Hintergrund: Russland 19. Mai 2016 Hände hoch! Es wird abgestimmt – Russland vor den Dumawahlen 2016 Sergey Medvedev und Julius von Freytag-Loringhoven In ganz Russland herrscht vor den Parlamentswahlen im Herbst eine merkliche Spannung. Die politische Elite reagiert auf diese Situation ganz widersprüchlich. Nach den Manipulationen bei der letzten Duma-Wahl im Jahr 2011 und den anschließenden Protesten versuchte der Kreml zwar den Demonstranten in einzelnen Punkten entgegenzukommen, stellte aber gleichzeitig die Kontrolle über alle politischen Prozesse sicher: Momentan werden beispielsweise Oppositionspolitiker häufiger zu Talkshows im Staatsfernsehen eingeladen; parallel dazu wird jedoch das soweit noch relativ unabhängige Medienhaus RBK des Oligarchen Mikhail Prokhorov gewaltsam unter Kontrolle gebracht. Der berüchtigte Chef der Zentralen Wahlkommission, Wladimir Tschurow, der zu einer Symbolfigur der Wahlmanipulationen wurde, räumte Ende März 2016 seinen Posten für die ehemalige Menschenrechtsbeauftragte Ella Pamfilowa. Während nun fest mit einer Einladung an OSZE-Wahlbeobachter unter ODHIR-Chef Michael Link gerechnet wird, wird die Wahlbeobachtung von unabhängigen Organisationen in Russland eingeschränkt. Unter diesen Bedingungen und im Hinblick auf die gezielten Attacken gegen einzelne Politiker sind die Wahlchancen der liberalen Parteien ‚Jabloko‘ und ‚Parnas‘ weiterhin gering, obwohl sie das Zentrum der zwei wichtigsten Oppositionsgruppierungen bilden. Hintergrund: Russland / Mai 2016 |1 “Schauen Sie, über Jahrhunderte gab es in den Vereinigten Staaten nur zwei Parteien an der Spitze: die Demokratische Partei und die Republikanische Partei […] In Deutschland gibt es Christdemokraten, die Christdemokratische Union, sie sind jetzt zusammen mit der Sozialdemokratischen Partei; es gibt auch Liberale, aber die sind eher am Rand des Geschehens.“ Wladimir Putin im Rahmen der jährlichen Fernsehfragestunde am 14. April 2016 Die Spannung vor den Parlamentswahlen im Herbst ist nicht nur in Moskau, sondern in allen Regionen des Landes spürbar. Aus Angst vor zu viel Öffentlichkeit für den bekannten Oppositionspolitiker Wladimir Ryschkow, der im Herbst als Direktkandidat für die liberale Partei ‚Jabloko‘ antritt, wurde versucht, im Februar das alljährlich im Altai stattfindende „Sibirische Davos“ zu verhindern. Der ehemalige Premierminister Mikhail Kasianow, Spitzenkandidat der liberalen ‚Parnas‘-Partei W.W. Putin demonstriert Volksnähe / Foto: pixabay.com und der unterstützenden ‚Demokratischen Koalition‘ (Parnas wird unterstützt von der ‚Partei des 5. Dezember‘, der ‚Libertären Partei‘ sowie den nationalliberalen Parteien ‚Demokratische Wahl‘ und der ‚Partei Fortschritt‘ des bekannten Oppositionellen Alexei Nawalny) wurde nach alter Geheimdienstart durch die Veröffentlichung eines Videos mit einer Affaire diskreditiert. Die im Zuge der wirtschaftlichen Depression sinkende Zustimmung der Kreml-Partei ‚Einiges Russland‘ auf unter 40 Prozent versuchte man kürzlich durch einen neuen Wahlslogan aufzufangen, der von der Popularität des Präsidenten profitieren soll: „Wichtig, richtig zu wählen“ wird auf Russisch WWP abgekürzt – die Initialen des Präsidenten Wladimir Wladimirowitsch Putin. Die Nervosität kommt nicht von ungefähr, denn seit den letzten Dumawahlen hat sich Russland verändert. Keine Wiederholung von 2011 Die Berichte über Wahlfälschungen bei den Wahlen führten im Jahr 2011 zunächst zu Massendemonstrationen und zu einer widersprüchlichen Reaktion der herrschenden Elite. „Ich höre diejenigen, die für Veränderungen plädieren, und verstehe sie. Man soll allen aktiven Bürgern die Teilnahme an der Politik ermöglichen“, sagte der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew nach den Protesten und schlug einen Sechs-Punkte-Plan der politischen Reformen vor. Die vielversprechenden Reformvorschläge wirkten auf den ersten Blick recht großzügig. Beispiele hierfür sind die Wiedereinführung der 2005 abgeschafften Direktwahlen für das Amt der Gouverneure, die Liberalisierung der Gesetzgebung zur Registrierung und Zulassung von politischen Parteien und die Schaffung eines öffentlich-rechtlichen Fernsehens mit unabhängiger Berichterstattung. Von 2012 bis 2016 wurde ein Großteil der Reformvorschläge auch mehr oder weniger umgesetzt, jedoch wurden parallel dazu die Schrauben auf anderen Ebenen viel kräftiger angezogen. Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit wurde eingeschränkt, unabhängige Organisationen aus der Zivilgesellschaft als „ausländische Agenten“ stigmatisiert, und ein neues Mediengesetz verbietet nun ausländische Beteiligungen. Die wenigen unabhängigen Medien wurden auf verschiedene Art und Weise unter Druck gesetzt. Darüber hinaus wurden politische Aktivisten im Fernsehen zu Volksfeinden erklärt oder sogar strafrechtlich verfolgt. Hintergrund: Russland / Mai 2016 |2 Die Bohdan-Chmelnyzkyj-Fußgängerbrücke über die Moskwa in Moskau / A. Savin, Wikimedia Commons Die Krim-Annexion 2014 und der Krieg in der Ostukraine sorgten für eine weitere Zuspitzung der autoritären Tendenzen und antiwestlicher Rhetorik, die sich immer auch gegen die liberale Opposition richtet. Nichtsdestotrotz werden Wahlen weiter als wichtigstes Legitimationsinstrument der Regierung gesehen. Die widersprüchlichen Reformen wurden daher umgesetzt, um den Ausgang der Wahlen deutlich zu beeinflussen und das sinkende Vertrauen der Wähler wiederherzustellen. Neuerungen im Wahlrecht Nach zehn Jahren, indem die Duma mittels eines reinen Verhältniswahlrechts gewählt wurde, soll es im Jahr 2016 wieder ein gemischtes Wahrrecht geben. D.h. die Hälfte der Abgeordneten wird nun wieder direkt gewählt, wodurch die Bedeutung der Regionen in der föderalen Politik steigt. Anders als bei den Parteilisten, auf die die „Innenpolitik-Bevollmächtigten“ Putins aus der Präsidialadministration den entscheidenden Einfluss haben, werden so auch regionale Eliten über die Kandidaten mitentscheiden können. Gleichzeitig wurde jedoch das Registrierungsverfahren von Kandidaten verschärft, welche keine Mitglieder etablierter Parteien sind – die Parteien, die mindestens 3 Prozent der Stimmen bei den letzten föderalen Wahlen erhielten oder mindestens einen Abgeordneten auf der regionalen Ebene haben. Nur 14 von 75 Parteien sind von dieser Reglung nicht betroffen – darunter die vier im Parlament vertretenen Kreml-Unterstützerparteien ‚Einiges Russland‘, ‚Gerechtes Russland‘, die rechtspopulistische ‚LDPR‘ und die ‚Kommunistische Partei‘ sowie die zwei liberalen Parteien ‚Jabloko‘ und ‚Parnas‘. Um sich zu registrieren, müssen parteilose Kandidaten den regionalen und föderalen Wahlkommissionen ausführliche Akten und Anmeldeformulare zukommen lassen, inklusive der Unterschriften von 3 Prozent der Wähler ihres Wahlkreises (mindestens 3.000 Unterschriften). Allein das Sammeln der Unterschriften kostet – gerade in Anbetracht der in den letzten Jahren sinkenden Wahlbeteiligung und Stigmatisierung von "nicht-System-Opposition" – viel Zeit und Geld. Darüber hinaus haben die Verfahrensprüfer weitreichende Befugnisse und konnten so in den vergangenen Jahren aufgrund der verschiedensten Formalkriterien bereits mehrmals die Zulassung oppositioneller Parteien und Kandidaten verhindern. Einschränkung der Wahlbeobachtung Mit Erleichterung hat die Zivilgesellschaft in Russland Ende März 2016 auf den erzwungenen Rücktritt des Chefs der Zentralen Wahlkommission, Wladimir Tschurow, reagiert. Als neue Chefin der Behörde ist mit Ella Pamfilowa die ehemalige Menschenrechtsbeauftragte ernannt worden. Obwohl sie in ihrer früheren Position nicht unumstritten war, hat sie in der liberalen Öffentlichkeit etwas Vertrauen gewinnen können: Nachdem gravierende Manipulationen festgestellt wurden, hat die Zentrale Wahlkommission – auf Weisung von Pamfilowa – bei der Wahl in der kleinen Ortschaft Barwicha bei Moskau durchgegriffen und sie für ungültig erklärt. Hintergrund: Russland / Mai 2016 |3 Die unabhängige Politikwissenschaftlerin Jekaterina Schulmann bewertet die schnelle Reaktion sowie die Ernennung Pamfilowas generell etwas kritischer: „Das Ziel ist nicht, wirklich faire Wahlen abzuhalten, sondern Demonstrationen gegen ihre Ergebnisse zu verhindern.