Vortrag als PDF-Datei - Rotary Club Bochum

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Norbert Vormann
Der Einfluss der freiheitlichen Gedanken des 18. JH. auf
Schillers klassische Dramen u. Balladen.
Vortrag vor dem RC Bochum-Hellweg am 30.11.2005
»Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte
Fäuste, heisere Aufschreie im Zuschauerraum. Fremde Menschen
fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer
Ohnmacht nahe zur Türe. Es war eine allgemeine Auflösung wie
im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht.«
so ein Zeitungsbericht.
Was an diesem Theaterabend in Mannheim - man schrieb den 13.
Januar 1782 – hervorbrach, war die leidenschaftliche Rebellion
gegen eine als morsch empfundene Welt. Und wie niemals zuvor
und wie später kaum mehr gab sich das Publikum – ein
Augenzeuge berichtete davon – frenetischem Beifall hin; - unter
stürmischen Tumulten feierte es das Stück, dessen Uraufführung
es erlebt hatte.
Das Stück hieß Die Räuber, und der Verfasser war ein
unbekannter Regimentsmedikus aus Stuttgart, Friedrich Schiller.
Lieber Präsident, liebe Freunde, von diesem grossen Dichter soll
heute, im Schillerjahr, die Rede sein. Sie kennen sicher die
meisten seiner Dramen und Balladen aber vielleicht wenig über
den politischen Schiller.
Deshalb soll sich der Schwerpunkt meiner Ausführungen
vornehmlich mit seinem Leben befassen, das geprägt war von
unterdrückten Erlebnissen, von seiner leidenschaftlichen
Abneigung gegen die Willkür des Adels, seiner umfangreichen
freiheitlichen Geschichtsphilosophie und der Umsetzung der
freiheitlichen Gedanken des 18. JH. in seine großen Werke.
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Sieben Jahre vor der Französischen Revolution brachen in
Schillers Räuber all die angestaute Wut, Haß und Rachegelüste
gegen die Willkür und Ungerechtigkeit des absolutistischen
Staates, ja gegen die ganze bestehende Welt aus.
Karl Moor, der Held des Dramas, weist nach einer von seinem
Bruder Franz angezettelten Intrige, durch die sich sein Vater und
die Geliebte von ihm abwenden, jegliche Ordnung von sich.
Enttäuscht von den Menschen, der Welt und Gott, wird er zum
Hauptmann einer Bande von Räubern und Mördern, um sein Leid
an »diesem Jahrhundert« zu rächen.
Er fordert Freiheit, muss freilich bald erkennen, daß grenzenlose
Freiheit die verletzte göttliche Weltordnung nicht wiederherstellen
kann. Durch die Untaten der Bande in immer tiefere Schuld
verstrickt, löst er sich von ihr und stellt sich der Justiz mit den
Worten: »da steh ich am Rande eines entsetzlichen Lebens, und
erfahre nun mit Zähnklappern und Heulen, daß ein Mensch wie ich
den ganzen Bau der sittlichen Welt zugrund richten würde. Gnade
- Gnade dem Knaben, der Dir vorgreifen wollte«.
Karl muss erkennen, daß die irdische Ordnung immer nur das
unvollkommene Abbild der vollkommenen göttlichen Ordnung
darstellt. Trotz dieser idealistischen Lösung des Konflikts wurde
Karl Moors Aufbegehren als das verstanden, was es war: ein
politisch-revolutionärer Aufschrei gegen tyrannische Staatsgewalt.
Willkür, Korruption und Ungerechtigkeit des absolutistischen
Fürsten hatte Schiller am Stuttgarter Hof aus nächster Nähe
beobachten können.
Auch wenn größere Dramen als "Die Räuber" folgen sollten, zeigte
sich schon in diesem Stück, was Schiller vor allen anderen
Dramatikern auszeichnet: daß er so spannend zu dichten
vermochte, daß bei ihm jede Zeile notwendig aus der anderen
folgt, so daß niemand ein solches Stück aus der Hand legen kann,
sollte er es auch schon viele Male gelesen haben, ganz zu
schweigen von der überwältigenden Bühnenwirkung, der man sich
nicht entziehen kann.
