Extremsituationen seine mitunter nachvollziehbaren negativen Gefühle zumindest zu beherrschen. Eine solche Grundhaltung verlangt dem Einzelnen viel ab. Dabei kann ihm helfen, wenn er sich das Leitbild des Soldaten heute als „Miles Protector”, also als Schutzsoldat, zu eigen macht und dieses als sein Selbstverständnis verinnerlicht. Seine Berufung ist es, die internationale und nationale Rechtsordnung gegen widerrechtliche und illegitime Gewalt zu schützen. Er ist Retter und Helfer, Beschützender und im Notfall auch Kämpfender. Folterszene im Gefängnis Abu Ghraib MS 14 02/2 0 1 0 • Was ist Ethik? zum Thema zum Thema Normen I ndividuum A möchte ein bestimmtes Grundstück für sich allein nutzen, Individuum B möchte aber ebenfalls Zutritt auf dieses Grundstück haben. Es können nicht beide Individuen ihren Willen erfüllt bekommen. Wenn nun jede Konfliktpartei ihren Willen ohne Rücksicht auf die andere Partei durchzusetzen versucht, so wird daraus ein offener Streit und es kommt zum Kampf. Im äußersten Fall ist es ein Kampf auf Leben und Tod unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden Mittel. Wie Normen entstehen Vier Milliarden Menschen müssen mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen. Konfliktverschiebung durch Zwang oder Drohung A kann versuchen, seinen Willen durchzusetzen, indem er androht, jeden zu erschießen, der das Grundstück betritt. Wenn B nicht erschossen werden will und sich gegen einen Schuss von A auch nicht schützen kann, wird B unter diesen neuen, von A geschaffenen Bedingungen das Grundstück nicht mehr betreten wollen. Insofern wäre der ursprüngliche Konflikt nicht mehr akut. Jetzt gibt es aber dafür einen neuen Konflikt, denn B ist nicht damit einverstanden, dass A ihn derart bedroht. Somit wurde der Konflikt nur verschoben, er ist nicht beseitigt. Wenn B gegen die Drohung von A machtlos ist und sich im eigenen Interesse fügt, so ergibt sich eine Situation der erzwungenen Unterordnung von B unter A, die zwar relativ stabil sein mag, die jedoch durch nichts gerechtfertigt werden kann. Zu sagen, dass hier „das Recht des Stärkeren” gilt, wäre nur ein schön- färberischer Ausdruck dafür, dass den gesetzten Normen keinerlei nachvollziehbare Rechtfertigung zukommt. Man kann mit der gleichen Berechtigung sagen, dass hier das „Gesetz des Dschungels” gilt. A kann gegenüber B dessen Unterordnung nicht mit für B einsichtigen Argumenten begründen. Er kann nur unter Verweis auf seine überlegenen Möglichkeiten, B zu schaden, B zu verstehen geben, dass es in dessen eigenem Interesse liegt, gemäß dem Willen von A zu handeln. Konfliktlösung durch Einigung Die Austragung eines Konfliktes kann jedoch auch dadurch vermieden werden, dass eine Regelung für das Handeln der Beteiligten gesucht wird, der jede Konfliktpartei zustimmen kann, ohne dass sie dazu gezwungen oder deswegen bedroht wurde. Sie beruht auf der freiwilligen Einigung der Beteiligten. Die so gewonnenen Normen können dem ursprünglichen individuellen Willen ebenfalls entgegenstehen. Trotzdem stellen sie keine Gewalt gegenüber irgendeiner Partei dar, denn diesen Normen hat jede Partei freiwillig zugestimmt. Die Frage ist, wie sich angesichts bestehender Konflikte in Form miteinander unvereinbarer Willensinhalte verschiedener Subjekte Regelungen für das Handeln finden lassen, denen alle Beteiligten zustimmen können. Die vertragliche Einigung Eine Möglichkeit ist die vertragliche Einigung, d.h. die Suche nach Bereichen, in denen die Willensin- halte bestimmter Individuen, hier A und B, übereinstimmen, wobei die bestehenden Verhältnisse, nämlich dass A allein das Grundstück nutzen will, zunächst als gegeben akzeptiert werden. Das bedeutet: Insofern es zu keiner Einigung kommt, bleibt es beim Status quo. Eine Einigung gilt nur für die sich einigenden Parteien, obwohl die Einigung Auswirkungen auf Dritte haben kann. Im Extremfall können sich zwei sogar zum Nachteil eines Dritten und gegen diesen vereinigen. Damit ist aber die vertragliche Einigung zwischen A und B nicht wirklich ausreichend für die Lösung des Problems, denn es soll ja eine Lösung gefunden werden, die grundsätzlich – und nicht nur für A und B – gelten soll. Die argumentative Einigung Dazu müssen die miteinander nicht zu vereinbarenden Willensinhalte aller betroffenen Subjekte durch einen gemeinsamen Willen ersetzt werden, der beinhaltet, wie gehandelt werden soll. Die Frage „Wie sollen die an diesem Konflikt Beteiligten handeln?” ist eine normative Frage nach dem, was sein soll. Wie können solche normativen Fragen aber beantwortet werden? Kriterien für die Beantwortung normativer Fragen Die Antworten auf normative Fragen dieser Art sind Sätze, die beinhalten, wie Menschen handeln sollen – oder genauer: wie bestimmte Individuen in bestimmten Situationen handeln sollen. Beispiele für derartige Normen sind Sätze wie „Versprechen soll man halten!”, „Komm pünktlich zum Unterricht Was ist Ethik? • 02/2010 15 in der Schule!” oder „Der Polizist hätte unter diesen Umständen nicht schießen dürfen”. Derartige Antworten müssen also so beschaffen sein, dass sie die Zustimmung aller Beteiligten finden können, andernfalls wären sie nicht zur Lösung des Konfliktes geeignet. Sätze, die mit einem Anspruch auf allgemeine Zustimmung verbunden sind, sollen im Folgenden als „Behauptungen” bezeichnet werden. Zum Beispiel ist der Satz „Berlin hatte 1925 mehr als vier Millionen Einwohner” eine solche Behauptung, und zwar faktischer Art, mit einem Anspruch auf Zustimmung bzw. Anerkennung. Im Unterschied dazu handelt es sich bei Sätzen in einem Gedicht, Märchen oder Witz nicht um Behauptungen mit Anspruch auf Zustimmung. Dieser Anspruch auf Anerkennung für Behauptungen wird immer und gegenüber allen Person erhoben, er gilt also „intertemporal”, d. h. jederzeit, und „interpersonal”, d. h. für alle gleichermaßen. Ein derartiger Anspruch soll im Folgenden als „allgemeiner Geltungsanspruch” bezeichnet werden. Die Problemstellung, um die es hier geht, lässt sich demnach folgendermaßen formulieren: Auf die Frage, wie Individuum A in der oben beschriebenen Situation handeln soll, wird eine Antwort gesucht, die einen Anspruch auf allgemeine Geltung besitzt. Gesucht werden also Normen mit allgemeinem Geltungsbereich. 