Orte schaffen - Kanton Zürich

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Auszeichnung guter Bauten im Kanton Zürich, 2013
Preisverleihung vom 12. November 2013
Orte schaffen
Referat Judit Solt, Chefredaktorin TEC21
Das Thema der Auszeichnung guter Bauten im Kanton Zürich 2013 heisst: «Grenzen Raum
geben / bauliche Gestaltung von Grenzen».
Damit sind sowohl materielle als auch immaterielle Grenzen gemeint. Denn Architektur, und
das ist das besonders Schöne und Spannungsvolle an ihr, muss beides gleichermassen baulich
umsetzen.
Materielle und immaterielle Grenzen sind in stetem Wandel
Auf der materiellen, handwerklichen, pragmatischen Ebene geht es vorerst darum, dem
Menschen eine Behausung zu verschaffen, die ihn vor Wind und Wetter schützt.
Dies, sollte man meinen, dürfte nach rund 20’000 Jahren Baupraxis problemlos möglich sein.
Doch die Zeit bleibt nicht stehen; unsere Bedürfnisse wandeln sich, und die Architektur hat
diesem Wandel Rechnung zu tragen. Unsere Komfort- und Sicherheitsansprüche sind in den
letzten Dekaden rasant gestiegen, die Nutzungen verändern sich laufend und werden immer
neu kombiniert, der Stellenwert von Verkehr und Mobilität ist neu auszuhandeln, es gibt
ökologische und ökonomische Anliegen zu berücksichtigen.
Die Gebäudehülle, diese entscheidende Grenzen zwischen innen und aussen, sieht sich mit
immer neuen technischen Anforderungen konfrontiert, und entsprechend sind Lösungen auf
dem neusten Stand der Technik gesucht.
Doch die Architektur erfüllt nicht nur einen praktischen Zweck. Die Art und Weise, wie sie
das tut, ist ebenso entscheidend. Architektur prägt unser ganzes Lebensumfeld und damit auch
uns – unser Verhalten, unsere Selbstwahrnehmung und damit letztlich unsere Identität. Auf
der immateriellen Ebene vermittelt sie uns laufend Botschaften. Sie gibt Aufschluss über
unseren Geschmack, unsere ökonomischen Verhältnisse, über die Normen und Regeln des
Zusammenlebens. Sie vermittelt die Grenzen zwischen öffentlich und privat, zwischen erlaubt
und verboten, zwischen passend und unpassend.
Architektur ist die Materialisierung der herrschenden Gesellschaftsform: Sie widergibt das
Selbstverständnis staatlicher und religiöser Institutionen, die Möglichkeiten der
Selbstdarstellung von Privaten, den Stellenwert kollektiver Aktivitäten, die Bedeutung
wirtschaftlicher Strömungen, die Gewichtung geltender Werte.
Es versteht sich von selbst, dass in liberalen Gesellschaften auch diese immateriellen Grenzen
einem steten Wandel unterworfen sind, und dass sie von Generation zu Generation immer
wieder aufs Neue ausgehandelt werden.
Auszeichnung gute Bauten Kanton Zürich 2013 | Referat Judit Solt
1 Momentaufnahmen, die gut altern
Neubauten sind somit nicht mehr und nicht weniger als in Stein gemeisselte Gegenwart,
sowohl technisch als auch gestalterisch.
Ab dem Zeitpunkt ihrer Fertigstellung reifen sie zu Zeugen einer immer weiter entfernten
Vergangenheit heran. Sie sind gleichsam unser gebautes Gedächtnis oder, um mit Gottfried
Semper zu reden, «die fossilen Gehäuse ausgestorbener Gesellschaftsorganismen».
Bauherrschaften und Planungsfachleute sind also mit einer schier unlösbaren Aufgabe
konfrontiert: Sie sollen Bauten erstellen, die zwar eine Momentaufnahme der technischen und
gesellschaftlichen Entwicklung sind, diese aber gleichzeitig in einem positiven Sinne
vorantreiben und – aus Gründen der Nachhaltigkeit – auch in Jahrzehnten noch ihre
Daseinsberechtigung haben.
