Vortragstitel: Vom praktischen Nutzen sozialer - awo-obb

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Vortragstitel: Vom praktischen Nutzen sozialer Gerechtigkeit
Referat von Franz Maget
Vizepräsident des Bayerischen Landtags
beim Sozialpolitischen Aschermittwoch der AWO Oberbayern
13. Februar 2013
Woher kommt und wie begründet sich eigentlich die Forderung
nach sozialer Gerechtigkeit und das Streben nach einer solidarischen Gesellschaft? Natürlich findet man diese Zielsetzungen
ausreichend klar und ausführlich im Grundsatzprogramm der
Arbeiterwohlfahrt oder im Parteiprogramm der SPD. Für eine
umfassende und allgemein gültige Wertorientierung aller Bürgerinnen und Bürger wäre das allein aber nicht ausreichend.
Deshalb darf man zunächst auf die lange historische Tradition
des Strebens nach einer solidarischen Gesellschaftsordnung
verweisen. In allen Freiheits- und Demokratiebewegungen der
Neuzeit ist die Forderung nach sozialgerechten Verhältnissen
stets ein zentraler Bestandteil. Besonders markant dabei ist na-
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türlich die Französische Revolution von 1789 unter dem Motto
„Liberté, Égalité, Fraternité“! Also Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Eine Losung, die sich gegen die damals herrschende
Ordnung, gegen die Macht der Monarchie und den undemokratischen Ständestaat richtete.
Zu nennen ist ebenso die gesamte Geschichte der Aufklärung,
die den Wert des einzelnen Menschen, des Individuums als
Rechtspersönlichkeit betont und unter den Schutz des Staates
stellt. Die markanteste Ausformulierung aufklärerischen Denkens findet sich im deutschen Grundgesetz gleich im ersten
Satz, in Art. 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Eine weitere Quelle für die Ausformung des Postulats einer sozial gerechten Gesellschaft ist die Geschichte der Arbeiterbewegung, also einer über 150jährigen Wegstrecke der Gewerkschaften, der SPD und seit 1919 auch der Arbeiterwohlfahrt für
Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat. Sowohl die Programmgeschichte, als auch die parlamentarischen Auswirkungen (Arbeitsrecht, Sozialrecht, Betriebsverfassung, Mitbestimmung usw.) sowie der Aufbau der Sozialversicherungssysteme
spiegeln die immer weiter fortschreitende sozialstaatliche Ausgestaltung unserer Gesellschaft deutlich wider.
Unbedingt erwähnen muss man auch den christlichen Glauben
als wichtige Quelle sozialen Denkens und Handelns. Es ist zwar
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richtig, dass in den zurückliegenden Jahrhunderten die christlichen Kirchen in der Regel auf der Seite der Mächtigen stand
(Einheit von Kirche und Thron) und mit den Demokratiebewegungen noch bis zum Ende des 2. Weltkriegs ihre Schwierigkeiten hatten. Es ist aber ebenso richtig, dass in der Bibel ganz
zentrale Aussagen getroffen werden, die eine sozial gerechte
Gesellschaft einfordern. Ich nenne als einziges Beispiel den
Brief des Apostels Paulus an die Galater, in dem es heißt: „Der
eine trage des anderen Last!“ und weiter: „So werdet ihr das
Gesetz Christi erfüllen“. Hierin finden wir geradezu die Grundlage für gesellschaftliche Solidarität.
Aus all den genannten Quellen speisten sich die Verfassungen
der westlichen Demokratien. Verfassungen sind das Leitbild
und die Richtschnur für politisches Handeln und der Geist, der
durch unsere Gesetzgebung weht oder zumindest wehen sollte.
Im deutschen Grundgesetz wird bereits in Art. 1 Gerechtigkeit
als „unveräußerliches Menschenrecht“ benannt, zu dem sich
das deutsche Volk bekenne.
- Art. 14, 2, häufig allerdings leider vergessen, lautet: „Eigentum verpflichtet, sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der
Allgemeinheit dienen.“
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- Und Art. 28 definiert die Bundesrepublik Deutschland als einen „demokratischen und sozialen Rechtsstaat.“
Noch stärker ausgeprägt verweist darauf die Bayerische Verfassung vom Dezember 1946. In Art. 3 heißt es darin: „Bayern
ist ein Rechts-, Kultur- und Sozialstaat. Er dient dem Gemeinwohl.“ Um dann an vielen Stellen, insbesondere im Teil „Wirtschaft und Arbeit“ ausführlich Gerechtigkeitspostulate zu formulieren.