02/2 0 1 0 • Was ist Ethik? zum Thema zum Thema EN ISO 4074 rechts vor links normiert B Über die Eigenart von Normen erinnert sei. Im Sozialen prägen Normen das Gruppenverhalten. In der Wirtschaft sind Normen wichtig z. B. im Bereich der Personalführung. Und im Sport sind Normen zumeist in Regeln gefasst. Nicht zuletzt spielen Normen im Straßenverkehr eine wichtige Rolle (z. B. die Vorfahrtsregel „Rechts vor links”). Normen erleichtern das Leben bzw. das Miteinander von Menschen; sie „normalisieren” es. Sie geben, wenn es z.B. um technische Normen geht, dem Hersteller eine Vorgabe und dem Verbraucher das Vertrauen, dass der erworbene Gegenstand nach allgemein verbindlichen Kriterien hergestellt worden ist und somit „normal” funktioniert. Besonders hervorgehoben seien die sozialen Normen. Diese stellen Vorschriften dar, die das Verhalten in einer sozialen Situation betreffen. Wer sich entsprechend verhält, verhält sich „normal”. Viele der im sozialen Bereich wirksamen Normen sind den meisten Menschen nicht immer bewusst, so selbstverständlich sind sie geworden (z. B. Menschen auf der Straße nicht anzurempeln). Soziale Normen sind von den meisten Gesellschaftsmitgliedern akzeptierte und vertretene Vorstellungen, Handlungsmaximen und Verhaltensmaßregeln, z. B. dass man Das Kind erlernt die jeweils in der Gesellschaft geltenden sozialen Normen während der Erziehung im Elternhaus, in der Schule, in der Gleichaltrigengruppe, durch die Medien – also in dem ganzen Prozess seiner Sozialisation. Mit den Jahren erweitert sich die Anzahl der Normen und der Heranwachsende passt sich immer mehr der Gesellschaft an. Von einem erwachsenen Menschen erwarten die Leute, dass er die meisten Nor- men kennt und beachtet, sodass er in der Öffentlichkeit nicht unangenehm auffällt. Die Einhaltung der sozialen Normen unterliegt der sozialen Kontrolle; Verstöße dagegen können Sanktionen zur Folge haben. Die einzelnen Normen sind nicht alle gleich wichtig. Je wichtiger eine soziale Norm für das gesellschaftliche Zusammenleben ist, desto mehr Anstrengungen werden unternommen, ihre Geltung durchzusetzen. Bei hoher Relevanz, z. B. beim Schutz von Privateigentum, werden soziale Normen durch Gesetze kodifiziert und über Strafandrohung durchgesetzt. Was sind also Normen? Was macht ihre Eigenart aus? Als Norm wird ein Satz bezeichnet, der nichts beschreibt, sondern etwas vorschreibt. Normen beinhalten also nicht, wie die Wirklichkeit ist, sondern wie die Wirklichkeit sein soll. Normen sind „Soll-Sätze”. Moralische Normen beinhalten, wie Menschen in bestimmten Situationen handeln sollen, welche persönlichen Ziele auch immer sie haben mögen. In der Erziehung werden z. B. Kinder aufgefordert: „Du sollst dem Besuch die Hand zur Begrüßung geben!” Gebräuchlicher ist allerdings die negative Variante: „Du sollst nicht ... töten, ehebrechen, lügen!” Normen stellen also nichts fest, sondern sie fordern zu etwas auf oder sie verbieten etwas. Zur Eigenart von Normen gehört es, dass sie konsensfähig sein sollen; Menschen sollen den Normen aus freiem Willen, d. h. aus Einsicht, zustimmen können. Wenn jemand das Ziel nicht teilt, allein durch einsichtige Argumente einen Konsens zu erreichen, dann sollte er sich über die Konsequenzen einer solchen Haltung klar sein: Er kann dann zwar für die von ihm vertretenen Normen Gehorsam fordern und möglicherweise auch erzwingen, er kann jedoch nicht beanspruchen, in Bezug auf diese Normen in irgendeiner Weise „Recht” zu haben oder „die Wahrheit” zu vertreten. – Die Zustimmung darf auch nicht nur einmalig, d. h. auf den Einzelfall bezogen, sondern sie muss dauerhaft sein. Es macht keinen Sinn, wenn z.B. die Norm „Du sollst nicht lügen” nur heute, aber morgen schon nicht mehr gilt. Damit haben Normen auch den Charakter der Verallgemeinerbarkeit. Darüber hinaus gilt: Einer Norm zustimmen, also sie anerkennen, sie akzeptieren und bejahen bedeutet, dass man der Befolgung dieser Norm grundsätzlich zustimmt. An dieser Stelle sei auf einen besonderen Umstand hingewiesen: Der Norm „Du sollst Versprechen halten” wird zunächst einmal jeder zustimmen können. Aber gilt dies absolut? Das soll am Beispiel des Eheversprechens präzisiert werden. Ein Eheversprechen impliziert, dass man den anderen liebt. Vielleicht war dies zu dem Zeitpunkt, an dem das Eheversprechen abgegeben wurde, auch der Fall. Aber was ist, wenn jemand inzwischen zu der Erkenntnis gelangt, dass er den anderen doch nicht bzw. nicht mehr liebt? Damit würde doch die Einhaltung des Eheversprechens, d. h. die Heirat, auf einer Lüge basieren. Gilt aber nicht auch die Norm „Du sollst nicht lügen”? An dieser Stelle tut sich offenbar eine Normenkollision auf und es stellt sich die Frage, welche Norm nun den höheren Wert hat. Aber auch die Norm „Du sollst nicht lügen” gilt nicht absolut. Man spricht z. B. von der „Notlüge” und meint damit, dass man sie einsetzt, um von sich oder einem anderen einen schweren Schaden oder gar eine Lebensgefahr oder Ähnliches abzuwenden. Wer allerdings lügt, um z. B. einen eigenen Fehler zu verheimlichen, um seinen eigenen Vorteil nicht zu gefährden oder um einen anderen zu schädigen, kann sich nicht auf das Gebotensein einer „Notlüge” berufen. rechts vor links DIN-Norm rechts vor links 17 DIN 1989 Im Zweifel für normal den Angeklagten DIN 1989 Normen ei der Frage, was eine Norm bzw. was Normen sind, fallen einem Worte ein wie „normal”, „Normalität”, „Normalmaß”, „DIN-Norm”, „normiert”, „normativ” usw. All diesen Begriffen ist gemeinsam, dass damit eine Richtlinie oder ein Maßstab vorgegeben wird, der allgemein anerkannt wird und damit allgemeine Zustimmung erfährt. Unsere ganze Lebenswirklichkeit ist von Normen durchsetzt. Das beginnt z. B. bei den DIN-Normen für Papiergrößen, betrifft aber auch Regenwassernutzungsanlagen (DIN 1989), Schienbeinschützer für Fußballspieler (DIN 13061) und endet nicht zuletzt bei der Normierung von Kondomen, für die die internationale Norm EN ISO 4074 gilt. In der gesamten