Um dies zu bewerkstelligen, muss man richtig einschätzen, wie die Grenzen in der Gegenwart
verlaufen und wie sie sich in Zukunft entwickeln könnten.
Extreme Beschleunigung des Wandels in den letzten 200 Jahren
Damit haben sich die Baukünstler aller Zeiten beschäftigt. Doch der Eindruck drängt sich auf,
dass es die heutigen schwerer haben als ihre Vorgänger.
In den letzten 200 Jahren haben technische, politische und gesellschaftliche Entwicklungen
stattgefunden, die das Gesicht Europas bis zur Unkenntlichkeit verändert haben. Die
Industrialisierung, die Kolonialherrschaft, die Eisenbahn, die Elektrifizierung, die beiden
Weltkriege, das Wettrüsten des kalten Krieges, die Geburtenkontrolle und die sexuelle
Revolution, die Emanzipation der Frau, das Wirtschaftswachstum, die Zunahme der
Bevölkerung, der beispiellose allgemeine Wohlstand, die private Mobilität, die Entwicklung
des tertiären Sektors, die Individualisierung, die digitale Revolution – all das hat unser Leben
in bisher beispielloser Weise umgekrempelt. Wir wohnen, arbeiten, reisen, planen unsere
Familien anders als noch unsere Grosseltern und Eltern.
Diese Veränderungen sind nicht nur gigantisch, sie haben auch in einem atemberaubenden
Tempo stattgefunden. Man bedenke: Die erste Eisenbahnstrecke der Schweiz wurde 1847 in
Betrieb genommen, das erste Stück Schweizer Autobahn erst 1955; über 70% aller Gebäude
in der Schweiz sind jünger als 100 Jahre.
Nicht immer waren Politiker, Bauherrschaften oder Planerinnen und Planer in der Lage, mit
diesen Entwicklungen mitzuhalten. Sie haben die Auswirkungen oder die Geschwindigkeit
laufender Prozesse übersehen oder falsch eingeschätzt, oder sie haben falsch darauf reagiert.
Das grenzenlose Wachstum hat auch die Grenzen des Bauens gesprengt. Der menschliche
Massstab ist verloren gegangen. Unsere Bauten, und insbesondere unsere Infrastrukturbauten,
sind uns über den Kopf gewachsen.
Zwar sind die Kräfte, die unsere Siedlungen geformt haben, seit jeher die gleichen geblieben:
Die Menschen haben sich immer schon an wirtschaftlich passenden, verkehrstechnisch
vorteilhaften und strategisch günstigen Lagen niedergelassen. Doch in den letzten Jahrzehnten
haben einige dieser Kräfte eine Dynamik angenommen, die das eingespielte Gleichgewicht
aus dem Lot gebracht und die gewohnten Grenzen gewaltsam verschoben hat.
Ein besonders augenfälliges Beispiel ist der Verkehr: Wir versuchen, ihn zu verwalten, und
auf der technisch-materiellen Ebene gelingt uns das auch. Doch ein echter Gestaltungswille,
der all den Verkehrsbauten auch auf der immateriellen Ebene einen Sinn geben würde, ist
selten ersichtlich.
Auszeichnung gute Bauten Kanton Zürich 2013 | Referat Judit Solt 2 Die unkontrollierte Verschiebung der immateriellen Grenzen führt zu Nicht-Orten
Das Ergebnis ist eine gebaute Umwelt, in der die immateriellen Grenzen in vielen Fällen nicht
einmal ansatzweise geklärt sind.
Auf der einen Seite droht die Privatisierung des öffentlichen Raums, die mehr oder weniger
subtile Besetzung durch kommerzielle Interessen, die allgegenwärtige Überwachung durch
private Kameras: eine unkontrollierte Proliferation immaterieller Grenzen.
Auf der anderen Seite die fortschreitende Zersiedlung: die Aufhebung der Jahrtausende alten
Grenze zwischen Stadt und Land.