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Am 10. November 1759 in Marbach als Sohn eines herzoglichwürttembergischen Offiziers geboren, hatte Schiller in Lorch und
Ludwigsburg eine angeblich glückliche, idyllische Kindheit
verbracht.
1773 aber trat ein Ereignis ein, das seine Jugend fortan
bestimmte.
Der württembergische Herzog Karl Eugen hatte zur Rekrutierung
geeigneten Offiziers- und Beamtennachwuchses eine militärische
Pflanzschule gegründet. Um sie mit Schülern zu füllen, erging in
selbstherrlicher Manier an seine Offiziere und Beamten die
Weisung, begabte Söhne dafür abzustellen.
Am 16. Januar 1773 lieferte der Hauptmann Schiller seinen Sohn
in
der
bei
Stuttgart
gelegenen
Solitude
ab.
Sieben Jahre lang war Schiller in das Korsett penibelster Ordnung
gepresst; es gab keine Schulferien, keinen Urlaub, kaum freie
Stunden, Spaziergänge mit den Eltern wurden unter militärischer
Bewachung vorgenommen.
Sieben Jahre der militärischen Disziplin, der Demütigung, der
Entwürdigung: - da dem Herzog Schillers rotes Haar nicht gefiel,
musste er es weiß pudern! -.
Am Ende, 1780, konnte Schiller auf ein abgeschlossenes Medizinstudium zurückblicken, zwei Jahre noch lebte er als berüchtigter
Regimentsmedikus in Stuttgart, seinem »Loch der Prüfung«, wie
er es nannte.
Das Gefühl, vieles versäumt zu haben, wurde Schiller sein Leben
lang nicht los. Seine Dynamik, geistige wie körperliche, erwuchs
daraus, aber auch stetige Unrast, der Drang, alles, was versäumt,
was ihm verwehrt worden war, mit ungeheurem Aufwand an
Energie doch noch zu erzwingen.
Bereits 1777, noch als Zögling der Stuttgarter Militärakademie,
begann er die Räuber. Getrieben vom Hass auf Herzog Karl
Eugen, das Schicksal des Dichters Schubart vor Augen, der
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insgesamt zehn Jahre lang auf der Festung Hohenasperg
eingekerkert war - und dem er den Stoff zu den Räubern
verdankte, arbeitete er bis 1781 an diesem Werk.
Auf eigene Kosten ließ er es drucken.
Über den Buchhändler und Kammerrat Schwan in Mannheim
gelangte es zu dem Intendanten des Mannheimer Hof- und
Nationaltheaters von Dalberg. Dieser zeigte sich interessiert, und
nach einigen Umarbeitungen fand dort schließlich die Uraufführung
statt.
"Die Räuber" etablierten Schillers Ruhm in ganz Deutschland auf
einen Schlag und bald in ganz Europa.
Im Juli dieses Jahres allerdings wurde er für vierzehn Tage in
Arrest genommen, da er sich - wie schon bei der Uraufführung ohne Urlaub nach Mannheim begeben hatte.
Im August untersagte der Herzog dem jungen Schiller das
»Komödienschreiben«, wie er es meinte.
Schiller floh aus Württemberg. Mit seinem Freund, dem Musiker
Andreas Streicher, von dessen Geld er hauptsächlich lebte,
quartierten sie sich nach kurzen Aufenthalten in Mannheim und
Frankfurt inkognito in Oggersheim ein.
Als vermeintliche Häscher des württembergischen Herzogs
auftauchten, drängte man erneut zur Flucht.
Eine mütterliche Freundin aus Stuttgart, Frau von Wolzogen,
stellte ihr kleines Gutshaus im thüringischen Bauerbach zur
Verfügung.
Bis Mitte des nächsten Jahres blieb Schiller dort, entwarf Pläne für
Don Carlos und Maria Stuart.
In seinem Schauspiel "Kabale und Liebe" verarbeitete Schiller
seine unterdrückten Erlebnisse. Es wurde eine scharfe Anklage
gegen die leeren Konventionen einer ehrlosen Adelsschicht, deren
Intrigenspiel zwei Liebende zum Opfer fallen.
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Es ist das erste Stück, in dem Schiller einen direkten Bezug auf
die Amerikanische Revolution nahm.