industriellen Welt sind – vor allem technische – DIN-Normen beherrschend und wer ein Haus bauen will, hat ebenfalls eine Fülle von DIN-Normen zu beachten. Im Bereich des Politischen sorgen Normen für einen funktionierenden Ablauf demokratischer Prozesse. Im Bereich des Rechts sind Normen zumeist in Gesetze gefasst, aber nicht immer, wie die Norm „Im Zweifel für den Angeklagten”, belegt. Die Religion kennt eine Vielzahl von Normen, wobei hier nur an die Zehn Gebote oder an die Bergpredigt DIN 1989 Normalmaß beim Essen nicht schmatzt. Sie strukturieren so die Erwartungen der Interaktionspartner in einer Situation und machen das Handeln und Reagieren in einem gewissen Maße vorhersagbar, sie engen mitunter aber auch die Verhaltensmöglichkeiten ein. Sie sind gesellschaftlich und kulturell bedingt und daher in den Kulturen verschieden und auch im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung wandelbar. Ein Beispiel dafür ist das Begrüßungsritual: Sich per Handschlag zu begrüßen ist keineswegs eine weltweit geltende Norm. Und selbst in Deutschland hat sich hier in den letzten Jahrzehnten ein Wandel vollzogen; Umarmungen, Wangenküsse und andere Rituale waren noch vor wenigen Jahrzehnten unüblich, sind aber heutzutage weit verbreitet. Was ist Ethik? • 02/2010 normal 16 02/2 0 1 0 • Was ist Ethik? zum Thema zum Thema Normen Was soll ich tun? Was ist gut, was ist schlecht? Was ist richtig oder falsch? Was ist Ethik? • 02/2010 19 Normen 18 Normen und Werte N Über die Funktion von Normen „Du sollst den unterlegenen Gegner, der sich ergibt, schonen!“ – Eine Norm im Tierreich? K ennen Tiere Normen? Wenn man ihr Verhalten beobachtet, könnte man geneigt sein, diese Frage zu bejahen. Bei Hunden und anderen Tieren kann man feststellen, dass im Kampf die Haltung des Sichergebens in der Regel nicht dazu führt, dass der Gegner einen tödlichen Biss ausführt. Das könnte zu dem Eindruck führen, als gelte in der Tierwelt die Norm „Du sollst den unterlegenen Gegner, der sich ergibt, schonen!”. Doch das dürfte wohl eher eine menschliche Übertragung sein. Biologen sehen hier eher ein instinktgeleitetes Verhalten am Werk. Da uns unsere tägliche Erfahrung lehrt, dass Menschen oft diese Hemmung fehlt, stellt sich die Frage: Brauchen Menschen Normen? Und welche Funktion haben dann Normen? Die moderne Anthropologie, also die Wissenschaft vom Menschen, lehrt uns in der Tat, dass der Mensch das instinktunsichere, das offene Wesen ist, das sich seine Regeln des Zusammenlebens erst schaffen bzw. durch Sozialisation aneignen muss. So haben Normen zum einen die Funktion der Orientierung: Sie sind ein Ersatz für die mangelnde Instinktgebundenheit des Menschen und helfen bei der Orientierung im zwischenmenschlichen Zusammenleben. Zum anderen haben sie die Funktion der Entlastung: Der Mensch wird vom dauernden Reflektieren „Was soll ich tun? Was ist gut, was ist schlecht? Was ist richtig oder falsch?” entlastet. Lediglich in Konfliktsituationen muss er sich bewusst entscheiden. Darüber hinaus haben Normen die Funktion zu stabilisieren: Sie sorgen für die Integration des persönlichen Verhaltens in die soziale Gemeinschaft und ermöglichen die Ausbildung einer Ich-Identität. Diesen unzweifelhaft Vorteilen stehen aber auch Nachteile gegenüber: Normen schränken die persönliche Freiheit ein. Gerade Gruppennormen stellen auch einen gewissen Zwang zur Einhaltung dar, will man nicht von der Gruppe ausgeschlossen werden. Normen können aber auch zu einem Nachlassen der kritischen Reflexionsbereitschaft führen – was alle tun, muss nicht immer auch das Richtige oder Gute sein. Es gibt wohl nur wenige Normen, die nicht dem Wandel der Zeit unterliegen. Besonders deutlich zeigt sich dies an der Stellung der Frau in der Gesellschaft. Normen wandeln sich, weil sich die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse ändern. Traditionelle Normen werden dann der Lebenswirklichkeit nicht mehr gerecht. ormen liegen in der Regel Werte zugrunde. Anders ausgedrückt: Damit Werte wie z.B. „Freiheit” oder „Gerechtigkeit” verwirklicht werden können, bedürfen sie bestimmter Normen. Der Zusammenhang von Normen und Werten soll an einem konkreten Beispiel verdeutlicht werden. In der Schule gilt wie selbstverständlich die Norm „Ein Lehrer darf keinen Schüler bevorzugen!”. Spontan würden viele vermutlich sofort ergänzen: „weil dies ungerecht wäre”. Die konkrete Norm hat somit einen Bezug zum Wert „Gerechtigkeit”. Doch die Bevorzugung eines Schülers würde auch gegen den Wert „Gleichheit” verstoßen. Und nicht zuletzt würde sie Missachtung gegenüber den anderen Schülern zum Ausdruck bringen; somit liegt der konkreten Norm auch der Wert „Achtung” zugrunde. Es zeigt sich also: Eine Norm kann einen Bezug zu unterschiedlichen Werten haben. Nicht immer sind die einer Norm zugrunde liegenden Werte auch bewusst. Ein Beispiel: Während einer Diskussion lässt man, ohne weiter darüber nachzudenken, jemand in aller Ruhe ausreden. Die verinner- Sitzplatzangebot für Ältere? – Heute eher eine Ausnahme lichte Norm lautet: Du sollst andere ausreden lassen! Der Wert, der dahintersteckt – ohne dass man sich dessen immer bewusst ist –, ist „Respekt”. Wenn Werte sich wandeln, wandeln sich zumeist auch die entsprechenden Normen. Früher war es mehr oder weniger selbstverständlich, dass ein junger Mensch in der Bahn einem älteren den Sitzplatz anbot. Heute ist dies eher die Ausnahme. Kommt darin ein Wandel des Wertes „Achtung vor dem Alter” zum Ausdruck? Durch die zahlreiche Lebenshilfe-Literatur u. ä. ist heute die Norm weit verbreitet: „Sorge gut für dich! Du musst dir etwas Gutes tun!” Dahinter verbirgt sich der Wert des eigenen Selbst bzw. eine neue Wertschätzung des eigenen Selbst. In früheren Zeiten wäre eine solche Wertvorstellung bzw. Norm eher als Egoismus ausgelegt worden, weil Pflichterfüllung u. ä. wesentlich höhere Werte darstellten. Wertewandel und Normenwandel bedingen sich gegenseitig. „Sorge gut für dich! Du musst dir was Gutes tun!