Modalitäten – »Register« IMAGINATION - Alternativ

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ID 4.082
http://www.alternativ-grammatik.de/pdfs/id4082.pdf
SEMANTIK
Modalitäten – »Register« IMAGINATION
Krach oder Grammatik S.136–144; Isaak S. 252–270
(vgl. ID 0.02)
Der edle Ritter Don Quichote war nur in seiner Einbildung ein edler Ritter. In Wirklichkeit war er lebensuntüchtig, drohte zu sterben. Aber die Lektüre alter Ritterbücher
weckte seine Lebensgeister (obwohl es Ritter zu seiner Zeit gar nicht mehr gab). Don
Quichote fühlte sich immer mehr als Retter der Welt. Sein Ritterfräulein war Dulcinea
von Toboso – auch nur in seiner Vorstellung. Eine reale Frau ahnte nichts von diesem
»Glück«. Sein Schutzhelm, war – so konnten es andere beobachten – aus Pappmaché,
also völlig wertlos. Auch wenn Don Quichote häufig genug verprügelt wurde – das
baute ihn immer mehr auf: für ihn reihte sich ein Erfolg an den andern.
Das Register der IMAGINATION ist also genau das Gegenteil vom vorigen Modalfeld: Damit kann man sich eine Welt im Kontrast zur aktuellen zurechtdenken. Bevorzugte Anzeiger, dass die real wahrnehmbare Welt verlassen und eine imaginierte,
hypothetische aufgesucht wird, sind Konjunktive, Konjunktionen, Negationen.
Was jetzt, in der SEMANTIK, noch einen sehr trockenen touch hat, sollte im Kontrast zur
EPISTEMOLOGIE mit aller Klarheit grundgelegt werden. Es ist lebenswichtig unterscheiden zu können: was ist über Wahrnehmung und einvernehmliche Verständigung darüber abgesichertes WISSEN? Was dagegen ist meine Bilder- und Gedankenwelt, über die
ich zwar berichten kann, die aber anderen nicht direkt zugänglich ist (= IMAGINATION)?
Die Fähigkeit beides zu unterscheiden wird helfen, manche nutzlose Debatte zu vermeiden.
Sie hilft, in der PRAGMATIK Texttypen zu verstehen (z.B. Fantastische Literatur). Und sie
reicht bis ins Psychologische hinein, wenn es um die Unterscheidung von »Hauptrealität«
(entspräche unserer EPISTEMOLOGIE) und »Nebenrealität« (IMAGINATION) geht (Begriffe nach LEMPP). Im Fall von Amokläufen wird regelmäßig betont, dass die Täter nicht
mehr trennen konnten: sie haben die virtuellen Verhaltensmuster (z.B. in Computerspielen
stundenlang, bis zur Sucht, eingeübt) ins reale Leben übertragen und geglaubt, dort auf
gleiche Weise zum Heros werden zu können. Die IMAGINATION hat dann die EPISTEMOLOGIE aufgefressen, also die Fähigkeit zu einvernehmlicher Wahrnehmung und Kommunikation. Wer mit solcher geistiger Deformierung auf die Straße tritt, kann dann nur
noch sein eigenes Ego schießend zur Geltung bringen. – Die beiden geistigen Register
sollten also bewusstgemacht und über Beispiele eingeübt werden: Auch Erwachsene zeigen
bisweilen Unsicherheiten, weil sie manches als allgemein sicheres WISSEN ausgeben, was
zunächst nur ihre private Einschätzung und Wunschvorstellung ist. Es gehört zur Ausbildung von Individualität und Gemeinschaftsbezug – dauert wohl ein Leben lang –, dass man
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Harald Schweizer 
7. Mai 2015
Wissen und Imagination bei sich entwickelt, dies aber genauso anderen zugesteht, und
dort, wo es Reibungen gibt, miteinander redet.
Die Orientierung des Sprechers kann in die Vergangenheit gerichtet sein: »Was wäre
gewesen, wenn Hitler 1933 nicht an die Macht gekommen wäre«. Bedingungen und
Konjunktive können Anzeiger dieses Registers sein.
