WORKING PAPERS 10 theories & commitments Intellektuelle Redlichkeit Eine Annäherung Thomas Schiendorfer University of Salzburg/Austria Poverty Research Group FWF (AUSTRIAN SCIENCE FUND): RESEARCH PROJECT Y 164 Jänner 2005 “Theories and Commitments” is the Series of Working Papers of an interdisciplinary research group. Editor: Clemens Sedmak "Theories and Commitments" is the Series of Working Papers of an interdisciplinary research group. We are focussing on a) analyzing the foundations of theories and the construction of theories in the humanities and the social sciences b)exploring the connection between theories and (both epistemic and ethical) commitments c) tackling questions of interdisciplinarity and comparative epistemology These Working Papers are intended to be points of reference for discussion: "Administrative and bureaucratic practice has disseminated the terms ‚working papers' or, notably in American idiom, ‚position papers'. These terms could be useful in defining a certain stage and style of intellectual argument. A 'working' or a 'position' paper puts forward a point of view, an analysis, a proposal, in a form which may be comprehensive and assertive. It seeks to clarify the 'state of the art' at some crucial point of difficulty or at a juncture from which alternative directions can be mapped. But its comprehension and assertiveness are explicitly provisional. They aim at an interim status. They solicit correction, modification, and that collaborative disagreement on which the hopes of rational discourse depend. A 'working paper', a 'position paper', is one which intends to elicit from those to whom it is addressed a deepening rejoinder and continuation" (George Steiner) In this sense, we would be grateful for any comments and feedback. Contact: Prof. Clemens Sedmak Department of Philosophy Franziskanergasse 1, A – 5020 Salzburg, Austria/Europe [email protected] Please visit our homepage: www.sbg.ac.at/phi/projects/theorien.htm ISSN 1728-0494 Intellektuelle Redlichkeit angesichts beschädigten Lebens 5 Clemens Sedmak Intellektuelle Redlichkeit ................................................... 11 Eine Annäherung Thomas Schiendorfer Zielsetzung ............................................................................................................. 1. Der Intellektuelle .......................................................................................... 1.1 Problematik einer Begriffsbestimmung ................................................... 1.2 Einige Differenzierungen ............................................................................ 1.3 Der gesellschaftliche Rahmen des Intellektuellen ................................ 1.4 Zuspitzung – Polarisierung ......................................................................... 1.5 Möglicher gemeinsamer Nenner ............................................................... 1.6 Ausführungen zur Definition .................................................................... 2. Paradigmatische Intellektuelle der Gegenwart ............................... 2.1 Sir Karl R. Popper ......................................................................................... 2.2 Vaclav Havel ................................................................................................... 2.3 Carl Friedrich von Weizsäcker .................................................................. 2.4 Evaluierung ..................................................................................................... 3. Intellektuelle Redlichkeit .......................................................................... 3.1 Akademische Redlichkeit ............................................................................ 3.2 Hinweise auf intellektuelle Redlichkeit .................................................... 3.2.1 Humanistische Einstellung ...................................................................... 3.2.2 Kritische Grundposition .......................................................................... 3.2.3 Sprache .......................................................................................................... 3.2.4 Politisches Interesse .................................................................................. 3.2.5 Selbstreflexion ............................................................................................. 3.2.6 Voluntativer Akt und optimistische Grundhaltung .......................... 3.2.7 Intellektuelle Redlichkeit als supererogatorisches Element ............ 11 12 12 15 17 19 23 27 40 40 44 50 59 62 62 65 65 68 70 75 76 79 81 3.3 Fazit ................................................................................................................... 83 4. Resümee ........................................................................................................... 84 5. Literaturverzeichnis .................................................................................... 85 Intellektuelle Redlichkeit angesichts beschädigten Lebens Clemens Sedmak Was bedeutet intellektuelle Redlichkeit angesichts einer moralisch defekten Umwelt und der Realität beschädigten Lebens? Um ein aktuelles Beispiel vom Januar 2005 zu nehmen: Was bedeutet intellektuelle Redlichkeit angesichts der Flutkatastrophe in Südasien? Zunächst wird man hier an die Idee eines „Überlegungsgleichgewichts“ denken und an das Bemühen, wohlerwogene Urteile zu fällen. Ein „reflective equilibrium“ bezieht sich auf die Abstimmung von Prinzipien und Einzelurteilen angesichts einer partikulären Situation, wohlerwogene Urteile zielen darauf ab, sämtliche relevanten Aspekte und alternativen Perspektiven zu berücksichtigen und relevante Fragen zu stellen. Um wohlerwogene Urteile fällen zu können, bedarf es einerseits intellektueller Fähig keiten. So gesehen ist intellektuelle Redlichkeit durchaus auch eine Frage der „skills and capabilities“, also der Fähigkeiten und Fertigkeiten, näherhin der Fähigkeit, relevante Fragen stellen, relevante Aspekte identifizieren und alternative Perspektiven berücksichtigen zu können. Andererseits schließt das Bemühen um wohlerwogene Urteile auch die Bereitschaft zur Wahrheitssuche, zum Blick auf den anderen und die je andere Perspektive, zum Eingeständnis des Primats der Wahrheit vor etwaigen Eigeninteressen ein. Wohlerwogene Urteile entstehen aufgrund bestimmter Handlungen und fallen damit auch in eine moralisch relevante Sphäre, weil Handlungen gesetzt und unterlassen werden können und dies gerechtfertigt werden kann. Wohlerwogene Urteile in Bezug auf die Flutkatastrophe sind sicherlich ein hohes Gut. Urteile, die Hintergründe und Ursachen, Kurzzeitfolgen und Langzeitkonsequenzen, Beteiligte und zugewiesene Rollen, Handlungsoptionen und Fragen der Prioritätensetzung, Mittel und Ressourcen berücksichtigen, sind Voraussetzung für einen einigermaßen gedeihlichen Umgang mit der Katastrophe. Wohlerwogene Urteile schützen vor der Macht der Bilder, weil eine bestimmte Distanz zu dem zu beurteilenden Geschehen, dem Iudicandum, gewahrt wird und das Iudicandum in einen größeren Kontext eingebettet wird. Wohlerwogene Urteile schützen vor der Macht von Betroffenheiten und schaffen es, um mit Seneca zu reden, 6 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 den Schritt von „misericordia“ (Mitleid als von Gefühlsregungen bestimmtes Phänomen) zu „clementia“ (Milde als Form vernunftgemäßen und besonnenen Urteilens) zu tun. Wohlerwogene Urteile schützen vor der Macht der Masse und Massenmedien und auch vor der Macht einer „politischen Korrektheit“, weil die mit der Erarbeitung wohlerwogener Urteile verbundene Verpflichtung auf die Wahrheit nicht von Opportunitätsüberlegungen gegängelt werden will. Wohlerwogene Urteile schützen vor der Macht von Eigeninteressen und Effekthascherei, weil sie auch Selbstdistanz und Metareflexion einschließen. Schließlich birgt jede Reaktion auf eine Katastrophe insofern die Gefahr einer Überreaktion in sich, als (i) sämtliche Lebensbereiche unter dem Aspekt der Katastrophe beurteilt werden, was eine totale Prioritätenverschiebung mit sich bringt, die nur kurzfristig durchzuhalten ist, (ii) die Konzentration von Hilfe und Energie in einem bestimmten Bereich Energie aus anderen Bereichen abzieht und dort sogar für Entpflichtungen sorgen kann, (iii) eine Kluft zwischen momentaner Betroffenheit und aktuellen Hilfszusagen und tatsächlich langfristig auch erbrachter Hilfe entstehen kann, (iv) der Eindruck eines Operierens auf einem „ad-hoc“-Niveau (von einer Katastrophe zur nächsten getrieben) nicht geleugnet werden kann. Kein Zweifel: Wohlerwogene Urteile angesichts der Flutkatastrophe sind notwendig und, wenn man so sagen kann, auch heilsam. Sie drücken die beiden entscheidenden Aspekte aus, durch die Intellektuelle in der Literatur charakterisiert werden: Verpflichtung auf die Wahrheit und Distanz zu etablierten Urteilen und etablierten Mechanismen der Urteilsbildung. Die Flutkatastrophe mit ihren 200.000 Toten und dramatischen Einzelschicksalen, der Zerstörung weiter Landstriche, der Hilfswelle nach der Flutwelle mit allen logistischen und ethischen Fragen – die Flutkatastrophe erfordert wohlerwogene Urteile. Wohlerwogene Urteile laden hier zunächst zur Langsamkeit ein. Hier scheint ein Paradox zur raschen Hilfe und den Erfordernissen der Dramatik der Situation vorzuliegen. Wir stoßen hier auf eine Variante der Logodizee: Wie Vernunft und Vernunftgebrauch rechtfertigen angesichts von schreienden Ungerechtigkeiten und unbestreitbarem Handlungsbedarf? Intellektuelles Arbeiten zeichnet sich u.a. durch eine gewisse Entlastung von Handlungszwang und Entscheidungsdruck aus. Gadamer beschreibt die Philologie als die Kunst des langsamen Lesens und mahnt damit ebenso die Langsamkeit ein wie Ludwig Wittgenstein, der das „Lass dir Zeit!“ zum Gruß der Philosophen erkoren Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 7 hat. Dass mit der Flutkatastrophe nicht nur langsames Fragen, sondern auch rasches Handeln verbunden ist, lässt Reflexion zu einem Luxus werden. Dennoch werfen auch akute Katastrophen langfristige und tiefer liegende Fragen auf, die der Reflexion bedürfen. Ein Eingeständnis dieser Kluft zwischen dem Schreien der Welt und dem Schweigen des Menschen mag Teil der intellektuellen Redlichkeit sein, die wesentlich mit der Einsicht in die eigenen Grenzen zu tun hat. Ein wohlerwogenes Urteil weiß um den Geltungsanspruch, den es berechtigterweise erheben darf. Und dennoch scheint die Fähigkeit, wohlerwogene Urteile zu treffen, angesichts der Flutkatastrophe zu kurz zu greifen. Haben wir, wenn wir Urteile treffen, wie wohlerwogen immer sie sein mögen, den Anforderungen intellektueller Redlichkeit Genüge getan? Würden wir jemanden, der besonnen Empfehlungen darüber abgibt, was zu tun sei und wie zu handeln wäre, intellektuell redlich nennen? Man kann sich des Eindrucks schwer erwehren, dass intellektuelle Redlichkeit angesichts der Flutkatastrophe nicht allein im urteilenden Reden bestehen kann. Das Bild des Nero, der auf das brennende Rom blickt, hat etwas Anstößiges an sich, selbst wenn Nero in diesem Bild nicht dichten und musizieren würde. Die Intellektuellen, die die Bilder der weggerissenen Häuser und Straßen, der Trümmer und Ruinen, der Leichen und Verletzten, der Bergungstrupps und Geberkonferenzen deuten und kommentieren, stehen unter dem Verdacht einer gewissen Unglaubwürdigkeit. Doch ist dies nicht zu viel verlangt? Intellektuelle sind Menschen des Wortes. George Steiner hat sie dadurch charakterisiert, dass sie einen Stift in der Hand halten, wenn sie ein Buch lesen. Sie arbeiten mit dem Wort und lassen Wörter arbeiten. Intellektualität hängt wesentlich mit der Kunst des Lesens zusammen, ob es sich nun um Texte oder Geschehnisse handelt, die entziffert und gedeutet, gelesen und verstanden, interpretiert und eingeordnet, verglichen und vermittelt werden wollen. Hier könnte eine Unterscheidung weiterhelfen, die Unterscheidung zwischen „Bedeutung“ und „Rolle“ von Wörtern, zwischen „meaning“ und „force“, zwischen semantischem Wert und pragmatischem Wert. Wörter haben nicht nur eine Bedeutung, sondern auch eine Rolle in einem bestimmten Kontext oder auch: ein Gewicht. Dieses Gewicht hängt von der Verankerung von Wörtern in einem Kontext ab, der aus sprachlichen wie außersprachlichen Elementen konstituiert ist. Das Gewicht von sprachlichem Handeln hängt mit Konsistenzanforderungen zusammen – Konsistenz in Bezug auf die sprachlichen Äußerungen 8 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 und Konsistenz in Bezug auf die Verbindung zwischen sprachlichem Handeln und außersprachlichem Handeln. Hier stoßen wir auf die Kategorie der Glaubwürdigkeit: Sprachliches Handeln ist glaubwürdig, wenn es im Lebenszusammenhang des Sprechers oder der Sprecherin ratifiziert wird. Intellektuelle Redlichkeit hängt, so scheint es, wesentlich mit diesen Konsistenzforderungen zwischen Sprechen und Tun zusammen. Wohlerwogene Urteile sind dann glaubwürdig, wenn sie auch das eigene Handeln anleiten, wenn sie die Handlungsfähigkeit erhalten und Handlungsorientierung geben. Intellektuelle Redlichkeit tangiert also nicht nur die Wohlerwogenheit, sondern auch die Glaubwürdigkeit des Urteils und damit auch jenen Punkt, an dem die Schwelle vom Reden zum Tun überschritten wird. Diese Schwelle rückt gerade angesichts von Katastrophen, angesichts derer der Luxus der Indifferenz kaum begründbar scheint, ins Blickfeld. Intellektuelle Redlichkeit ist ein Begriff, der die Chancen und das potentielle Gewicht intellektuellen Arbeitens unterstreicht. Wir wollen in diesem Zusammenhang aber auch die „Fallen“ nicht übersehen, in die Intellektuelle geraten können. Ich nenne drei solcher Fallen: Erstens stoßen wir auf die Falle des Sophismus: Intellektuelle verstehen es, Grauzonen zu schaffen, damit die Unterschiede zwischen „recht“ und „unrecht“ durch Erzeugung von Komplexität zu verwischen, Handlungsunsicherheit zu erzeugen und letztlich jegliche Position zu rechtfertigen. Intellektuelle können beispielsweise Nothilfe und Aufbauhilfe ebenso argumentativ stützen wie das Unterlassen von Nothilfe und das Unterlassen von Aufbauhilfe. Intellektuelle können Spenden argumentieren und das Unterlassen von Spenden begründen etc. Zweitens sind wir mit der Falle der Distanz konfrontiert. Es ist ein Charakteristikum für Intellektuelle, dass sie Distanz zu etablierten Urteilsmustern und aktuellen Geschehnissen wahren und die Ereignisse, wenn schon nicht „sub specie aeternitatis“, so doch unter einem Blickwinkel der Kontextualisierung und Distanzierung von einer Metaebene aus betrachten. Über die Flutkatastrophe in Ruhe nachdenken können diejenigen, die nicht dramatisch in Mitleidenschaft gezogen wurden. Drittens haben wir die Falle des Zynismus zur Kenntnis zu nehmen. Zynismus ist eine Einstellung, die von der ultimativen Fruchtlosig keit menschlichen Lebens und Handelns überzeugt ist. Gerade weil Intellektuelle Geschehnisse in einen größeren Horizont einbetten können, ist diese Falle nicht von der Hand zu weisen. Wenn ich ein bestimmtes Ereignis E in einen Kontext K einbette, dann verliert E in der Regel an Gewicht, Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 9 wenn ich K größer mache. Je größer K erscheint, desto nichtiger E (hier liegt im Übrigen eine besondere theologische Herausforderung, die Bedeutung besonderen menschlichen Lebens angesichts der Einbettung in einen umfassenden Horizont zu wahren, ja zu gewährleisten und erhöhen, und damit die angedeutete Korrelation zwischen K und E zu durchbrechen). Intellektuelle haben es in der Hand (oder im Kopf), die Flutkatastrophe in den Kontext von „Naturkatastrophen“ oder „menschlichen Tragödien“ einzubetten, Referenzpunkte aus dem Fundus der Geschichte zu präsentieren oder überhaupt einen abstrakten Makrokontext anzubieten. Intellektuelle Redlichkeit ist der Versuch, diese Fallen systematisch zu meiden durch das Remedium von Engagement und Empathie – mit dem Risiko, zu irren und zu scheitern. Hier sind wir auf einer Metaebene des Nachdenkens über intellektuelle Redlichkeit angelangt: Intellektuelle Arbeit angesichts der Flutkatastrophe wirft – wie jedes Nachdenken angesichts der Beschädigung von Leben – Fragen nach einer Ethik des Nachdenkens auf. Ich nenne einige Aspekte. Hier ist zunächst die Zumutung bitteren Fragens zu nennen. Es ist bitter, bestimmte Fragen angesichts der Flutkatastrophe zu stellen: Die Frage etwa, inwieweit die Medienpräsenz mit den betroffenen Touristinnen und Touristen der ersten Welt zusammenhängt; die Frage nach dem Wert eines menschlichen Lebens und die Frage nach den unterschiedlichen Bewertungen menschlichen Lebens (man denke an je nationale Fokussierungen); die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Vergleichen („Die Katastrophe X ist vergleichbar mit der Katastrophe Y“) bzw. nach der Legitimation von Einstufungen („die größte Katastrophe seit Ende des Zweiten Weltkriegs“); die damit zusammenhängende Frage, ob Tote aufgerechnet werden können („eine Katastrophe mit 30 Toten ist tragischer als eine Katastrophe mit 10 Toten“); die Frage nach der eigenen Rolle (Zuschauer? Täter? Opfer?) und den eigenen Reaktionen (moralisches Wohlgefühl angesichts bestimmter Handlungen und Handlungsmöglichkeiten). Intellektuelle Redlichkeit hat damit zu tun, die bitteren Fragen zuzulassen – und ohne Angst vor dem Ergebnis konsequent weiterzudenken, einen Denkweg also bis zum Ende zu gehen. Dazu gehört auch das Eingeständnis bitterer Einsichten. Die Einsicht etwa, dass auch bei einer Naturkatastrophe in der Regel diejenigen am meisten gefährdet sind und den größten Schaden erleiden, deren Leben von Verwundbarkeit und Schwäche geprägt ist. Solche Einsicht macht bescheiden. Intellektuelle Redlichkeit hat damit wesentlich mit Bescheidenheit und 10 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 einer Ethik der Selbstbeschränkung von Geltungsansprüchen zu tun angesichts der bitteren Einsichten. Das ist ganz offensichtlich eine Frage der Selbst- und Metareflexion. Auch das können wir festhalten: Intellektuelle Redlichkeit hat mit der Fähigkeit zu Selbstkritik (Selbstdistanz) und Metareflexion zu tun. Ein Nächstes: Zu einer Ethik des Nachdenkens gehört auch eine behutsame Sprache. Intellektuelle Redlichkeit hat mit Besonnenheit auch in der Sprache zu tun, schließt damit Sensibilität ein. Sensibilität kann als intellektuelle Tugend im Sinne des Thomas von Aquin betrachtet werden und führt uns zurück zur Frage nach wohlerwogenen Urteilen: Wohlerwogene Urteile sind Urteile, die auch Sensibilität einschließen – gegenüber der Sache, um die es geht, und gegenüber den Betroffenen. Intellektuelle Redlichkeit hat also mit der Fähigkeit zu wohlerwogenen Urteilen, mit Konsistenz, mit Engagement und Empathie, mit Selbstreflexion und Bescheidenheit, mit Sensibilität und einer Kunst des Fragens zu tun – und damit, dass man sich in einem Boot mit den anderen weiß. Angesichts der Flutkatastrophe ist diese Anerkennung von anderen entscheidend für Mit-Denken und Mit-Fühlen. Avishai Margalit hat von ikonischer Begründung von Menschenachtung gesprochen: „Im Gegensatz zur religiösen Auffassung verdienen Menschen also nicht deshalb Achtung, weil sie Ebenbilder Gottes sind, sondern deshalb, weil sie Ebenbilder voneinander sind.