mitteilungen | VDD Phenylketonurie (PKU) – eine Erfolgsgeschichte der Dätbehandlung Im Themenblock „Pädiatrische Diätetik im Wandel der letzten 50 Jahre“ referierte Professor Josef Weglage, Münster, über das Thema „Angeborene Eiweißstoffwechselstörungen – es begann mit der PKU“. Der nachstehende Beitrag ist die Langfassung dieses Vortrages. Agnes van Teeffelen-Heithoff Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin Albert-Schweitzer-Str. 33, 48129 Münster Dr. Reinhold Feldmann Universitätskinderklinik Albert-Schweitzer-Str. 33 48149 Münster Prof. Dr. med. Josef Weglage Goldstr. 41, 48147 Münster 424 1934 entdeckte I. FÖLLING die Phenylketonurie als Ursache schwerer mentaler und psychomotorischer Retardierung. Er löste damit einen wegweisenden Paradigmenwechsel in der Medizin aus, konnte er doch erstmals zeigen, dass nicht die Behinderung selbst angeboren ist, sondern durch einen Stoffwechseldefekt mittelbar verursacht wird. Die erbliche Störung des Eiweißstoffwechsels gilt heute als die besterforschte durch Enzymdefekte verursachte Erkrankung = Enzymopathie. Sie tritt in den meisten Bevölkerungen mit einer Häufigkeit von ca. 1 : 8 000 der Neugeborenen auf, wobei eine große regionale und ethnische Variabilität besteht (z. B. Türkei: 1 : 2 600, Bundesrepublik Deutschland: 1 : 8 000, Finnland 1 : 200 000). Der autosomal-rezessiven Hyperphenylalaninämie liegt u. a. eine verminderte Aktivität des fast ausschließlich in der Leber gebildeten Enzyms Phenylalaninhydroxylase zugrunde, die die Aminosäure Phenylalanin in Tyrosin umwandelt. In Abhängigkeit vom zugrunde liegenden Genotyp mit Ausprägung unterschiedlicher Restaktivitäten des Enzyms kommt es zu unterschiedlichen Anstiegen des Phenylalaninblutspiegels (normal 0,7–2 mg/dl) unter freier Kost mit nicht beschränkter Eiweißzufuhr. Ernährungs Umschau | 7/07 Die Hyperphenylalaninämien werden klassifiziert nach den PhenylalaninBlutspiegeln unter freier Kost: Klassische Phenylketonurie (HPA Typ I: Phenylalaninblutspiegel größer 20 mg/dl) Milde Form der PKU (HPA Typ II: Phenylalaninblutspiegel zwischen 10 und 20 mg/dl) Non-PKU-Hyperphenylalaninämie (HPA Typ III: Phenylalaninblutspiegel unter 10 mg/dl). In seltenen Fällen (ca. 1 %) kann die Hyperphenylalaninämie Folge einer verminderten Aktivität des für die Funktion der Phenylalalaninhydroxylase notwendigen Co-Faktors Tetrahydrobiopterin sein. Diese Erkrankung erfordert eine gesonderte Therapie. 1954 konnten H. BICKEL und Mitarbeiter erstmals zeigen, dass eine streng phenylalaninarme Diät zu einer dramatischen Verbesserung der Entwicklung betroffener Phenylketonuriepatienten führt. Seither haben sich die Diätbedingungen massiv verbessert mit der Entwicklung verschiedener Aminosäuremischungen und dem Angebot phenylalaninarmer Lebensmittel. 1961 hat B. GUTHRIE in den USA ein erstes Neugeborenenscreening bei ca. 400 000 Neugeborenen durchgeführt. Dieses Neugeborenenscreening ist in der Folge in den 1960er Jahren in Deutschland flächendeckend eingerichtet worden. Seit Einführung der Diätbehandlung ist in den meisten Studien eine weitgehend altersentsprechende intellektuelle und psychomotorische Entwicklung der Kinder berichtet worden. In den 1970er und 1980er Jahren wurde die große genetische Heterogenität des Phenylalaninhydroxylase-Gens beschrieben (inzwischen sind ca. 500 verschiedene Mutationen beschrieben). Die PKU wurde zu einer Modellerkrankung, die zeigte, dass ursprünglich als unbehandelbar erachtete „genetische Erkrankungen“ mit Erfolg behandelt werden können. Die insgesamt bahnbrechend positive Wirkung der frühzeitig nach der Geburt eingeleiteten Diät ist allgemein anerkannt und unstrittig. Auch sehr fundierte Langzeitstudien in den USA, in England und zuletzt in Deutschland in den 1970er und 1980er Jahren haben sie belegt. Uneinigkeit herrscht dagegen bis heute bezüglich der Frage, wer, wie lange und wie streng diätetisch behandelt werden sollte. Welche Behandlungsdauer ist optimal? Unter der Annahme einer ausreichenden Reifung des Gehirns wurde die Diätbehandlung – vor allem in den USA und Frankreich – zunächst mit 