Nicht nur, daß er die ganze Verlogenheit und Falschheit des
zeitgenössischen Hoflebens mitleidlos auf die Bühne stellte, er
attackierte hier den Verkauf von hessischen Soldaten an England,
das diese als Kanonenfutter im Krieg gegen die Amerikanische
Revolution verheizte.
Sofort nach seiner Uraufführung wurde es verboten, und
umfangreiche Schreiben gegen den Dichter wurden zwischen den
Behörden hin und her geschickt.
„Man müsse dieses gefährliche Subjekt neutralisieren und jede
Anstellung verhindern“, hieß es da vom preußischen bis zum
bayerischen Hofe.
Um der Zensur zu entgehen, schrieb Schiller fortan keine Dramen
mehr, die direkt in der Gegenwart spielten, vielmehr bediente er
sich des Kunstgriffs, große Gegenstände der Gegenwart auf
frühere historische Schauplätze zu verlegen.
Was immer er von jetzt an schrieb, ob Dramen, Gedichte,
historische oder theoretische Schriften, sie alle waren vom großen
Gedanken der politischen Freiheit getragen, sie alle spiegeln die
Ideale wieder, die die Amerikanische Revolution erfolgreich
verwirklichte und alle glühenden Patrioten Europas vereinte.
Schiller hatte eine leidenschaftliche Abneigung gegen die Willkür
des absolutistischen Adels, der grausam und gedankenlos das
Glück der Untertanen zertrat, in dem er z.B. die gesamte
Jahresarbeit der Bauern achtlos zerstörte, wenn es ihm einfiel,
eine Jagd mit 300 Pferden zu veranstalten.
Mit der einmaligen Klarsicht, zu der nur Geistesriesen fähig sind,
deckte er alle Methoden der psychologischen Kriegführung und
Aktivitäten auf, die gegen die Idee der republikanischen Freiheit
gerichtet waren.
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Und wer seine Werke heute liest, wird zu seiner großen
Verwunderung entdecken, daß diese Kräfte noch heute genau die
gleichen sind.
1783 war er wieder in Mannheim, wo von Dalberg ihm die Stelle
des Theaterdichters angetragen hatte.
Nach Ablauf des einjährigen Kontraktes war Schiller mit Schulden
überhäuft, seine Gesundheit schwer angeschlagen;
das »kalte« Fieber, eine Seuche aus den versumpften
Festungsgräben der Stadt, das er sich kurz nach der Ankunft
zugezogen hatte, ließ ihn den gesamten Winter nicht los.
Von Gläubigern und dem Fieber gepeinigt, wurde das Leben ihm
zur Qual.
In dieser Situation erinnerte er sich an einen Brief, den vier
unbekannte Verehrer, der Konsistorialrat Körner, der Lektor Huber
und ihre Verlobten, - zwei Schwestern -, bereits sieben Monate
vorher geschrieben hatten. Er antwortete und erhielt prompt die
Einladung, nach Leipzig zu kommen.
Die folgenden zwei Jahre, 1785 bis 1787, verbrachte Schiller als
Gast Christian Gottfried Körners in Leipzig und Dresden.
Als Schiller durch die hilfreiche Hand Christian Gottfried Körners in
Leipzig, dessen Haus auf lange Zeit ein Mittelpunkt der
republikanischen Netzwerke war, seiner persönlichen Not
zunächst entkommen war, war er von einem ungeheuren
Optimismus über die Aussichten der Menschheit erfüllt.
In Körners Haus dichtete Schiller die weltberühmten Zeilen:
Freude, schöner Gotterfunken,
Tochter aus Elysium, usw.
Beethoven beschäftigte sich 30 Jahre lang mit dem Gedanken, für
dieses Gedicht eine Komposition zu schaffen. Endlich schrieb er
die Chorfantasie, die durchaus als eine Homage an Schiller
gedacht werden kann.
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Und schließlich schuf er mit der 9. Sinfonie, eine der gewaltigsten
Kompositionen überhaupt.
Dieses Gedicht erschien 1786, also in dem Jahrzehnt, als alle
Republikaner Europas voller Enthusiasmus auf die gelungene
Amerikanische Revolution blickten, an der sie durch die Netzwerke
Lafayettes, Steubens und der Liga der Bewaffneten Neutralität
einen großen Anteil gehabt hatten, ja, die ihr gemeinsames Projekt
gewesen war, denn es galt in der "Neuen Welt" zum ersten Mal
eine freiheitliche Republik zu errichten.