Die Orientierung des Sprechers kann in die Gegenwart gerichtet sein: Zwar steht vor
mir aktuell ein Computer. Aber ich kann mir vorstellen: »Wenn jetzt statt des Computers ein Pinguin vor mir stünde.« »kontrafaktisch« ist eine Bezeichnung dafür.
kontrafaktisch – das klingt gelehrt und abgehoben. Es gibt Anwendungsbereiche, in denen
wir immer schon direkter und zupackender formulieren, nämlich, wenn etwas als Lüge
bezeichnet werden muss.
Im ’Pinguin’-Beispiel hat der Sprecher durch Konjunktiv immerhin angezeigt, dass er
lediglich von einer Vorstellung, einer theoretischen Möglichkeit spricht.
Ich kann jedoch auch darauf spekulieren, dass der Gesprächspartner bei meiner folgenden
Aussage keine Kontrollmöglichkeit hat, er kann also seine Wahrnehmung (Register EPISTEMOLOGIE) nicht einsetzen.
Ist das gewährleistet, kann ich ihn belügen: »Im Moment fließen alle Bäche bergauf«.
Nach allgemeinem Erfahrungswissen ist dies zwar unwahrscheinlich. Wenn ich aber mit
Blick aus dem Fenster den Satz nicht widerlegen kann, kann ich der kontrafaktischen
Behauptung nicht leicht widersprechen. – Ein Verbrecher kann der Polizei sagen: »Ich saß
gestern den ganzen Abend zuhause vor dem Fernseher, also kann ich die Tat nicht begangen haben«. – Es sind erst weitere Zeugenaussagen nötig, um den Wahrheitsgehalt zu
überprüfen.
Im Grund sind die Beispiele schon ein Vorgriff in die Pragmatik: Im Wortsinn sind die
Aussagen modalitätsfrei, scheinen also sichere Sachverhaltsaussagen zu sein. Erst über
weitere Untersuchungen wird deutlich, dass es kontrafaktische Äußerungen sind.
Die Orientierung des Sprechers kann in die Zukunft gerichtet sein. Alle Menschen, die
etwas planen, erträumen, müssen sogar dieses Register betätigen. Wobei sich das
vernünftige »Planen« und das ungesteuerte »Träumen« unterschiedlich mischen können. Bei Don Quichote gab es kaum ein »Planen«, er war ganz von seinen Visionen
und unbegründeten Vorstellungen vom edlen Rittertum übermannt. Architekten dagegen dürfen zunächst drauflos phantasieren (Sportstadion als Vogelnest); letztendlich
muss ihr Träumen in präzise Berechnungen, also Planungen überführt werden. »Hoffentlich bringt die Friedenskonferenz umsetzbare Ergebnisse«. In diesem Satz sind
beide Zukunftsorientierungen repräsentiert.
Nirgendwo in der Grammatik gibt es eine zwingende Verbindung von Ausdrucksseite –
was man spricht oder schreibt – und Bedeutungsseite. Bei der Wortform / wollen / denkt
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man zwar schnell und – vermeintlich – exklusiv, damit werde immer ein »Wille« ausgesagt
(wäre Register INITIATIVE). Aber mit / wollen / kann auch – im Sinn des gegenwärtigen
Registers – ein Begehren ausgedrückt sein, in beiden Formen: im Sinn freien Erträumens
oder im Sinn realitätsnäheren Planens.
Beides kann man auch mit EUGEN ROTH unterscheiden:
»Ein Mensch erhofft sich fromm und still,
dass er einst das kriegt, was er will.
Bis er dann doch dem Wahn erliegt
und schließlich das will, was er kriegt.«
In Grammatiken alten Stils lernte man den Begriff »konditional«: »Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, dann wär mein Vater Millionär«. Was wären Computerprogramme ohne »If . . . then«? Konjunktionen wie »wenn« oder »falls« drücken diese
Distanzierung von der erfahrbaren Wirklichkeit aus, unterstützt durch Konjunktive.
Und das ganze anwendbar auf Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.