“ Grigorij Melkonjants von der unabhängigen Wahlbeobachterorganisation Golos wertet das trotzdem als ein gutes Zeichen: „Pamfilowa muss Signale senden, dass Wahlen in Russland nicht mehr so stattfinden können wie früher. Sie hat jetzt erst mal eine Diagnose gestellt und öffentlich erklärt, dass es ein Problem gibt. Das ist neu und ein erster Schritt.") Im Umfeld von Pamfilowa geht man davon aus, dass auch eine OSZE-Wahlbeobachtermission unter ODIHR-Chef Michael Link nach Russland eingeladen werden wird. Kritiker halten das aus Sicht der russischen Staatsvertreter vor allem deshalb für notwendig, um der Wahl weitere Legitimität zu verleihen. Eine solche Mission wird zwar kaum flächendeckend Unregelmäßigkeiten verhindern können, aber ist in den Regionen wichtig, in denen die Arbeit russischer unabhängiger Wahlbeobachter besonders eingeschränkt ist. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Wahlbeobachtung seitens russischer Bürger wurden nämlich deutlich eingeschränkt; die maximale Anzahl der von Parteien entsandten Wahlbeobachter verringert. Auch die Möglichkeit für NGOs, Aktivisten – wie bisher – als Beobachter zu entsenden und als Journalisten anzumelden, wurde deutlich beschränkt. Nun müssen alle Journalisten über einen Arbeitsvertrag verfügen, der nicht früher als 60 Tage vor dem Wahltag unterschrieben sein darf. Sogenannte „ausländische Agenten“ – Nicht-Kommerzielle Organisationen, die ausländische Finanzierung bekommen und nach Auffassung des Justizministeriums politisch aktiv sind – sind von der Wahlbeobachtung komplett ausgeschlossen. Dazu zählt die größte Wahlbeobachtungsorganisation Golos, deren Chefin Lilija Schibanowa auf Druck der Behörden das Land vorläufig verlassen hat. Die Listen der Wahlbeobachter müssen darüber hinaus spätestens drei Tage vor der Abstimmung vorliegen. „So wäre im Voraus bekannt, welche Wahlstationen keine Wahlbeobachter haben würden“, schreibt der Politologe Alexander Kynew in dem Ende April erschienenen Bericht des Think-Tanks von Alexej Kudrin, dem ‚Ausschuss der Bürgerinitiativen‘. „Die neue Gesetzgebung verbietet faktisch die Technik der sogenannten mobilen Wahlbeobachtung, bei der Gruppen aus Juristen die schwierigsten Wahllokale besuchen“, so Kynew. Russlandkarte / pixabay.com Hintergrund: Russland / Mai 2016 |4 Viele Parteien und kaum Alternativen Nach der Reform von Premierminister Medwedew ist die Zahl der registrierten Parteien deutlich gestiegen. Standen 2011 noch sieben Parteien auf dem Wahlzettel, so könnten zur Dumawahl im September theoretisch bis zu 75 Parteien antreten. Die meisten unter ihnen sind aber wenig sichtbar, geschweige denn politisch aktiv. Oft existieren sie – wie Briefkastenfirmen – nur auf dem Papier. Das Parteiensystem wird weiterhin de facto von der Präsidialadministration gesteuert. Der sogenannte „Kurator für Innenpolitik“, der stellvertretende Leiter der Präsidialadministration Wjatscheslaw Wolodin, arbeitet eng mit den Verantwortlichen aus dem Justizministerium zusammen und bestimmt die Registrierung neuer Parteien maßgeblich mit. So wurde allen nach dem Protest 2011 gegründeten Oppositionsparteien die Registrierung verweigert. Das betrifft auch die ‚Fortschrittspartei‘ des bekannten Oppositionspolitikers Alexej Nawalnyj: Die Partei des Chefs der Stiftung für Korruptionsbekämpfung, der 2013 bei der Bürgermeisterwahl