Sie teilten anfangs die Hoffnung daß die Französische Revolution
einen ähnlich glücklichen Verlauf nehmen könnte und von ihr eine
Hebelwirkung für ganz Europa ausginge.
Auch in Deutschland sollte sich diese Entwicklung nachvollziehen,
das immer noch in dreihundert kleine Ländereien zersplittert war,
und damit endlich eine Nation werden könnte.
Schiller beschrieb die Diskussion über diese Perspektive in den
"Briefen über Don Carlos" als das Lieblingsthema der Achtziger
Jahre: die Errichtung einer Nation, bei der des Staates größte
Blüte zusammenträfe mit der maximalen Entwicklung des
Individuums.
"Don Carlos" ist vielleicht zusammen mit "Wilhelm Tell" das
Drama, in dem am direktesten die Amerikanische Revolution
gefeiert wird.
Den Ort der Handlung hat Schiller an den Hof Philipp II. von
Spanien verlegt.
Als Philipp II. den Marquis von Posa, der es ablehnt, Fürstendiener
zu sein, doch in seine Dienste zwingen will, nutzt dieser die
Gelegenheit, dem mächtigsten Herrscher seiner Zeit die Wahrheit
entgegenzuschleudern, die ihm zu sagen sich noch niemand
getraut hat:
Ja, Beim Allmächtigen!
Ja - Ja - Ich wiederhol es. Geben Sie, was Sie uns nahmen,
wieder.
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... Ein Federzug von dieser Hand, und neu erschaffen wird die
Erde.
Geben Sie Gedankenfreiheit.
In den nächsten Jahren schrieb Schiller vor allem an historischen
Darstellungen, der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges und an
der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der
Übermacht der Spanischen Regierung, die ihm 1788 eine
Professur für Geschichte in Jena eintrug.
In der
Einleitung zu seiner "Geschichte des Abfalls der
Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung“ sagt er
uns das folgende:
Eine der merkwürdigsten Staatsbegebenheiten, die das
sechzehnte Jahrhundert zum glänzendsten der Welt gemacht
haben, dünkt mich die Gründung der niederländischen Freiheit.
In der Tragödie "Don Carlos" führt uns Schiller in diesen
Freiheitskampf, und zwar direkt in die Höhle des Löwen - an den
Hof des damals allmächtigen König Philip.
Schiller zeigt uns, wie schwach dieser auf Egoismus aufgebaute
Gewaltstaat im Grunde ist - trotz seiner Militärgewalt und seiner
finanziellen Macht.
Die Gottgleichheit des Menschen wird geleugnet und stattdessen
das Götzenbild eines Herrschers aufgestellt. Der bleibt aber nur
ein Mensch.
Schiller lässt uns mit diesem Problem natürlich nicht allein. Er hat
uns die Antwort in vielfältiger Weise gegeben.
Wir erfahren sie in seiner großen Freundschaftsballade "Die
Bürgschaft":
Der arglistige Tyrann wird hierin bezwungen - nicht durch
physische Gewalt, sondern durch eine ganz andere Macht.
Damon opfert sein Leben nicht nur dem Freund - der scheint
bereits unrettbar verloren -, sondern er opfert sich dem, was ihre
Freundschaft groß und wertvoll macht.
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Genau das tat auch Marquis Posa.
Schiller sagt dazu „Wenn wir unser Leben unseren Freunden
widmen und gleichzeitig für die ganze Menschheit leben, dann
sind auch wir solche Menschen, aus denen "der Zufall Helden
machen" kann.
Schillers Antwort wird uns ebenfalls in "Johanna von Orleans"
gegeben:
Johanna zieht in die Schlacht, sie rettet Frankreich und gibt ihrem
geliebten Volk den rechtmäßigen König wieder.
Aber Schiller kommt es weniger auf den Kampf auf dem
Schlachtfeld an.
Er läßt uns in der Person der Johanna die Seelenkämpfe
durchleben, die jeder große Mensch bestehen muss. Die Liebe zu
ihrem Volk begeistert Johanna zu großen Taten.
