Rede des SPD-Parteivorsitzenden, Ministerpräsident Kurt Beck anlässlich SPD-Expertenkonferenz „Das soziale Europa – Zukunftsprojekt der europäischen Sozialdemokratie“ am 9. Juni 2008, Willy-Brandt-Haus, Berlin Das soziale Europa – unser sozialdemokratisches Leitbild für die Europäische Union von morgen Stand: 5. Juni 2008 Felix Porkert/ Thomas Vaupel Das soziale Europa – unser sozialdemokratisches Leitbild für die Europäische Union von morgen Sehr geehrte Damen und Herren, Exzellenzen, lieber Walter Veltroni, lieber Poul Nyrup Rasmussen, lieber Michael Sommer, lieber Martin Schulz, liebe Freundinnen und Freunde, es freut mich sehr, dass wir heute – ziemlich genau ein Jahr vor den Europawahlen im kommenden Jahr – die Gelegenheit haben, gemeinsam über die Gestaltungsperspektiven für ein soziales Europa zu sprechen, das aus meiner Sicht zentrale Zukunftsprojekt für die Europäische Union im 21. Jahrhundert. I. Europas Zukunft sozial gestalten – unsere gemeinsame Chance „Die Zukunft ist offen.“ Mit diesem Satz eröffnet das neue Hamburger Grundsatzprogramm der SPD. Es ist ein Satz, der Mahnung ist und Ansporn zugleich. Fortschritt zu mehr Freiheit und Gerechtigkeit ist nicht selbstverständlich, aber möglich, wenn wir ihn durch unser Handeln befördern. Auch die Zukunft der Europäischen Union ist in diesem doppelten Sinne offen. Zum einen: Der Fortschritt des europäischen Einigungsprozesses ist nicht selbstverständlich. Der politische Wille, der ihn trägt, muss immer wieder aufs Neue bestätigt und in gemeinsames Handeln umgesetzt werden. Kritik an einzelnen Fehlentwicklungen der Europäischen Union kann sinnvoll, zuweilen zwingend geboten sein. Sie muss aber stets den großen Wert im Blick behalten, den diese Europäische Union als historisch einzigartiges Friedens- und Wohlstandsprojekt für uns alle in Europa unverändert hat. Die Europäische Union ist unsere gemeinsame Chance in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts Fortschritte für Frieden, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit in Europa sowie darüber hinaus zu erzielen. Diesen hohen Wert der Europäischen Union dürfen wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, wir müssen die hierin liegenden Chancen offensiv nutzen. Zum anderen, und dies sollte uns allen Ansporn sein: Die europäische Integration ist auch in dem Sinne offen, dass sie nicht auf eine bestimmte Entwicklungsrichtung festgelegt ist. Es gibt unterschiedliche Entwicklungspfade, die die europäische Integration in der Zukunft nehmen kann. Die Konservativen und Liberalen in Europa wollen ein anderes Europa, eine andere Europäische Union als wir Sozialdemokraten. Sie setzen auf Marktfreiheit und Liberalisierung. Wir wollen dagegen den freien Marktkräften auch auf europäischer Ebene einen sozialen und ökologischen Rahmen geben. Wir wollen das Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft auf die Ebene der Europäischen Union übertragen und dort als leitendes Prinzip verankern. Wenn wir von dem sozialen Europa als zentralem sozialdemokratischem Zukunftsprojekts für Europa sprechen, ist es genau das, was wir meinen und erreichen wollen. II. Drei Gestaltungsebenen für das soziale Europa der Zukunft Anrede, ich sehe drei politische Gestaltungsebenen, auf denen es gilt, das soziale Europa als unsere europäische Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung zu bauen. a. Für eine europäische Koordinierung der Sozialpolitik: der vorsorgende Sozialstaat als Leitmotiv Erstens, wir müssen Sozialpolitik und soziale Sicherung im nationalen Rahmen weiterentwickeln. Das Leitbild der SPD ist dabei der