- Art. 151: „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem
Gemeinwohl… Die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen findet ihre Grenze in der Rücksicht auf den Nächsten und auf
die sittlichen Forderungen des Gemeinwohls.“
- Art. 157: „Kapitalbildung ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel
zur Entfaltung der Volkswirtschaft.“
- Art. 158: „Eigentum verpflichtet gegenüber der Gesamtheit.
Offenbarer Missbrauch des Eigentums – oder Besitzrechts
genießt keinen Rechtsschutz.“
- Art. 168: „Jede ehrliche Arbeit hat den gleichen sittlichen
Wert und Anspruch auf angemessenes Entgelt. Männer und
Frauen erhalten für gleiche Arbeit den gleichen Lohn.“
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- Art. 169: „Für jeden Berufszweig können Mindestlöhne festgesetzt werden.“
Das Modell einer sozialgerechten und solidarischen Gesellschaftsordnung ist in besonderer Weise ein zentrales Merkmal
der west- und kontinentaleuropäischen Verfassungen. Anders
als etwa in den USA, wo dem individuellen Streben nach Glück
(„pursuit of happiness“) breiterer Raum beigemessen wird, ist
die Gerechtigkeit als sozialethisches und politikleitendes
Grundprinzip ein konstitutives und geradezu identitätsstiftendes
Moment der Kernländer der Europäischen Union. Deshalb ist es
nur allzu naheliegend und auch notwendig die Forderung zu erheben die Europäische Union zu einem europäischen Sozialmodell weiter zu entwickeln und sie nicht länger nur als bloßen
Binnenmarkt zu begreifen.
Ich habe bislang über Ethik, Moral, Verantwortung und mehr
oder weniger ideelle Vorstellungen gesprochen. Der Titel meines Vortrages lautet aber ganz anders. Ich bin nämlich der
Überzeugung, dass man all den genannten ethischen Begründungen für gesellschaftliche Solidarität eine weitere hinzufügen
muss, die aus meiner Sicht sogar die wichtigste ist und die wir
viel zu selten nennen. Diese Begründung lautet, dass soziale
Gerechtigkeit einen praktischen Nutzen hat. Dass sozial gerechte Gesellschaften besser funktionieren und auf längere
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Sicht auch ökonomisch erfolgreicher sind. Für diese These
muss man natürlich Belege und eine Begründung liefern.
Die bisher umfangreichste Untersuchung zu diesem Thema
stammt aus dem Jahr 2009 und kommt von den renommierten
Wissenschaftlern Richard Wilkinson und Kate Pickett. Auf
deutsch ist diese Untersuchung unter dem Titel „Gleichheit ist
Glück – warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind“
erschienen. In dieser ausführlichen Studie wird deutlich gemacht und mit zahlreichen statistischen Daten belegt, dass Gesellschaften, in denen es besonders ungerecht zugeht und die
eine besonders ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen aufweisen, erhebliche Nachteile erleiden. Beispielsweise verzeichnen sie wesentlich höhere Kriminalitätsraten, eine
geringere Volksgesundheit und niedrige Lebenserwartung.
Zum Thema Gesundheit heißt es darin wörtlich: „Die entscheidende Erkenntnis besteht darin, dass Sterblichkeit und Gesundheit in einer Gesellschaft weniger von ihrem Reichtum insgesamt abhängen, sondern von der Verteilung des Reichtums.
Je gleichmäßiger der Reichtum verteilt ist, desto besser die
Volksgesundheit.“ In „schlechten“ Wohngegenden in Großbritannien und den USA, wo die Studie entstand, kann die Lebenserwartung demnach im Durchschnitt um bis zu 10 Jahre
niedriger sein. Größere Existenzängste, Angst vor Arbeitslosigkeit und gesellschaftlichem Abstieg, das Erleben von Ausgren6
zung und Hilflosigkeit führe, so die Forscher, zu erheblichen
psychosozialen Folgen und erhöhen das Gesundheitsrisiko.