Sie greift wie ein Werkzeug Gottes in die Geschichte ein. Aber sie
selbst bleibt Mensch.
Das Volk, die Menschheit können wir lieben, aber wir treffen die
Menschheit nie persönlich an, wir stehen immer nur einzelnen,
individuellen Menschen gegenüber.
Und so können wir das Band unserer Liebe zur Menschheit immer
nur über die konkreten Mitmenschen knüpfen.
Schiller bringt das in seinem Drama auf den Punkt, indem Johanna
mitten in der Schlacht ihrem Gegner Lionel in die Augen schaut
und so von Liebe für diesen Menschen ergriffen wird, daß sie den
Feind - den sie gemäß ihrer Sendung erschlagen müsste - nicht zu
töten vermag.
Ja, sagt Schiller, wir können unserem Nächsten der gute
Samariter sein, und wir können die besten Züge des Marquis Posa
in uns verwirklichen. Wir können mutig der Tyrannei trotzen, wie
der Freund Damon und wir können Nationen retten, wie das
Hirtenmädchen Johanna von Orleans.
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1789 war Schiller noch fest davon überzeugt, daß sich die
Menschheit am Vorabend des Zeitalters der Vernunft befände.
Wie alle freiheitsliebenden Menschen, hatte auch Schiller zunächst
die französische Revolution mit großer Teilnahme und noch
größeren Hoffnungen verfolgt.
Die französische Nationalversammlung wählte den Dichter der
"Räuber" zum Ehrenbürger der französischen Revolution.
"Monsieur Giller, publiciste allemand" wurde am 26. August 1792
einstimmig zum "Citoyen francais" erhoben.
Schiller erfuhr von dieser Ehrung aus den Zeitungen, denn die
Urkunde selbst erreichte ihn erst ein halbes Jahrzehnt später, am
1. März des Jahres 1798 gleichsam "aus dem Reich der Toten,"
wie er feststellte, denn alle Männer, welche die Urkunde
unterschrieben hatten, waren längst der Guillotine zum Opfer
gefallen.
Die französische Revolution war bald in Anarchie und blutigen
Terror umgeschlagen. Das französische Volk, so stellte Schiller
fest, war für die politische Freiheit nicht vorbereitet, die Europäer
waren noch nicht reif, ihre Geschicke in die eigenen Hände zu
nehmen. So musste aus dem Aufruhr zwangsläufig eine neue,
schreckliche Diktatur entstehen.
Aber je mehr der Jakobinerterror die Hoffnungen der
Französischen Revolution zunichte machte, umso mehr gab er
seinem Entsetzen über diese Barbarei Ausdruck.
Und er, der noch vor kurzem dichten konnte:
"Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige, stehst du an
des Jahrhunderts Neige",
reflektiert später das Pariser Massaker in der "Glocke" mit den
Worten: "Jedoch der schrecklichste der Schrecken, das ist der
Mensch in seinem Wahn".
Der Verlauf der Französischen Revolution veranlasste Schiller zu
dem berühmten Ausspruch: "Ein großer Augenblick hat ein kleines
Geschlecht gefunden".
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In diese Zeit fällt auch Schillers Auseinandersetzung mit dem
Werk Kants, der mit seinem Kategorischen Imperativ fordert, der
Mensch müsse seine Pflicht tun, wenn es zu einem Widerspruch
zwischen Notwendigkeit und Neigung kommen sollte.
Schiller setzte der Kantschen Pflichterfüllung den Begriff der
"schönen Seele" entgegen, den Zustand des Gemütes, wo
"Vernunft
und
Sinnlichkeit,
Pflicht
und
Neigung
zusammenstimmen."
1787 drängte es ihn weiter, in die Nähe des intellektuell weit
reizvolleren Weimar, wo Goethe - der sich gerade nach Italien
beurlaubt hatte -, sowie Herder und Wieland lebten.
Am 7. September 1788 begegnete er Goethe, der, geprägt noch
von seinem Italienerlebnis, mit dem leidenschaftlichen Schiller
wenig anzufangen wusste. »Schiller war mir verhasst«, lautete
sein missgestimmtes und voreiliges Urteil.
Erst im Sommer 1794, fast 7 Jahre später, kam es zur erneuten
und nun dauerhaften Annäherung der beiden Dichter.