“ 1 Intellektuelle Redlichkeit hat letztendlich mit der Anerkennung der Alterität des anderen und der Ikonizität des anderen zu tun und mit der Einsicht, dass wir Teil einer Menschheitsfamilie sind. Intellektuelle, so könnte man sagen, verfügen über einen allgemeinen Begriff von Menschheit, der einen allgemeinen Begriff von Menschlichkeit ermöglichen kann. 1 A. Margalit, Menschenwürde zwischen Kitsch und Vergötterung. In: O. Neumaier et al. (Hg.), Gerechtigkeit: Auf der Suche nach einem Gleichgewicht. Frankfurt/Main 2005 (derzeit im Druck). Intellektuelle Redlichkeit Eine Annäherung Thomas Schiendorfer Zielsetzung Dieses Working Paper stellt den Versuch dar, den Intellektuellen2 zu fassen. Dabei scheint eine etymologische Begriffsklärung nicht wirklich zielführend zu sein, zumal sie das, was in einschlägigen Lexika zu finden ist, nur neu formuliert. Viel interessanter nimmt sich dagegen die Aufgabe aus, den Intellektuellen inhaltlich, d.h. seine Motive, seine Sichtweisen zu studieren. Von Anfang an stand deshalb als Leitmotiv der Überlegungen fest, dass der Intellektuelle über ein bonum verfügt, das ihn zwar als Experten für ein bestimmtes Fachgebiet ausweist, doch ihn nicht auf dieses allein beschränkt, er es transzendiert und so allgemeine Relevanz erhält. Dieses Mehr, das den Intellektuellen von anderen Wissenden abhebt und daher als sein charakteristicum distinctivum bezeichnet wird, lässt sich gleich vorweg mit dem Begriffspaar „Intellektuelle Redlichkeit“ benennen. Diese Arbeit fragt also einmal, wer oder was der Intellektuelle ist, und einmal, was intellektuelle Redlichkeit ist. Die Bestimmung der „Redlichkeit“ erfolgt auch nicht durch eine etymologische Klärung, sondern versucht den Terminus aus Leben, Schriften, d.h. aus zentralen Gedankengängen von Intellektuellen herzuleiten. Daher schien es zielführend zu sein, einige Intellektuelle vorzustellen, um den Begriff „Redlichkeit“ inhaltlich zu belegen. Daraus erklärt sich der Aufbau dieses Working Papers: Zuerst wird das Bestimmungswort „intellektuell“, respektive „der Intellektuelle“ sortiert, im Anschluss, sozusagen als Beleg oder als Beglaubigung, dass die 2 Wenn in dieser Arbeit vom Intellektuellen gesprochen und das Maskulinum verwendet wird, dann bedeutet das natürlich nicht ein Übergehen oder Nichtberücksichtigen weiblicher Denkerinnen. Die alleinige Verwendung der männlichen Form dient lediglich der Optik des Textes. „Die/der Intellektuelle“ irritiert mitunter das Auge. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 12 Bestimmungen des Intellektuellen nicht unrealistisch sind, einige paradigmatische Intellektuelle angeführt und zur vorgenommenen Bestimmung des Intellektuellen in Beziehung gesetzt, um dann abschließend wiederum ausgehend von den beispielhaften Personen, das Grundwort, die Redlichkeit zu beschreiben. Dabei zeigt sich, dass es durchaus einen gemeinsamen Nenner gibt, der sich freilich nicht als monolithischer Block präsentiert, sondern sich aus verschiedenen Bausteinen und Aspekten zusammensetzt. 1. Der Intellektuelle 1.1 Problematik einer Begriffsbestimmung Bei einer inhaltlichen, auf die Bedeutung abzielenden Sichtung zeigt sich, dass das Phänomen des/der Intellektuellen sich als komplexer und vielschichtiger erweist, als man meinen könnte. Eine bequeme Einteilung wäre sicherlich, sie bestimmten Berufsgruppen zuzuordnen bzw. sie mit diesen gleichzusetzen. Voraussetzung dazu ist freilich, sie gewissen Tätigkeiten, sprich eindeutigen Berufsbildern zuzuteilen. Aus einer solchen Betrachtungsweise ergeben sich allerdings einige Probleme. Regina Köpl hält fest, dass „die Anwendung empirischer Schichtungsmerkmale wie Einkommen, Stellung und Beruf, Status der Berufsqualifikation etc. daran scheitert, dass ein Intellektueller Millionär oder arbeitslos sein kann, ebenso freier Journalist wie beamteter Hochschullehrer“3. Eine weitere Möglichkeit bietet die Bestimmung nach der Funktion. Hier unterscheidet sie zwischen der Funktion in Bezug auf ein Kollektiv wie beispielsweise einen Staat oder eine Interessensgruppe und den individuellen Bedürfnissen einer Person nach Sinn– und Orientierungsfindung. Eine solche Einteilung bedingt allerdings immer eine Abhängigkeit von einem spezifischen Kontext. Hier eröffnen sich unzählige Möglichkeiten, so dass eine inhaltliche Festlegung, was der Intellektuelle ist bzw. was ihn auszeichnet, nicht getroffen werden kann. Als dritte Variante nennt sie Unterscheidung nach Tätigkeiten. Diese scheidet für Köpl aus, weil eine große inhaltliche Nähe zu Berufsgruppen 3 Köpl, Regina, Von gefallenen Engeln zur Not der geistigen Arbeiter. Der Intellektuelle als Kunstfigur moderner Subjektivität, in:Kreisky, E. (Hg.), Von der Macht der Köpfe. Intellektuelle zwischen Moderne und Spätmoderne, Wien 2000, 109. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 13 gegeben ist und sich damit ein weiteres ungelöstes Problemfeld ergibt, nämlich „die traditionelle und ideologische überfrachtete Entgegensetzung von manuellen und geistigen Tätigkeiten“ 4. Diese kritische Aufschlüsselung ist insofern berechtigt, als sie aufzeigt, dass eine Vielzahl von Vorentscheidungen getroffen werden müssen, die einseitige Folgerungen nach sich ziehen. So würden z.B. weder Künstler (Schriftsteller, bildende Künstler, Fotographen, Bildhauer, Musiker) noch andere Personen, die entweder nicht einer eindeutigen Berufsgruppe zuzuzählen sind (Freiberufler), noch solche, die in ihrer Freizeit sich mit „intellektuellen Themen oder Tätigkeiten“ beschäftigen, berücksichtigt. Diese offensichtlichen Schwierigkeiten zeigen an, dass sich die Vielschichtigkeit intellektueller Betätigung einer sozialwissenschaftlichen Beschreibungskompetenz entzieht. Gerade um dieser Vielschichtigkeit gerecht zu werden, besteht für Köpl die adäquate Zugangsart in einer „kulturkritischen Sicht“, wobei der Intellektuelle als „paradigmatischer Ausdruck männlicher, abendländisch–neuzeitlicher Subjektivität“ 5 verstanden wird. Paradigmatisch insofern, als nach der These von N. Elias historische Epochen jeweils einen bestimmten Menschentyp generieren6. So wurde der vormoderne Typus vom cartesianischen modernen abgelöst, welcher sich als autonomes und sich selbst bestimmendes Subjekt versteht, weil nur dieses den Bedürfnissen seiner Zeit nach Sicherheit und Gewissheit entsprach. Die Änderung der Lebensumstände bewirkt heute eine Abkehr von diesem Ideal freier Selbstbestimmtheit unter dem Primat der Vernunft. Dazu trug die postmoderne Rede vom „Tod des Subjekts“ 7 einer4 5 6 7 Ebd., 110. Ebd. Vgl. Elias, Norbert, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2, Bern 21969, 386–396. In seinem „Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation“ beschreibt er die Psychologisierung und Rationalisierung der Triebe während des 17. Jahrhunderts. Diese geht nicht von einzelnen Personen aus, sondern vollzieht sich in der Auseinandersetzung der gesellschaftlichen Gruppierungen und führt zu einem bestimmten Menschentyp. Vgl. Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaft, Frankfurt a.M. 1971. In seinem Hauptwerk argumentiert Foucault, dass der Mensch stirbt, ebenso wie vor ihm Gott durch Nietzsche starb. Er meint dabei den Menschen des 18. Jahrhunderts, wie ihn Kant vor Augen hatte. Die Anthropozentrik nährt ein übersteigertes Selbstverständnis, das zu überhöhten Ansprüchen des Menschen gegenüber sich selbst und in den Narzissmus führt. Weil der Mensch schwach ist und sich mit seiner angemaßten Rolle überfordert hat, postuliert Foucault den Tod des 14 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 seits und die Relativierung jedes Wahrheitsanspruches andererseits bei. Das ehemals selbstverständliche Bild des universell Gelehrten (des klassischen Intellektuellen) wird dadurch fragwürdig, denn die „Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Lebensstile mit jeweils eigenen Wahrheiten“ 8 erschwert die Berufung auf das Allgemeine und Universelle. Eine ähnliche Sicht vertritt Foucault, der von der Ablösung des „klassischen Intellektuellen“ durch den „spezifischen Intellektuellen“ spricht. 9 Regina Köpl weist zwar darauf hin, dass neben den sich durchsetzenden Prototypen der rationalistischen Tradition auch Gegenbewegungen (Montaigne u.a., Romantik) vorhanden sind, aber trotzdem ergibt sich aus dieser Sichtweise eine grundsätzliche Schwierigkeit: Es stellt sich die Frage, ob es zulässig ist – gerade aus der Unsicherheit der postmodernen Situation heraus –, einen vereinheitlichenden Blick auf die Vergangenheit zu werfen. Genau wie Epocheneinteilungen im Nachhinein getroffen werden, so wird auch ein paradigmatischer Menschentyp im Rückblick entworfen. Ist es legitim, aufgrund der vielfältigen Erscheinungsweise der Gegenwart, die Vergangenheit zu vereinheitlichen? Wie objektiv oder zutreffend kann dieser Blick auf die Vergangenheit sein, der klassifizierende Blick, der niederschreibt, wer was gewesen ist? Klar ist, dass eine Kanonisierung der Geistesgeschichte einerseits durchaus Interpretations– und Strukturierungsmöglichkeiten bereitstellt, andererseits aber zu selbstverständlichen Verfestigungen führen kann, die dann nicht mehr hinterfragt werden. Schwierigkeiten der angeführten sozialwissenschaftlichen wie kulturkritischen Bestimmungsversuche werfen die Frage nach alternativen Herangehensweisen auf. Hierbei ist an herkömmliche Definitionen des Intellektuellen zu denken. 8 9 Menschen, den Tod des Subjekts. „Durch die philologische Kritik, durch eine bestimmte Form des Biologismus hat Nietzsche den Punkt wiedergefunden, an dem Mensch und Gott sich gehören, an dem der Tod des zweiten synonym mit dem Verschwinden des ersten ist und wo die Verheißung des Übermenschen zunächst und vor allem das Bevorstehen des Todes des Menschen bedeutet“ (Ebd., 412). Köpl, Von gefallenen Engeln, 118. Vgl. Said, Edward, Götter, die keine sind, Berlin 1997, 15. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 15 1.2 Einige Differenzierungen Eine Situationsanalyse der modernen Welt wird immer die Ausdifferenzierung als wesentliches Merkmal erwähnen. Diese zeigt sich in einem kulturellen und religiösen Pluralismus, in unterschiedlichen Lebensstilen genauso wie in der Aufsplitterung der Wissenschaftsdisziplinen. Damit ergeben sich neue Erwartungshaltungen, denen Intellektuelle gegenüberstehen, und andere Rollen und Funktionen, die Intellektuelle einnehmen sollten. Eine vergleichbare Gesellschaftsbeschreibung liefert Gramsci10 und kommt zu einem ähnlichen Schluss, nämlich dass die veränderten Verhältnisse einen bestimmten Typ von Intellektuellen entstehen lassen. Er nennt diesen neuartigen Akteur organischer Intellektueller und hebt ihn vom traditionellen Intellektuellen ab. Während zu letzteren die Berufsgruppen Priester, Beamte und Lehrer zählen, die über Generationen die gleiche Tätigkeit ausüben, zeichnet die organischen Intellektuellen aus, dass sie in enger Verbindung mit gesellschaftlichen Gruppierungen und wirtschaftlichen Unternehmen stehen. Diese bedienen sich der Intellektuellen, sie werden deren ausführende Organe. Die Intellektuellen sichern so den Interessensgruppierungen Macht und helfen ihnen, Kontrolle auszuüben. Diese Beschreibung wird der momentanen, sehr aufgesplitterten Gesellschaft insofern gerecht, als sie auch die sich neu herausbildenden Berufssparten mitberücksichtigt. So zählen nach Gramsci auch Medienexperten, Journalisten, Unternehmens– und Politikerberater, Manager etc. zu den Intellektuellen. Ganz wesentlich ist der Hinweis, dass diese Gruppe auf die Gesellschaft aktiv einwirkt, ganz im Gegensatz zu den traditionellen Intellektuellen, die primär in der Ausbildung involviert sind. Kennzeichnend ist für beide Gruppen, dass „heute jeder, der in einem Bereich arbeitet, der entweder mit der Herstellung oder Verteilung von Wissen zu tun hat, ein Intellektueller im Sinne Gramscis ist“ 11. In eine ähnliche Richtung weist auch die Darstellung Paul A. Barans, der zwischen intellectual workers und intellectuals unterscheidet. Die Parallele zu Gramsci ist dabei nicht zu übersehen, insofern der intellectual worker dem traditionellen Intellektuellen weitestgehend entspricht, er sich also mit seinem spezifischen Wissen für einen genau vorgegebenen 10 11 Vgl. Gramsci, Antonio, Philosophie der Praxis, Frankfurt a. M. 1967, 405–432. Said, Götter, die keine sind, 14f. 16 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 gesellschaftlichen Bereich zuständig fühlt. Den damit verbundenen Anforderungen und (wirtschaftlichen) Bedürfnissen ist der intellectual worker Gehilfe bzw. ausführendes Organ. Ganz anders die Gruppe der intellectuals: Sie versuchen, „ihre Kompetenz im jeweiligen beruflichen Feld mit der […] Gesellschaft, ihren Problemen und ihrer Entwicklung als Ganzes zu verbinden“ 12. Das besondere Kennzeichen des intellectual workers ist der „ethischer Neutralismus“. Von primärem Interesse ist vorerst allerdings die annähernd deckungsgleiche Verwendung von traditionelle Intellektuelle (Gramsci) und intellectual workers (Baran) und die divergierende Bedeutung der jeweils anderen Bezeichnungen: Gramscis organischen Intellektuellen kommt eine grundsätzlich andere Aufgabe zu als den intellectuals von Baran. Letztere stellen nämlich eine geistig–moralisch intrinsische Instanz der Gesellschaft dar, sie arbeiten und forschen auf Basis der universellen Prinzipien Wahrheit und Gerechtigkeit. Gramscis organische Intellektuelle hingegen richten ihr Augenmerk auf partikuläre und spezifische Ziele, die der jeweiligen Gesellschaft dienlich sein sollen. Eine Kluft ist sichtbar: Der Intellektuelle ist einmal Erfinder und Vollstrecker von Interessen sowie Notwendigkeiten materieller Art und einmal Vertreter ethischer Ideale. Ein Spannungsfeld zeichnet sich hier ab, das von Wahrheitssuche, Gerechtigkeitssinn auf der einen Seite und Nützlichkeit auf der anderen. Die Suche nach dem geistigen Profil des Intellektuellen vermeidet die hier emergierenden und äußerst problematischen Fragen wie „Was ist Wahrheit?“, „Was ist Gerechtigkeit?“ und versucht auch nicht den Forschungsgegenstand und das Wesen des Intellektuellen im Elfenbeinturm zu klären, sondern versucht den Weg bzw. die Beziehung zwischen Wissenserwerb und dem Bereich, auf den das Wissen angewendet wird, zu beleuchten. Werden diese problematischen Bereiche allerdings umschifft, drängt sich aber unweigerlich die Frage auf, woher der Intellektuelle die Berechtigung bezieht, mit seinem Wort einzugreifen. Hat er seinen Sitz in der Gesellschaft, weil er verwertbares Wissen abliefert, oder dient er ihr als moralisches Gewissen? Welchen Stellenwert hat die Öffentlichkeit, wie sieht die Beziehung zwischen dem Intellektuellen und seiner jeweiligen Öffent- 12 Kramer, Helmut, Wissenschaftler als Intellektuelle. Von der Kunst und der Notwendigkeit der Provokation, in: E. Kreisky (Hg.], Von der Macht der Köpfe, Wien 2000, 72. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 17 lichkeit aus? Lässt sich die intellektuelle Betätigung überhaupt von der Öffentlichkeit ablösen? 1.3 Der gesellschaftliche Rahmen des Intellektuellen Diesen noch nicht berücksichtigten Aspekt der Öffentlichkeit thematisiert in eindeutiger Weise Edward Said, indem er den Intellektuellen als jemanden definiert, der „die Fähigkeit besitzt, eine Botschaft, eine Sicht, eine Haltung, Philosophie oder Meinung in der Öffentlichkeit und für eine Öffentlichkeit zu repräsentieren, zu verkörpern und zu artikulieren“ 13. Beachtenswert erscheint in dieser Aussage vorerst einmal der Hinweis auf die Fähigkeit, sich adäquat zu artikulieren. Said erläutert seine Intention: „Das Vermögen, Sprache geschickt zu verwenden, und das Wissen um den richtigen Zeitpunkt der sprachlichen Intervention sind zwei wesentliche Bestandteile des intellektuellen Handelns.“ 14 Selbstredend impliziert jede rhetorische Qualität auch das Wissen um den richtigen Zeitpunkt und nicht bloß die treffende Wortwahl. Interessant ist hier nicht nur der Aspekt der Macht der Sprache, sondern vielmehr die sprachliche Anforderung an den Intellektuellen, die eine treffende Situationsanalyse sowie die unausgesprochene Forderung nach Publikumskenntnis inkludiert. Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt der sprachlichen Intervention und der relevanten Adressaten wird später noch eingehend erörtert. Wesentlich für den vorläufigen Duktus ist die stehende Wendung „in und für eine Öffentlichkeit“. Said erklärt diese Differenzierung nicht, jedoch darf angenommen werden, dass er unter „in“ die faktische Beschreibung des Redens und unter „für“ die Rede an spezifische Gruppen, einen bestimmten Adressatenkreis meint. Diese Unterscheidung deutet an, dass intellektuelle Rede zwar grundsätzlich von allen nachvollzogen werden kann, auch wenn sie vorerst nur bestimmte Zusammenhänge, einen abgrenzbaren Personenkreis fokussiert. Sobald nun der Intellektuelle nach Said in die Öffentlichkeit tritt, kommt es zur Vermengung von privater und öffentlicher Sphäre. Said spitzt sogar zu: „So etwas wie einen privaten Intellektuellen gibt es nicht; von dem Augenblick an, wo man etwas niederschreibt und veröffentlicht, tritt man an die Öffentlichkeit. Die nur öf13 14 Said, Götter, die keine sind, 17. Ebd., 27. 18 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 fentlichen Intellektuellen gibt es allerdings auch nicht.“ 15 Den damit verbundenen Verlust an Anonymität und Autonomie nimmt der Intellektuelle bewusst in Kauf. Er nimmt einen Standpunkt ein, wird in der Öffentlichkeit mit diesem identifiziert und hebt sich dadurch vom organischen und traditionellen (Gramsci) wie auch vom intellectual worker (Baran) ab. Die Überzeugung, dass der wahre Intellektuelle in selbstloser Weise für seine Ideale einsteht und Verantwortung übernimmt, teilt er mit Barans Bild vom intelle ctual. Was Baran und Said verbindet, findet sich auch bei Pierre Bourdieu. Er geht ebenfalls von einer Doppelnatur des Intellektuellen aus, insofern er diesen als bidimensionales Wesen charakterisiert. „Um den Namen Intellektueller zu verdienen, muss ein Kulturproduzent zwei Voraussetzungen erfüllen: Zum einen muss er einer intellektuell autonomen, d.h. von religiösen, politischen, ökonomischen usf. Mächten unabhängigen Welt (einem Feld) angehören und deren besondere Gesetze respektieren; zum anderen muss er in eine politische Aktion, die in jedem Fall außerhalb des intellektuellen Feldes in engerem Sinn stattfindet, seine spezifische Kompetenz und Autorität einbringen, die er innerhalb des intellektuellen Feldes erworben hat.“ 16 Was Said und Baran von Bourdieu unterscheidet, findet sich in dessen Hinweis auf die Unabhängigkeit des Intellektuellen. Diese Autonomie manifestiert sich auf zwei Ebenen: Einmal ist sie gekennzeichnet durch praktische Distanz zum gesellschaftspolitischen Bereich und einmal durch theoretische Freiheit in Bezug auf Unbeeinflussbarkeit beim Erwerb seiner spezifischen Kompetenz. Diese Trennung wird allerdings aufgehoben, sobald der Intellektuelle öffentlich auftritt. In diesem widersprüchlichen Spannungsverhältnis zu agieren, macht erst die besondere Qualität intellektuellen Handelns aus. Autonomie und Heteronomie bestimmen den Intellektuellen. Er befindet sich in einem permanenten Kampf um Unabhängigkeit und er operiert in zwei scheinbar unvereinbaren Feldern. Dieser Aspekt wird in besonderer Weise von Wolf Lepenies thematisiert. Er geht von einer Sphäre der Reflexion und einer Sphäre der politischen Aktion aus. Der Intellektuelle hat Alternativen zum momentanen 15 16 Ebd., 18. Bourdieu, Pierre, Die Intellektuellen und die Macht, Hamburg 1991, 42. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 19 Status Quo parat, was heißt, dass er mit der gegebenen Situation nicht zufrieden und auf Veränderung aus ist. Er entwirft Ideen für eine bessere Zukunft, hat Visionen, eine Utopie. „Die Utopie ist weniger eine Realitätsflucht als der Versuch, sich eine bessere Wirklichkeit durch die Kraft des Gedankens und des Wortes herbeizusehnen und herbeizuschreiben.“ 17 Der Intellektuelle steht im Spannungsfeld von Realität und Idealität, von Melancholie und Utopie, von Reflexion und Aktion. Diese nicht realisierten Entwürfe zehren am Intellektuellen, er entwickelt den Hang zur Melancholie und fällt in den Stand der Dauerreflexion zurück. Der Intellektuelle leidet an der Welt, er zieht sich zurück und spielt damit den Befürwortern des momentanen Zustandes in die Hände. Rekurrierend auf Bourdieu verliert er somit die Berechtigung, Intellektueller genannt zu werden, da er nur noch reflexions– und nicht mehr handlungsorientiert ist. Er beschränkt sich ausschließlich auf sein intellektuell–autonomes Feld und entbindet sich dadurch seiner gesellschaftlichen Verpflichtungen, er bedient alleinig seine private Welt. Das problematische Verhältnis von Nähe und Distanz zur Sphäre öffentlicher Macht und politischen Einflusses wird im Folgenden diskutiert. 1.4 Zuspitzung – Polarisierung Die klassische Charakterisierung des Intellektuellen geschah durch Julien Benda, welcher diesen extrem positionierte. Er bezeichnet ihn als clerc und charakterisiert ihn in seinem Werk „Der Verrat der Intellektuellen“ als zu einer Gruppe zugehörig, deren Bestrebungen „vom Wesen her nicht auf praktische Ziele ausgerichtet sind; Menschen, die ihre Befriedigung in Kunst, Wissenschaft oder metaphysischer Spekulation –, kurz, im Besitz immaterieller Güter suchen und damit zu sagen scheinen: Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“18 Dabei kennt Benda zwei Varianten, einmal den auf zweckfreie Tätigkeit des Geistes Ausgerichteten (Leonardo, Goethe) und den Moralisten (Erasmus oder Kant), welcher sich auf universelle Prinzipien wie Wahrheit und Gerechtigkeit beruft. Den Verrat ortet er in der Aufgabe ihrer Ideale, indem sie sich politische Eigenschaften zu eigen machten, Politik in ihre intellektuelle Tätigkeit einfließen ließen und politische Leidenschaften sogar begünstigten. Sie fördern natio17 18 Lepenies, Wolf, Aufstieg und Fall der Intellektuellen in Europa, Frankfurt a. M., 1992, 52. Benda, Julien, Der Verrat der Intellektuellen, München 1978, 111. 20 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 nale und damit partikulare Interessen, verpflichten sich einem Nützlichkeitskalkül, das sogar vor Verherrlichung von Körperkult, Heldentum, Kriegswesen und moralischer Grausamkeit nicht zurückschreckt. Der Intellektuelle, der clerc, wird zum Handlanger, Funktionär der Mächtigen, wobei er seine eigenen Vorteile und Interessen ins Zentrum stellt. Jedes universelle Wahrheitsempfinden entschwindet auf Kosten einer Nützlichkeitsethik, er bedient lediglich innerweltlich–materielle Werte. Die sich aufdrängende Frage lautet, welchen Teil der Intellektuelle selbst zu diesem Niedergang aktiv beitrug oder ob er nicht vielmehr nur eine Teilschuld trägt. Zweifelsfrei steht fest, dass die eigentlichen clercs, die zweckfreien Denker und Idealisten, verschwunden sind, es nur mehr Sophisten gibt. Vorbei sind die Zeiten, in denen die wahren clercs bereit waren, für ihre Ideale und Überzeugungen Verfolgung, ja sogar den Tod auf sich zu nehmen. Das Benda’sche Ideal eines Intellektuellen findet sich auch bei Ortega y Gasset: Der Intellektuelle ist in seinen Augen ein Berufener, ein Prophet. Er übt nicht wie andere einen Beruf aus, sondern wird auserkoren, auserwählt. Wissenschafter, Philosophen oder andere intellektuelle Berufe geben in keiner Weise Aufschluss über das Wesen des Intellektuellen. „Die meisten Intellektuellen, die sich in unseren Gesellschaftsordnungen herumtreiben, sind natürlich gar keine Intellektuellen, sondern spielen sich nur als solche auf.“ 19 Die Berufung ist für Ortega y Gasset das bestimmende Erlebnis im Leben des Intellektuellen, er kann sich nicht entscheiden, ein solcher zu sein, er wird überwältigt. Er ist fremden Mächten ausgeliefert: „Doch ist für die wesenhafteren, menschlicheren Themen das sech sundzwanzigste Lebensjahr die Zeit der großen Erleuchtung, der ersten Ekstase, in der die mächtigen Lämmergeier seine künftigen Ideen, ihre Krallen in das Hirn des Denkers schlagen und ihn wie ein unschuldiges Lamm in die Höhe reißen. Denn die großen Ideen sind nicht unser Besitz, wir sind vielmehr ihre Beute.“ 20 Eine Gemeinsamkeit findet sich in der Konzeption von Benda und Ortega y Gasset, der Intellektuelle wird als säkularer „Hoher Priester“ gese- 19 20 Ortega y Gasset, José, Der Intellektuelle und der Andere, in: W. Bergsdorf (Hg.], Die Intellektuellen, Pfullingen 1982, 16. Ebd., 18f. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 21 hen, der entweder mit „immateriellen Gütern“ ha ndelt (Benda) oder der im (Fron)Dienst großer Ideen steht (Ortega y Gasset). Nach Benda ist der klassische Intellektuelle, der sich universellen Werten und Idealen verpflichtet fühlt, der völlig zweckfrei seiner Arbeit nachgeht, verschwunden. Ist dieser Typus aber nicht ein Phänomen vorindustrieller Gesellschaften? Wenn man an Bendas historische Persönlichkeiten wie Leonardo oder Goethe denkt, kann sich dem Leser durchaus dieser Eindruck aufdrängen. Außerdem: Sind die Anforderungen, welche an den Intellektuellen damals gestellt wurden, nicht grundverschieden von den Bedürfnissen, denen Intellektuelle heute entsprechen müssen? Ist folglich der klassische Intellektuelle nicht mehr zeitgemäß? Wenn man in vergangene Epochen blickt, kann man zweifelsfrei feststellen, dass das Weltbild ein einheitlicheres war, Neuerungen moderat und überschaubar waren. Auch wenn die Zeit der Aufklärung wesentliche wissenschaftliche und gesellschaftliche Revolutionen zeitigte, muss doch festgehalten werden, dass sich der Mensch immer noch in einem festen Gefüge befand, das ihm wenig Spielraum ließ: Sowohl Kirche als auch staatliche Obrigkeit bestimmten den Rahmen, innerhalb dessen sich der Mensch orientieren durfte. Darüber täuschen auch nicht die 150 Jahre zuvor stattgefundenen Religionskriege und die damit einhergehende Möglichkeit zur Neubesinnung hinweg. Auch hier gab es nur die Möglichkeit, zwischen Autoritäten mehr oder weniger frei zu wählen, die in ihrer weltanschaulichen Kompetenz zumeist unhinterfragt blieben. Das Weltbild war fest gefügt und unveränderlich. Leonardos Auftritt in der Renaissance wurde nur von den Reichen und Adeligen wahrgenommen, hatte also nie eine klassen– und milieuübergreifende Breitenwirkung erzielt. Auch Goethes Gedankengut wurde zuerst nur von Bürgern und Adeligen verarbeitet, hatte also zu seinen Lebzeiten nicht diesen Einfluss. Gleiches gilt für die naturwissenschaftlichen Neurer. Die Änderungen im Weltbild, die sie herbeiführten, waren ausschließlich bestimmten Schichten vorbehalten, sie drangen nie in alle Bereiche der Gesellschaft vor. Zudem waren die Neuerungen zahlenmäßig überschaubar, ebenso wie die Wissenschaftsdisziplinen. War es daher nicht wesentlich leichter, den Typ des Intellektuellen einerseits als zeitgemäß – das Neue war kalkulierbar – und andererseits als notwendig anzusehen? War es daher nicht einfacher, Zusammenhänge herzustellen und das Neue in den bereits bestehenden Kontext einzubetten? 22 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 Ganz anders stellt sich für Benda die Situation im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert dar. Aufkeimende Nationalinteressen und daran geknüpfte Animositäten führen zu einseitiger Parteinahme und Anfeindungen anderen gegenüber. Sie sind verantwortlich, dass universelle Werte nicht mehr beachtet werden und ausschließlich das Partikulare betont wird. Ist hier nicht Bendas Sehnsucht nach Einheit und Gemeinsamkeit von Werten zu sehen, die restaurativ den ehemaligen Zustand idealisiert? „Wissenschaft und Technik werden zum „kulturellen Kapital“, das in zunehmendem Maß über die Wettbewerbsfähigkeit und die Position der nationalstaatlich verfassten Gesellschaften im Globalisierungsprozess entscheidet. Soziale Chancen und Zukunftsaussich ten der Menschen werden von der Fähigkeit der Individuen bestimmt, das Wissen als kulturelles Kapital aufzunehmen und damit kenntnisreich und kompetent umzugehen.“21 Wissen wird nur noch unter dem Aspekt der Nützlichkeit und Verwertbarkeit betrachtet. Der klassische Intellektuelle als „konservativer Dauerreflektierer“ sitzt nur noch alten Werten auf und gilt daher als Verhinderer des Fortschritts. Heute sind Wissenschafter als Spezialisten gefragt und nicht die „klagende Klasse“ 22. Die Spezialisierung und der damit verbundene Expertenkult sind heute entwickelter denn je. Gibt es den Bedarf nach dem idealisierten Benda’schen Intellektuellen überhaupt noch, ist die Vorstellung von dessen Abgang nicht als natürliche zu bezeichnen oder ist Benda in seiner Rede vom Verschwinden bzw. des Verrats Recht zu geben? Obgleich es diese zweckfreien Intellektuellen des Überblicks vermutlich nie gegeben hat, stellt sich doch die Frage, ob nicht ein Intellektueller der Zusammenschau bzw. Orientierung – nur eben mit anderen, bescheideneren Ansprüchen – gefragt ist? Die angeführte Literatur gab einen Einblick in das Phänomen der Intellektuellen und zeigte die Bandbreite möglicher Beschreibungen und Bestimmungsversuche auf. Augenscheinlich dabei ist die Komplexität und Diversität, die nicht zuletzt in der persönlichen Einstellung und Werthaltung des jeweiligen Autors begründet ist. 21 22 Kramer, Wissenschaftler als Intellektuelle, 69. Vgl. Lepenies, Wolf, Das Ende der Utopie und die Rückkehr der Melancholie, in: M. Meyer (Hg), Intellektuellendämmerung? Beiträge zur neuesten Zeit des Geistes, München–Wien 1992, 16f. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 23 Zwischen einer allzu sehr idealisierten Position und einer allzu vereinfachenden Wirklichkeitssicht kann ein Mittelweg gefunden werden, der Ausdifferenzierungen zu beiden Polen hin zulässt, aber dennoch einen Überbegriff erlaubt, der weder zu weit im Sinne Gramscis noch zu eng im Sinne Bendas gefasst ist. 1.5 Möglicher gemeinsamer Nenner Eine Begriffsbestimmung sollte Extrempositionen und damit verbundene Einseitigkeiten vermeiden. Ziel ist, den Vorstellungen Bendas die Spitze zu nehmen und der extremen Extension des Begriffs bei Gramsci entgegenzutreten. Denn nach Gramsci wäre dann jeder, der in irgendeiner Form mit Wissen handelt oder dieses produziert, zu den Intellektuellen zu zählen. 23 Als hilfreiche Differenzierung bietet sich die Unterscheidung zwischen ni tellektueller Arbeit im engeren und intellektueller Tätigkeit im weiteren Sinn an. Unter Arbeit ist der Einsatz beruflicher Qualifikation zu verstehen, die der Bestreitung des Lebensunterhaltes dient. Tätigkeit wird hingegen verstanden als eine Beschäftigung, die keinem primären, direkt verwertbarem Nutzen dient, sprich zweckfrei gesehen wird. Jedes sekundäre Interesse fällt damit sehr wohl in den Bereich intellektueller Tätigkeit, wie beispielsweise Lebensorientierung, Sinnfindung sowie Überblick über die oder Erweiterung der momentanen Lebenszusammenhänge. Angewendet auf die vorhergehenden Beschreibungen des Intellektuellen lässt sich somit eine formale Unterscheidung treffen, die die zitierten Intellektuellen in zwei Gruppen aufteilt: Zur ersten Partei zählen jene, die beruflich mit Wissenserwerb, Wissensverarbeitung und Wissensanwendung zu tun haben. In dieser Gruppe befinden sich die organischen und traditionellen Intellektuellen von Gramsci sowie die intellectual workers von Baran. Gemeinsam ist diesen, dass sie bestimmten Berufsgruppen zuzuordnen sind. Meinungsforscher, Wirtschaftsanalysten, Wissenschafter etc. (organische Intellektuelle und intellectual workers), als auch Priester, Richter, Lehrer etc. (traditionelle Intellektuelle ) haben ein abgegrenztes berufliches Betätigungsfeld. Entweder produzieren sie Wissen, vermitteln es oder wenden es an. Es scheint daher sinnvoll zu sein, diese 23 Vgl. Said, Götter, die keine sind, 14f. 24 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 Gruppe als Experten zu bezeichnen. Der Grad ihres Expertentums ist hier nicht ausschlaggebend, sondern allein die Tatsache, dass sie für gewisse gesellschaftliche Felder zuständig sind. Sie leisten kognitive Arbeit, für die sie qualifiziert sind und entlohnt werden. Von der Gruppe der Experten grenzt sich die Gruppe der Intellektuellen ab: Gemäß der vorhin angeführten Unterscheidung zwischen intellektueller Arbeit und Tätigkeit, zeichnet den Intellektuellen aus, dass aus der Arbeit eine Tätigkeit wird, die nicht nur der eigenen Lebensorientierung und Sinnfindung dient, sondern den privaten Radius hinter sich lässt und bewusst die Öffentlichkeit (Bourdieu) sucht. Der Intellektuelle ist Gewissen und Mahner der Gesellschaft. Er verspürt in sich ein Berufungserlebnis (Ortega y Gasset) und das Mandat, auf gesellschaftliche Umstände, Prozesse etc. hinzuweisen. Er unterscheidet sich vom Experten dadurch, dass der Experte aus seiner berufsspezifischen Sicht auf besondere Schnittstellen im gesellschaftlichen Leben hinweist, wie beispielsweise die in den letzten Jahren in den meisten Staaten Europas geführten Diskussionen bezüglich des Pensionsantrittsalters. Der Experte fokussiert einen Punkt und äußert dazu seine Meinung. Hinzu kommt, dass der Experte nicht von sich aus auf die breite Öffentlichkeit zutritt, sondern in seinem Kreis wirkt und publiziert. Erst aufgrund von Interesse und Einladung meinungsbildender Einrichtungen bzw. politischer Parteien verlässt er seinen abgegrenzten Wirkungsbereich und erreicht die breite Öffentlichkeit. Im Unterschied zum Experten belässt es der Intellektuelle nicht beim Auflisten von Fakten. Diese dienen ihm nur als Grundlage und nicht wie beim Experten als Legitimation für den Gang in die Öffentlichkeit. Der Intellektuelle addiert Fakten, nimmt eine Gesamtschau und Interpretation vor und bettet das Expertenwissen in einen größeren Zusammenhang ein. Diese Unterscheidung von Experten und Intellektuellen umgeht die eingangs von Köpl angeführte ideologische und unerwünschte Entgegensetzung von kognitiver und manueller Arbeit, denn Arbeit wird unabhängig vom ausführenden Körperteil dem Bereich des Expertentums zugeordnet. Wesentlich bestimmend für den Status als Intellektueller ist die Art der kognitiven Aktivität, nämlich Arbeit oder Tätigkeit. Die Gegenüberstellung von Experten