Auch das Vertrauen der Menschen untereinander schwindet,
wenn die Ungleichheit in einer Gesellschaft besonders groß ist.
„Wächst die Ungleichheit, dann sorgen sich die Menschen weniger umeinander, es gibt weniger gleichberechtigte Beziehungen, weil jeder schauen muss, wo er bleibt. Zwangsläufig sinkt
auch das Niveau des Vertrauens.“ Das Vertrauen der Menschen in die gesellschaftlichen Institutionen, in die Rechtsordnung und auch untereinander ist entscheidend für das Funktionieren einer Zivilgesellschaft. Gegenseitiges Vertrauen führt
auch dazu, dass mehr Bereitschaft zu Solidarität, zum Spenden
für wohltätige Zwecke und vor allem auch zur Übernahme ehrenamtlicher Aufgaben besteht.
Gesellschaften, in denen es weniger sozialen Ausgleich und eine große Ungleichheit gibt sind härter. Das gegenseitige Vertrauen ist geringer, die persönlichen Ängste sind größer, gegenseitiger Respekt und Toleranz schwinden, Gewalt und Kriminalität nimmt zu. Die Zahl der jährlichen Mordfälle beispielsweise beträgt in Norwegen 6 pro eine Million Einwohner, in den
USA 60.
In den USA sitzen gegenwärtig 2,3 Millionen Menschen im Gefängnis. Das sind 0,73 % der Gesamtbevölkerung, die höchste
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Quote der ganzen Welt und zehnmal mehr als in Deutschland.
In Bayern gibt es zur Zeit 9500 Häftlinge. Das sind 0,07 Prozent
der Bevölkerung. Hätten wir amerikanische Verhältnisse, wäre
die Zahl also zehnmal so hoch, sprich 95.000 Gefängnisinsassen. Erschreckend ist auch, dass sich die Zahlen in den USA
und in Großbritannien in den letzten Jahren dramatisch erhöht
haben und zwar parallel zur Auseinanderentwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung. Auch die Höhe der Strafen (Ausdruck für die zunehmende Härte dieser Gesellschaften)
hat deutlich zugenommen. Die Zunahme der Kriminalität führt
zu der absurden Situation, dass es in den USA einzelne Staaten gibt, in denen für Strafvollzug mehr Geld aufgewendet werden muss als für Sozialfürsorgeleistungen. Kalifornien hat seit
1984 nur ein neues College gebaut, aber 21 neue Gefängnisse.
Mittlerweile gibt es in der wissenschaftlichen Literatur und in der
politischen Diskussion ein anerkanntes Standardmaß, mit dem
Gleichheit und Ungleichheit von Gesellschaften gemessen wird,
den sogenannten Gini Koeffizienten. Dieser ist benannt nach
dem italienischen Statistiker Corado Gini und wird mittlerweile
in sämtlichen internationalen Statistiken zur Feststellung der
Einkommensverteilung in einzelnen Staaten angewendet. Der
Gini Koeffizient nimmt einen Wert zwischen 0 an, wenn in einem Staat das Einkommen eines jeden gleich hoch wäre, und
1, wenn nur eine Person das komplette Einkommen erhalten
würde also maximale Ungleichverteilung bestünde. Einen Koef8
fizienten von 0,3 und etwas geringer haben beispielsweise
Schweden und Norwegen, auch Deutschland ist noch in dieser
Größenordnung. 0,5 und höher verzeichnen Afrika und Lateinamerika. Die USA liegen mit 0,47 bereits annähernd in diesem
Bereich.
Welche gesellschaftlichen Folgen es hat, wenn sich eine Gesellschaft wie die USA dem Verteilungsniveau afrikanischer
Staaten nähert, beschreibt der bekannte Nobelpreisträger für
Wirtschaft und ehemalige Chefvolkswirt der Weltbank, Joseph
Stiglitz in seinem Buch „Der Preis der Ungleichheit – wie die
Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht.“
Stiglitz schildert im Detail und eindrucksvoll an vielen Beispielen, wie ungleich sich die Einkommens- und Vermögensverteilung in den Vereinigten Staaten von Amerika in den letzten Jahren entwickelt haben. Haben früher Vorstände in wichtigen Unternehmen das 20fachige eines Arbeitnehmergehaltes erhalten,
so ist es heute das 200fache. Gleichzeitig haben die Immobilienkrise, die Ausweitung des Niedriglohnsektors, der Anstieg
der Arbeitslosigkeit in der Rezession bei gleichzeitig besonders
knausriger Arbeitslosenunterstützung, das Fehlen einer gesetzlichen Krankenversicherung und die Einschränkung von Sozialprogrammen zu einem regelrechten Absturz breiter Bevölkerungsschichten geführt. „Es fließt immer mehr Geld nach oben,
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während mehr Menschen nach unten absteigen,“ schreibt
Stiglitz über die USA.