“ MS 20 02/2 0 1 0 • Was ist Ethik? zum Thema zum Thema D ie Frage: „Was soll/darf ich tun?” ist die grundlegende Frage der Ethik schlechthin. Bereits die Philosophen der Antike suchten Antwort auf die Frage, wie man leben soll bzw. was ein gutes oder letztlich glückliches Leben ausmacht. Im Laufe der Zeit entwickelten sich eine Reihe von Ethikbegründungen. Einige von ihnen sollen im Folgenden übersichtsartig dargestellt werden. Die goldene Regel Am bekanntesten dürfte die als „goldene Regel” bekannte Formel sein: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!” Wer will schon gerne belogen und betrogen, gemobbt und benachteiligt, mit Gewalt behandelt oder in Not allein gelassen werden? Und doch tun sich Menschen eben solches immer wieder an, wie die tägliche Erfahrung lehrt. Die sehr allgemeine Regel wurde im Zeitalter der Aufklärung als ethisch untaugliche Maxime kritisiert, da sie keine inhaltliche Norm für richtiges oder falsches Verhalten ausspreche. Trotzdem gilt sie als wichtiger Schritt zu ethischer Eigenverantwortung, die das Sichhineinversetzen in die Lage Betroffener zum Kriterium für moralisches Handeln macht und die Kraft zur Selbstkorrektur in sich trägt. Der kategorische (Immanuel Kant) EthikEntwürfe Imperativ Der kategorische Imperativ geht auf den deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) zurück und lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.” Kategorisch heißt er deshalb, weil er unbedingte Gültigkeit beansprucht. Nach Kant ist der Mensch ein Wesen, das in der Lage ist, in der Ver- nunft unabhängig von sinnlichen, auch triebhaften Einflüssen und damit auch unabhängig von subjektiven Tendenzen aller Art zu denken und zu entscheiden. Die Vernunft erkennt, was gut und richtig ist. Dieses Erkennen des sittlich Guten prägt auch den Willen des Menschen, weil die Vernunft sagt: Es ist gut und richtig, das Gute zu wollen – und nicht das Böse. Insofern kann Kant sagen: „Der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige auszuwählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als gut erkennt.” Die Frage, die Kant aufwirft, ist die Frage nach dem Motiv, nach der Absicht unseres Handelns. Damit sich überhaupt allgemeine Regeln für das menschliche Verhalten aufstellen lassen, die sich nicht am Willen des einzelnen Individuums, sondern an einer Allgemeinheit ori-entieren, ist der kategorische Imperativ die Konstruktion, an der sich die Absicht einer Hand-lung messen lässt. Sie sollte eben so beschaffen sein, dass sie als Grundlage zur allgemeinen Gesetzgebung – nicht im juristischen, sondern im moralischen Sinne – dienen könnte. Kants Begründung einer Ethik besteht also darin, den Nachweis zu erbringen, dass es für den Menschen als vernünftiges Wesen ethische Normen gibt, die nicht aus der Erfahrung abgeleitet sind, sondern vor aller Erfahrung („a priori”) allgemeine Gültigkeit beanspruchen und somit gleichermaßen für alle Menschen verbindlich sind. Kant ist durchaus bewusst, dass die Forderung der Sittlichkeit ein Ideal ist und dass kein Mensch sie zu jeder Zeit erfüllen kann. Dennoch ist er der Auffassung, dass jeder Mensch den Maßstab der Sittlichkeit in sich hat und weiß, was er nach dem Gesetz der Sittlichkeit tun sollte. Der Kantische kategorische Imperativ ist eine der Grundlagen demokratischer Auffassungen; sowohl der Gleichheitsgrundsatz vor dem Recht wie die Menschenrechte überhaupt lassen sich mittelbar aus ihm ableiten. Was ist Ethik? • 02/2010 21 Beispiel 1: Der kategorische Imperativ in der ethischen Praxis Ausgangspunkt: Eine Situation fordert zur Entscheidung heraus. Es bietet sich eine Gelegenheit zum Seitensprung. Angesichts dieser Ausgangssituation werden Menschen spontan ganz unterschiedlich reagieren, z. B.: n Warum nicht mitnehmen, was guttut? Oder: n Einmal ist keinmal! Oder: n Das ist ein belebendes Elixier für die Ehe! Oder: n Treue ist unteilbar! Zunächst wird also die Situation mit alltagspraktischen Regeln bewertet. Dann aber tauchen vielleicht doch Zweifel auf. Jetzt spielen unterschiedliche Maximen, d.h. subjektive praktische Grundsätze des Handelns (Prinzipien), eine Rolle, z. B.: n n Die Freiheit der Person beinhaltet auch sexuelle Freiheit! Oder: Untreue ist ein Vertrauensbruch, der die Ehe oder Partnerschaft zerstört. Am Ende steht die Anfrage des kategorischen Imperativs: Kann ich wollen, dass meine Maxime (siehe oben) Grundsatz einer allgemeinen Gesetzgebung wird, d. h. von allen Menschen ohne Einschränkung akzeptiert wird? Beispiel 2: Was soll ich tun? (goldene Regel oder kategorischer Imperativ) Darf ich andere vor einer Radarfalle warnen? Anhand des hier zu erörternden Beispiels soll der Unterschied zwischen goldener Regel und kategorischem Imperativ verdeutlicht werden: Jeder hat vermutlich schon einmal beim Autofahren erlebt, dass entgegenkommende Fahrzeuge durch die Lichthupe auf eine Radarfalle aufmerksam machen. Und genauso wird vermutlich jeder langsamer gefahren sein und sich darüber gefreut haben, nicht geblitzt worden zu sein. Doch die Frage ist: Darf ich andere Autos warnen? Schließlich ist der Zweck einer Radarfalle, dass die Autofahrer langsamer fahren – was sie ja tun, nachdem ich ihnen ein Zeichen gegeben habe. Oder muss ich sie, wenn man so argumentiert, nicht sogar warnen? Es gibt für beide Seiten Gründe; diese sollen nun mit Blick auf die goldene Regel wie den kategorischen Imperativ entfaltet werden. Die goldene Regel lautet positiv formuliert: Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst! Sie ist ein guter, weil einfacher und praktikabler sittlicher Maßstab, der, würde er stets befolgt, vieles im Zusammenleben verbessern könnte. Sie hat aber auch Fehler: Sie bleibt subjektiv an den eigenen Werten orientiert. So dürfte nach ihr beispielsweise jemand, der zu stolz dazu ist, sich helfen zu lassen, auch niemandem anderen helfen. Dies ist in unserem Falle aber jetzt kein Problem, denn jeder wünscht sich, rechtzeitig gewarnt zu werden, wenn er zu schnell fährt. Aber ob dieser Wunsch auch richtig ist, kann die goldene Regel nicht abschließend beantworten. Das Problem wird deutlich am Beispiel des kategorischen Imperativs, der die persönlichen Lebensgrundsätze überprüft: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde”, sagt