Doch dazwischen lag ein wesentlicher, intensiver Abschnitt in
Schillers Biographie, der sein weiteres Leben und Schaffen
entscheidend prägte.
In dieser Zeit richtete sich Schillers Interesse weiterhin auf die
Philosophie Kants. Aus der Beschäftigung mit dessen Schriften
entstanden u. a. die Studien „Über Anmut und Würde“, „Vom
Erhabenen“, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ und
„Über naive und sentimentalische Kunst“, die bis heute zu den
bedeutendsten und einflussreichsten Beiträgen zur Ästhetik
gehören.
Ein Gespräch mit Goethe über die Urpflanze und ein anschließender Brief Schillers begründeten im Sommer 1794 die Freundschaft
zwischen den Dichtern.
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Nach sieben Jahren, in denen er ausschließlich historische und
philosophische Werke verfasst hatte, kehrte er damit nun zur
Dichtung zurück.
1797 entstanden im Wettstreit mit Goethe eine Reihe von Balladen
(u. a. Der Taucher, Der Handschuh, Die Kraniche des Ibykus).
Und er begann die Arbeit am Wallenstein, der 1799 beendet
wurde.
Kaum ein Tag verging, an dem sich Goethe und Schiller nicht
getroffen und gesprochen haben. Und mit der ihm eigenen Energie, bereits im Zeichen des Todes lebend, machte er sich nun an
die Dramenproduktion der letzten Jahre;
1800 beendete er Maria Stuart, 1801 Die Jungfrau von Orleans,
1803 Die Braut von Messina,
1804 schließlich - sein letztes vollendetes Stück - den Wilhelm
Tell.
Das Stück, »ein herrliches Werk, schlicht, edel und groß, effektvoll
und bewegend prachtvolles Theater und vornehmstes dramatisches Gedicht«, so Thomas Mann, wurde zum volkstümlichsten
aller Werke Schillers.
Die Idee der Freiheit erfährt hier ihre Verwirklichung in der Welt.
Das unterdrückte Volk der Schweizer schüttelt die tyrannische
Herrschaft des kaiserlichen Landvogts Geßler ab.
Stellvertretend für das Volk begeht Tell aus Einsicht in die sittliche
Notwendigkeit den Tyrannenmord, Menschlichkeit und Freiheit
werden möglich.
„Es hebt die Freiheit siegend ihre Fahne.
Drum haltet fest zusammen - fest und ewig Kein Ort der Freiheit sei dem andern fremd Hochwachen stellt aus auf euren Bergen,
Dass sich der Bund zum Bunde rasch versammle,
Seid einig - einig - einig [...]
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Neben den großen Themen über Staat und Individuum, die in
der "Glocke" behandelt werden, führt uns der Dichter in kleinen
Szenen die wichtigsten Ereignisse aus dem Leben eines Menschen vor Augen und verknüpft sie mit dem Klang der Glocken.
Denn wo das Strenge mit dem Zarten,
Wo Starkes sich und Mildes paarten,
Da gibt es einen guten Klang.
Zwischen die Szenen aus dem Leben und den allgemeinen
Betrachtungen über Staat und Gesellschaft hat Schiller in seinem
Lied von der Glocke die Sprüche des Meisters Glockengießer
gestreut, der seine Gesellen zur Arbeit anhält und ihnen die
einzelnen Arbeitsschritte erklärt.
Schiller ehrt damit nicht nur die Arbeit des Handwerkers, er erhöht
sie auch zum poetischen Gegenstand.
Kocht des Kupfers Brei,
Schnell das Zinn herbei,
Dass die zähe Glockenspeise
Fließe nach der rechten Weise!
Der fortschreitende Arbeitsprozess, zu dem sich "wohl ein ernstes
Wort" geziemt, regt den Meister zu sinnigen Betrachtungen über
die Gesellschaft und den Staat an. Jedes Mal, wenn das einzelne
Dasein durch Schicksalsschläge vernichtet zu werden droht, treibt
der Meister durch freudiges Schaffen die Entwicklung weiter, bis
die Glocke vollendet und der Kreis des Lebens abgeschritten ist.
Arbeit ist des Bürgers Zierde,
Segen ist der Mühe Preis;
Ehrt den König seine Würde,
Ehret UNS der Hände Fleiß.