Verschärft wurde diese seit Jahren stattfindende Entwicklung
durch die Folgen der Finanzmarktkrise. Während sie von den
Finanzmärkten und Spekulanten ausgelöst wurde, müssen die
Folgen die Arbeitnehmer und die unteren Schichten tragen.
Ausgabenprogramme, die einen guten Teil der Einkommen sozial Schwacher ausmachen wie Wohngeld, Kindergeld, kostenloses Schulessen, öffentliche Gesundheitsprogramme und ähnliches wurden beschnitten, gleichzeitig der Spitzensteuersatz
gesenkt, auf eine faire Erbschaftssteuer verzichtet und die Besteuerung von Kapitalerträgen wesentlich niedriger als die auf
Einkommen angesetzt. Dadurch sind die Vermögen wesentlich
schneller gewachsen als die Einkommen.
Als Folgen dieser Fehlentwicklung bezeichnet der Ökonom
Stiglitz folgende:
- „Gesellschaften mit großem Verteilungsgefälle funktionieren
nicht effizient, ihre Volkswirtschaften sind instabil und langfristig nicht tragfähig.“
- „Nur ein funktionsfähiger Staat, der über ausreichend hohe
Steuereinnahmen verfügt, kann Investitionen tätigen, die langfristig ein hohes Wirtschaftswachstum sicherstellen.“
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- „Eine moderne Gesellschaft erfordert gemeinschaftliches
Handeln. Ungleichheit führt zu Instabilität und schmälert den
Erfolg und die Effizienz einer Volkswirtschaft.“
- „Wenn die Reichen sich gegen Steuererhöhungen wehren,
sägen sie den Ast ab, auf dem sie selber sitzen.“
Auch auf die Demokratie insgesamt wirkt sich, so Stiglitz, zunehmende Ungleichheit schädlich aus. Die Dominanz der Finanzmärkte untergrabe das Vertrauen breiter Bevölkerungsschichten in die Wirtschaft und in die demokratischen Institutionen. Die Armen sehen sich ausgegrenzt und haben keine Erwartung auf Besserung durch politische Veränderungen. Die
Reichen hingegen können ihre ökonomischen und politischen
Interessen leichter durchsetzen. Die Mittelschicht hat kaum
Chancen auf gesellschaftlichen Aufstieg, sondern nur noch
Angst vor dem Abstieg. Ein anderer Nobelpreisträger für Wirtschaft, der Amerikaner Paul Krugmann, sagt dazu: „Extreme
Einkommenskonzentration und –unterschiede sind unvereinbar
mit wahrer Demokratie.“
Schon im Jahr 1996 hat sich eine Kommission des britischen
Oberhauses unter der Leitung des ehemals deutschen Soziologen Dr. Rolf Dahrendorf mit dieser Frage auseinandergesetzt.
In ihrem „Report on wealth creation and social cohesion in a
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free society“ kommen sie zu dem Ergebnis, dass der Ausschluss einer großen Zahl von Menschen von nützlicher und
anständig bezahlter Beschäftigung und oft auch von sozialer
und politischer Teilhabe ein völlig unakzeptabler Preis für materiellen Wohlstand anderer sei.