Kant. Der Grundsatz nach der goldenen Regel lautet: Schnellfahrer muss man warnen und so aus Eigennutz vor Strafe bewahren. Dies aber als allgemeines Gesetz kann man nicht wirklich wollen; denn zu Recht besteht der Zweck der Radarfalle darin, das Rasen zu begrenzen. Gäbe es die Maxime, andere stets zu warnen, als Gesetz, hätten die Kontrollen aber keine Wirkung mehr; jeder könnte bedenkenlos Gas geben: Er würde ja rechtzeitig gewarnt. Ohne den Überraschungseffekt verlören die Radarfallen ihre allgemeine präventive Funktion, auf die es gerade ankommt: Viele fahren nur langsam, weil sie nicht wissen, ob sie hinter der nächsten Kurve geblitzt werden. Die Gewissheit, gewarnt zu werden, käme einer faktischen Freigabe der Geschwindigkeit gleich. Das kann niemand wollen, denn Raserei ist die Ursache für viele tödliche Verkehrsunfälle. Hält man sich an den kategorischen Imperativ, lässt sich das Warnen deshalb nicht vertreten – auch wenn es die goldene Regel empfiehlt, weil man sich selbst darüber freut, gewarnt zu werden. Immanuel Kant (1724-1804) 22 02/2 0 1 0 • Was ist Ethik? zum Thema zum Thema Was ist Ethik? • 02/2010 23 Utilitarismus (seit dem 18. Jahrhundert entwickelte Konzeption) Der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860) entwickelte eine Mitleidsethik. In der Begegnung mit einem anderen erkenne der Mensch das Eigene im anderen, nämlich denselben Willen beider, leben zu wollen. So kann sich der Mensch mit dem anderen identifizieren und durch Mitleid den Egoismus überwinden, denn beide verbindet die Einsicht in das Leiden der Welt. Der inzwischen etwas in Vergessenheit geratene Albert Schweitzer (1875-1965) hat eine Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben” vertreten. Der berühmte Arzt und Theologe aus dem westafrikanischen Hospital Lambarene hat sich sein ganzes Leben lang mit der Frage befasst, welcher Platz den Menschen in der Schöpfung gehört: Herrschen sie über alles oder sind sie Teil des Ganzen? Dürfen wir bewertet Handlungen nach dem größtmöglichen Nutzen für die größtmögliche Anzahl betroffener Personen Handlungsutilitarismus (extreme Form) Handeln nach dem Prinzip des größtmöglichen Nutzens – der Utilitarismus Wie sind Handlungen zu beurteilen? Nach welchen Kriterien sollen menschliche Handlungsweisen bewertet werden? Ist eine Handlung als solche gut, wenn ich z. B. einem Bettler Geld gebe, oder ist eine Handlung gut, wenn die Folgen der Handlung sich als gut erweisen, wenn z. B. der Bettler sich von dem Geld Brot kauft statt Alkohol? Der Utilitarismus, eine seit dem 18. Jahrhundert entwickelte Konzeption, bewertet eine Handlung nach dem größtmöglichen Nutzen für die größtmögliche Anzahl betroffener Personen. Er ist die ethische Position, die danach fragt, ob eine Handlung im Vergleich mit anderen Handlungsalternativen die größte Anzahl positiver Werte wie z. B. Glück, Reichtum, Gesundheit, Schönheit, Einsicht usw. hervorbringt. Heute unterscheidet man zwischen einer extremen Form, dem „Handlungsutilitarismus”, und einer eingeschränkten Form, dem „Regelutilitarismus”. Beim Handlungsutilitarismus wird das utilitaristische Prinzip des größten Nutzens auf jede einzelne Handlung angewandt. Eine moralische, d. h. allgemeingültige Regel hat daher für den Handlungsutilitaristen nur den Wert einer Faustregel, er be- Regelutilitarismus (eingeschränkte Form) wertet jede Handlung neu. Beim Regelutilitarismus wird das utilitaristische Prinzip nicht auf jede Handlung, sondern zur Bestimmung grundlegender Regeln, z. B. „Versprechen soll man halten”, angewandt. Durch die konsequente Befolgung der Regeln ist dabei auf längere Sicht nach utilitaristischen Maßstäben ein allgemeiner Nutzen erreichbar, auch wenn die einzelne Handlung, bei der die Regel befolgt wird, oft nicht dem utilitaristischen Prinzip entspricht. Besondere Bedeutung hat der so genannte Präferenzutilitarismus erlangt, eine moderne Variante des Utilitarismus, die vor allem von dem australischen Bioethiker Peter Singer vertreten wird. Wenn jemand eine Präferenz für etwas hat, so hat er an etwas ein besonderes Interesse, er gibt diesem den Vorzug. Beispiel: Aufgrund der Finanzkrise haben zunehmend mehr Menschen eine Präferenz für sichere Geldanlagen. Eine Präferenz ist also eine Wertentscheidung, die aufgrund von Neigungen und Vorlieben, von Zweckmäßigkeitserwägungen oder in Bezug auf die Lebensgestaltung und Lebensführung vollzogen wird. Man kann sowohl eine Präferenz für Gummibärchen anstatt für Schokolade als auch eine Präferenz für die eigene berufliche Karriere anstatt für ein soziales ehrenamtliches Engage- Präferenzutilitarismus (moderne Form) ment haben. Die Beispiele zeigen: Man kann unterscheiden zwischen schwachen Präferenzen, die in persönlichen, spontanen Vorlieben oder Neigungen begründet sind, und starken Präferenzen, die grundsätzlicherer Art sind und die Art und Weise betreffen, wie eine Person ihr Leben führen oder in welche Richtung sie ihr Leben gestalten will. Präferenzen dieser Art haben also zumeist auch einen Zukunftsaspekt. Was bedeutet nun Präferenzutilitarismus? Während der Utilitarismus eine Handlung nach dem Kriterium des Nutzens bzw. des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Anzahl von Menschen bewertet, sind beim Präferenzutilitarismus die (starken) Präferenzen einer Person die Bezugsgröße. Die Präferenzen von Personen zu erfüllen sei das Gute; dabei können es die eigenen Präferenzen sein oder die anderer Personen. Eine Handlung und ihre Folgen sind also danach zu bewerten, ob sie dabei helfen, die Präferenzen, man kann auch sagen: die Interessen, Bedürfnisse etc. einer Person zu maximieren. Diese können z. B. darin bestehen, sich um einen guten Ruf zu bemühen, sich Bildung zu erwerben oder durch gesunde Lebensmittel seine Lebenserwartung zu verlängern. Eine Handlung also, die der Präferenz (dem Interesse, der Intention usw.) einer Person entgegensteht, diese z. B. missachtet, verletzt etc., ist demnach moralisch schlecht – es sei denn, dieser Präferenz stehen entgegengesetzte Präferenzen anderer betroffener Menschen gegenüber. Wie soll beispielsweise