MEDIENKONFERENZ VOM 29. APRIL 2013 Paul Rechsteiner, Präsident SGB Die wirksamen Rezepte gegen die zunehmende Ungleichheit: Politische Korrekturen und starke Gewerkschaften! Die aktuelle Publikation des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds zum 1. Mai 2013 („Lohndruck und ungerechte Verteilung“) bringt die wesentlichen Befunde zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage der Schweiz konzis auf den Punkt. Im oberen und obersten Spektrum der Einkommen gibt es immer mehr Einkommensmillionäre (und Einkommenshalbmillionäre). Sie beanspruchen einen immer grösseren Anteil der Lohnsumme für sich. Gleichzeitig verabschieden sie sich immer mehr aus der gesellschaftlichen Verantwortung. Ein Beispiel dafür sind die zunehmenden Steuerprivilegien für die hohen und höchsten Einkommen und Vermögen. Diese Schicht situiert sich ausserhalb der gemeinsamen Lebenswelt, für die sie aber gleichzeitig neue unsoziale Regeln setzen will, beispielsweise durch den Abbau des Sozialstaats. Auf der anderen Seite haben die realen Löhne der grossen Mehrheit mit unteren und mittleren Einkommen in den letzten zehn, fünfzehn Jahren nur wenig zugelegt. Der Befund akzentuiert sich noch, wenn die Entwicklung der wichtigsten Ausgabenposten einbezogen wird. Der Anstieg der Wohn- und Gesundheitskosten steht in einem Missverhältnis zu den nur bescheiden steigenden Einkünften. Noch kritischer wird der Befund mit Blick auf die Tatsache, dass die Stressbelastung bei mehr als einem Drittel der Arbeitsverhältnisse inzwischen ein gesundheitsgefährdendes Ausmass angenommen hat. Auf der einen Seite stagnierende Einkommen, auf der anderen Seite steigende Mieten und Krankenkassenprämien, mehr Belastung und Stress – beispielsweise durch die ständige Ausweitung des Arbeitstages: Für viele ist die Bilanz damit negativ. Ein grosses und ungelöstes Problem bleiben in der Schweiz die zu tiefen Löhne bei fast 440‘000 Lohnabhängigen. Es muss schwer zu denken geben, dass rund ein Fünftel der Erwerbstätigen in Schwierigkeiten gerät, wenn eine ausserordentliche Ausgabe von 2‘000 Franken wie eine Zahnarztrechnung oder eine Autoreparatur zu bezahlen ist. Und dass zu jenen, bei denen eine volle Erwerbstätigkeit nicht mehr zum Leben reicht, immer mehr Lohnabhängige mit einer Berufslehre gehören, ist ein alarmierendes Signal für eine Wirtschaft, deren Leistungen zu einem bedeutenden Teil auf gut ausgebildeten Beschäftigten mit einer Berufslehre beruhen. Die Schweiz ist zu Recht stolz auf die Qualität der Berufslehre. Dann muss sich eine Lehre aber auch auszahlen. Sonst wird die Lehre systematisch abgewertet. Besonders krass ist die Lohndiskriminierung von Frauen in den Tieflohnbranchen wie dem Detailhandel. Wenn gut ausgebildete Verkäuferinnen mit Berufserfahrung bei Kleider- oder Schuh- 2 ketten zu wenig für ein anständiges Leben verdienen, während die Inhaber dieser Konzerne samt und sonders Milliardäre sind, die sich aber weigern, Gesamtarbeitsverträge abzuschliessen, dann bringt das die dramatische Lohnungerechtigkeit in der Schweiz auf den Punkt. Dass die qualifizierten Verkäuferinnen miserabel bezahlt werden, liegt nicht am fehlenden Geld, sondern an den ungerechten Verhältnissen. Diese Verhältnisse aber lassen sich ändern. Es waren politisch gesteuerte Prozesse und Entscheide, die dazu geführt haben, dass auch in der Schweiz die Ungleichheit zugenommen hat, die Einkommen und Vermögen immer ungleicher verteilt wurden und soziale Errungenschaften immer mehr unter Druck gekommen sind. Diese politische Fehlentwicklung für mehr Ungleichheit kann auch wieder umgedreht werden. Mit Entscheiden für mehr Vernunft, für mehr Ausgleich und sozialen Zusammenhalt. Die neue Dynamik der Mindestlohninitiative ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Aber auch die Initiative 1:12 als wirksame Massnahme gegen Lohnexzesse gehört dazu. Weil die soziale Ungleichheit im Alter noch zunimmt, ist es wichtig, dass die AHV als Basis der Altersvorsorge für alle gestärkt wird. Das will die Initiative AHVplus. Zu den politischen Schritten für mehr Vernunft gehören alle steuerpolitischen Vorschläge, die dazu führen, dass die hohen Einkommen und Vermögen wieder einen angemessenen Beitrag zu den öffentlichen Lasten tragen, etwa eine nationale Erbschaftssteuer. Und die Ablehnung aller Projekte, welche die gesellschaftliche Solidarität weiter schwächen. Wichtig ist schliesslich eine öffentliche Infrastruktur, die allen zu erschwinglichen Preisen zur Verfügung steht, und ein gutes Bildungs- und Gesundheitswesen ohne finanzielle Hürden. Ausschlaggebend für eine positive Lohnentwicklung für alle aber sind letztlich starke Gewerkschaften und gute Gesamtarbeitsverträge. In Bereichen mit starken Gewerkschaften und guten Gesamtarbeitsverträgen sind die Löhne und die Arbeitsbedingungen besser als dort, wo es keine Gesamtarbeitsverträge gibt. Die Schweiz hat die Chance, in diesen Bereichen in den kommenden Jahren grosse Schritte nach vorne zu machen, mit Mindestlöhnen und der Stärkung der Gesamtarbeitsverträge. Der zunehmende Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen ist kein Schicksal. Ob es gelingt, wieder eine nachhaltige Entwicklung zugunsten der Mehrheit mit unteren und mittleren Einkommen einzuleiten, oder ob der negative Trend der letzten 10, 15 Jahre sich fortsetzt, wird jetzt entschieden. Es steht viel auf dem Spiel. Somit gilt: Es braucht in allen Branchen Gesamtarbeitsverträge mit Mindestlöhnen, vor allem berufsspezifischen Mindestlöhnen. Niemand soll weniger als 22 Franken pro Stunde oder 4‘000 Franken pro Monat verdienen. Dafür muss ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt werden, der auch in Branchen ohne Gesamtarbeitsvertrag nicht unterschritten werden darf. Die Abdeckung mit Gesamtarbeitsverträgen ist in der Schweiz ungenügend. Das ist eine Folge der überholten Gesetzgebung mit hohen Hürden für die Allgemeinverbindlichkeit der Gesamtarbeitsverträge. Der schweizerische Arbeitnehmerschutz muss im Mindestlohnbereich durch die Förderung von Gesamtarbeitsverträgen modernisiert werden.