Vielmehr sei es notwendig sozialen Zusammenhalt zu fördern
und als existenziellen Teil einer Wohlstandsgesellschaft zu fördern. Sozialer Zusammenhalt sei ein unverzichtbarer Bestandteil einer Wirtschaftspolitik, die das Ziel des Wohlbefindens seiner Bürgerinnen und Bürger verfolge. Wohlgemerkt: Dieser Bericht stammt von Mitgliedern des britischen Oberhauses, in dem
Adelige und gesellschaftlich besonders angesehene, häufig
auch vermögende, Mitglieder dominieren. Deshalb zitieren sie
auch als Leitbild für die „oberen Zehntausend“ sie sollten aus
„wohlverstandenem Eigennutz“ einsehen, „dass das eigene
Wohlergehen in letzter Konsequenz davon abhängt, dass man
das Gemeinwohl beachtet.“ Ökonomisch verkürzt bedeutet das:
Einkommen, auch aus Sozialleistungen der unteren sozialen
Schichten, fließen zu 100 Prozent in den Konsum und damit zurück in den Wirtschaftskreislauf. Hohe Einkommen und hohe
Vermögen suchen dagegen nahezu verzweifelt nach lukrativen,
besonders rentablen, häufig aber auch riskanten Anlagemöglichkeiten.
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Ein besonders schönes Buch zu diesem Thema ist jüngst ebenfalls in Amerika erschienen. Der Autor heißt Michael Sandel und
der Titel des Buches lautet: „what money can’t buy“, was man
von Geld nicht kaufen kann. Seine These ist, dass wir von einer
Marktwirtschaft, die die Produktion und Verteilung von Gütern
steuert, zu einer Marktgesellschaft geworden sind, in der die
Moral durch ökonomisches Kalkül ersetzt wird. Und er stellt die
provozierende Frage, ob wir wirklich weitergehen sollen in Richtung einer marktkonformen Demokratie oder nicht lieber wieder
für eine demokratiekonforme, soziale Marktwirtschaft kämpfen
sollten, in der ethische Grundsätze, das Gemeinwohl und öffentliche Güter im Mittelpunkt stehen sollten.
Zur ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung tragen
natürlich insbesondere politische Entscheidungen und die teilweise rigorose Durchsetzung persönlicher Interessen einflussreicher Bürger bei. Eine Ursache für die beschriebene Fehlentwicklung liegt aber auch darin, dass wir generell die falschen
Begriffe und Maßstäbe verwenden, um den Wohlstand und die
Qualität einer Gesellschaft zu messen.
Ich meine z.B. den Leitbegriff Wachstum. Wachstum ist für uns
so uneingeschränkt bedeutsam und scheinbar unverzichtbar,
dass wir schon gar nicht mehr fragen, was eigentlich wachsen
soll. Wir sind sogar so fixiert darauf, dass selbst ein Rückgang
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als negatives Wachstum bezeichnet wird. Hauptsache eben
Wachstum.
Noch bedenklicher ist die Messgröße Bruttosozialprodukt.
Stiglitz dazu: „Unsere Messsysteme wirken sich darauf aus, wie
wir unseren Wohlstand einschätzen. Wenn wir das falsche
messen, sind wir versucht, das falsche zu tun und falsche
Schlüsse darüber zu ziehen, was ein gutes Wirtschaftssystem
ausmacht.“ Die Messgrößen Bruttoinlandsprodukt oder Bruttosozialprodukt unterscheiden nicht zwischen konstruktiven und
destruktiven Ereignissen. Deshalb wirken sich verheerende Autounfälle positiv im Bruttoinlandsprodukt aus, weil Reparaturen
anfallen, ebenso wie Naturkatastrophen die große Wiederaufbaukosten auslösen. Das Bruttoinlandsprodukt sagt nichts aus
über den Verbrauch von Ressourcen und den Zustand der
Umwelt. Es beinhaltet nicht Investitionen in Bildung oder Fortbildung, die lediglich als Konsumausgaben gewertet werden.
Am bekanntesten ist dazu wohl immer noch der Satz von Robert Kennedy aus dem Jahr 1968: „Das BIP sagt nichts aus
über die Gesundheit unserer Kinder, die Qualität der Erziehung
und Ausbildung oder die Freude ihres Spiels. Es berücksichtigt
weder Gerechtigkeit in unseren Gerichten, noch die Qualität
unserer Ehen. Es misst weder unseren Mut noch unsere Weisheit oder unsere Hingabe an unser Land. Kurz gesagt, es misst
alles, außer den Dingen, die das Leben lebenswert machen.“
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Es ist deshalb dringend notwendig an die Stelle dieses falschen
Gradmessers ein völlig neues Verständnis von Wohlstand und
gesellschaftlichem Wohlergehen zu setzen. Dieser neue Ansatz
muss nicht nur Beschäftigungszahlen enthalten, sondern auch
Arbeitsbedingungen, Umweltdaten wie Wasserqualität oder
Ressourcenverbrauch, Bildungsgerechtigkeit, soziale Aufstiegschancen ebenso wie die Stabilität unserer sozialen Sicherungssysteme, die Qualität der Pflege ebenso wie demokratische Bürgerrechte und Partizipation.