entschieden werden, wenn der Präferenz bzw. dem Interesse der einen Person, leben zu wollen, die Präferenz einer anderen Person, ebenfalls leben zu wollen, gegenübersteht? Diskursethik In jüngster Zeit hat das Konzept einer Diskursethik zunehmend an Bedeutung gewonnen. Dieser Ethikentwurf ist untrennbar mit dem Philosophen Jürgen Habermas verbunden. Unter einem Diskurs versteht man zunächst umgangssprachlich eine „theoretische Erörterung” oder auch eine „gesellschaftliche Auseinandersetzung”, eine „Debatte” oder auch einen „Disput”. Beim Diskurs geht es also um das Ringen und Gegeneinanderabwägen von unterschiedlichen Meinungen, Positionen usw. Damit ist schon eine Grundlage zum Verständnis der Diskursethik von Habermas gelegt. Ausgangspunkt der Diskurstheorie ist die Situation des Pluralismus in modernen Gesellschaften. Genauer geht es um die Frage, wie in Gesellschaften mit heterogenen Peter Singer Interessen und Werten ethische Normen begründet werden können. Wie kann eine vernünftige Einigung in unterschiedlichen bzw. konfliktbesetzten Normen- und Wertfragen erzielt werden? Nicht unverrückbare, allein durch die Vernunft erkennbare Aussagen über das moralisch bzw. sittlich Gute stehen im Mittelpunkt, sondern die „vernünftige Einigung”, d. h. ein Verfahren – eben die Regeln des Diskurses. Ziel dieses Verfahrens ist, dass Normen bzw. Sollensvorschriften gefunden werden, die die qualifizierte Zustimmung aller möglichen Betroffenen finden. Nur jene Normen sollen als gültig akzeptiert werden, die einen allgemeinen Willen ausdrücken. Ein Diskurs ist eine Kommunikationsform, man kann auch sagen: eine Sprechsituation, in der ein Konsens über geltende Normen gefunden werden soll. Diese Sprechsituation muss aber bestimmte Merkmale aufweisen. So müssen die Beteiligten über kommunikative Kompetenz verfügen. Es muss Redegleichheit herrschen. Alle Beteiligten müssen sich der Wahrhaftigkeit verpflichtet fühlen. Und schließlich gilt das Postulat der Vernünftigkeit aller Diskursteilnehmer. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, lässt sich von einer herrschaftsfreien Kommunikation sprechen, in der sich der Diskurs entfalten kann. Darüber hinaus legt Habermas den Schwerpunkt auf den Aspekt der Unparteilichkeit. Unparteiliche Urteilsbildung drückt sich mithin in einem Prinzip aus, das jeden im Kreise der Betroffenen zwingt, bei der Interessenabwägung die Perspektive aller anderen einzunehmen. Das setzt bei allen gleichermaßen den Willen voraus, die eigenen Interessen nicht höher zu veranschlagen als die der anderen. Ähnlich wie Kant wohnt der Diskursethik damit ein Universalisierungsprinzip inne. Abschließend sollen noch zwei Ethikentwürfe wenigstens kurz erwähnt werden, auch wenn sie in unserer Gegenwart – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle spielen. Jürgen Habermas Tiere töten und Pflanzen vernichten oder versündigen wir uns, wenn wir es tun, an unseren Mitgeschöpfen? Albert Schweitzers Grundannahme lautete: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.” Es gibt für ihn nicht nur ein menschliches Recht auf Leben; auch Tiere, sogar Pflanzen, alles, was lebendig ist, will leben und darf leben wollen. Ethik besteht also darin, dass ich die Nötigung erlebe, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. MS 24 02/2 0 1 0 • Was ist Ethik? zum Thema zum Thema Was ist Ethik? • 02/2010 25 Zur teleologischen Begründung von Normen C hristliche Ethik basiert auf dem Doppelgebot der Liebe (vgl. Mt 22,37-39). Gottes- und Nächstenliebe sind Inbegriff der sittlichen Forderung, der Mensch „schulde” Gott und seinem Nächsten Liebe: gegenüber Gott wegen seiner absoluten Güte und dem Nächsten um dessen Personwürde willen. Da aus dieser Universalforderung in konkreten Situationen nicht unbedingt eindeutige Aussagen über die sittliche Richtigkeit jemandes Handelns ableitbar sind, wird in diversen Ansätzen versucht, das sittlich Richtige für konkrete Situationen festzulegen. Dabei sind folgende Fragestellungen relevant: n Wie ist zu begründen, dass der Mensch überhaupt sittlich verantwortlich handeln soll? n Wie kann man argumentieren, dass etwas Bestimmtes gut ist bzw. dass der Mensch etwas Bestimmtes tun soll? n Wie sind Werte, Tugenden, evtl. Pflichten zu begründen? Die Einteilung der Theorien normativer Ethik in die deontologische (griech. „deón”: das Erforderliche, die Pflicht) und die teleologische (griech. „telos”: das Ziel) Normierungstheorie begründet sich durch die Bedeutung der Folgen einer Handlung für deren sittlichen Charakter. Alle Prinzipien (z. B. Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Treue, Dankbarkeit etc.) werden in der teleologischen Theorie auf ein letztes Prinzip zurückgeführt (Urprinzip Liebe), während die deontologische Theorie mehrere Grundsätze ohne Zurückführung auf ein einziges Prinzip nebeneinanderstellt, die aus völlig eigenem Recht Anspruch auf Geltung erheben. Hier ist Liebe ein partikulares Prinzip neben anderen gleichwertigen Partikularprinzipien (vgl. Bruno Schüller: Die Begründung sittlicher Urteile, S. 287). In dieser unterschiedlichen Auffassung von Liebe liegt die eigentliche Unterscheidung zwischen Deontologen und Teleologen! Beispiele für die Einteilung der Theorien normativer Ethik: Nunmehr werden die Schwächen der deontologischen Ethik (Gesinnungsethik) offenbar: Reale Folgen bleiben stets unberücksichtigt, d. h. auch gut Gemeintes kann schlechte Folgen haben; erhöhte Gefahr des ethischen Rigorismus; die Bestimmung der Pflichten bleibt entweder zu abstrakt oder ist doch kulturabhängig. Die strenge Art deontologischer Ethik begründet Normen mit der Schlussformel: sittlich unerlaubt, weil naturwidrig. „In dieser Argumentationsweise werden biologische Gesetze in dem Sinne zum Inhalt sittlicher Normen gemacht, dass den Menschen die Pflicht auferlegt wird, diese Naturzwecke sich ungestört auswirken zu lassen.