Typisch für diese beiden Extreme sind jene Gebilde, die der französische Ethnograf Marc
Augé 1992 als Nicht-Orte bezeichnet hat: Räume mit unverständlichen, unfassbaren Grenzen,
die weder mit der Geschichte noch mit der Identität der Menschen verbunden sind.
«Eine Welt, die Geburt und Tod ins Krankenhaus verbannt, eine Welt, in der die
Anzahl der Transiträume und provisorischen Beschäftigungen unter luxuriösen und
widerwärtigen Bedingungen unablässig wächst (die Hotelketten und
Durchgangswohnheime, die Feriendörfer, die Flüchtlingslager, die Slums, die zum
Abbruch oder Verfall bestimmt sind), eine Welt, in der sich ein enges Netz von
Verkehrsmitteln entwickelt, die gleichfalls bewegliche Behausungen sind, wo der mit
weiten Strecken, automatischen Verteilern und Kreditkarten Vertraute an die Gesten
des stummen Verkehrs anknüpft, eine Welt, die solcherart der einsamen Individualität,
der Durchreise, dem Provisorischen und Ephemeren überantwortet ist, bietet dem
Anthropologen ein neues [Studien-]Objekt. [...]
Orte und Nicht-Orte verhalten sich zueinander [...] wie die Worte und die Begriffe, mit
denen sie beschrieben werden können. [...]
So können wir die Realitäten des Transits (Durchgangslager oder Transitpassagiere)
den Realitäten der festen Wohnung entgegensetzen, das Autobahnkreuz (das
kreuzungsfrei ist) der Strassenkreuzung (oder Begegnung), den Passagier (der durch
seinen Zielort definiert ist) dem Reisenden (der auf einem Weg flaniert), [...] den
Komplex [...] dem Monument, an dem man Erinnerung und Gedächtnis mit anderen
teilt, [...]»
Das Unbehagen, das diese Nicht-Orte auslösen, ist das gleiche wie das ungute Gefühl, das
einen in einer gesichtslosen Agglomeration beschleicht: Zwar ist man da, aber gleichzeitig
kann man doch nicht mit letzter Sicherheit sagen, wo man ist; man hält sich zwar physisch
irgendwo auf, freiwillig oder unfreiwillig, aber man lässt sich nicht nieder.
Im Geist ist man woanders als der eigene Körper – und zwar nicht, weil man gerade
tagträumt, sondern permanent. Materielle und immaterielle Grenzen sind nicht mehr
deckungsgleich. Zeit und Raum sind voneinander losgekoppelt. Man verliert sich.
Auszeichnung gute Bauten Kanton Zürich 2013 | Referat Judit Solt
3 Flucht nach vorn...
Wie soll nun die Architektur auf diese Situation reagieren?
Ein Zurück in die angeblich goldenen alten Zeiten gibt es nicht: Spitäler, Hotels, MulitplexVerwaltungen, Durchgangsheime, Gefängnisse, Flughäfen, Einkaufszentren, Wohnblöcke
gehören zu unserer Realität.
Mit diesen Siedlungs- und Bautypen müssen wir uns auseinandersetzen. Wie verlaufen die
materiellen und immateriellen Grenzen, die sie definieren? Kann man sie wieder zur Deckung
bringen?
Einer der innovativsten Denker der zeitgenössischen Baukunst, der Niederländer Rem
Koolhaas, hat sich implizit dagegen ausgesprochen. Beim Versuch, die Rolle der Architektur
im Zeitalter der Globalisierung neu zu definieren, entwickelte er 1995 seine Theorie der
«Bigness». Er postulierte eine Stadt als Zusammenballung grosser Gebäude, die
beziehungslos nebeneinander stehen.
Die Fassaden tragen nicht zur klimatischen Steuerung dieser Gebäude bei, denn die sind
künstlich belichtet und belüftet: Die traditionell teilweise durchlässige materielle Grenze
zwischen innen und aussen wird dichtgemacht. Die Fassaden dienen auch nicht dazu, dem
Sinn und Zweck des Gebäudes nach aussen Ausdruck zu verleihen, denn dazu enthält das
Gebäude zu viele unterschiedliche Nutzungen. Und schliesslich trägt die Fassade auch nicht
dazu bei, einen öffentlichen Raum zu definieren, denn dieser wird von der Strasse ins Innere
verlegt.