Vor wenigen Tagen hat jetzt eine Enquete-Kommission des
Deutschen Bundestages empfohlen als Gradmesser künftig einen Wohlstandsindikator einzuführen, der endlich auch die Einkommensverteilung, die Qualität der Arbeit, Artenvielfalt und
Klimaschutz beinhaltet.
Ist eine Politik für mehr soziale Gerechtigkeit, die zusätzlich den
allgemeinen gesellschaftlichen Nutzen mehrt, möglich und
wenn ja, wie könnte sie aussehen? Ich möchte fünf Punkte
nennen.
1. Es muss endlich ernst gemacht werden mit der Regulierung
der Banken und der Bändigung der Finanzmärkte. Diese haben aus purem Gewinnstreben die Weltwirtschaft mit toxischen Papieren überschwemmt und eine weltweite Krise
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ausgelöst. Zu deren Bewältigung mussten die westlichen Industriestaaten in den letzten fünf Jahren 1600 Milliarden Euro für die Stabilisierung der Banken und weitere 2000 Milliarden Euro für Konjunkturprogramme zur Bewältigung der
ökonomischen Folgewirkungen aufwenden. Dabei ist das
Wohl der Finanzmärkte über die Interessen der einfachen
arbeitenden Menschen gestellt und so gut wie nichts getan
worden, um die Ursachen der Krise zu bewältigen. Deshalb
sind jetzt endlich auch im nationalen Rahmen Maßnahmen
erforderlich wie
- die Einführung einer Finanztransaktionssteuer
- die strikte Trennung von Investment- und herkömmlichen
Geschäftsbanken
- die Eindämmung der Spekulation mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln
- die Begrenzung der Bonuszahlungen und anderer Gehaltsexzesse
- das Trockenlegen von Steueroasen
- der Aufbau privatwirtschaftlicher Rettungsschirme die
Banken selbst finanzieren, statt staatlicher vom Steuerzahler finanzierter Rettungsschirme.
Insgesamt müssen Haftung und Risiko wieder zusammengehören. Banken müssen wieder Dienstleister sein und keine
Spekulanten, die mit fremder Leute Geld hohe Einsätze wa16
gen und die Risiken dann wenn’s schiefgeht beim Steuerzahler abladen. Ich erinnere mich noch gut an die Kritik am
Sparkassenmodell mit einem angeblichen Wettbewerbsvorteil durch die Gewährträgerhaftung. Genau diese staatliche
Gewährträgerhaftung ist bei den Privatbanken nun eingetreten, weil man sie für systemrelevant erklärt hat (too big to
fail).
Die Aufgabe ist also nicht die Kapitulation vor der globalen
Macht der Finanzmärkte, sondern deren Regulierung und
Ausrichtung auf die Prinzipien des Gemeinwohls. Dies wäre
von enormen praktischem Nutzen für alle Staaten und alle
Bürgerinnen und Bürger.
2. Wir müssen immer wieder aufs Neue auf die Stabilität und
den Erhalt unserer sozialen Sicherungsmodelle achten.
Deshalb müssen wir die soziale Krankenversicherung in der
nächsten Legislaturperiode zu einer sozialen Bürgerversicherung ausbauen und nicht weitermachen auf dem Weg zur
Zwei-Klassen-Medizin. Wir haben gesehen, dass Gesundheit
sehr viel mit sozialer Lage und finanziellen Möglichkeiten zu
tun hat. Das darf aber so nicht sein. Eine gute Gesundheitspolitik hat zum Ziel, dass alle Bürgerinnen und Bürger die
notwendigen medizinischen Hilfen erhalten und zwar unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten. Eine gute
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Gesundheitspolitik setzt zudem den Schwerpunkt auf die
Prävention und will kein reiner Reparaturbetrieb sein.