“ (Vgl. Bruno Schüller, a. a. O., S. 216) Bestimmte Handlungsweisen werden so für sittlich unerlaubt erklärt, indem man darin Naturwidrigkeit sieht. „Der Mensch muss es sich verboten sein lassen, zugunsten von Werten, die ihm wichtiger vorkommen mögen, gottgesetzte Zwecke zu vereiteln.” (Bruno Schüller, a. a. O., S. 226) Gott besitzt allein die den Menschen überragende absolute Weisheit. Die Stärken der teleologischen Ethik (Verantwortungsethik) treten in den Vordergrund: Stets nimmt sie die Folgen des Handelns in den Blick (dass der Mensch diese Folgen nicht beabsichtigt hat, entbindet ihn nicht von der Verantwortung für sie); stets ermöglicht die teleologische Theorie ein Abwägen (Risikoabschätzung); stets lässt sie viele Wege zum Ziel zu. Für diese Verantwortungsethik stehen insbesondere Max Weber (1864-1920) und Hans Jonas (1903-1993), deren Motive die politische Katastrophe nach dem Ersten Weltkrieg bzw. die ökologische Katastrophe waren. I. Falschaussage Die Sprache hat gleichsam Instrumentalcharakter. Demzufolge wird nur in der wahrhaftigen Rede die Sprache naturgemäß gebraucht und somit auch gemäß dem Willen des Schöpfers, der die Gabe der Sprache verliehen hat. So ist die Falschaussage als Missbrauch der Sprache als unerlaubt abzulehnen ohne Rücksicht auf die Folgen. Leben in Gefahr bringt. Vielmehr haben Menschen – während der NS-Diktatur – die Sprache bewusst „missbraucht”, um durch ihre getätigte Falschaussage das Leben vieler Juden zu retten. II. Tötungsverbot Die Tötung sei deshalb unerlaubt, da Gott, der Schöpfer, allein Herr über Leben und Tod sei. Der Mensch maße sich ein ihm nicht zukommendes Recht an. Die strenge Art deontologischer Ethik begründet Normen mit der Schlussformel: sittlich unerlaubt, weil unberechtigt. „Man sagt von einer bestimmten Handlungsweise, sie geschehe ohne die erforderliche Be-rechtigung und sei deswegen sittlich unerlaubt.” (Bruno Schüller, a. a. O., S. 174) Die oben beschriebene Einstellung wird absurd, wenn gerade die Folgen dieser Handlung besonders hart sind, indem man z. B. dem Soldaten die Notwehr gegen eine ungerechte Bedrohung untersagen würde oder ihm die Benutzung der Waffe, welche sich nicht auf einen gegenwärtigen Angriff, sondern auf eine gegenwärtige Gefahr bezieht (rechtfertigender Notstand), verbieten würde, wenngleich exklusiv die moralische Perspektive eine Tötung in diesem Falle sittlich erlaubt. MV Die oben beschriebene Einstellung wird absurd, wenn gerade die Folgen dieser Handlung besonders hart sind, indem man z. B. mit dem Streben nach Wahrheit anderes 26 02/2 0 1 0 • Was ist Ethik? zum Thema zum Thema Was ist Ethik? • 02/2010 27 Zum Prinzip der Doppelwirkung Wenn mein Tun vorhersehbar unerwünschte Nebeneffekte hat Wenn in einem Krieg Zivilisten betroffen sind, kommt die völkerrechtlich wichtige Frage nach deren Status ins Spiel E thische Fragen haben immer mit menschlichem Handeln zu tun. Und dies gilt zumeist auch umgekehrt: Wenn Menschen handeln, berühren sie oft auch den Bereich des Ethischen, denn sie wissen, dass ihr Handeln einem Anspruch unterliegt, der sich zuweilen in der Frage äußert, ob es gut war, so und nicht anders zu handeln bzw. wie es denn wohl richtig sei zu handeln. Auch wenn wir nicht ständig darüber reflektieren, so wird doch jeder von Zeit zu Zeit mit Fragen dieser Art konfrontiert, zumeist allerdings dann, wenn es „zu spät” ist, d. h. wenn die Handlung bereits geschehen ist, sie also in der Vergangenheit liegt. Dann kann mich das „schlechte Gewissen” plagen, weil ich z.B. gelogen habe, oder mir wird von anderen vorgehalten, etwas „Schlechtes” getan, z. B. ein Versprechen nicht eingehalten zu haben. Die Frage, wie es denn wohl richtig sei zu handeln, weist in die Zukunft und stellt sich besonders radikal in schwierigen Entscheidungssituationen. Erinnert sei hier als Beispiel an Oberst Klein und den „Fall Kunduz”. Tanklastzüge wurden in der Vergangenheit in Afghanistan des Öfteren als Waffe der Taliban gegen die alliierten Truppen eingesetzt. Insofern war es ein völlig legitimes Ziel, Tanklastzüge zu bekämpfen bzw. zu zerstören, wobei hier die Frage, ob es auch möglich gewesen wäre, die Tanklastzüge in die eigene Gewalt zu bekommen, in diesem Zusammenhang keine Rolle spielt. Wie allgemein bekannt, blieb aber das Bombardement der Tanklastzüge nicht ohne Nebeneffekte: Viele Menschen, darunter auch Zivilisten, fanden dabei den Tod. Und damit sind wir mitten im Thema: Menschliches Handeln kann eine doppelte Wirkung haben, und während die erste Wirkung (Zerstörung eines militärischen Zieles) bewusst gewollt ist, weil sie gut und richtig ist, sind die Nebenfolgen als zweite Wirkung für sich genommen, also unabhängig von dem ersten Ziel, nicht gut, also nicht legitimierbar; denn Menschen zu töten ist zunächst einmal eine schlechte Handlung, nicht erlaubt und nur unter ganz bestimmten Bedingungen zulässig (z. B. in Notwehr). Die Frage stellt sich nun: Unter welchen Bedingungen sind die Nebeneffekte dennoch hinnehmbar, d. h. erlaubt? Da diese Frage mit zu den schwierigsten überhaupt zählt, wird das Prinzip der Doppelwirkung auch gerne als Kernstück der Ethik bezeichnet. Das hier zur Diskussion stehende Thema soll nun an weiteren, dem aktuellen Tagesgeschehen weniger verbundenen Beispielen verdeutlicht werden. Fall A: Bei der Geburt eines Kindes gibt es Komplikationen. Das Leben der Mutter kann nur gerettet werden, wenn das Kind durch die Zertrümmerung des Schädels getötet wird. Andernfalls sterben Mutter und Kind. Fall B: Bei einer schwangeren Frau wird Gebärmutterkrebs diagnostiziert. Die einzige Möglichkeit, ihr Leben zu retten, ist die Entfernung der Gebärmutter, wobei der Fötus getötet wird. In beiden Fällen geht es um die Rettung des Lebens der Mutter und die Tötung des Kindes bzw. des noch Ungeborenen. Klar ist: Das Leben eines Menschen zu retten ist moralisch geboten und das Töten eines Menschen ist moralisch verboten. Wenn nun das moralisch Gebotene nur durch die Missachtung des Verbotenen ermöglicht werden kann, besteht ein wirkliches Dilemma. Wie lässt sich dieses nun lösen? Dazu ist es hilfreich, den Unterschied zwischen Fall A und Fall B zu analysieren. Im Fall A besteht die Handlung in der direkt beabsichtigten Tötung des Kindes, was nicht erlaubt ist. Im Fall B besteht die Handlung in der Entfernung der Gebärmutter, was deshalb erlaubt