in Moskau 27 Prozent der Stimmen und damit den zweiten Platz gewann, versuchte drei Mal vergeblich, sich registrieren zu lassen. Aus diesem Grund hat sich die Partei für die kommende Wahl dem Bündnis aus fünf nicht-registrierten demokratischen Parteien, die sich hinter der liberalen Partei ‚Parnas‘ gesammelt haben, angeschlossen. Die sogenannte ‚Demokratische Koalition‘ ist nach der Veröffentlichung des Kasianow-Videos Ende April allerdings in einen Streit um ein Vorwahlverfahren und die mögliche Neuvergabe des ersten Listenplatzes verfallen. Ohne eine Einigung unter den Koalitionspartnern, vor allem ohne Unterstützung seitens Alexej Nawalnyj, ist die notwendige Fünf-Prozent-Hürde nicht zu erreichen. Gebäude der Russischen Staatsduma in Moskau / commons.wikimedia.org Die Chancen für die andere wichtige liberale Partei ‚Jabloko‘, die bei der letzten Dumawahl etwas mehr als 3 Prozent der Stimmen gewann und somit eine gewissen Parteifinanzierung aus öffentlichen Mitteln erhält, sind auch nicht besonders hoch. ‚Jabloko‘ freut sich zwar über Zuwachs aus Opposition und Zivilgesellschaft – unter ihnen die bekannten Kandidaten Wladimir Ryschkow, ehemaliger Ko-Vorsitzender von ‚Parnas‘, und der Dumaabgeordnete Dmitry Gudkow –, in oppositionellen Kreisen kämpft die Partei aber mit Ruf, nicht konfrontativ genug zu agieren. Dem Parteigründer und Präsidentschaftskandidaten Grigorij Jawlinskij wird z.B. vorgeworfen, auf dem letzten Parteitag im Dezember 2015 die relativ unbekannte Kommunalpolitikerin Emilia Slabunowa gegen den prominenten Journalisten Lew Schlossberg als neue Vorsitzende durchgesetzt zu haben. Durch die erste weibliche Vorsitzende fand jedoch gleichzeitig auch eine Verjüngung des Parteivorstandes statt, den Lew Schlossberg – trotz verlorener Wahl – unterstützt. Dieser Prozess war wichtig, um jüngere Wählergruppen zu erreichen. Erstaunlich ist für viele Beobachter, dass seit einem halben Jahr Oppositionspolitiker – insbesondere Kandidaten von ‚Jabloko‘ – regelmäßig in Talkshows staatlicher Fernsehkanäle eingeladen werden. Überschattet wird diese Entwicklung jedoch durch das erneut harte Vorgehen gegen die in den letzten Jahren relativ unabhängige Mediengruppe RBK des Miliardärs Mikhail Prochorow. Hintergrund: Russland / Mai 2016 |5 Nachdem das Management der Gruppe wegen vorgeblicher Unregelmäßigkeiten einer vergangenen Transaktion mehrere Strafanzeigen erhalten hat, verließ die Chefredakteurin Elizaveta Osetinskaya – wie andere führende Journalisten der Gruppe – frühzeitig ihre Position, um ein Sabbatical in den USA anzutreten. RBK ist in jüngster Vergangenheit insbesondere durch die Veröffentlichung von Teilen der Panama Papers und Berichten über Korruption im Umfeld des Präsidenten aufgefallen. Unter diesen Bedingungen bleiben die Chancen des gesamten liberalen Spektrums an politischer Teilhabe nach der Wahl im September 2016 relativ gering. Eine unwahrscheinliche Konsolidierung der zwei Oppositionsgruppen unter ‚Parnas‘ und ‚Jabloko‘ könnte die Ausgangslage geringfügig verbessern. Allerdings ist die gute Zusammenarbeit in manchen Regionen auf föderaler Ebene nur schwer vorstellbar. Realistische Chancen haben die beiden Gruppen – wie in der Vergangenheit – in einzelnen russischen Regionen ins Regional- und Stadtparlamente gewählt zu werden und damit zumindest auf diesen Ebenen weiter der Aufgabe von Opposition gerecht zu werden: die Kontrolle der bestehenden Machtverhältnisse und das Aufzeigen von Alternativen. Sergey Medvedev ist Projektmanager im Moskauer Büro der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit und Julius von Freytag-Loringhoven der Leiter des Moskauer Büros. Impressum Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF) Fachbereich Internationales Referat für Querschnittsaufgaben Karl-Marx-Straße 2 D-14482 Potsdam Hintergrund: Russland / Mai 2016 |6