Die gesetzliche Rentenversicherung ist besser als alle anderen Alterssicherungssysteme der Welt. In den USA haben
Millionen von Menschen, die in privaten Versicherungen und
Pensionsfonds für das Alter gespart haben, alles verloren. In
Deutschland gewährt der Generationenvertrag Stabilität und
Nachhaltigkeit. Lassen wir uns diese Errungenschaft nicht
schlecht reden.
Notwendig ist aber die Alterssicherung armutsfester zu machen. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist, dass endlich
wieder faire Löhne in unserem Land bezahlt werden, dass
gesetzliche Mindestlöhne eingeführt und Millionen Menschen
aus Niedrig- und Dumpinglöhnen herausgeholt werden. Gute
Ausbildung, sichere Arbeitsplätze und auskömmlicher Lohn
sind die beste Versicherung gegen Armut im Alter.
Das Funktionieren unserer sozialen Sicherungssysteme führt
zu gesellschaftlicher Stabilität, es stärkt das Vertrauen der
Menschen in die staatlichen Institutionen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. All das ist von praktischem Nutzen für alle.
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3. Liberalisierung, Deregulierung und die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen waren die herrschende Ideologie der
letzten Jahre und wurden als der beste Weg für eine erfolgreiche Wirtschaft propagiert. Dieser Weg hat sich allerdings
als folgenschwerer Irrtum herausgestellt.
Wer sich beispielsweise die Folgen der Privatisierungen der
Trinkwasserversorgung anschaut, wird schnell feststellen,
dass überall die Preise gestiegen sind und die Qualität
schlechter geworden ist. Gleichzeitig sind notwendige Investitionen in den Bestand unterblieben, um die Gewinne der
privaten Anbieter noch weiter zu steigern. Am Ende musste
die öffentliche Hand die maroden Wasserleitungen wieder
zurücknehmen und reprivatisieren. Auf Kosten der Steuerzahler versteht sich.
Da waren schon die alten Römer klüger. Das römische Recht
kannte ausdrücklich das res extra commercium, also
Rechtsbereiche, die dem Handel und privatwirtschaftlichem
Wirtschaften entzogen waren. Dazu gehörten
- die heiligen Gegenstände (res divini juris)
- öffentlich-rechtliche Bereiche wie Straßen, Plätze, Theater
etc. (res publicae)
- dem Allgemeinwohl dienende Aufgaben wie Luft, Wasser,
freier Zugang zu Küstenstreifen (res communes omnium).
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An diese Prinzipien sollten wir wieder anknüpfen und dafür
Sorge tragen, dass öffentliche Güter in öffentlicher Verantwortung angeboten werden. Deshalb bin ich ein Anhänger
der kommunalen Wohnungspolitik, um die Wohnungsversorgung nicht allein privaten Bauträgern zu überlassen. Deshalb
bin ich ein Anhänger der Sparkassen- und Genossenschaftsbanken, um die Kreditversorgung der Bürger und der
Wirtschaft nicht allein großen privaten Geldinstituten zu überlassen. Deshalb bin ich ein Anhänger der kommunalen
Stadtwerke, um die Energieversorgung nicht allein internationalen, gewinnorientierten Energiekonzernen zu überlassen.
Und deshalb bin ich auch ein Anhänger der kommunalen und
der frei gemeinnützigen Träger in der Sozialwirtschaft, weil
ich auch hier nicht alles privaten Trägern überlassen möchte.
4. Zum sozialen Zusammenhalt gehören nach meiner Überzeugung auch die Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an den wirtschaftlichen Entscheidungen, ein gutes
Arbeitsrecht, ein Schutz vor willkürlicher Kündigung und eine
gewisse Sicherheit des Arbeitsplatzes. Vor 150 Jahren, als
die SPD gegründet wurde, waren Arbeitnehmer keine
Staatsbürger sondern Untertanen. Sie hatten keinerlei
Rechtsschutz, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, natürlich keinen 8-Stunden-Tag und auch keine 40-StundenWoche und sie lebten in unzumutbaren sozialen Verhältnis20
sen. Seither hat sich wahrlich viel getan und die soziale Stellung der arbeitenden Menschen in der Arbeitswelt und in der
Gesellschaft hat sich grundlegend geändert. Wir sind ein
demokratischer und sozialer Rechtsstaat geworden.