5–7 und später mit 10 Jahren beendet. Die insgesamt sehr optimistische Beurteilung des Diäteffekts wurde durch verschiedene Untersuchungen der letzten Jahre ein wenig in Frage gestellt. Die Intelligenzleistung und andere kognitive Funktionen sowie hirnmorphologische und neurophysiologische Befunde von Patienten mit Phenylketonurie entsprachen nicht immer den Ergebnissen vergleichbarer Normalkollektive. Die Defizite waren zum Teil mit einer unzurei- chenden Diätführung korreliert. Insbesondere war bei einem Teil der Patienten ein Abfall des Intelligenz-Quotienten (IQ) nach Beendigung der Diät berichtet worden. Darüber hinaus wurden in neueren Studien bei jüngeren Kindern, aber auch bei adoleszenten und erwachsenen Patienten neuropsychologische Symptome wie Konzentrationsprobleme, Ruhelosigkeit, verlängerte Reaktionszeiten und Störungen der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit sowie Veränderungen der weißen Hirnsubstanz beschrieben, die unter strenger Diät teilweise reversibel waren. Bei wenigen, erwachsenen Patienten wurden nach einem 10- bis 15-jährigen diätfreien Intervall schwere neurologische Erkrankungen mit Spastik, Ataxie und zerebralen Krampfanfällen beobachtet. Es ist bisher unklar, warum gerade diese Patienten erkrankten und ob es auch in Zukunft bei diesen wenigen Einzelfällen bleibt. Die ältesten, diätetisch behandelten Patienten sind um die 45 Jahre alt und haben bei normaler Lebenserwartung noch eine Lebensspanne von ca. 40 Jahren vor sich. Die wenigen Untersuchungen zur emotionalen Entwicklung und zur sozialen Integration deuten darauf hin, dass Patienten mit Phenylketonurie einem erhöhten Risiko psychischer Störungen wie Hyperaktivität, Aggressivität, Ängstlichkeit, Depressivität, geringer Frustrationstoleranz und Störungen des Sozialverhaltens ausgesetzt sind. Die Wahrscheinlichkeit psychopathologischer Fehlentwicklungen soll mit schlechter Diätführung und niedriger Intelligenz zunehmen. Die Patienten und ihre Angehörigen erleben die Diätführung oft als sehr belastend und die Lebensqualität einschränkend. Trotz dramatischer Verbesserungen im Angebot der Aminosäuremischungen, die die Patienten zu sich nehmen müssen, und der phenylalaninarmen Diätprodukte, ist der Wunsch, die Diät beenden zu können, bei vielen Patienten hoch. Unterschiedliche Schweregrade der Schädigung bei vergleichbaren Phenylalanin- blutspiegeln deuten auf individuelle Vulnerabilitätsunterschiede betroffener Patienten hin, die möglicherweise mit einem unterschiedlichen Transport des Phenylalanins vom Blut durch die BlutHirn-Schranke in das Gehirn zu tun haben könnten. In den letzten Jahren haben verschiedene Untersucher zeigen können, dass man insbesondere Patienten mit persistierender Hyperphenylalaninämie und Patienten mit milder Phenylketonurie mit Hilfe von Tetrahyrobiopterin, BH4 (Co-Enzym der Phenylalaninhydroxylase) behandeln kann und dadurch ein Absinken des Blutphenylalaninspiegels bei unveränderter Literatur-Tipp: Einen sehr guten Überblick über den derzeitigen Stand der PhenylketonurieGeschichte gibt das Buch: Nenad Blau (Hrsg.): PKU and BH4: Advances in Phenylketonuria and Tetrahydrobiopterin. Sps publications, 2006. Ernährung erreichen kann. Noch ist unklar, ob die hohen Dosierungen von BH4 auch langfristig keine Nebenwirkungen haben werden. Auch sind einige Patienten beschrieben, bei denen diese Therapie nur vorübergehend funktionierte. Da BH4 zudem sehr teuer ist, stellt es aktuell noch keine alternative Standardbehandlung der Phenylketonurie dar. Insgesamt aber ist die Therapie der Phenylketonurie eine der Erfolgsgeschichten der Kinderheilkunde. Mit frühzeitiger und guter Diätführung können sich die Kinder weitgehend normal entwickeln in ihrer Gesundheit und auch in ihren beruflichen und sozialen Bezügen. Insbesondere aufgrund der Unsicherheit, wie sich erhöhte Phenylalaninspiegel über einen längeren Zeitraum im Erwachsenenalter auswirken, ist die derzeitige weltweite Tendenz, eine lebenslange, phenylalaninarme Diät zu empfehlen. Hierzu sind weitere Untersuchungen wichtig. Ernährungs Umschau | 7/07 425