Im Französischen gerät man in den Einzugsbereich von Subjonctif und Conditionnel. In
wikipedia wird man gleich gewarnt: »Zu wissen, wann der Subjonctif und wann der Indikativ gesetzt wird, ist eine Kunst für sich«. Das ermutigt nicht gerade. Man erfährt – das
ist in traditionellen Grammatiken üblich – genügend, wie die Konjugationsformen gebildet
werden. Jedoch wenig Klares, wie die beiden Modi eingesetzt werden. Aber nur Letzteres
entspräche unseren semantischen Überlegungen.
Der leichtere Fall ist der Conditionnel. Rückwärts gewandte Irrealität wird vom Conditionnel II abgedeckt (». . . j’aurais été ravi« – ». . . hätte ich mich gefreut« – aber es war ja
nicht möglich, es kam anders). In die Zukunft gerichtete Irrealität bietet Conditionnel I
(». . . je serais ravi« – »dann würde ich mich freuen«). Es fehlt noch, dass der Conditionnel
bei indirekter Rede zum Einsatz kommt. Indirekte Rede – also vorangestelltes Redeverb –
filtert den Redeinhalt im Sinn von unsicherem Wissen, stuft ihn zu einer Denkmöglichkeit
herunter: »Er meinte, dass er um 5 Uhr zurückgekehrt sein werde« – ein Fall für Conditionnel II im Französischen. Es liegt eine Zukunftsplanung (= Register IMAGINATION)
vor; gemessen am zukünftigen Messpunkt (»5 Uhr«) wird ein zweites Ereignis – ⟨⟨ZURÜCKKEHREN⟩⟩ – dann schon stattgefunden haben = Futur II, aber überformt durch
IMAGINATION.
Fehlt noch die Gegenwart. Und es fehlt der Subjonctif. Man könnte den Verdacht hegen,
dass der Subjonctif dann eben die ’Irrealität der Gegenwart’ ausdrückt – was allerdings
gedanklich schwierig ist. Was sollte das sein? Was in der Gegenwart der Fall ist, kann ich
unmittelbar kontrollieren. Das ist real der Fall oder nicht-existent.
Aber in der Gegenwart gibt es auch viele Gedanken- und Gefühlsaktivitäten – nämlich
alles das, was hier unter »Register« abgehandelt wird. Schaut man diese 6 Felder durch,
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wird bewusst, um welch vielfältige inneren Handlungen, Einschätzungen es gehen kann.
Gemeint sind also Bedeutungen – als Verb oder als Konjunktion oder als unpersönliche
Floskel oder nur mit que . . . ausgedrückt –, die auf Nicht-/ Wissen, Planung, Wille, Gefühle, Beteuerung von Un-/Sicherheit, Mitteilung, geistige Verarbeitung, Einschätzung
schließen lassen, lösen die hohe Wahrscheinlichkeit aus, dass der Subjonctif eingesetzt
werden muss [Sonderregeln gibt es auch noch]. Gegenwart meint dann die gegenwärtige
innere Einstellung, sie ist eo ipso noch kein äußeres Faktum, folglich unsicher, daher
auszudrücken im Subjonctif: »Qu’il vienne« – [Ich wünsche aktuell], dass er komme.
En bloc lernt man die konjunktionalen Auslöser von subjonctif. Das mag zum Büffeln
sinnvoll sein. Verstanden hat man ihr Wirken dadurch aber nicht. bien que / quoi que
gehören zum Register EPISTEMOLOGIE, da sie konzessiven Charakter haben. Andere
sind hier, bei der IMAGINATION, richtig: sans que argumentiert hypothetisch mit dem
Ausbleiben eines Sachverhalts. pour que / afin que sind Zweckangaben. avant que und
jusqu’ à ce que sind zeitliche Planungen, en attendant que drückt eine Erwartung aus, usw.