Es ist sicher diese hohe Wertschätzung der Arbeit des
gewöhnlichen Bürgers, die diesem Gedicht zu einer fast
legendären Beliebtheit und Berühmtheit verholfen hat.
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Das Lied von der Glocke ist wirklich eine "Schule des Lebens",
wie es lange genannt wurde. Es hat den Namen des Dichters in
die hinterste Stube des kleinsten Weilers getragen.
Schiller war nun DER Volksdichter schlechthin. Das mag auch
daran liegen, daß einige darin einen spezifisch deutschen
Charakter ausmachten.
Es gab mehrere Versuche, die Glocke in Musik zu setzen, doch
die meisten verliefen nicht glücklich.
Spätestens mit der Glocke war Schiller zum "Dichter des Volkes"
und zum "Liebling der Nation" geworden, wie sich bei den Feiern
zu seinem 100. Geburtstag im Jahre 1859 zeigte.
Die Feste dauerten bis zu einer Woche und wurden auch in Paris,
Stockholm, Amsterdam, Prag, Bukarest, St. Petersburg,
Warschau, Smyrna, Konstantinopel und Algier begangen.
Vielerorts wurden Schiller-Vereine gegründet, die sich zum
Grundsatz machten "Geist und Gesinnung, von denen das Fest
zum 100jährigen Geburtstag Schillers getragen war, lebendig zu
erhalten und weiter zu entwickeln".
Sammlungen für die Errichtung von Schiller-Denkmälern waren so
ergiebig, daß überall in den Städten Schiller-Statuen errichtet
werden konnten.
Mit den Schillerfeiern des Jahres 1859 wurde aber nicht nur der
große Dichter geehrt, sie waren die größte politische
Demonstration seit der gescheiterten Revolution von 1848.
Die Umzüge wurden zu einer breiten Bewegung für einen
einheitlichen deutschen Verfassungsstaat.
In den jungen USA wurden sie gleichzeitig zur mächtigen
Volksbewegung für die Wahl Abraham Lincolns zum
amerikanischen Präsidenten.
So wurde Schillers Erwartung, daß schöne Kunst den Menschen
auch politisch mündig mache, erfüllt.
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Für Schiller war Kunst kein Selbstzweck, und schon gar nicht
reine Unterhaltung. Nein, nur durch die Kunst kann der Mensch
lernen, sein Schicksal zu meistern, und nur Kunst, die das auch
wirklich zu leisten vermag, verdient diesen Namen.
Er schrieb den Künstlern deshalb ins Stammbuch:
"Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben,
/ Bewahret Sie! / Sie sinkt mit euch!
Mit euch wird sie sich heben!"
Der Zustand der heutigen Kunst ist, gemessen an Schiller,
miserabel:
Wie banal sind doch die Talkshow und die TV-Serie, die Sie erst
kürzlich sahen.
Wie klein und verroht das Theaterstück, welches Sie zuletzt
konsumierten.
Nicht wahre Kunst, sondern bloße Unterhaltung ist heute die
Maxime – Unterhaltung, die wie eine Droge die raue Wirklichkeit
vergessen machen soll.
Die Kunst, um mit Schiller zu sprechen, unterhält den Menschen
nicht nur, sondern sie verändert, sie veredelt ihn.
"Denn nur der große Gegenstand vermag /
Den tiefen Grund der Menschheit aufzuregen; /
Im engen Kreis verändert sich der Sinn, /
Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken."
So sagt Schiller in seinem Prolog zu Wallenstein.
Und vom Theater fordert er, daß es "unsere Seele" mit "herrlichen
Empfindungen, Entschlüssen, Leidenschaften schwellt" und uns
"göttliche Ideale... zur Nacheiferung ausstellt...:
Wie groß wird da der Mensch, wie klein und verächtlich das
gefürchtete und unüberwindliche Schicksal!"
Es wäre noch unendlich viel von Schiller zu zitieren, viel über ihn
zu sagen, doch soll diese kleine Betrachtung ja nur als Anregung
dienen, selbst die Werke Schillers zu lesen und zu studieren.