und Intellektuellen lässt noch eine weitere Differenzierung sinnvoll erscheinen, nämlich die von Kompetenz im Allgemeinen und Qualifikation im Spezifischen. Beide zusam- Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 25 men können als Charakteristika des Intellektuellen angeführt werden. Der Intellektuelle weist gegenüber dem Experten ein Bonum auf: Seine spezifische Qualifikation kann durchaus die gleiche wie die des Experten sein, seine allgemeine Kompetenz hebt ihn jedoch von diesem ab. Allgemeine Kompetenz meint die Fähigkeit, Erkenntnisse in größere Zusammenhänge einzubinden, den Zeitgeist, gesellschaftliche Zustände, Entwicklungstendenzen, mögliche Gewinner bzw. Verlierer von Prozessen zu orten. Dieses Vermögen geht mit dem Willen einher, auf Gefahren, Risiken oder Chancen hinzuweisen. Dieses Können darf daher nicht als nacktes und kaltes Können gesehen werden, sondern weist eben ein ethisches Moment auf. Dieser allgemeine Kompetenzerwerb sollte möglichst autonom erfolgen, wobei der Schwerpunkt auf intellektueller Freiheit und Selbstständigkeit liegt. Der Intellektuelle erkennt das Spannungsverhältnis von Wirtschaft, Politik, Kultur und allgemeinen, überparteilichen menschlichen Interessen und meldet sich zu Wort. Der Intellektuelle kann dabei als Typus und als Person gedacht werden. Als Typus agiert er, wenn er nur die Veranlagung hat, zur allgemeinen Lebensorientierung beizutragen. Der Intellektuelle als Typus hortet sein Wissen um Lebens– und Wissenszusammenhänge. Der Intellektuelle als Person hingegen ergreift das Wort und trägt damit aktiv zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. Er denkt sich seine Ideale nicht nur, sondern versucht sie umzusetzen. Der Intellektuelle als Typus kann sich auf seine bürgerliche Existenz als Experte zurückziehen, wenn primäre Grundbedürfnisse im Vordergrund stehen, während der Intellektuelle als Person sich Einschränkungen stellt: Auch wenn das gesellschaftliche Klima jede freiwillige Beschäftigung mit intellektuellen Themen verunmöglicht, ökonomisch–politische Konstellationen intellektuelle Aktivität erschweren, engagiert sich der Intellektuelle. Neben dieser äußerlichen Begriffsbestimmung des Intellektuellen lässt sich in groben Umrissen auch eine allgemeine inhaltliche formulieren. Dem Intellektuellen muss es ein inneres Anliegen sein, das Recht auf freie Bildung als Grundbedürfnis zu verteidigen, das Aufstehen wider den Zeitgeist sollte zum inneren Impetus zählen. Eine aktive und bewusste Distanz zum politisch–ökonomischen Common Sense ergibt sich dadurch. Sie ist unabdingbare Voraussetzung 26 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 für Kritikfähigkeit, die sich auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext bezieht. Intellektuell Tätige scheuen sich nicht vor öffentlichem Auftreten, da ihnen die Fähigkeit zur Repräsentation gegeben ist. Wie wird einer bestimmten Zuhörerschaft ein Inhalt dargeboten? Dies zu antizipieren setzt eine treffende Situationsanalyse voraus, die bedingt ist durch die Kenntnis der Wirkmächtigkeit der Sprache und ihrer manipulativ–demagogischen Kraft. Der Intellektuelle kennt den Unterschied zwischen Überredung und argumentativer Überzeugung. Das inkludiert, dass er weiß, wann Wortmeldungen seinerseits unangebracht und wann sie notwendig sind. Dieses Moment der Selbstreflexion ist ein entscheidender Faktor, denn sie bewahrt den Intellektuellen vor eigenen Stereotypisierungen wie auch davor, jenen anderer aufzusitzen. Die oben angeführte Fähigkeit zur Distanz zeigt hier ihre zweite Dimension: Kritische Selbstbetrachtung ermöglicht erst das Aufdecken eigener als unhinterfragt übernommener und für selbstverständlich genommener Überzeugungen. Die Fähigkeit zur Repräsentation schließt die Frage nach der Glaubwürdigkeit ein. Tritt der Intellektuelle authentisch auf, steht er für seine Überzeugungen auch ein? Er vertritt Haltungen, Einstellungen und Sichtweisen, an denen er selber gemessen wird. Dazu braucht es Freiheit und Mut, denn er ermöglicht dadurch Kritik an seiner Person und zeitigt Widerstände, die mitunter gegen ihn persönlich gerichtet sein können. Es zeigt sich also ein komplexes Maß an Wechselwirkung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Der Intellektuelle muss bereit zum Verzicht sein und damit auch zu einer möglichen Einschränkung seiner Unabhängigkeit. Sobald der Intellektuelle daran geht, sich für die praktische Verwirklichung seiner Ideale zu engagieren, büßt er automatisch seinen autonomen Status ein. Als Definition darf folgender Entwurf gelten: Als Intellektueller gilt, wer sich mittels (i) kognitiver Tätigkeit mit der Welt oder gesellschaftlichen Ereignissen bzw. menschlichen Problemstellungen auseinandersetzt und diese (ii) als Kommunikator nachvollziehbar einer Öffentlichkeit zugänglich macht. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 27 Der Intellektuelle übertrifft dabei den Experten, da er mit Blick auf einen (iii) größeren Zusammenhang agiert und (iv) partielle Interessen hintanstellt. Als Zusatz erscheint wesentlich, dass der Intellektuelle nicht als ein bestimmter Menschentypus verstanden wird, der, alles durchblickend, passiv in seinem Elfenbeinturm sitzt, sondern (v) als Person – mitfühlend und gesellschaftliche Bewegungen aufnehmend – das öffentliche Leben mitgestaltet. 1.6 Ausführungen zur Definition Um den ersten Punkt, die kognitive Tätigkeit, die Welt und Gesellschaft reflektiert, abdecken zu können, muss der Intellektuelle über ein fundiertes Allgemeinwissen verfügen. Darunter wird eine umfassende Bildung verstanden. Für diesen Aspekt können Kardinal Newmans Überlegungen nutzbar gemacht werden. In seinen Vorträgen über das Wesen der Universität betont er die universale Bildung, die diese Institution zu fördern hat. Die Universität soll ihr Studienangebot auf den ganzen Bildungskosmos ausweiten und zweckfreie Bildung ermöglichen. Sein Argument lautet: „Eine Verfassung des Geistes wird geformt, die das ganze Leben hindurch anhält: Freiheit, Unvoreingenommenheit, Gelassenheit, Maßhalten und Weisheit sind ihre charakteristischen Merkmale, mit einem Worte das, was ich in einem früheren Vortrag als ‚philosophische Geistesverfassung’ zu bezeichnen wagte.“24 Eine solche umfassende Bildung, die sowohl reiches Wissen wie Lebensführung und Empathie einschließt, erlaubt es, aktuell sich aufdrängende Probleme vor einem allgemeinen Hintergrund zu beleuchten. Es geht darum, problemorientiert Fragen aufzuwerfen, relevante von irrelevanten Aspekten zu unterscheiden. Dies scheint nur dann möglich zu sein, wenn der Intellektuelle allgemein–kulturelles Wissen besitzt, einen großen Bogen spannen und somit gegenwärtige gesellschaftli24 Newman, John Henry, Bildung als Selbstzweck, in: Ders., Vom Wesen der Universität. Ihr Bildungsziel in Gehalt und Gestalt, Mainz 1960, 116. Das Ideal dieser umfassenden Bildung sieht Newman im Gentleman verkörpert. „Es ist gut, ein Gentleman zu sein; es ist gut einen gebildeten Geist, einen verfeinerten Geschmack, einen lauteren, ausgewogenen und gelassenen Sinn, eine vornehme und edle Haltung in der gesamten Lebensführung zu besitzen; all diese Eigenschaften gehen naturgemäß mit einem reichen Wissen Hand in Hand“ (ebd., 131f.). 28 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 che Verhältnisse einordnen und deuten kann. In diesen Bereich fällt auch der Wissensstand des Intellektuellen: Neben geisteswissenschaftlichen Grundkenntnissen sollte er auch über naturwissenschaftliche verfügen. Dies impliziert die Fähigkeit, sich Wissen in selbstständiger und kritischer Weise anzueignen. Ein besonderes Können wird dabei vom Intellektuellen abverlangt, die Fertigkeit des Lesens. Clemens Sedmak stellt fest, dass mit der Lektüre eines Textes grundsätzliche Fragen verbunden sind wie, warum man gerade diesen Text wählt, welches Vorwissen benötigt wird.25 Ein zentraler Punkt wird in seiner Lesetheorie mit dem Begriff „otium“ markiert: Der Leser muss sich Freiheit und Selbstständigkeit bewahren. „Eine Leserin, die frei ist von Verwertungszwängen und klaren Eigeninteressen, kann einem Text freier begegnen. ‚Otium’ ist das Gegenteil von ‚Druck’ und ‚Zwang’, und deswegen mit Zeitdruck und Verwertungszwängen nicht vereinbar.“ 26 Bildung ist ohne Lesen nicht denkbar, dieses verlangt nach Freiheit und Offenheit, um dem Text gerecht zu werden. Innere und äußere Beeinträchtigungen minimieren eine seriöse Wissensaneignung. Die kognitive Tätigkeit, die Welt und Gesellschaft reflektiert, basiert auf einer umfassenden Bildung. Zu dieser zählen nicht nur Kultur als Gedankengut und Geistesgeschichte, sondern auch die Kunstwerke, die materiellen Ausprägungen. In diesen finden sich verschiedene Ausdrucksformen und Problemstellungen des Menschlichen. So beschäftigen sich Kunstwerke und ihre Künstler nie bloß mit der eigenen Biographie, es scheinen immer die persönlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Werte durch. Kunst ist eine Form der Infragestellung und Provokation in expressiver Weise. Sie rettet den emotionalen Charakter historischer Werke in die Gegenwart, so dass dieser nachvollzogen werden kann. Vorteilhaft scheint es daher zu sein, wenn der Intellektuelle die Kunstströmungen internalisiert hat und sie vielleicht in die öffentliche Debatte einfließen lassen kann. So wird der Primat des rational–wissenschaftlichen Diskurses in Frage gestellt. Die Vielheit der literarischen Gesellschaftsbeschreibungen und Einzelschicksale gibt dem Intellektuellen einen Überblick über die Mannigfaltigkeit menschlicher Lebensformen und befähigt ihn, Seiten und Bedürfnisse seiner Gesellschaft zu kennen 25 26 Vgl. Sedmak, Clemens, Erkennen und Verstehen. Grundkurs Erkenntnistheorie und Hermeneutik, Innsbruck 2003, 134ff. Ebd, 139. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 29 und unter diversen Gesichtspunkten zu erörtern. Vom Intellektuellen kann man natürlich nicht eine Detailkenntnis der musischen, künstlerischen und historischen Tradition erwarten, vielmehr soll das Vermögen angesprochen werden, sich kulturhistorisch orientieren zu können. In den Bereich der kognitiven Fähigkeiten fällt weiters, dass der Intellektuelle sich in einer Disziplin spezialisiert hat. Er sollte selber einen Expertenstatus haben, um die Problematik anderer Experten zu kennen. Ihm muss das Ringen um Thesen bekannt sein, genauso wie die Tendenz, aus dem eigenen Wissen heraus Wahrheits– und Verallgemeinerungsansprüche zu formulieren. Die Erweiterung des Spezialwissens durch Allgemeinwissen soll davor bewahren, von einem kleinen Segment voreilig auf große Zusammenhänge zu schließen. Der zweite Punkt, die Rolle des Intellektuellen als Kommunikator, inkludiert ein unverzichtbares rationales Element und garantiert die Vernünftigkeit. Jede Vermittlung gründet auf der Nachvollziehbarkeit des Dargelegten, wobei diese nicht ausschließlich auf das Wort beschränkt sein muss. Neben philosophischen, kultur– und wissenschaftskritischen sowie politisch hellhörigen oder belletristischen Literaten können durchaus bildende Künstler oder Musiker mit ihren Kulturtechniken das Wort ersetzen oder gar überhöhen. Als Beispiel sei hier der Musiker Igor Strawinsky angeführt, der bew usst mit seinen rhythmisch prägnanten Kompositionen Maschinenlärm imitierte, um so die Abhängigkeit des Menschen von Maschinen, vor allem aber den durch die Maschinen bestimmten Lebensrhythmus des Menschen pointiert darstellte. Gleiches kann über Johann Sebastian Bach ausgesagt werden, der wiederholt naturwissenschaftliche Erkenntnisse, wie z.B. die Abstände der einzelnen Planeten als Intervalle, in seine Kompositionen mit einbezog und so die empirische Weltdeutung in die Alltagswelt einfließen ließ. Auch in den bildenden Künsten lassen sich Beispiele finden. Erinnert sei hier an Francisco de Goya, der besonders mit seinen Karikaturen von Adel und Klerus Prunksucht, Herrschaftsgelüste und Unterdrückung, also gesellschaftliche Zustände anprangerte. Gemeinsam ist diesen Beispielen, dass diese Künstler alle zum einen Experten waren, sich durch besonderes Wissen und durch außergewöhnliche Techniken auszeichneten, zum anderen jedoch zugleich ihre Ausdrucksfähigkeit für das allgemein Gesellschaftliche nutzten und so Be- 30 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 schreibungen abgaben, respektive Kritik übten. Die Rolle als Kommunikator kann nur wahrgenommen werden, wenn die Vermittlung von Inhalten auch funktioniert, was bedeutet, dass Nachvollziehbarkeit ein notwendiges Kriterium ist. In der Verbalisierung scheinen Merkmale wie innere Konsistenz, Ausgehen von allgemein anerkannten Prinzipien auf und verhindern so subjektive Verstiegenheiten. Die Rolle des Intellektuellen als Kommunikator bedingt die Hinwendung an ein breites Publikum. Das Konstitutivum Öffentlichkeit sollte dabei nicht nur als Auditorium, sondern auch als ausgelagertes geistiges Organ des Intellektuellen aufgefasst werden. Öffentlichkeit wird einmal begriffen als Zielpunkt medial vermittelter Inhalte und einmal als der Ort, aus dem sich der Intellektuelle Inhalte für Überlegungen holt und der Anlass für Analysen und Differenzierungen ist. Die erste Art der Öffentlichkeit wird als präsentierte Öffentlichkeit bezeichnet, denn sie ist der Ort, an dem die Ausführungen des Intellektuellen einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. Die zweite Art der Öffentlichkeit kann als mediale Plattform verstanden werden, in der Äußerungen prinzipiell von jedem aufgenommen und nachvollzogen werden können. Diese Form der Öffentlichkeit lässt sich treffend mit sensitive Öffentlichkeit beschreiben. Die Welt– und Fakteninterpretation, die hier dargeb oten wird, wird über die physischen Sinne aufgenommen. Neben dieser in Rundfunk, Zeitung und Fernsehen dargebotenen Welt existiert noch die nicht fertig formulierte Welt. Die Öffentlichkeit als Organ des Intellektuellen nimmt hier verschiedene Strömungen wahr und erkennt einen emergierenden Zeitgeist. Für diese Form von Öffentlichkeit bietet sich der Ausdruck sensible Öffentlichkeit an, denn sie stellt sozusagen den sechsten Sinn des Intellektuellen dar, ist also ein Vermögen, das nicht jedem in gleicher Weise zur Verfügung steht. Die Öffentlichkeit des Intellektuellen kennt somit drei Dimensionen. Sensitive und sensible Öffentlichkeit gelten als subjektive Wahrnehmungsweisen. Anders verhält es sich mit der präsentierten Öffentlichkeit, sie stellt das intersubjektive Moment und bietet folglich kriteriologische Möglichkeiten, einen Kandidaten für den Status als Intellektueller zu besprechen. Die präsentierte Öffentlichkeit als vermittelter Inhalt birgt Kriterien, die einen Denker als Intellektuellen ausweisen. Das kann an einem Beispiel exemplifiziert werden. Es lohnt sich allerdings, zuvor noch eine hinführende und grundsätzliche Überlegung anzustellen. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 31 Die präsentierte Öffentlichkeit – also der durch die Medien vermittelte Inhalt – variiert und es zeigt sich gleich auf den ersten Blick eine scheinbar unüberwindbare Hürde. Wie können die vielfältigen Themen, die Intellektuelle in der Öffentlichkeit präsentieren, so zusammengefasst werden, dass sich dabei ein gemeinsamer Nenner findet? Sind die verschiedenen Fachrichtungen nicht in unzählige Subdisziplinen aufgesplittert, aus deren unterschiedlicher Perspektive heraus die divergierenden Veröffentlichungen resultieren? Macht es daher diese Einsicht unmöglich, den in der Öffentlichkeit dargebotenen Inhalt des Intellektuellen zu sortieren? Nicht wirklich, denn jeder Inhalt wird immer mittels einer gewissen Form dargeboten, d.h. einen „nackten“ Inhalt, einen Inhalt ohne Verpackung gibt es nicht. Somit gerät das Wie in den Blickpunkt. Aus dieser Perspektive heraus wird als Inhalt nun nicht mehr ein angesprochenes Faktum, eine vorgenommene Beschreibung oder Analyse verstanden, sondern zusätzlich und etwas modifiziert Inhalt auch als Art und Weise der Vermittlung aufgefasst. Ein anschauliches Beispiel, das die Problematik der präsentierten Öffentlichkeit vor Augen führt und die Frage nach dem Intellektuellen stellt, hilft hier weiter. Der „agent provocateur“ Peter Sloterdijk Peter Sloterdijk leitet als Rektor die Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und doziert dort als Professor für Philosophie und Medientheorie. 1983 wurde er mit seinem Buch „Kritik der zynischen Vernunft“ über den engen Kreis der akademischen Philosophie hinaus bekannt. Berühmtheit erlangte er anlässlich seines Vortrages „Regeln für den Menschenpark? Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus.“27 Von Interesse ist in diesem Zusammenhang weniger seine philosophische Ausrichtung bzw. inhaltliche Gewichtung, sondern vielmehr sein Umgang mit Inhalten, die Art und Weise der Vermittlung wie auch seine Präsenz und sein Verhalten in der Öffentlichkeit. Natürlich zählen hierzu auch die Entgegnungen, die ihn aus den Medien erreichen, lösen sie doch eine Reaktion aus und bestimmen so zumindest indirekt die Antwort. Es scheint deshalb auch angebracht zu sein, den Intellektuellen nicht nur durch sich selbst bestimmen zu lassen, sondern ihm eine zweite, nämlich 27 Sloterdijk, Peter, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a.M. 1999. 