vorsorgende Sozialstaat. Die solidarische Absicherung der großen Lebensrisiken bleibt vordringliche Aufgabe der sozialstaatlichen Sicherungssysteme. Verstärkt wollen wir aber auch das Prinzip der Vorsorge in den Vordergrund rücken. Ein besonderes Augenmerk legen wir dabei auf die Bildung. Als entscheidende Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und Aufstiegschancen ist sie integraler Bestandteil einer modernen Sozialpolitik. Es ist sinnvoll, wenn wir unsere nationalen Reformanstrengungen im europäischen Kontext koordinieren und dafür offen sind, voneinander zu lernen. In einen europäischen Sozialstaat kann und soll diese Entwicklung aber nicht münden. Die historisch gewachsenen Unterschiede zwischen den nationalen Systemen der sozialen Sicherung sind und bleiben hierfür absehbar zu groß. Sozialpolitik bleibt damit auch weiterhin ein Kernelement nationaler Kompetenz. b. Das soziale Europa bauen: Soziale und ökologische Standards auf europäischer Ebene absichern und stärken Zweitens, wir müssen auf europäischer Ebene politische Rahmenbedingungen schaffen, die soziale und ökologische Standards absichern und stärken. Dies ist die große europapolitische Verantwortung und Aufgabe der europäischen Sozialdemokratie! Im Europäischen Parlament, im Rat und in der Kommission müssen wir uns dafür einsetzen, die soziale Dimension der europäischen Integration nachdrücklich weiter zu stärken. Wer wenn nicht wir - gemeinsam mit den Gewerkschaften in Europa - könnte dies leisten! Nach der Schaffung des Binnenmarktes, einer gemeinsamen Währung und der friedlichen Einigung des Kontinents durch die Erweiterung muss die Arbeit an einem sozialen Europa das große Integrationsprojekt der kommenden Jahre sein. Die europäischen Sozialdemokraten haben in den zurückliegenden Jahren in Europa Einiges zum Positiven bewegt und verändert. Insbesondere gilt dies für die Dienstleistungsrichtlinie, die wir gemeinsam mit den Gewerkschaften vom Kopf auf die Füße gestellt und zu einem Instrument zur Wahrung und Verbesserung der Lohnund Sozialstandards in Europa gemacht haben. Dennoch: Es besteht noch immer Nachbesserungsbedarf. Ich will einige Stichworte nennen: Für ein Europa der Arbeitnehmer und der guten Arbeit Wir wollen ein Europa der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und gute Arbeit in ganz Europa durchsetzen! Dazu müssen die Arbeitnehmerrechte im europäischen Binnenmarkt weiter gestärkt werden. Sie sind keine Kostenfaktoren, sondern Wettbewerbsvorteile für qualitatives, innovationsgetragenes Wachstum in Europa. Auch brauchen wir existenzsichernde Mindestlöhne in allen EU-Mitgliedstaaten. Wir wollen, dass Deutschland in dieser Frage zu der großen Mehrheit der EUMitgliedstaaten aufschließt. Zu einem Europa der guten Arbeit gehören auch starke Interessenvertretungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Zusammen mit den Gewerkschaften machen wir uns für eine Überarbeitung und Verbesserung der EU-Betriebsräte-Richtlinie stark. Wir brauchen noch stärkere europäische Betriebsräte. Der Fall Nokia in Bochum hat uns auf fatale Weise gezeigt: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen ihre Interessen effektiv grenzüberschreitend organisieren und auf Entscheidungen der Konzerne Einfluss nehmen können. Dies ist zum Wohle aller. Wie wichtig es ist, die soziale Dimension des europäischen Integrationsprozesses und Arbeitnehmerrechte auf europäischer Ebene weiter zu stärken, haben auch die jüngsten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes deutlich vor Augen geführt. Die Urteile in den Fällen „Viking“, „Laval“ und zuletzt „Rüffert“ haben allesamt eine bedenkliche Schieflage der EuGH-Rechtsprechung offenbart: Die Grundfreiheiten des Binnenmarktes werden einseitig betont und auf Kosten der sozialen Grundrechte und Standards in den europäischen Mitgliedsländern durchgesetzt. Hier gilt es, politisch gegenzusteuern. Wenn die Politik die Stellschrauben richtig justiert, kann sich dem auch der EuGH in seiner Rechtsprechung nicht entziehen. Es ist an der Politik die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen: Sowohl im europäischen Primärrecht, durch die Einführung einer sozialen Fortschrittsklausel, als auch durch Änderungen in der EUEntsenderichtlinie. Für ein Europa der sozialen Gerechtigkeit mit fairen Teilhabechancen für alle Anrede, wir wollen darüber hinaus auch ein Europa der sozialen Gerechtigkeit mit fairen Teilhabechancen für einen jeden! Um soziale Gerechtigkeit im europäischen Maßstab zu verwirklichen hat die SPD in ihrem Hamburger Grundsatzprogramm einen sozialen Stabilitätspakt vorgeschlagen. Hierfür sollen gemeinsame Ziele und Vorgaben für die nationalen Sozial- und Bildungsausgaben vereinbart werden, die sich an der jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Länder orientieren. Auch sehen wir in der Einführung einer systematischen sozialen Gesetzesfolgenabschätzung ein zentrales Instrument, um die soziale Dimension der EU noch stärker zu machen. Eine Schlüsselressource für gesellschaftliche Teilhabe und Aufstiegschancen wie auch für qualitatives Wachstum in Europa ist die Bildung der Menschen in Europa. Für uns als Sozialdemokraten ist dabei klar: Bildungs- und Weiterbildungschancen dürfen nicht nur einer kleinen Minderheit vorbehalten sein, sondern müssen allen Menschen in der Gesellschaft über den gesamten Lebensverlauf hinweg offen stehen. Frühkindliche Erziehung, schulische und universitäre Bildung sowie berufliche Aus- und Weiterbildung müssen europaweit als besondere politische Prioritäten behandelt werden und in einen Prozess des lebenslangen Lernens münden. Europa kann nicht über niedrigere Löhne und soziale Standards, sondern nur über eine höhere Qualität der Arbeit und über die Kompetenz und das Wissen seiner Menschen erfolgreich mit den anderen Regionen in der Welt konkurrieren. c. Die Europäische Union als Akteur in den internationalen Beziehungen: Für eine friedliche und sozial gerechte Gestaltung der Globalisierung Abschließend möchte ich eine dritte Gestaltungsebene für unser soziales Europa der Zukunft ansprechen. Zu einem sozialen Europa, wie wir es verstehen, gehört auch dazu, dass sich die EU als handlungsstarker Akteur in den internationalen Beziehungen für eine friedliche und sozial gerechte Gestaltung der Globalisierung einsetzt. Mit seinem gebündelten politischen und ökonomischen Gewicht kann Europa einen Unterschied machen in der Welt und dazu beitragen, dass soziale und ökologische Standards auch dem globalen Wirtschaften einen gemeinwohldienlichen Rahmen setzen. III. Die Europawahlen als Richtungsentscheidung für das soziale Europa Anrede, eines sollte uns allen klar sein: Unser Ziel eines sozialen Europas wird sich nur in einem sozialdemokratischen Europa verwirklichen lassen, mit starken sozialdemokratischen Parteien. Daher sind die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni nächsten Jahres auch eine Richtungsentscheidung für das soziale Europa der Zukunft! Wir brauchen dringend einen Erfolg der europäischen Sozialdemokraten. Lasst uns gemeinsam hieran arbeiten! Das Soziale darf nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern muss tragender Grundpfeiler unseres Europas von morgen sein!