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Im Winter 1804, kurz vor der Geburt seiner zweiten Tochter, zog
sich Schiller eine Erkältung zu; die Fieberanfälle setzten wieder
ein, Darmkoliken und Ohnmachten kamen hinzu.
Die Bauchfellentzündung, an der er seit zehn Jahren litt, war wohl
in eine Darmverschlingung übergegangen.
Am 9. Mai 1805 starb Friedrich Schiller im Alter von 46 Jahren.
Heute, 200 Jahre später, bin ich davon überzeugt, dass einige
Dramen Schillers nach wie vor lebendig sind, dass in ihnen viel
Sprengkraft enthalten ist und dass in ihnen Motive und Figuren
vorkommen, die mit unserer Epoche sehr wohl zu tun haben.
Solange politische Attentate verübt werden, solange ist die Frage,
ob Tell das Recht hatte, den Landvogt Gessler, was immer ihm
vorzuwerfen ist, meuchlings zu ermorden, keineswegs überlebt.
Und wie ist es mit den Räubern? Es geht doch hier um eine
Gruppe von Menschen, die sich aus der verachteten und
verhassten Gesellschaft zurückziehen, um eine neue, eine
gerechte Welt zu errichten. Um der Sache willen halten sie einen
gewalttätigen Umsturz für notwendig und natürlich für
gerechtfertigt.
Die Parallele zu der Revolte von 1968 liegt doch auf der Hand,
über Ähnlichkeiten und Unterschiede lässt sich natürlich allerlei
sagen und diskutieren.
Das grösste politische Drama Schillers ist der „Wallenstein“. Ist es
unmöglich, zu zeigen, dass hier die Politiker Konflikte zu lösen
hatten, vor denen auch Politiker unserer heutigen Zeit stehen?
Wir leben heute in einer stürmischen Zeit. Welche gewalttätigen
Vorgänge haben wir in den letzten hundert Jahren erlebt u. was
steht uns noch bevor?
Zwei Weltkriege liegen hinter uns, und auch das heutige
Jahrtausend "öffnet sich mit Mord". Im Balkan war der Krieg
wieder direkt vor unsere Haustüre gerückt.
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Vor 15 Jahren gab uns die "friedliche Revolution" die Hoffnung
auf eine historische Chance für Europa und darauf, daß mit dem
Ende des "kalten Krieges" die Atomkriegsgefahr endlich gebannt
sei.
Und heute? Statt blühender Länder in Osteuropa greift
wirtschaftliches und politisches Chaos um sich.
Neue Konflikte in Afghanistan und Irak sind entstanden weitere
entstehen in: Asien, Lateinamerika, Afrika, sie versinken in
wirtschaftlicher Not, Krieg und Seuchen.
Und unsere wirtschaftliche Sicherheit? Hier Schuldenberge, die
selbst mit eisernem Sparen nie mehr abgebaut werden können,
rückläufige Güterproduktion, weniger Arbeitsplätze, Kürzung von
Sozialleistungen und Renten, dort Globalisierung, Spekulation und
Kursfeuerwerke an den Aktienbörsen.
Das Weltfinanzsystem ist außer Kontrolle geratenen.
Wie viele Menschen fühlen sich klein und haben Angst vor der
Zukunft und einem schlimmen Schicksal, dem sie sich ausgeliefert
fühlen.
Wie verwüstet ist doch die Seelenlandschaft unserer heutigen
Gesellschaft. Fast überall Eigenliebe und Zynismus, fast nirgends
wirkliche Lebensfreude.
Immer nur "Spaß haben", aber nichts von der aus Menschenliebe
und schöpferischem Schwung entspringenden Freude, die Schiller
in seiner Ode "An die Freude" feiert und die Beethoven so herrlich
vertont hat.
Neben den Dramen von Schiller sollte man auch auf die einst so
populären und oft verspotteten Balladen hinweisen. Manche
lassen sich heute nicht ganz ernst nehmen, aber es gibt auch
solche, die nichts von ihrem Glanz eingebüßt haben.
Ich halte die „Kraniche des Ibykus“ nach wie vor für eine der
schönsten Balladen in deutscher Sprache.
Ich hoffe, dass ich mit meinen Ausführungen den einen oder
anderen Freund angeregt habe, sich in einer stillen Stunde an
einem Drama oder einer Ballade von Schiller zu erfreuen.
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