32 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 die ihm von der Öffentlichkeit zugewiesene Beschreibung zukommen zu lassen. Diese andere Zugangsweise zeigt den Intellektuellen nicht als einen monologisierenden Menschen, sondern als Person, die in einem spannungsgeladenen Verhältnis von Rede und Gegenrede steht. Zuerst wird hier in einer Kurzfassung der Duktus dieser Rede wiedergegeben und anschließend die breite öffentliche Diskussion. Das breite öffentliche Interesse an Sloterdijk geht auf den Vortrag „Regeln für den Menschenpark“ in Schloss Elmau (Oberbayern) im Juli 1999 zurück. Das Symposion, in dessen Rahmen Sloterdijk sprach, wurde vom Van–Leer–Institut Jerusalem und dem Franz Rosenzweig–Center der Hebräischen Universität Jerusalem mitorganisiert. Diese Information ist für das Verständnis der Debatte nicht unerheblich, richtete sich doch ein nicht unbeträchtlicher Teil der Diskussion darauf, dass beim Vortrag jüdische Wissenschafter anwesend waren und es einem Affront gleichkam, dass Humanismus als Zähmungs– und Züchtungsmethode beschrieben wird28. Unter Bezug auf Heidegger und Nietzsche 29 entsteht für Sloterdijk die Frage nach der Menschenzüchtung. „Die Lichtung ist zugleich der Kampfplatz und ein Ort der Entscheidung und der Selektion. […] Wo Häuser stehen, dort muss entschieden werden, was aus den Menschen, die sie bewohnen, werden soll; es wird in der Tat und durch die Tat entschieden, welche Arten von Häuserbauern zur Vorherrschaft kommen.“ 30 Nach Nietzsche sind – Sloterdijks Interpretation nach – die Menschen vor allem „erfolgreiche Züchter“31. Von hier an wendet 28 29 30 31 „Humanismus als Wort und Sache hat immer ein Wogegen, denn er ist das Engagement für die Zurückholung des Menschen aus der Barbarei“ (ebd., 16). „Das latente Thema des Humanismus ist also die Entwilderung des Menschen, und seine latente These lautet: Richtige Lektüre macht zahm“ (ebd., 17). Beide galten bekanntlich beim NS–Regime als Denker deutscher Leitkultur. Hier ist von Interesse, dass Sloterdijk im Anschluss an Heidegger seine Fragen an den Humanismus stellt und so suggeriert, als könnten sie von Heidegger selbst formuliert worden sein: „Wer zähmt den Menschen, wenn nach allen bisherigen Experimenten mit der Erziehung des Menschengeschlechts unklar geblieben ist, wer oder was die Erzieher wozu erzieht? Oder lässt sich die Frage nach der Hegung und Formung des Menschen im Rahmen bloßer Zähmungs– und Erziehungstheorien gar nicht mehr auf kompetente Weise stellen?“ (Ebd., 32). Ebd., 37. „Aus Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines: erfolgreiche Züchter, die es vermocht haben, aus dem wilden Menschen den letzten Menschen zu machen“ (ebd. 39). Gleich darauf liest man: „Dies ist der von Nietzsche pos- Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 33 sich Sloterdijk der Menschzüchtung zu und benennt diese mit seinem Neologismus als Anthropotechnik 32. Er weitet seinen Gedanken aus und spricht davon, „dass die Domestikation des Menschen das große Ungedachte ist“ 33, weist darauf hin, dass Machtinteressen vorhanden sind und betont den nicht wegzuleugnenden Zusammenhang, der zwischen „Lesen“ und „Auslesen“ sowie zwischen „Lektion“ und „Selektion“ besteht. Im Anschluss daran zitiert Sloterdijk Platons Dialog „Politikos“ und dessen „Politeia“, um seine abendländische Tradition der Menschenzüchtung zu untermauern34. Menschenzüchtung kann nicht geleugnet werden, sie wurde bereits von Platon angedacht, jetzt kommt es aber darauf an, einen „Codex der Anthropotechniken zu formulieren“ 35, weil es durchaus möglich ist, dass der Mensch einmal in die Lage kommt, eine genetische Merkmalsplanung vorzunehmen 36. Sloterdijk rekurriert daraufhin auf die Aufgabe von Platons königlichem Herrscher, „dass er die für das Gemeinw esen günstigsten Eigenschaften freiwillig lenkbarer Menschen auf die wirkungsvollste Weise ineinander zu flechten versteht, so daß unter seiner Hand der Menschenpark zur optimalen Homöostase gelangt.“ 37 Nach der „faschistischen Eugenik“ und einem Blick in die Zukunft, ins „biotechnologische Zeitalter“, ergibt sich hier eben eine brisante Fragestellung. Der platonisch–königliche Herrscher wäre dann der Vollhumanist. „Die Aufgabe dieses Über–Humanisten wäre keine andere als die Ei- 32 33 34 35 36 37 tulierte Grundkonflikt aller Zukunft: der Kampf zwischen den Kleinzüchtern und den Großzüchtern des Menschen …“ (ebd., 40). „Aber der Diskurs über die Differenz und Verschränkung von Zähmung und Züchtung, ja überhaupt der Hinweis auf die Dämmerung eines Bewußtseins von Menschenproduktion und allgemeiner gesprochen: von Anthropotechniken – dies sind Vorgaben, von denen das heutige Denken den Blick nicht abwenden kann …“ (ebd., 41f.). Ebd., 43. „Es ist die Signatur des technischen und anthropotechnischen Zeitalters, daß Menschen mehr und mehr auf die aktive oder subjektive Seite der Selektion geraten, auch ohne daß sie sich willentlich in die Rolle des Selektors gedrängt haben müßten“ (ebd., 44). Ebd., (45). „Ob aber die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungseigenschaften führen wird – ob eine künftige Anthropotechnologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung vordringt; ob die Menschheit gattungsweit eine Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen Selektion wird vollziehen können – dies sind Fragen, in denen sich, wie auch immer verschwommen und nicht geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt“ (ebd., 46f.). Ebd., 53. 34 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 genschaftsplanung bei einer Elite, die eigens um des Ganzen willen gezüchtet werden muss.“ 38 Dieser kurze Überblick macht klar, dass diese Rede einiges an Diskussionsmaterial in sich birgt. Interessant und selten erwähnt ist, dass Sloterdijk im gleichen Jahr bei einer Tagung über „Neue Wege des Humanismus“ anlässlich der Basler Humanismus–Feierlichkeiten denselben Vortrag gehalten hat – ohne jedoch ein solches Echo ausgelöst zu haben. Der Ort und die geladenen Gäste bestimmten zumindest die erste Rezeptionsphase. So betitelt die „Frankfurter Rundschau“ (24.7.99) „Geister und realer Spuk. Wie Peter Sloterdijk jüdische Denker das Entsetzen lehrte“. Kurz darauf (26.7.99) will die „Süddeutsche“ wissen „Wer zähmt die Philosophen?“, nachdem Sloterdijk laut „Süddeutscher“ dafür plädierte, die Menschen nicht durch Aufklärung, sondern durch Züchtung zu verändern. Spätestens nach der Entgegnung Sloterdijks in der „Frankfurter Rundschau“ (31.7.99) weitet sich der Interessentenkreis, so dass Rezeption und Diskussion zum täglichen Intellektuellenthema werden. Sloterdijk titelt seine Klarstellung mit „Halluzinationen und Lügen“, spricht von „lasziven Missdeutungen“ und von der „Jungen Ahnungslosigkeit“, die dabei sei, „sich in den meisten Feuilletonredaktionen einzunisten“. Reaktionen, die auf die deutsche Vergangenheit anspielen, ließen sich noch genügend zitieren, doch verebbt diese Diskussion, nachdem eine wegen der vorgetragenen Vorwürfe stattgefundene Diskussionsrunde unter der Leitung von Christoph Schmidt (Van–Leer–Institut, Jerusalem) die Anschuldigen gegen Sloterdijks Anspielungen zurückwies. Die zweite Rezeptionsphase wird durch einen „Zeit“–Artikel von Thomas Assheuer (Nr. 36/2.9.99), mit dem Titel „Das Zarathustra–Projekt. Der Philosoph Peter Sloterdijk fordert gentechnische Revision der Menschheit“, eingeleitet 39. Sloterdijk liest und holt schreibend zu einem Gegenschlag aus, indem er in der „Zeit“ (Nr. 37/9.9.99) zwei öffentliche Briefe, 38 39 Ebd., 54. So heißt es im Assheuer-Text: „Mit einem Paukenschlag möchte Sloterdijk die Feindseligkeiten zwischen Philosophie und Naturwissenschaften beenden, um Wissen und Geist, Philosophie und Naturwissenschaften zu versöhnen. Ihm schwebt eine demokratiefreie Arbeitsgemeinschaft aus echten Philosophen und einschlägigen Gentechnikern vor, die nicht länger moralische Fragen erörtern, sondern praktische Maßnahmen ergreifen. Diesem Elitenverbund fällt die Aufgabe zu, mithilfe von Selektion und Züchtung die genetische Revision der Gattungsgeschichte einzuleiten. So wird Nietzsches schönster Traum bald wahr: die Zarathustra–Fantasie vom Übermenschen.“ Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 35 einen an Assheuer und einen an Habermas, schreibt. Intellektuelle kommunizieren öffentlich, die mediale Resonanz ist beträchtlich, denn Sloterdijks Vortrag wird nicht nur in den Printmedien diskutiert, sondern er wird zu TV-Sendungen eingeladen, beispielsweise am 10.9.99 in das 3-Sat-Magazin „Kulturzeit“ und am 26.9.99 in die Fernsehdiskussion im Nachtstudio des ZDF. Ein Skandal ist losgetreten worden, Material zum Lehrstück „Was zeichnet einen Intellektuellen aus?“ wird greifbar. Was zeigt dieser Exkurs? Peter Sloterdijk setzt sich zwar in kognitiver Weise und philosophiegeschichtlich kundig mit der Welt und gesellschaftlich relevanten Themen auseinander, doch werfen der Aspekt der Öffentlichkeit und die Art der Präsentation die Frage auf, ob Peter Sloterdijk als Intellektueller gelten kann. Verdächtig kommt einem doch die Freude an oftmaliger medialer Präsenz vor sowie die Leichtigkeit und Unbeschwertheit, mit der eine ernstzunehmende und geschichtsträchtige Fragestellung ziemlich salopp und publikumswirksam vorgetragen wird. Bourdieu liefert hier einen gewichtigen Einwand und ein bedenkenswertes Argument, denn der Intellektuelle zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht der journalistischen Angewohnheit des „fast reading and fast writing“40 anheim fällt. Bourdieus Überlegung erhalten Unterstützung von Hans–Georg Gadamer. Dieser spricht sich gegen ein solches schnelles und verwertendes Lesen aus: „Die Philologie nennt man seit Nietzsche die Kunst des langsamen Lesens. Das ist in Wahrheit eine mehr und mehr verschwindende Kunst, bei etwas zu verweilen, statt durch Texte durchzueilen und die Informationen abzuernten, die in ihnen gespeichert sind.“ 41 Im Hinblick auf Sloterdijk heißt das, der Intellektuelle missbraucht Texte nicht zu Gebrauchstexten, er schreibt nicht, um die Gunst des Publikums zu erhaschen oder weil dieses von ihm Gedanken erwartet, die seinen Wünschen oder Vorstellungen entsprechen. Er gehorcht nicht der Diktatur des Marktes, welche die Gefahr einer Nivellierung der wissenschaftlichen Beurteilungsmaßstäbe in sich birgt. Besonders Journalisten, die wissenschaftliche Erkenntnisse in Medien leicht verdaulich servieren und dabei gleich eine Einordnung des Neuen anbieten, geben sich all zu oft den Anschein von Seriosität. Hier kommt 40 41 Vgl. Bourdieu, Die Intellektuellen und die Macht, 55. Gadamer, Hans–Georg, Gesammelte Werke in 10 Bänden, Bd. 8, Ästhetik und Poesie, Tübingen 1985–1995, 271. 36 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 es zu einer Anmaßung, nämlich dass die Beurteilungskirterien neutral sind, obwohl sie in Wahrheit sehr wohl einer Verkaufsstrategie entspringen und im kommerziellen Interesse von Medieneigentümern liegen. Jeder Feuilletonjournalist beschränkt durch seine Tätigkeit das autonome Feld des Intellektuellen. „Allgemeiner gesagt, macht sich der Einfluss des Journalismus, mit seinen weltläufigen Kriterien – Lesbarkeit, Aktualität, Neuigkeitswert usf. – auf die kulturelle Produktion immer stärker geltend, namentlich mittels des Drucks, den er auf die Veröffentlichungspraxis ausübt (was etwa dazu führt, daß die Fähigkeit, dem Produkt eine „fernsehgerechte“ Form zu geben, zu einem Maßstab intellektueller Kompetenz wird).“ 42 Die Hinwendung an ein breites Publikum gilt zwar als Bestimmungsmerkmal des Intellektuellen, doch birgt es zugleich die Gefahr, der Publikums– und Mediengefälligkeit zu verfallen. Die Öffentlichkeit und der Umgang mit dieser gelten daher als Kriterium, ob jemand den Status eines Intellektuellen einnimmt oder nicht. Punkt eins in der oben angeführten Definition43 des Intellektuellen betonte die kognitive Auseinandersetzung mit Welt und Gesellschaft, Punkt zwei die Rolle als Kommunikator und Punkt drei spricht nun die unterschiedliche Perspektive von Experten und Intellektuellen und die daraus resultierende Einbettung von Erkenntnissen an. Um das zu ermöglichen, ist eine profunde Kenntnis der Geschichte notwendig, um ähnlich gelagerte Situationen in der Vergangenheit zu orten, die Deutungsmöglichkeiten anbieten. Der Dialog mit der Tradition leistet dabei einen wichtigen gemeinschafts– und identitätsstiftenden Beitrag. Das Vergegenwärtigen der Geschichte hat zugleich ethische und politische Implikationen. In diesem Zusammenhang spricht Clemens Sedmak von einer Ethik der Erinnerung: „Es kann auch kein Zweifel darüber bestehen, dass Arbeit an der Geschichte Arbeit an kultureller Identität ist, mit weitreichenden politischen Implikationen. ‚Erinnern’ und ‚Vergessen’ sind politisch relevant und von Interessen gelenkt.“ 44 Geschichte ist lebendig, sie wirkt in die Ge42 43 44 Bourdieu, Die Intellektuellen und die Macht, 57. Siehe letzter Abschnitt in Punkt 1.5. Sedmak, Clemens, Theologie in nachtheologischer Zeit, Mainz 2003, 66. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 37 genwart hinein. Eine gute Kenntnis der Tradition ist notwendig. Anhand des geschichtlichen Rückblickes können Analogien gezogen, Problemkonstellationen und mögliche Lösungsvorschläge aufgezeigt werden. Gedacht wird dabei nicht, dass der zurückschauende Blick die automatische Lösung von momentanen Problemen herbeiführt, zumal gewichtige Sorgen eindeutig heutigen Ursprungs sind. Ressourcenknappheit, Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, extremes Reichtumsgefälle zwischen 1. und 3. Welt etc. sind eindeutig Probleme des 21. Jahrhunderts. Daneben kennt man auch ewig wiederkehrende Themen wie die Frage nach Krieg und Frieden, die es zu jeder Zeit gegeben hat und auch heute noch gibt. Neben diesen allgemeinen Fragen, die die Zukunft der Menschheit betreffen, offeriert der Blick in die Geschichte die Erkenntnis, dass es vor allem die persönlich–existentiellen Probleme sind, die stets aufs Neue auftreten. Die Grundfragen nach Lebensorientierung und Wertmaßstäben sind, den einzelnen Menschen betreffend, die gleichen geblieben. Welche Prioritäten werden bei der Lebensgestaltung und Ausrichtung gesetzt? Die Kenntnis der Geschichte führt daher zu einem umfassenderen Bild und Verständnis des Menschen und ermöglicht in der Diskussion den gesamthistorischen Kontext und die tradierten Fragen und Antworten zu berücksichtigen. Punkt vier steht in inhaltlicher Nähe zum gerade Besprochenen: Das Wissen um und der Blick für den größeren Zusammenhang soll helfen, die eigene Sicht zu relativieren und Eigeninteressen hintanzustellen. Der Intellektuelle zeichnet sich durch eine besondere Geisteshaltung aus. Diese muss flexibel sein, sich die Neugierde bewahren, vermeintliche Problemlösungen und etablierte (Denk)Systeme und Sichtweisen immer wieder hinterfragen. Neugierde bewirkt Unabhängigkeit. Bei H. Blumenberg heißt es: „Neugierde, Forschungstrieb, empirische Unbefangenheit erwachen aber gerade aus dem Tabuisierungszwang des dogmatischen Systems, das seinen Anhängern nicht nur bestimmte Fragen und Ansprüche abschneiden muß, sondern ihnen diese Entsagung mit einer besonderen Angemessenheit aus dem System begründet.“45 Neugierde bewahrt 45 Blumenberg, Hans, Die Vorbereitung der Aufklärung als Rechtfertigung der theoretischen Neugier, in: Friedrich, H. und Schalk, F.(Hg.), Europäische Aufklärung. Herbert Dieckmann zum 60. Geburtstag, München 1967, 26. An anderer Stelle heißt es: „Die Neugierde erscheint dabei als in zwei Rollen aufgespalten: sie ist sowohl die treibende Urkraft in dem unabsehbaren Prozeß, den die Menschheit ohne Rücksicht auf den Ein- 38 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 vor Konformismus, sie nimmt den Status einer Arbeitshaltung ein und verstanden als geistige Begierde fungiert sie als Triebfeder, nicht ruhig und träge auf bereits erworbenen Erkenntnissen auszuruhen. Dies beinhaltet, sich von den Zwängen, die durch die Normen des Berufes vorgegeben sind, durch eine Haltung zu distanzieren, die man mit E. Said als Amateurismus bezeichnen kann. Er versteht darunter, sich „von der Liebe zu den Dingen und dem nicht nachlassenden Interesse an einer Erweiterung der eigenen Sicht“ 46 leiten zu lassen. Weiters schreibt er: „Es geht darum, über alle Hindernisse und Grenzen hinweg Querverbindungen herzustellen, sich nicht auf ein Spezialgebiet festlegen zu lassen, sich um Ideen und Werte zu kümmern, trotz der Einschränkungen eines Berufs.“ 47 Der Intellektuelle fühlt sich zu gesellschaftlich diskutierten Themen hingezogen, er beteiligt sich leidenschaftlich an der Debatte, es ist ihm ein Bedürfnis, bisher nicht beachtete Zusammenhänge aufzuzeigen und sie einzubringen. In Punkt fünf zeigt sich ein bestimmendes Moment des Intellektuellen: Er lebt als Person in der Gesellschaft, denkt und fühlt für sie. Ihm ist nicht die Wissenschaftlichkeit der Meinungsbildung das primäre Anliegen, sondern vielmehr die intellektuelle Verantwortung. Es geht ihm nicht nur um die Vernetzung, das Zusammendenken der verschiedenen Inhalte in Bezug auf die Haltbarkeit wissenschaftlicher Aussagen, sondern vor allem um die Anwendung auf den Menschen. Der Intellektuelle weiß um die problematische Beziehung zwischen Wissenserwerb und –anwendung, zwischen Begründungs– und Verwertungszusammenhang. Unbedingt gilt für den Intellektuellen, dass er seine Kompetenz in den Dienst am Menschen stellt. Jegliches Wissen orientiert sich am Interesse für den Menschen. Der Intellektuelle schafft nicht bloß eine Kultur für den Intellektuellen, sondern für das Wohlergehen der Menschheit, er ist eben nicht Intellektueller für sich, der nur seine eigene Neugier und die eigenen Interessen abdeckt, das heißt ohne Sendungsbewusstsein agiert und die Öffentlichkeit nicht in seine Überlegungen mit einbezieht. 46 47 zelnen um die Erhellung und Bewältigung der Wirklichkeit führt, als auch das diesen Prozeß irritierende, divergierende Agens, das den Einzelnen auf dem Zugang zu der sein Glück verbürgenden Wahrheit bestehen äl sst.“ (Ders., Der Prozess der theoretischen Neugier. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von „Die Legitimität der Neuzeit“, dritter Teil, Frankfurt a. M. 1973, 216). Said, Götter, die keine sind, 84. Ebd., 84f. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 39 Der Intellektuelle fühlt sich dennoch dem Ideal intellektueller Autonomie verpflichtet und lässt dabei nicht außer Acht, dass er durch Einflüsse genannter Art gefährdet ist. Die Unabhängigkeit vom Common Sense oder von Political Correctness lenkt sein Augenmerk auf die Sache, den Untersuchungsgegenstand. Trotzdem verhält er sich dabei nicht wie ein auf Detailfragen ausgerichteter Experte, der von Berufs wegen spezifische Sachfragen erörtert, sondern wie ein „Amateur“, den ein leidenschaftliches und selbstloses Interesse antreibt. Die Grundhaltung ist nach Said nie Professionalismus: „Unter Professionalismus verstehe ich, dass man seine Arbeit als Intellektueller als etwas begreift, womit man seinen Lebensunterhalt verdient, zwischen neun und fünf, mit einem Blick auf die Uhr und einem zweiten Blick auf das, was als korrektes professionelles Verhalten angesehen wird; daß man sich also nicht ungebührlich verhält, sich nicht über die akzeptierten Paradigmen und Grenzen hinwegsetzt, seinen Marktwert und – ganz besonders – sein Outfit im Auge hat, also harmlos, unpolitisch und „objektiv“ wird.“ 48 Der Intellektuelle ist Person, die sich in der Gesellschaft mit ihren Mitteln engagiert. Natürlich ist nicht das ganze Spektrum von Anforderungen an den Intellektuellen abgedeckt. Diese Punkte verstehen sich als Diskussionsbasis und könnten durchaus noch erweitert werden (z.B. globaler Kontext). Außerdem ist auch denkbar, dass ein naturwissenschaftlich orientierter Denker von seinen Detailkenntnissen ausgehend immer weiter in geisteswissenschaftliche Fachbereiche vordringt. Entscheidend ist nicht die Zugangsweise – geisteswissenschaftlich oder naturwissenschaftlich –, sondern das Interesse für den Menschen sowie der Wunsch, Querverbindungen herzustellen, den Menschen in seinem gesellschaftlichen Kontext zu betrachten. Voraussetzung ist immer ein kritisches Bewusstsein, das sowohl die eigene Position ins Auge fasst als auch die gesellschaftliche Realität und die brennenden Fragen der Zeit. Ziel der Festlegung – wer der Intellektuelle ist, was ihn auszeichnet – war es, ihn als denkenden und schreibenden Menschen zu charakterisieren, als jemanden, auf den man sich beruft, der medial präsent ist. Der 48 Ebd., 82. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 40 Intellektuelle ist Sprachrohr, übt Einfluss aus. So ist weder eine Revolution noch ein Gedankengebäude ohne ihn denkbar: „Es hat keine größere Revolution in der modernen Geschichte ohne Intellektuelle gegeben, wie es umgekehrt auch keine größere Konterrevolution ohne Intellektuelle gegeben hat. Intellektuelle sind die Väter und Mütter von Bewegungen gewesen und natürlich ihre Söhne und Töchter, ja sogar ihre Neffen und Nichten.“ 49 Daher kommt seinem Handeln Bedeutung zu, die selbstverständlich Verantwortung inkludiert. Hier stellt sich dann zwangsläufig die Frage, ob er seinen Verpflichtungen, die seine Rolle ihm verleiht, auch nachkommt. Anders formuliert: Die Rolle, die der Intellektuelle als Ideenlieferant innehat, impliziert gewisse genuine Anforderungen an seine Verantwortung, die die Frage nach intellektueller Redlichkeit notwendig inkludiert. Bevor aber die Frage nach intellektueller Redlichkeit behandelt wird, gilt es noch, einen Blick zurückzuwerfen und zu evaluieren, ob die Definition des Intellektuellen auch an der Wirklichkeit ausgerichtet ist, ob sie Realisierungen kennt. 2. Paradigmatische Intellektuelle der Gegenwart 2.1 Sir Karl R. Popper Poppers skeptische Grundposition Popper war stets bemüht, gemäß der skeptisch–kritischen Tradition, die grundsätzliche Unwissenheit des Menschen zu betonen. Er leitet dabei seine Position von Sokrates ab, der durch seine Fragen zur Einsicht gelangte, dass niemand wirklich etwas wisse. Als weise gilt für Sokrates nur der, der weiß, dass er nichts weiß. Neben Sokrates verortet Popper seine Geisteshaltung bei Xenophanes, der sagt, dass alles Wissen von Unsicherheit und Vermutung geprägt ist: „Sichere Wahrh eit erkannte kein Mensch und wird keiner erkennen Über die Götter und alle die Dinge, von denen ich spreche. 49 Ebd., 16. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 41 Selbst wenn es einem einst glückt; die vollkommenste Wahrheit zu künden, Wissen kann er sie nie: Es ist alles durchwebt von Vermutung.“50 Die Grundaussagen Sokrates’ und Xenophanes’ führen bei Popper jedoch nicht zu einem misstrauischen Zweifel, der jede Erkenntnis relativiert, sondern erwirken eine positive Sicht. Für ihn ist Skepsis gleichbedeutend mit „prüfend betrachten, prüfen, erwägen, untersuchen, suchen, forschen“ 51. Daraus zieht Popper die Konsequenz, dass Wissen immer bloß vorläufig ist und darum hypothetischen Charakter hat. Diese Aussage untermauert er mit Newtons Gravitationstheorie und ihrer Widerlegung durch Einsteins Relativitätstheorie. Jedes Wissen ist von Vermutung durchwebt und damit nicht absolut sicher, jede noch so abgesicherte Theorie darf nur als Annäherung an die Wahrheit verstanden werden. 52 Damit lehnt Popper den klassischen Wissensbegriff, der von der Idee der Autorität ausgeht und Wissen als Wahrheit, Gewissheit und durch zureichende Gründe für das Behauptete bestimmt, ab.53 Wahrheit als nie endgültig erfahrbare Komponente scheidet aufgrund des XenophanesTextes aus, Gewissheit und zureichende Gründe können wegen der Widerlegung Newtons durch Einstein ebenfalls nicht berücksichtigt werden. „Wissen“, verstanden als nicht triviales Wissen, das im Besitz von Autoritäten ist, existiert nicht mehr, weil persönliches „Wissen“ immer nur ein Segment abdeckt und unpersönliches, welches sich in Lexikonartikel wieder findet, nie von einer Person gewusst werden kann, zumal es sich auch permanent ändert. Persönliches Wissen existiert ausschließlich für kurze Zeiträume auf einem abgesteckten Gebiet, es ist nur temporär. 54 Dies hat für Popper weitreichende wissenschaftstheoretische Konsequenzen: Jede Theorie darf immer nur als Annäherung an die Wahrheit gelten. Diese Annäherung geschieht durch Vermutung und Widerlegung, gemäß seinem Falsifikationsprinzip, d.h. durch die von ihm so genannte 50 51 52 53 54 Xenophanes, zitiert nach: Popper, Karl R., Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit (gestohlen von Xenophanes und von Voltaire), in: Ders., Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren München 112002, 220. Popper, Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit, 218. Vgl. ebd., 222. Vgl. Popper, Über Wissen und Nichtwissen, in: Ders., Auf der Suche nach einer besseren Welt, 44. Vgl. Popper, Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit, 224f. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 42 „Methode der Elimination falscher Theorien“ 55. Wesentlich ist, dass der Wahrheitswert einer Theorie zwar nie bestätigt werden kann, weil es kein eindeutiges Kriterium der Wahrheit gibt, man also, falls man sie erreicht hat, nie sicher sein kann, sie auch zu besitzen. Was legitimerweise nur vorliegen kann, ist ein rationales Kriterium des Fortschritts in der Wahrheitssuche: Wissenschaft versucht als kritische Tätigkeit Fehler zu vermeiden, um der Wahrheit näher zu kommen. Eine Hypothese ist dann besser als eine andere, wenn sie (i) alles erklärt, was die alte auch erklärt, (ii) einige Fehler der alten Hypothese vermeidet und (iii) Dinge erklärt, die die alte nicht erklären konnte. Popper hält damit an der Idee der objektiven Wahrheit fest, er ist optimistisch, denn die Menschheit wird sich ihr immer mehr nähern. Jeder Fortschritt hat ein Kriterium, an dem er gemessen werden kann: die Annäherung an die Wahrheit. Daher bedeutet Wissenschaft Wahrheitssuche. 56 Rationaler Diskurs Die Wahrheitssuche vollzieht sich im Rahmen eines Wettbewerbs, der den Maßstäben rationaler Kritik und objektiver Wahrheit verpflichtet ist. Das Prozedere sieht folgendermaßen aus: „Auf diese Weise können sich rationale Kritik, Maßstäbe der Rationalität – einige der ersten intersubjektiven Maßstäbe – und die Idee einer objektiven Wahrheit entwickeln. Und diese Kritik kann sich mit der Zeit zu systematischen Versuchen entwickeln, das, was an den Theorien und Überzeugungen anderer Leute und auch an den eigenen schwach und falsch ist, zu entdecken.“ 57 Poppers Rezept ist demnach ganz einfach. Mehrere Theorien oder Hypothesen messen sich und versuchen ein Phänomen zu erklären. Es zählt somit zur Aufgabe der Forscher, die Theorie zu finden, die die größte Plausibilität aufweist. Wichtig ist, dass möglichst viele Theorien sich am Diskurs beteiligen, wobei gilt, dass hochwahrscheinliche Theorien grundsätzlich suspekt sind, weil sie nur eine geringe Erklärungskraft auf weisen können. Daher sind unwahrscheinliche, unkonventionelle Zugangsweisen vor55 56 57 Popper, Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis, 2000, 81. Vgl. Popper, Über Wissen und Nichtwissen, 50f. Popper, Vermutungen und Widerlegungen, 556. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 43 zuziehen, denn sie sind angreifbar, was heißt, dass aus ihren Fehlern gelernt werden kann. Nur so ist ein Fortschritt zur Wahrheit hin denkbar.58 Eine Gefahr, die die Zulassung möglichst vieler Theoreme zum Diskurs beinhaltet, ist Popper durchaus präsent: die Haltung eines unkritischen Relativismus. Dieser Position setzt Popper den „kritischen Pluralismus“ entgegen. Diese Grundhaltung fühlt sich der Idee der Wahrheit verpflichtet, während der Relativismus davon ausgeht, „dass alle Thesen intellektuell mehr oder weniger gleich vertretbar sind“59. Der unkritische Relativismus, der eigentlich alles toleriert, ermöglicht erst Anarchie, Gewalt und Unmenschlichkeit. Der „kritische Pluralismus“ dient dem Aufbau einer besseren Welt, er ist die Kontrollinstanz, die die Theorien zulässt, schlechte eliminiert. Dabei zeigt sich, dass die Prinzipien rationaler Diskussion zugleich ethische sind. Popper nennt drei signifikante Prinzipien, die Fehlbarkeit, die vernünftige Diskussion und die Annäherung an die Wahrheit. 60 Hinter diesen drei Prinzipien verbirgt sich seine Idee der pluralistischen Gesellschaft, die durch prinzipielle Gleichberechtigung aller Menschen gekennzeichnet ist. Selbstbefreiung durch Wissen ist die grundsätzliche Aufgabenstellung der Wissenschaft. Hier orientiert sich Popper an Kant, besonders an dessen „Aufklärungsschrift“ und argumentiert, dass Selbstbefreiung durch Wissen die Voraussetzung für die geistige Befreiung von Sklaverei, von falschen Ideen ist. 61 Duldsamkeit und Toleranz Selbstbefreiung durch Wissen muss sich immer gewahr sein, dass dieses Wissen bloß ein vorläufiges ist, immer nur eine besondere Form der Annäherung an die Wahrheit darstellt. Diese entspringt immer einem bestimmten Gesichtspunkt, sprich einem Erwartungshorizont. Das bedingt, dass ein unvoreingenommener Standpunkt nicht möglich ist. Diese subjektive Perspektive erlangt im Diskurs Korrekturen, der Horizont wird erweitert. Fehler und Einseitigkeiten werden durch die Kritik anderer aufgezeigt. Weil der Intellektuelle Fehler macht, muss er bereit sein, von an58 59 60 61 Vgl. ebd., 85. Popper, Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit, 216. Ebd., 225. Vgl. Popper, Selbstbefreiung durch das Wissen, in: Ders., Auf der Suche nach einer besseren Welt, 150. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 44 deren zu lernen und noch mehr: Er muss ihnen dankbar sein, dass sie ihn auf Irrtümer aufmerksam gemacht haben. Andererseits erwächst dadurch auch eine Verpflichtung, nämlich die Mitstreiter – dabei aber eingedenk der eigenen Irrtumsanfälligkeit – auf ihre Fehler aufmerksam zu machen.62 Diese offene Grundhaltung impliziert Toleranz. Jene ist immer angebracht außer bei der Intoleranz. Positiv gesehen ist sie ein Dulden, ein Nachsichtigsein und bezieht sich auf das Regulativ der Wahrheitssuche. Ideal ist eine Theorie, die viele Angriffsflächen hat, die zum Argumente– Suchen auffordert. Ziel ist nie Unangreifbarkeit, sondern der Diskurs, die Annäherung an die Wahrheit. Relevant wird Toleranz in der „neuen Berufsethik“, die Popper einfordert und die mit intellektueller Redlichkeit zusammenhängt. Diese ist gekennzeichnet durch das Prinzip gegenseitiger Anerkennung und wendet sich vehement gegen die überkommene Autoritätsgläubigkeit, die einen unvoreingenommen rationalen Diskurs verhindert. Autoritäten schützen sich selber, geben vor, sicheres Wissen zu besitzen und lassen jede Fragehaltung wie Suche und Neugier vermissen. Vor allem aber schützen sie sich gegenseitig und prägen so einen Dogmatismus und Rechthaberei. 63 2.2 Vaclav Havel Die oben angeführte Arbeitshypothese kennzeichnete den Intellektuellen als Menschen, der nicht berufsbedingt, sprich als Experte das Wort ergreift, sondern als jemanden, der aus einem inneren pädagogischen Bedürfnis die gesellschaftspolitische und mitmenschliche Umwelt durch sein geistiges Auge betrachtet und auf sie einwirkt. Havels kognitive Auseinandersetzung mit Gesellschaft und Politik, seine öffentliche Präsenz, der Blick für einen größeren Zusammenhang und sein persönlicher Einsatz weisen ihn als paradigmatischen Intellektuellen aus. So wie seine frühen Beiträge in Literatur– und Theaterzeitschriften als auch die Theaterstücke die Atmosphäre prägten, die schließlich zum „Prager Frühling“ führten, so werden auch seine Essays wie die 62 63 Vgl. Popper, Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit, 228. Vgl. ebd., 227. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 45 Reden als Staatspräsident, genauso wie seine Vorträge oder Zeitungsartikel gehört und nehmen Einfluss 64. Analyse der Gesellschaftsform Als wesentliches Konstitutivum des Intellektuellen erschien die kognitive Auseinandersetzung mit der Lebenswelt, d.h. auch dem politischen System. So unterscheidet Havel zwischen klassischen bzw. traditionellen und posttotalitären Diktaturen. Im Gegensatz zu posttotalitären Diktaturen sind klassische nicht historisch verankert, denn „… oft erscheinen sie als Laune der Geschichte, als zufälliges Ergebnis zufälliger sozialer Prozesse, beziehungsweise der Neigung einzelner oder der Massen.“ 65 Hingegen sind posttotalitäre Systeme historisch motiviert und Resultat einer richtigen Einschätzung von sozialen Widersprüchen einer bestimmten Zeit. Auszeichnendes Merkmal posttotalitärer Systeme ist deren elastische Ideologie, die einer säkularen Religion gleichkommt, und dem Menschen Sinn, Inhalt und Sicherheit zu geben vermag und so fatale Auswirkungen nach sich zieht. „Ein integraler Bestandteil der übernommenen Ideologie ist das Delegieren des Verstandes und des Gewissens an die Vorgesetzten, das heißt das Prinzip der Identifizierung des Machtzentrums mit dem Zentrum der Wahrheit …“66 Was die emotionale Situation seiner MitbürgerInnen betrifft, so bemerkt Havel in klassischen Diktaturen oftmals einen revolutionären Enthusiasmus, Heroismus und Opferbereitschaft. Klassische Diktaturen fördern Widerspruch, fordern heraus, während in totalitären Systemen allzu oft Resignation und Müdigkeit um sich greifen, denn klassische Diktaturen kennen an der Spitze eine Person, von der die Unterdrückung abhängt, während posttotalitären Systeme grundsätzlich durch die Ideologie bestimmt werden. Diese baut eine Machtstruktur auf und etabliert so etwas wie eine metaphysische Ordnung, vergleichbar der 64 65 66 Als Beispiel kann hier sein Artikel vom 18. 6. 2004 in der „Washington Post“, “Time to Act on North Korea”, p. A 29, gelten. Darin fordert er die EU, die USA, Japan und Südkorea auf, eine gemeinsame Position gegenüber Nordkorea einzunehmen: “They must make it clear that they will not offer concessions to a totalitarian dictator. They must state that respect for basic human rights is an integral part of any future discussions with Pyongyang.” Havel, Versuch in der Wahrheit zu leben, aus dem Tschechischen von G. Laub, Reinbek b. Hamburg 102000, 11. Ebd., 12. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 46 Monadologie von Leibniz: „Sie gibt allen diesen Gliedern die „Spielregeln“, das heißt bestimmte Regeln, Limits und Gesetzmäßigkeiten. Sie ist das grundlegende Kommunikationssystem, das der ganzen Machtstruktur gemeinsam ist und das sie integriert, ihr die innere Verständigung, Übertragung von Informationen und Anweisungen ermöglicht.“67 Als metaphysische Ordnung übernimmt sie dabei auch eine humanisierende Funktion: Ideologie gibt vor, sich auf die Welt zu beziehen und gaukelt dem Menschen dabei die Illusion vor, er sei eine sittliche und würdige Person, wobei sie in Wirklichkeit einzig und allein den Existenzverfall des Menschen beschleunige, Oberflächlichkeit, Anpassung und Verflachung bewirke.68 Der Mensch betrügt sich mittels der Ideologie selber, sie verunmöglicht wahres Menschsein und ist für das „Leben in Lüge“ verantwortlich. Die Ideologie entfaltet nicht nur in Bezug auf den persönlichen und individuellen Lebensvollzug eine lähmende Wirkung, sondern verändert auch ihre Funktion in Hinblick auf ihre gesellschaftspolitische Bedeutung: War die Ideologie anfangs noch dazu da, die politische Macht zu lenken und zu reglementieren, ihr die Legitimation zu verschaffen, so verkehrt sich ihre Rolle: „Die Macht fängt an ihr zu dienen. Die Ideologie ‚entmachtet die Macht’, sie wird quasi selbst zum Diktator. Es scheint dann, dass die These selbst, das Ritual selbst, die Ideologie selbst über Menschen entscheiden und nicht die Menschen über sie.“ 69 Gewaltlosigkeit Alle politische Macht dient in posttotalitären Regimen der Ideologie, es kann daher zu keinem alternativen politischen Leben kommen. Politik wird als Spiel um des Spieles willen wahrgenommen und hat jede Anbindung an alltägliche Sorgen verloren. Politische Veränderungen kommen deshalb nicht von Politikern, sondern von Mathematikern, Philosophen, Physikern, Schriftstellern, Historikern und einfachen Arbeitern, denn sie leben am Puls der Zeit und haben einen nüchternen Blick für die Wirklichkeit, der nicht durch Visionen und abstrakte Utopien verstellt ist. Der Kampf um die Freiheit, um die Verteidigung der Menschen– und Bürger67 68 69 Ebd., 19. Vgl. ebd., 15. Ebd., 20. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 47 rechte basiert dabei auf dem Legalitäts– und nicht auf dem Widerstandsprinzip. Widerstand ist nur dort angemessen, wo sich das System in Bewegung befindet wie beispielsweise in Kriegssituationen oder politischen, respektive sozialen Konflikten. Die posttotalitäre Gesellschaft ist hingegen stabil, die Menschen beschäftigen sich mit der Anhäufung von Konsumgütern und würden deshalb einen Widerstand nicht akzeptieren. Ein Aufstand würde die Bürger nur stärker an das System binden. Der eigentliche Grund, warum nicht der Widerstand gewählt wird, liegt nicht in diesen Überlegungen, sondern in der prinzipiellen Ablehnung von Gewalt, denn Widerstand setzt auf Gewalt und erzeugt deshalb auch (Gegen)Gewalt.70 Havel kennt nur eine Ausnahme, in der Gewalt zulässig ist: „Allgemein kann sie [die Dissidentenbewegung] dieses Prinzip nur als notwendiges Übel in extremen Situationen akzeptieren, wenn man sich der direkten Gewalt nicht mehr anders als durch Gewalt widersetzen kann, wenn der Verzicht darauf die Unterstützung der Gewalt bedeuten würden!“ 71 Jede Bewegung, die die Menschen– und Bürgerrechte einfordert, wird daher auf Gewalt verzichten müssen – eigentlich ist ihr diese sogar wesensfremd, denn sie setzt auf das Legalitätsprinzip. Dieses besagt wiederholtes öffentliches und offenes Auftreten, Insistieren auf Einhaltung der Gesetze und Hinweisen, dass dieses Begehren im Einklang mit den Gesetzen steht. Dieses Legalitätsgesetz wird von den Menschen immer spontan und universell akzeptiert. 72 70 71 72 Vgl. Havel, Sommermeditationen, aus dem Tschechischen von J. Bruss, Reinbeck b. Hamburg 1994, 130. Havel, Versuch, 62f. So sieht Havel im europäischen Pazifismus einen wesentlichen Auslöser für den 2. Weltkrieg, weil die Achtung vor der eigenen theoretischen Konzeption so hoch ist, dass ein Abrücken davon unvorstellbar wird. In diesem Zusammenhang stellt sich Havel natürlich die Frage, ob es sinnvoll ist, sich auf Gesetze zu berufen und deren Einhaltung einzufordern, wenn sie ohnehin nur Fassade sind und eine Form der totalen Manipulation darstellen. Dennoch ist dies die einzige Möglichkeit, zumal dabei die Verlogenheit des Systems zutage tritt: „Die Berufung auf das Gesetz ist nämlich genau der Akt des ‚Lebens in Wahrheit’, der potentiell den ganzen verlogenen Bau eben in seiner Verlogenheit bedroht: Er enthüllt immer wieder vor der Gesellschaft und vor ihren Machtstrukturen den rituellen Charakter des Gesetzes“ (ebd., 68). Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 48 Selbstreflexion Der Begriff der Opposition wird in den ehemaligen Ostblockländern immer mit dem des Dissidententums in Verbindung gebracht, wenn nicht sogar gleichgesetzt. Havel als einer der bekanntesten Dissidenten setzt sich mit diesem Terminus auseinander: Kennzeichnend ist (i) ihre nonkonformistische und kritische Einstellung, die sie öffentlich und systematisch darlegen, wodurch sie (ii) Respekt im In– und Ausland ernten und so im eigenen Land über ein gewisses Ausmaß an indirekter und tatsächlicher Macht verfügen. (iii) Ihre Kritik transzendiert den lokalen Kontext, wobei (iv) im Westen zumeist unabhängig von ihrem Beruf allgemein von Bürgerrechtlern gesprochen wird. (v) Dissidenten sind schreibende und intellektuell veranlagte Menschen. 73 Dieser positiven Charakterisierung steht ein gewisses Unbehagen prinzipieller Natur und persönlicher Eigenart gegenüber: Zum einen ist der Terminus etymologisch äußerst fragwürdig, denn „Dissident“ bedeutet „Abtrünniger“, was jedoch nicht zutrifft, denn der Dissident ist sich selber treu geblieben. Außerdem ist „Dissident“ keine Berufsbezeichnung für einen notorischen Nörgler und Unzufriedenen. Dissidenten finden sich in vielen Berufsgruppen und Dissidententum meint ursprünglich, eine gewisse Einstellung zu haben, nämlich das „Leben in Wahrheit“ zu leben. Irreführend ist weiter, dass der Eindruck erweckt wird, dass es sich hierbei um eine gesellschaftliche Kategorie handelt. Übersehen wird hier das bestimmende Moment der Zufälligkeit. Oft sind es bestimmte Situationen, die eigene Vergangenheit oder zufällige Umstände, die dazu führen, dass man opponiert. Vor allem mahnt Havel Bescheidenheit ein, wenn er betont, dass Dissidenten sich für andere Bürger einsetzen, aber durch eine solche Bezeichnung als etwas Besonderes gehandelt werden und damit eine Distanz zu ihren Mitbürgern aufgebaut wird. Der moralische Mensch steht im Zentrum In posttotalitären Diktaturen verliert der individuelle Mensch an Gewicht und Bedeutung, er wird funktionalisiert und dient ausschließlich der Aufrechterhaltung und Eigenbewegung des Systems. Der Mensch schuf aus freien Stücken ein solches System, wobei das posttotalitäre nur eine Fa73 Vgl. Havel, Versuch, 47f. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 49 cette einer generellen Unfähigkeit des modernen Menschen darstellt. „Die ‚Eigenbewegung’ unseres Systems ist nur eine bestimmte spezielle und extreme Version der globalen ‚Eigenbewegung’ der technischen Zivilisation. Das menschliche Versagen, das dieses System widerspiegelt, ist nur eine der Varianten des allgemeinen Versagens des modernen Menschen. Die planetare Krise der menschlichen Situation durchdringt freilich die westliche Welt genauso wie die unsere, nur dass sie dort andere gesellschaftliche und politische Formen annimmt.“ 74 Der große Unterschied zwischen West und Ost findet sich lediglich in der Manipulationsmethode. Diese problematische menschliche Situation wurzelt einmal in der Technikgläubigkeit und einmal im Verzichten und Verdrängen eines höheren Sinns, den er unter anderem im Christentum gegeben sieht. 75 Das Fehlen dieses höheren Sinns hat Auswirkungen, denn der Mensch verliert seine sittliche und geistige Integrität. 76 Diese moralische Krise bewirkt ein „Leben in Lüge“. Der Mensch ist der Konsumwertskala verfallen, hat kein 74 75 76 Ebd., 84. Havel rekurriert hier auf M. Heidegger, der von einer Krise der Demokratie spricht, und indirekt auf E. Husserl und dessen Vortrag „Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie“, gehalten im Mai 1935 in Wien. Besonders inspiriert ist Havel jedoch von Heidegger und seiner Techniksicht: „Die Technik – dieses Kind der modernen Wissenschaften, die wiederum ein Kind der neuzeitlichen Metaphysik ist – glitt dem Menschen aus der Hand, hörte auf, ihm zu dienen, versklavte ihn und zwang ihn, ihr bei der Vorbereitung seines eigenen Verderbens zu assistieren. Der Mensch weiß keinen Ausweg: Er verfügt über keine Idee, keinen Glauben, geschweige denn über eine politische Konzeption, die ihm die Herrschaft über die Situation zurückgeben könnte“ (ebd., 83). Mehrmals betont Havel in seinen Reden als Staatspräsident die Aufgabe des Staates, kirchliche Einrichtungen wie Ordenshäuser zu unterstützen, weil sie das geistige, sittliche und kulturelle Niveau der Staatsbürger heben. So beispielsweise in: Vaclav Havel, Demokratie ist das Werk des Menschen. Rede anlässlich der Föderalversammlung, am 29.6.1990, in: Ders., Angst vor der Freiheit. Reden des Staatspräsidenten, Reinbek b. Hamburg 1991, 92. Daneben findet sich bei Havel noch eine esoterische bzw. religionspluralistische Haltung: „That is the awareness of our being anchored in the earth and the universe, the awareness that we are not here alone nor for ourselves alone, but that we are an integral part of higher, mysterious entities against whom it is not advisable to blaspheme. This forgotten awareness is encoded in all religions.” (Vaclav Havel: The Need for Transcendence in the Postmodern World, in: http://www.worldtrans.org/ whole/havelspeech.htlm. Diese Rede hielt Havel am 4.7.1994 in der Independence Hall in Philadelphia.) Vgl. Havel, Angst vor der Freiheit. Von welcher Republik ich träume, Neujahrsansprache 1990, 11. Havel hält fest, dass der Mensch niemals nur Produkt der äußeren Welt ist, sondern die Fähigkeit hat, sich auf etwas Höheres zu beziehen, auch wenn versucht wird, diese Anlage zu zerstören. 50 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 Gefühl höherer Verantwortung, ist nur dem eigenen Überleben verpflichtet, er ist daher ein demoralisierter Mensch. 77 Ganz anders das „Leben in Wahrheit“, es ist ein moralischer Akt, denn der Mensch übernimmt Verantwortung für sich. Das „Leben in Wahrheit“ kennt vier Dimensionen, eine existentielle (man lebt authentisch), eine noetische (nüchterner und unvoreingenommener Blick für die Wirklichkeit), eine moralische (es ist beispielgebend) und eine politische. 78 Das „Leben in Wahrheit“ kann aktiv und passiv sein, d.h. Dinge einfach nicht mehr tun oder etwas Konkretes unternehmen, was das Größere darstellt. Das „Leben in Wahrheit“ ist zuallererst eine innere Haltung, die nicht auf Gesetzen beruht und auch nicht von idealen Gesetzen bewirkt werden kann. Gesetze schaffen nicht das Bessere, dieses ist immer ein Werk des Menschen. 79 Havel fordert daher die Hinwendung zum konkreten Menschen, dem Menschen im Hier und Jetzt und spricht von einer „existentiellen Revolution“ 80, die eine höhere Verantwortung impliziert und auf einer inneren Beziehung zum Mitmenschen basiert: „Es handelt sich dabei also um die Rehabilitierung solcher Werte wie Vertrauen, Offenheit, Verantwortung, Solidarität, Liebe.“81 Dazu braucht es nicht Institutionen, sondern kleinere Strukturen, persönliches Vertrauen und persönliche Verantwortung. Diese Forderung kann nur dann erfüllt werden, wenn jeder bei sich ansetzt und in seinem persönlichen Umkreis die Welt verändert.82 2.3 Carl Friedrich von Weizsäcker Es fällt nicht schwer, Carl Friedrich von Weizsäcker als Intellektuellen par excellence auszuweisen. Für ihn ist der Blick über die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen hinaus kennzeichnend, der eben nicht Ergebnisse eines Fachbereiches verabsolutiert, sondern seinen Blick auf das Ganze richtet. 77 78 79 80 81 82 Vgl. ders., Sommermeditationen, 131. Vgl. ders., Versuch, 28. Vgl. ebd., 69. Vgl. ders., Sommermeditationen, 118. Ders., Versuch, 87. Vgl. ders., Sommermeditationen, 132f. Havel setzt bei sich an: „Nämlich: unter allen Umständen mich bemühen, anständig, gerecht, tolerant und verständnisvoll zu sein, zugleich aber unbestechlich und nicht zu belügen, kurz gesagt mich bemühen, mit aller Kraft und dauernd in Übereinstimmung mit meinem Gewissen und meinem besseren Ich zu sein“ (ebd., 132). Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 51 So manifestieren sich in seinem Denken Einsichten aus Physik, Philosophie, Religion und Politik 83. Neben dieser kognitiven Auseinandersetzung mit der sinnlichen, geistigen und gesellschaftlichen Welt, sticht besonders sein öffentliches Engagement in sozialen und politischen Belangen hervor. Besonders in der Auseinandersetzung um die atomare Aufrüstung während der Zeit des Kalten Krieges wird er einer breiten Öffentlichkeit bekannt, wobei er nicht parteipolitische oder blockspezifische Interessen vertritt, sondern für das Wohl der Menschheit agiert 84. Wissenschaft als Kulturtechnik In Bezug auf Objektivität, Genauigkeit und Nachvollziehbarkeit der Naturwissenschaften wird der Physiker Weizsäcker vom Philosophen Weizsäcker relativiert: In der Wissenschaft herrscht der Empirismus. Erfahrungen werden gesammelt, die anschließend in mathematische Theorien transformiert werden, um dann für die Vorhersage von zukünftigen Erfahrungen verwendet zu werden. Dieser Empirismus, der deskriptiv oder dogmatisch verstanden werden kann, weist allerdings Schwächen auf: Der beschreibende Empirismus muss die Tatsache akzeptieren, dass die Beschreibungen nie wirklich genau sind und auch nicht erklären, wie Erfahrung überhaupt zustande kommt. Der dogmatische Empirismus erklärt die Erfahrung zur einzigen Grundlage menschlicher Erkenntnis, was allerdings nur eine wahre oder eine falsche Behauptung, nicht aber eine Tatsache darstellt. Nach Hume, Kant und Popper kann aus der Erfahrung keine wissenschaftliche Theorie logisch abgeleitet werden, weshalb man auch nicht aus der Kenntnis der Vergangenheit logisch auf die Zukunft schließen kann 85. Konsequenz aus diesen Überlegungen ist für Weizsäcker nicht ein Relativismus oder Skeptizismus, sondern die Suche nach einer 83 84 85 Gut erkennbar wird das in der Werkbiographie über Weizsäcker von D. Hattrup (Carl Friedrich von Weizsäcker. Physiker und Philosoph, Darmstadt 2004), in der Physik, Philosophie, Politik und Religion die Buchgliederung vorgeben und Weizsäckers Denken anhand dieser Themenschwerpunkte erläutert wird. In der „Göttinger Erklärung“ von 1957 sprechen sich Weizsäcker und andere Wissenschafter unmissverständlich gegen die Herstellung oder Erprobung von Atomwaffen aus und verweigern ihre Mitarbeit an solchen Projekten im Vorhinein. Vgl. Weizsäcker, Die philosophische Interpretation der modernen Physik. Erste Vorlesung, in: Köhler, Werner (Hg.], Reden in der Leopoldina. Zum 80. Geburtstag des Physikers, Philosophen und Leopoldina–Mitglieds, Leipzig 1992, 132–135. 52 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 neuen Zugangsweise. Diese findet er durch Thomas Kuhn, der Wissenschaft als ein Rätsellösen unter Anleitung eines bestimmten Paradigmas und wissenschaftliche Revolutionen als Veränderungen eines solchen Paradigmas versteht. Das Paradigma diktiert dabei die Regeln, nach denen die Wissenschafter forschen. In Anlehnung an Kuhn hängt für Weizsäcker die Krise des Empirismus direkt mit dieser Erkenntnis zusammen, denn die so genannten Tatsachen hängen von unserem eigenen Paradigma ab. Es gibt also keine selbstständige und unabhängige Erfahrungsgrundlage, die Sinnesdaten sind Resultat des jeweils vorherrschenden Paradigmas. Weizsäcker relativiert die Wahrheit der Naturwissenschaft: „Unsere Naturwissenschaft sagt, wie man in der Natur handeln kann; sie sieht die Natur so, wie sie der Willens– und Verstandeskultur erscheinen muss. Diese Erscheinung ist kein Schein, aber sie ist nicht die volle Wahrheit. Die volle Wahrheit wird keiner uns bekannten Kultur bekannt; jede Kultur hat ihr immanente Wahrnehmungsbedingungen.“ 86 Der dennoch nicht leugbare Fortschritt der Wissenschaften geschieht mittels Revolutionen, wobei die Entwicklung der Wissenschaft – in Rekurs auf Darwins Selektionstheorie – nicht eine „Entwicklung zu“, sondern eine „Entwicklung aus“ ist. Auf einer bestimmten Ebene agiert der Forscher nach den Regeln des jeweilig gültigen Paradigmas. Hier ist Philosophie kontraproduktiv. Wenn aber das überkommene Paradigma nicht mehr richtig greift, kommt jemand auf einen neuen Gedanken, löst damit eine Revolution aus und verabschiedet das alte Paradigma87. Bei dieser These von Kuhn, der Weizsäcker zustimmt, bleibt er allerdings nicht stehen, denn er ist davon überzeugt, dass es eine gute, allgemeine Theorie gibt, die die alte rechtfertigt und ihr eine Ex–post–Rechtfertigung verleiht, die sie als Grenzfall in die neue eingliedert. Der Weg der Physik führt daher trotz Ausdifferenzierung in vielen Subdisziplinen zur Vereinheitlichung 88. Das Wesen der Physik ist die Theorie und diese stellt neben Praxis und Kunst eine der drei großen Ebenen der abendländischen Kultur dar, die von den Griechen übernommen wurden. „Die Theorie, als der Zentralbegriff, das ist das distanzierte Anschauen des Wahren und Falschen, 86 87 88 Ders., Der Naturwissenschaftler, Mittler zwischen Natur und Kultur, in: Ders., Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, München, 100. Vgl. ders., Ebenen und Krisen in der Entwicklung der Wissenschaft, in: Köhler, Werner (Hg.], Reden in der Leopoldina, 276. Vgl. ders., Die philosophische Interpretation der modernen Physik, 136. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 53 distanziert vom Affekt, nur wissen wollen, was ist.“ 89 Damit das für die Griechen möglich wurde, bildeten sie die Theorie am Paradigma der Mathematik. Die Mathematik generiert dabei intellektuelle Gestalten, die sie nicht als erfunden, sondern als entdeckt bezeichnet. Hier findet sich nun die Verbindung von Physik, Mathematik und Wirklichkeit: „Theoretische Physik ist die Anwendung der Mathematik auf die Wirklichkeit.“ 90 Das Nachdenken über und das Umgehen mit Natur stellt jedoch nicht ein Privileg der Naturwissenschaft dar, sie ist nur eine besondere und vor allem auch kulturelle Verhaltensweise zur Natur, die für das Abendland kennzeichnend ist. Die mathematische Naturwissenschaft ist nicht in allen Hochkulturen vorhanden, auch ist sie in anderen Kulturkreisen kein großes Denksystem, sondern dient als handwerkliches Hilfsmittel für den Alltag91. Zwar wurde die mathematische Naturwissenschaft zum Kern der neuzeitlichen Kultur, doch führen Umweltschäden, Freiheitsverlust durch Krieg etc. die Kehrseite der Medaille vor Augen. Ihr unumschränktes Wahrheitsmonopol ist gebrochen, sie erweist sich als paradigmenbedingt. Wissenschaft, und insbesondere Naturwissenschaft, produziert Technik, die der Mensch nützt und mit der er umgeht, sie schafft also Kultur. Der Anwendungsbereich der Wissenschaften erzeugt Kulturtechniken, aber auch aus geistiger Sicht stellt sie eine eigene Ebene dar: „Kulturphilosophisch gesehen erscheint mir die Wissenschaft selbst, die Denkform der Theorie, die objektivierende, beweisende, begriffliche Erkenntnis als ein großes Paradigma. Schon die verstehende, hermeneutische Wissenschaft ist ein anderes Paradigma. Und neben der Wissenschaft stehen politische Moral, Kunst, Religion als eigene Wahrnehmungsweisen.