«Bei Bigness nimmt die Entfernung zwischen Kern und Hülle bis zu dem Punkt zu, wo
die Fassade nicht mehr offenbaren kann, was im Inneren geschieht. Der
humanistische Anspruch auf «Ehrlichkeit» ist praktisch tot: Innere und äussere
Architekturen entwickeln sich zu separaten Projekten; das eine widmet sich der
Instabilität programmatischer und ikonographischer Bedürfnisse, das andere –
Urheber von Desinformation – offeriert der Stadt die vermeintliche Stabilität eines
unbelebten Objekts. [...]
Architektur legt offen. Bigness verwirrt. Bigness verwandelt die Stadt, indem sie aus
einer Summe von Gewissheiten eine Anhäufung von Rätseln macht. [...]
Bigness ist nicht mehr Teil eines wie auch immer definierten urbanen
Zusammenhangs. Sie existiert; bestenfalls koexistiert sie. Ihr Subtext lautet: Scheiss
auf den Kontext!»
Koolhaas versucht also nicht, dem Verlust von Identität stiftenden Grenzen
entgegenzuwirken, sondern akzeptiert sie als Folge einer globalen, unaufhaltsamen
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung.
Mit diesem affirmativen Realismus hat er eine ganze Generation von jungen
Architekturschaffenden beflügelt. Seine gnadenlos nüchternen, bis zur letzten Konsequenz
ausformulierten Analysen sind zweifellos inspirierend, und sie schärfen den Blick für unsere
Gegenwart. Doch wollen wir wirklich auch so bauen?
Auszeichnung gute Bauten Kanton Zürich 2013 | Referat Judit Solt 4 ... oder kluge Gegenstrategien?
Die Antwort lautet aus meiner Sicht: nein.
Ich bin überzeugt, dass Bauten nicht Verwirrung stiften, sondern den Menschen eine
Behausung bieten sollten – sowohl physisch als auch geistig.
Sie müssen selbstverständlich dicht sein und bautechnisch funktionieren. Sie müssen aber
darüber hinaus auch in unserer Kultur verankert sein, einen Bezug zu unserer Geschichte
herstellen, mit ihrer Umgebung in Beziehung treten.
Sie müssen Orte definieren, die auch Augé als solche bezeichnen würde.
Sie müssen eine spürbare eigene Identität haben, und sie müssen dazu beitragen, die Identität
ihrer Umgebung zu stärken.
Und das heisst: Die materiellen und die immateriellen Grenzen wieder zur Deckung bringen.
Die diesjährige Auszeichnung guter Bauten im Kanton Zürich belegt, dass dies auch in der
heutigen Zeit möglich ist. Sie würdigt architektonische Werke, die sich erfolgreich dieser
anspruchsvollen Aufgabe gestellt haben.
Sie würdigt Bauten....
• ... deren Aussenhülle eine klare Formensprache hat und vielfältige Beziehungen
zwischen Innen- und Aussenraum ermöglicht;
• ... die privat und öffentlich ganz unaufgeregt mit gestalterischen Mitteln
unterscheiden;
• ... zwischen alt und neu so vermitteln, dass diese sich respektvoll aufeinander
beziehen;
• ... ihre Umgebung bereichern.
Sie würdigt Architekturschaffende, die sich nicht gescheut haben, das komplexe Geflecht
materieller und immaterieller Grenzen zu entwirren und zu einem stimmigen Ganzen neu zu
komponieren.
Sie würdigt Bauherrschaften, die den Willen und den Mut hatten, ihre kulturelle und
gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen und die mit ihrem Engagement die
Verwirklichung dieser Werke erst ermöglich haben.
Ich hoffe, dass sie möglichst vielen als Vorbilder dienen werden.
Auszeichnung gute Bauten Kanton Zürich 2013 | Referat Judit Solt
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