ist, weil die Folge, nämlich die Tötung des Kindes, nicht beabsichtigt ist; sie ist „lediglich” der Nebeneffekt, der in Kauf genommen wird. – Nebenbei sei darauf hingewiesen, dass zur Lösung im Fall A das Prinzip der Doppelwirkung offenbar nicht anwendbar ist; hier würden bzw. müssten dann andere Überlegungen die ausschlaggebende Rolle spielen. Das bisher Ausgeführte mag nach Haarspalterei klingen, doch für die moralische Bewertung und das, was daraus folgen mag, z. B. die Frage nach Schuld, ist ein Höchstmaß an Differenzierung unabdingbar. Weitere Beispiele – diesmal aus dem Bereich des Militärischen und damit für Soldatinnen und Soldaten von besonderer Relevanz – mögen dies belegen: Fall C: Ein Krieg soll durch die Bombardierung der Zivilbevölkerung (schneller) beendet werden. Im Zweiten Weltkrieg wurde so verfahren. Durch die Bombardierung der deutschen Zivilbevölkerung durch die Alliierten sollte die Kampfmoral gebrochen werden. Auch stand hinter dem Atombombenabwurf der USA auf Städte in Japan die erklärte Absicht der amerikanischen Regierung, Japan zur Kapitulation zu bewegen und befürchtete hohe Verluste auf amerikanischer Seite bei der Eroberung Japans zu vermeiden. Fall D: Ein Krieg soll durch die Bombardierung militärischer Ziele (schneller) beendet werden. Bei der Bombardierung werden allerdings auch Zivilisten sterben. Wenn in einem Krieg Zivilisten betroffen sind, kommt die völkerrechtlich wichtige Frage nach deren Status ins Spiel. Grundsätzlich gelten Zivilisten als am Krieg Unbeteiligte, also als Nichtkombattanten. Doch wann werden sie zu Kombattanten? Zum Verständnis des Prinzips der Doppelwirkung ist jedoch die Klärung der damit verbundenen Problematik nicht wichtig. Wie schon in den Fällen A und B geht es auch hier darum, unter welchen Bedingungen eine gute Handlung bzw. ein gutes Handlungsziel erlaubt ist, auch wenn sie bzw. es mit einem Schaden verbunden ist. Im Fall C rechtfertigt das Mittel (Bombardierung der Bevölkerung) nicht den Zweck (Beendigung des Krieges). Die direkte und beabsichtigte Bombardierung der Bevölkerung ist völkerrechtswidrig, ja letztlich ein Kriegsverbrechen. Im Fall D liegen die Dinge anders: Die Bombardierung militärischer Ziele ist im Krieg legitim und erlaubt; eine Absicht, die Zivilbevölkerung zu treffen, liegt nicht vor. Der Tod von unbeteiligten Zivilisten ist eine unbeabsichtigte Nebenfolge. Die bisherigen Ausführungen sollten die Struktur des Prinzips der Doppelwirkung deutlich werden lassen. Damit soll – gerade was die Fälle C und D betrifft – nicht ausgeblendet werden, dass die Wirklichkeit oft noch komplizierter ist. Was ist z. B., wenn das militärische Ziel von zweitrangiger Bedeutung ist, aber unverhältnismäßig viele Zivilisten dabei sterben würden? Wie verhält es sich, wenn militärische Ziele (Flugabwehreinrichtungen, Munitionsfabriken usw.) vom Gegner bewusst in Wohngebieten positioniert werden? Oder wie ist es zu bewerten, wenn der Gegner Zivilisten bewusst als Schutzschild missbraucht? Sind diese dann automatisch zu Kombattanten geworden? Nach der Veranschaulichung durch praktische Beispiele kann das Prinzip der Doppelwirkung nun theoretisch zusammengefasst und verstanden werden. Dieses Prinzip wird gewöhnlich so formuliert: Die Zulassung oder Verursachung eines Schadens ist dann erlaubt, wenn 1. die Handlung nicht „in sich schlecht” ist (z. B. die Entfernung der Gebärmutter in Fall B); 2. der Schaden nicht in sich selbst als Zweck direkt beabsichtigt ist (mit Schaden ist hier die Tötung des Fötus in Fall B bzw. von Zivilisten in Fall D gemeint); 3. der Schaden auch nicht als Mittel zum Zweck direkt beabsichtigt ist; 4. man für die Zulassung oder Verursachung des Schadens einen entsprechenden Grund hat. Die entscheidende Bedingung des Prinzips der Doppelwirkung ist die vierte, wonach man einen Schaden nur dann verursachen oder zulassen darf, wenn man dafür einen entsprechenden Grund hat. Nur dann verbleibt die Zulassung oder Verursachung des Schadens außerhalb des beabsichtigten „Gegenstandes” der Handlung, also außerhalb des Handlungsziels. Ohne einen entsprechenden Grund erscheint die Zulassung oder Verursachung des Schadens „direkt” beabsichtigt und ist dadurch „in sich schlecht”. Es geht beim Prinzip der Doppelwirkung also um die Frage, wann die Zulassung oder Verursachung eines Schadens tatsächlich schlecht ist und wann nicht. MS 28 02/2 0 1 0 • Was ist Ethik? zum Thema Impressum SUDOKU So geht's: Füllen Sie die leeren Felder des Sudokus mit Zahlen. Dabei müssen in jeder Zeile, in jeder Spalte und in jedem der quadratischen Neuner-Blocks aus 3 x 3 Kästchen alle Zahlen von 1 bis 9 stehen. Keine Zahl darf also in einer Zeile, einer Spalte oder einem Block doppelt vorkommen. Viel Spaß beim Lösen! 8 3 9 2 9 5 5 1 9 7 4 8 2 4 2 6 9 8 1 6 3 4 9 7 6 3 8 9 7 1 5 Sudoku_VorlageCS5.indd 3 zum Die nächste Ausgabe behandelt den Themenschwerpunkt „Die Werteordnung des Grundgesetzes“ Herausgeber: Katholisches Militärbischofsamt Am Weidendamm 2, D-10117 Berlin Fon: 030/20617-0 Fax: 030/20617-199 Internet: www.katholischemilitaerseelsorge.de E-Mail: [email protected] Verlag: J.P. Bachem Medien GmbH Ursulaplatz 1 D-50668 Köln Geschäftsführer: Lambert Bachem, Claus Bachem 2.2010 Auflösung aus dem letzten Heft: 1 8 3 6 5 4 7 9 2 4 6 7 8 2 9 5 1 3 2 5 9 7 1 3 4 8 6 8 1 6 5 9 7 2 3 4 5 9 4 1 3 2 8 6 7 3 7 2 4 8 6 1 5 9 9 2 5 3 4 8 6 7 1 7 3 8 2 6 1 9 4 5 6 4 1 9 7 5 3 2 8 Verlagsleiter: Martin Lohmann Fon: (0221) 16 19-0 Fax: (0221) 16 19-214 Autoren/Textzusammenstellung: MS (Manfred Suermann) MV (Michael Veldboer) Schlusslektorat: Dr. Markus Weber Grafisches Konzept & Gestaltung: Petra Drumm Fon: (0221) 16 19-950 E-Mail: [email protected] Objektleitung: Mark Piechatzek Fon: (0221) 16 19-143 E-Mail: [email protected] Druck: Vorländer & Rothmaler GmbH & Co. KG, Siegen 18.10.10 11:24 Thema zum Thema – Themenheft für Soldatinnen und Soldaten zum Lebenskundlichen Unterricht Abbildungsnachweise: Titel: Affordable Illustration Source, gettyimages; S. 3, Affordable Illustration Source, gettyimages; S. 4, T. 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