Allerdings hat auch in Deutschland die ungleiche Verteilung
des Wohlstandes in den letzten Jahren zugenommen. Sämtliche Sozialberichte der deutschen Länder beklagen deshalb,
dass sich die Schere zwischen Arm und Reich öffnet. Grund
genug dagegen zu steuern.
Die Teilhabe der Menschen, ist von großer Bedeutung für
das Funktionieren einer Gesellschaft. Sie ist für den einzelnen Ansporn und Motivation sich anzustrengen und Verantwortung zu übernehmen. Deutschland ist heute eine der erfolgreichsten Volkswirtschaften der Welt. Mit lediglich 80 Millionen Einwohnern stehen wir in der Spitzengruppe der Exportnationen. Ich behaupte, dass die soziale Ausgestaltung
unseres Landes für diesen Erfolg nicht hinderlich war, sondern im Gegenteil die zentrale Voraussetzung dafür. Ohne
Sozialstaat hätten wir unseren ökonomischen Erfolg niemals
erzielt. Das ist der größte praktische Nutzen sozialer Gerechtigkeit!
Übrigens muss man kein Prophet sein: Wenn die Aufsteiger
in China und Indien nicht schnell daran gehen ihre Umwelt zu
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reparieren, Energie einzusparen und vor allem für gerechtere
Lebensverhältnisse zu sorgen, werden sie ihren Erfolg nicht
dauerhaft fortsetzen können, sondern an den jetzt bereits
spürbaren sozialen Konflikten und ökologischen Problemen
zerbrechen.
5. Eine gerechte Gesellschaft braucht ein gerechtes Steuersystem. Zu den Hauptursachen für die Ungleichheit von Gesellschaften gehört, dass Spitzensteuersätze gesenkt wurden
und auf die Besteuerung von Vermögen verzichtet wird. Das
Einbringen von Vermögen in Kapitalgesellschaften oder so
genannte Zweckgesellschaften reduziert die Steuerlast drastisch.
Ein übriges tut die Steuerflucht. Der Vorsitzende der Deutschen Steuergewerkschaft, Dieter Ondracek, schätzt das Volumen der jährlichen Steuerhinterziehung in Deutschland auf
30 Milliarden Euro. Die Gesamtsumme der am Fiskus vorbei
illegal in Steueroasen verschobenen Beträge kann man nur
erahnen. Klar ist jedenfalls, dass wir längst einen ausgeglichen Staatshaushalt hätten, wenn Steuerhinterziehung konsequent bekämpft würde.
Eine progressivere Ausgestaltung der Steuersätze mit hohem Grundfreibetrag, der allen Steuerzahlern zugute kommt,
und höheren Spitzensteuersätzen wäre eine Voraussetzung
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für mehr Gleichheit, geringere Staatsverschuldung und noch
mehr Erfolg für unsere Gesellschaft. Es wäre von praktischem Nutzen für alle.
Es gibt seit dem Ende des 2. Weltkrieges zwei zentrale Erfolgsprojekte in Europa. Das eine ist der Zusammenschluss der
Staaten zur Europäischen Union, die endlich das friedliche Zusammenleben auf unserem Kontinent möglich gemacht hat und
ohne die auch die Deutsche Einheit nicht denkbar gewesen wäre. Das zweite ist der Europäische Sozialstaat, der sich aus den
Idealen der Aufklärung, der christlichen Nächstenliebe und der
Ideenwelt der Arbeiterbewegung speist. Der Sozialstaat allein
ist in der Lage die kapitalistische Marktwirtschaft mit dem Gemeinwohl zu versöhnen.
Wir wissen: Es geht uns gut, wenn alle am wirtschaftlichen Erfolg teilhaben können, wenn alle mitkommen und mitgenommen
werden. Wenn Aufstieg durch Bildung und Arbeit möglich ist
und nicht durch Beziehungen und soziale Herkunft. „Wohlstand
für alle“ hat es einmal Ludwig Erhard formuliert. Diesen tatsächlich zu erreichen, das wäre der praktische Nutzen der sozialen
Gerechtigkeit.
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