Wir haben soeben die Arten zusammengefasst, wie der Subjonctif zum Ausdruck kommen
kann und haben – andeutend – gegenüber gestellt, welche Bedeutungsfunktion damit ausgesagt wird. Das waren also zwei Akte. – Dieses klare Sortieren dürfte um einiges leichter
verständlich sein als die üblichen Grammatikausführungen, die sich leiten lassen von den
Realisierungsformen, aber kaum die durchgängigen semantischen Funktionen sichtbar machen. Wenn dann noch unverstandene, aber eingeschliffene Begriffe hinzukommen, wird es
vollends dunkel. »Verbes de la balance« – wer käme auf die Idee, dahinter unser Register
»EPISTEMOLOGIE« zu vermuten, nämlich Verben wie penser, croire, être sûr etc. ?
Es ist nötig sich zu zügeln: das Französische animiert zu diversen Reflexionen. Nur noch
ein Beispiel: Warum gibt es die Konstruktion: (a) Si + Imparfait + (b) Conditionnel I, um
eine gegenwärtige oder futurische, als unmöglich oder unwahrscheinlich beurteilte Bedingung auszudrücken, auf die dann in (b) die entsprechend unwahrscheinliche Folgerung
kommt? Praktisches Beispiel: »Si j’étais un star, on m’ admirerait« (»Wenn ich ein Star
wäre, würde man mich bewundern«). Zunächst: »Imparfait« für »Gegenwart« oder »Zukunft«! – Das ist Wasser auf unsere Mühlen (Kritik an untauglichen Grammatiktermini)!
»Si« stellt die Weiche in Richtung »Register IMAGINATION«, also Richtung Hypothese,
Erdachtes, Nicht-Reales. Was vergangen ist, ist eigentlich fest und unverrückbar, also
sicher. Insofern könnte die Kombination: »Si« und »Imparfait« besagen: das Sichere wird
ausgehebelt. Vorzugsweise in dem noch offenen Bereich von Gegenwart und Futur (an der
Vergangenheit ist ja nicht zu rütteln). Das Conditionnel fährt weiter auf der Straße der
Unsicherheit und Unwahrscheinlichkeit im Kontrast zu den Aussageformen, die für Sicheres stehen.
Das »konditional« hat ein ’Geschwister’ in Form von »final«: um zu, damit, auf dass.
Es geht um Sachverhalte, die – gemessen an einem anderen – noch fiktiven Charakter
haben, also erst in Form von Hoffnung, Abschätzung, Berechnung existieren: »Er trat
in den Verein ein, um mehr Unterstützung bei der OB-Wahl zu erhalten«. Das ⟨⟨EINTRETEN⟩⟩ ist Fakt, die Unterstützung steht noch in den Sternen.
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Es reicht also nicht, nur die kleinen Wörtchen oder Konjugationsformen zu lernen. Es
geht darum zu verstehen, welch wichtige und umfassende Geistesfunktion uns mit
dem Register IMAGINATION zur Verfügung steht. Immer geht es darum, einen
Abgleich mit der EPISTEMOLOGIE zu finden. Sich nur in der Imagination, der
Fantasie zu verlieren, wäre wohl eine Form von seelischer Krankheit. Ihr Verkümmern aber genauso.
(vgl. Modul 0.02) unter Stichwort »Konditionalgefüge«: Über »Bedingung« »Folge« geht die Erklärung nicht hinaus. Es fehlt der Hinweis, dass – unabhängig von der
Zeitstufe – zunächst eine hypothetische Setzung getroffen wird. Die kann man noch unterteilen: entweder ist sie erträumt, erhofft, oder rational erarbeitet (errechnet, per Experiment als realistisch eingeschätzt). Das sind die Weisen, wie es zur »Bedingung« kommen
kann. »Folge« ist dann auch ein hypothetischer, angeblich sicher daraus sich ergebender
Sachverhalt. Aber man sollte den Blick nicht verengen auf solche »wenn – dann«-Figuren.
Unabhängig davon lassen sich ganze fiktionale Szenerien entwerfen, die zunächst dem
Einzelsubjekt entspringen. Andere haben daran keinen Anteil, allenfalls sekundär, wenn
der phantasy Roman aufgeschrieben und millionenfach verkauft worden war.
GRAMMIS
GRAMMIS (vgl. Modul 0.02) unter Stichwort »Kontrafaktisches Argumentieren«: Hinweis
auf den Konjunktiv, um von nicht tatsächlichen Sachverhalten reden zu können.
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