“ 92 Es sind also nicht die negativen Folgen der Wissenschaft, wie Umweltzerstörung oder Waffenproduktion, die ihr die Vormachtstellung entziehen und ihr einen egalitären Rang unter den anderen Gesellschaftsbereichen einräumen, sondern die Einsicht, dass ihre Erkenntnis nicht Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Wissenschaft besitzt eine kulturelle und kulturbildende Rolle. Wissenschaftliche Technik vermittelt ein Denken und man kann nicht Produkte übernehmen, ohne dass man zugleich auch das Denken, 89 90 91 92 Ders., Ebenen und Krisen in der Entwicklung der Wissenschaft, 287. Ebd., 288. Vgl. ders., Der Naturwissenschaftler, Mittler zwischen Natur und Kultur, in: Ders., Der Garten des Menschlichen, 92f. Ders., Über die Krise, in: Ders., Bewusstseinswandel, München 1991, 47. 54 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 das hinter den Produkten steht und das diese Produkte erst möglich gemacht hat, übernimmt.93 Wissenschaft ermöglicht ein gewisses Denken, wird damit zum Kulturträger, wird aber and ererseits wiederum von der Kultur, die sie mitbestimmt hat, rückwirkend beeinflusst. Erkenntnisse der Naturwissenschaft verkünden nicht die volle Wahrheit, dürfen andererseits aber nicht als Scheinerkenntnisse bagatellisiert werden. Sie übernimmt eine Mittlerfunktion zwischen Natur und Kultur. Rechenschaft über die eigene Rolle Wenn man Weizsäckers biographische Notizen liest, so fällt sofort auf, dass er hier mit einer Bescheidenheit, Schlichtheit und einer Distanz zu sich selber seine persönliche Geschichte Revue passieren lässt, ohne dass dabei Eindringlichkeit und Authentizität zu kurz kommen. Schon im Alter von zwölf Jahren wird ihm die Zusammengehörigkeit von Physik und Philosophie bewusst.94 Der Sinn für das Ganze erwacht, doch macht ihm sein Mentor Heisenberg klar, dass er, um Philosophie betreiben zu können, zuerst Physik studieren müsse. Weizsäcker wird von der Überzeugung geleitet, dass wesentliche geistige Schritte in den Zeitaltern immer in anderen Gebieten getan werden. Als Mitbegründer der Quantenphysik und nach jahrzehntelangem Umgang mit ihr, bleibt er immer noch ein Fragender: „Was meint man eigentlich, wenn man nach ein paar Jahrzehnten des aktiven Umgangs mit der Quantentheorie sagt, man wünsche sich, diese Theorie zu verstehen? Zunächst vielleicht, dass man wagt, sich anhaltend über sie zu wundern. Man kann sich schon darüber wundern, was in der Wissenschaft „Verstehen“ heißt. Wer sich darauf versteht, ein Auto zu fahren, der versteht darum noch lange nicht, wie der Motor funktioniert. Wer sich darauf versteht, einen Motor zu bauen oder die Schrödingergleichung zu lösen, der 93 94 Vgl. ders., Der Naturwissenschaftler, Mittler zwischen Natur und Kultur, in: Ders., Der Garten des Menschlichen, 93. „Als Zwölfjähriger sah ich in einer Sommernacht den Sternenhimmel in seiner unbeschreiblichen Herrlichkeit. Ich wusste: hier ist Gott anwesend. Ich wusste auch: das sind Gaskugeln. Ich ahnte, daß beides verschiedene Weisen sind, wie sich dieselbe Wahrheit zeigt.“ (Weizsäcker, Rechenschaft vor der Öffentlichkeit: als Physiker zwischen Philosophie und Politik, in: Ders., Wahrnehmungen der Neuzeit, München 1985, 335.) Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 55 versteht noch nicht, warum die Gesetze gelten, die er benützt. […] Aber ich bin überzeugt, die großen Fortschritte der Wissenschaft, die seltenen Revolutionen, geschehen nur, wo diese Fragen wach geblieben sind.“95 Fortschritte in der Wissenschaft gibt es nur dort, wo die Verstehensfrage virulent geblieben ist. Ein wissenschaftlicher Standard darf nicht als Lösung eines Rätsels verstanden werden, sondern als Tor, durch das Fragezeichen eindringen. Fragehaltung und Bescheidenheit bestimmen im Alter seinen wissenschaftlichen Forschergeist. Während der Zeit des 2. Weltkrieges sieht er in seiner Funktion als Wissenschafter die Möglichkeit, durch den Bau einer Atombombe politischen Einfluss zu gewinnen. 96 Spätestens ab dem Zeitpunkt der ersten Atombombe ist für Weizsäcker klar, dass man sich als Naturwissenschafter fragen muss, wie man Naturwissenschaft betreiben kann, wenn sie solche politischen Auswirkungen hat. Dabei fungiert die Atombombe als ein Wecksignal, das aus dem Schlaf reißt und eine Erkenntnis zu Tage bringt: „Es gibt eine moralische Einsicht, der ich mich nicht habe entziehen können. […] Sie heißt in einem Satz zusammengefasst: Die Wissenschaft ist für ihre Folgen verantwortlich“ 97. Dieser Satz zeigt für Weizsäcker drei Dimensionen auf: 98 (i) Wissenschaft beginnt mit Neugier und Ehrgeiz, fördert aber ein Wissen, das Macht darstellt. Wissenschaft ist Handeln und dieses weist immer eine moralische Komponente auf. Eindringlich ist das Beispiel, das Weizsäcker gibt: Eltern zeigen einem Kind, wie ein Streichholz zu handhaben ist, gehen spazieren und sehen bei ihrer Rückkehr das Haus in Flammen. Genauso wenig wie das Kind für den Brand verantwortlich ist, 95 96 97 98 Ebd., 333f. In einem Interview, das H. Jaennecke vom „Stern“ 1984 mit Weizsäcker führte, heißt es: „Wenn ich nun eine Waffe mache, über die mit mir zu verhandeln niemand verhindern kann – vielleicht kriege ich Einfluß auf die Ereignisse, weiß der Himmel wie. Das war mein Motiv. Und ich sage nachträglich, ich bin nur durch göttliche Gnade gerettet worden – dadurch daß es nicht gegangen ist. Denn es wäre tödlich schief ausgegangen. Ich habe damals mit jugendlicher Leichtfertigkeit eine Sache unternommen, die ich nicht wieder anfangen würde, wenn ich heute in derselben Lage wäre.“ (Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Atomwaffe, in: Benzinger, O., (Hg.), Das Carl Friedrich von Weizsäcker Lesebuch, München 1992, 33.) Weizsäcker, Rechenschaft vor der Öffentlichkeit: Als Physiker zwischen Philosophie und Politik, in: Ders., Wahrnehmungen der Neuzeit, 340. Vgl. ebd., 340–344. 56 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 sind es die Mächtigen, wenn sie die Wissenschaft missbrauchen. Der Wissenschafter ist verantwortlich. (ii) Die Verantwortung des Wissenschafters muss dabei moralisch und nicht legal verstanden werden. Die legale Verantwortung ist unabhängig von Motiv und Gesinnung, sie betrifft ausschließlich die Übereinstimmung der wissenschaftlichen Forschung mit den geltenden Gesetzen. Die moralische Verantwortung besagt, dass das Motiv des Handelns, respektive des Forschens der moralischen Forderung entsprechen muss. (iii) Diese produktive Verantwortung bedeutet nicht Verzicht auf Wissenschaft und Wahrheitssuche. Der Wissenschafter ist Bürger und muss mit seinen Fähigkeiten an Welt– und Gesellschaftsveränderungen mitarbeiten. Er kann aber nicht von der Verantwortung entbunden werden, die Folgen und Verstrickungen seiner Arbeit rational zu durchdenken. Dies ist eine Form der Mitverantwortung, die in einer Demokratie übernommen werden muss. Für Weizsäcker hatten diese Überlegungen Konsequenzen: In der Zeit des Kalten Krieges eignete er sich militärisches Wissen an, um an der Verhütung eines Atomkrieges aktiv mitwirken zu können, außerdem engagierte er sich in der Energie– und Entwicklungspolitik. Als interdisziplinärer Wissenschafter registrierte er allerdings, dass es wenige Gleichinteressierte gibt, mit denen er gemeinsam um die Wahrheit rittern konnte. 99 99 „Unser Institut hat Analysen gegeben, engagierte, heterogene, unabgeschlossene. Was mir gefehlt hat, war die breite Konkurrenz. Wir waren in der Wissenschaft unseres Landes ein wenig allein. Es ist leichter, disziplinäre Wissenschaft zu machen als interdisziplinäre, und nach ein paar Anläufen kehr man zur leichteren Aufgabe zurück.“ (Weizsäcker, Rechenschaft vor der Öffentlichkeit: Als Physiker zwischen Philosophie und Politik, in: Ders., Wahrnehmungen der Neuzeit, 344.) Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 57 „Krise“ als Charakteristikum der Gegenwart Die Wahrnehmungsfähigkeit für Krisen 100 begründet Weizsäcker unter anderem mit einem Verweis auf sein Geburtsdatum. Seit seiner frühesten Kindheit ist er mit Kriegsvorbereitung und Krieg konfrontiert. Er belässt es jedoch nicht mit einem biographischen Hinweis, sondern schiebt ein kulturphilosophisches Argument nach: Die gegenwärtige Krise ist eine Krise der Hochkultur, die durch den Fortschritt der Technik und durch das abstrakte Wissen herbeigeführt wurde.101 Unter Technik versteht Weizsäcker die Bereitstellung von Mitteln für Zwecke, wobei die Zwecke freigehaltene Zwecke sind. Mittel zu besitzen, bedeutet Verfügungsgewalt und hat somit mit Macht zu tun. Auch wenn die Technik seit jeher zum Überleben notwendig war, ist sie für den Menschen doch eine Art Sucht und äußert sich in einem Drang nach Macht. Dieser ist rational durch die Angst vorm Gegner gerechtfertigt und der Angst vor dessen Drang nach Macht. Damit wird – ermöglicht durch die Technik – der Drang nach Macht zu einem isolierten Trieb.102 Gefordert ist daher Askese und Selbstbeherrschung sowie das Abstandnehmen vom kindlichen Allmachtstraum, alles zu machen, was möglich ist. Technik als Mittel für Zwecke hat nur dort ihre Berechtigung, wo es Zwecke gibt. Der sinnvolle Gebrauch der Technik erfordert eine Selbstbeschränkung. Das Krisenpotential der Hochkultur begründet Weizsäcker damit, dass sie, weil sie immer eine große Gemeinschaft darstellt, abstraktes Wissen produziert. Im Gegensatz zu großen Gemeinschaften herrscht in kleinen ein Quantifizierungs– und Objektivierungsverbot für gegenseitige persönliche Leistungen. In großen Gesellschaften müssen die Probleme des Zusammenlebens formal geregelt werden, wobei abstraktes Wissen, Der Begriff der Krise lässt sich nicht vorschnell als Chance oder als Anzeichen eines Untergangs bezeichnen. Im Bereich der Wissenschaft bedeutet Krise eine wachsende Unzufriedenheit mit dem vorherrschenden Paradigma und das Vorstadium der wissenschaftlichen Revolution. Eigentlich entstammt der Terminus aber der Medizin. Als ein Begriff des Arztes meint er nicht die Selbstbeschreibung des Patienten. Der Begriff der Krise wird als Konjunkturschwankung genauso in der Ökonomie verwendet. Krisen und die davor und danach angesiedelten – mehr oder weniger – stabilen Ebenen sind Eigenschaften fast aller zeitlichen Vorgänge. (Vgl. Weizsäcker, Über die Krise, in: Ders., Bewusstseinswandel, 66f.) 101 Vgl. ebd., 70. 102 Vgl. ders., Technik als Menschheitsproblem, in: Benzinger, O. (Hg.), Das Carl Friedrich von Weizsäcker Lesebuch, 114–119. 100 58 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 Recht, Geld und Macht entstehen. Das Krisenpotential der Hochkultur liegt nun im richtigen Umgang des Menschen mit diesen objektiven Strukturen. Vor allem hat der Mensch noch nicht gelernt, die Macht in adäquater Weise zu gebrauchen. 103 Die Kultur des 20. Jahrhunderts ist durch Theorie und Technik bestimmt, die der Mensch nicht wirklich handhaben kann. „Unser Problem ist, dass die Effizienz der neuzeitlichen Theorie und Technik – auch der Technik der Menschenführung – unsere Weltverantwortung in eine Dimension erweitert hat, auf welche die Menschheit nie vorbereitet war und heute nicht vorbereitet ist.“ 104 Diese Krise kann nur positiv gemeistert werden, wenn die Wissenschaft erwachsen wird, d.h. wenn sie nicht nur legal, sondern auch moralisch die Verantwortung übernimmt, indem sie auf die Konsequenzen der Forschung ebenso viel Sorgfalt verwendet wie auf die Forschung selber. Neben dieser kulturellen Krise kennt Weizsäcker auch noch die militärische und wirtschaftliche. Die militärische ist durch den drohenden Atomkrieg gekennzeichnet und die wirtschaftliche durch zügelloses Bevölkerungswachstum, durch Vernichtung der ökologischen Grundlagen und das Fehlen einer politischen und wirtschaftlichen Weltordnung, die mit durchsetzbaren Gesetzen ausgestattet ist. Ein weiteres Krisenmoment erkennt Weizsäcker in der gesellschaftlichen Stabilität. 105 Er unterscheidet zwischen subjektiver Gerechtigkeit, sie bezeichnet gerechtes Handeln, und objektiver Gerechtigkeit, die einen gerechten gesellschaftlichen Zustand meint. Beide hängen durch die kantsche Unterscheidung von Legalität (Handeln gemäß dem Gesetz) und Moralität (Handlung aus Achtung vor dem Gesetz) zusammen. Relevant wird diese Differenzierung im politischen Diskurs. Gerechtigkeit kann es nur geben, wenn es auch Freiheit, d.h. politische Freiheit gibt. Das beinhaltet eine Beschränkung unseres Urteils auf die Legalität der Handlungen der Mitbürger und garantiert die Äußerungsfreiheit. Die Krise zeigt sich nun weniger in der Beschneidung der Äußerungsfreiheit, sondern in der Beurteilung der Motive der Aussagen des Anderen. Dies kommt einer Bewertung und Aburteilung des Mitmenschen gleich. Der Mitmensch ist Vgl. ders., Über die Krise, in: Ders., Bewusstseinswandel, 68f. Ebd., 65. 105 Vgl. ders., Soziale Gerechtigkeit, in: Benzinger, O. (Hg.), Das Carl Friedrich von Weizsäcker Lesebuch, 151–156. 103 104 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 59 jedoch unbedingt ernst zu nehmen. „Es gibt im menschlichen Denken und zumal im Denken des Westens eine Tendenz, die menschliche Person für eine letzte Realität zu halten. Dies ist nicht bloß Egoismus. Es ist auch die Haltung fundamentaler Ethik, die nicht erlaubt, irgend etwas ernster zu nehmen als den Mitmenschen.“ 106 2.4 Evaluierung Das vorige Kapitel stellte Grundgedanken und zentrale Äußerungen von Intellektuellen dar. Sinn dieses Unterfangens war es nicht, diese ohnehin bekannten Personen vorzustellen, sondern sie als paradigmatische Intellektuelle auszuweisen. Lassen sich nun diese Personen und ihre Gedanken, ohne sie modifizieren zu müssen, in die getroffene Definition von Intellektuellen eingliedern? Ziel dieses Abschnittes ist es, noch einmal den einen oder anderen Kerngedanken dieser Denker aufzunehmen, um zu demonstrieren, dass die angeführte Definition ihre Berechtigung hat. Zuerst wurde festgestellt, dass sich der Intellektuelle kognitiv mit menschlichen und gesellschaftlichen Problemstellungen auseinandersetzt. Bei Popper könnte man einwenden, dass die genannten gesellschaftlichen Problemstellungen nur solche gedanklicher Art seien, die das tägliche Leben gar nicht berührten. Seine skeptischen und kritischen Überlegungen schweben in einem theoretischen Raum, der die Alltagswelt – ausgenommen die einiger (Geistes)Wissenschafter – gar nicht berühre. Den Blick für die Gesellschaft habe vielmehr Havel, denn er erkenne die Sorgen der Mitmenschen. Eine solche populistische Argumentation verkennt jedoch, dass alles, bevor es gesellschaftlich greifbar wird, in theoretischer Form durchdacht wird. Es drängen nicht nur Ideologien als theoretische Konstrukte in die Verwirklichung, sondern genauso grundsätzliche Überlegungen wie: Persönliches und unpersönliches Wissen sind hypothetisch und daher verbesserungsfähig. So lässt sich heute in der westlichen Welt durchaus ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Letztbegründungen und absoluten Wahrheitsansprüche feststellen. Dass sich der Mensch im Prozess der Wahrheitssuche befindet und nicht im Besitz der Wahrheit ist, ist eine zentrale Aussage Poppers, die sich in der Einstellung vieler Menschen manifestiert hat. Dass Poppers Gedanken gesellschaftlich relevant 106 Ders., Wer ist das Subjekt in der Physik, in: Ders., Der Garten des Menschlichen, 186. 60 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 sind, zeigt weiters, dass „Macht“ oder „sicheres Wissen“ in der Geschichte immer wieder zu Gewalt und Unmenschlichkeit geführt haben. Popper setzt sich kognitiv mit diesen gesellschaftlichen Problemstellungen auf theoretische Weise auseinander, wobei seine Stoßrichtung immer der konkrete Mensch ist. 107 Von diesem Standpunkt aus sind Havels Ausführungen über posttotalitäre Regime nicht weniger theoretisch. Besonders zeigt sich das in der Beschreibung der Funktion der Ideologie, die einen monadologischem Charakter aufweist, d.h. sie gib die Spielregeln, die Kommunikationsweise, kurz die innere und äußere Ordnung vor. Theoretisch heißt hier nicht weltfremd. „Theoretisch“ muss hier im Sinne C.F. von Weizsäckers als frei von Affekten verstanden werden, als distanziertes Anschauen108. Der nüchterne Blick von außen hilft der Gesellschaft. Ähnlich wie bei Havel – nur motiviert durch einen anderen Anlass – nahm auch C.F. von Weizsäcker mit seinem Engagement für ein atombombenfreies Deutschland zu virulenten gesellschaftlichen Fragen Stellung. Auch diese Auseinandersetzung erfolgt kognitiv und zuerst auf einer theoretischen Ebene. Anfangs arbeitet er am Bau einer Atombombe mit und überredet sogar Heisenberg dazu, später diskutiert er mit Wissenschaftern aus Deutschland über die Sinnhaftigkeit eines Atombombenprogramms und erarbeitet dann gemeinsam mit diesen die „Göttinger Erklärung“ und initiiert mit Jürgen Habermas Friedensforschung am Starnberger Max–Planck–Institut. Neben der kognitiven Beschäftigung mit gesellschaftlichen Problemen verbindet diese Denker ebenso die Nachvollziehbarkeit ihrer Reflexionen. Popper steht in der skeptischen Tradition und rekurriert dabei auf historische Größen wie Xenophanes oder Sokrates und stützt seine Argumentation auf überprüfbare Einsichten, wie die des hypothetischen Wissens auf die Widerlegung der Gravitationstheorie durch die Relativitätstheorie. So wendet Popper in „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (Bern 1957) gegen Platons Kriterium, dass der Staat für Sittlichkeit zu sorgen hätte, ein, dass der Staat eine Schutzfunktion für die einzelnen Bürger übernehmen müsse. Genauso ist die Frage „Wer soll regieren?“ falsch gestellt. Vielmehr müsse es heißen, wie lassen sich politische Institutionen so gestalten, dass schlechte Herrscher möglichst wenig Schaden anrichten können. Im Brennpunkt des Interesses stehen also der einzelne Mensch und seine Freiheits– und Selbstverwirklichungsrechte. 108 Vgl. Weizsäcker, Ebenen und Krisen in der Entwicklung der Wissenschaft, in: Köhler, W. (Hg.)., Carl Friedrich von Weizsäcker, Reden in der Leopoldina, 276. 107 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 61 Havels Beschreibung des Menschen in klassischen Diktaturen und posttotalitären Systemen lässt sich auch bei anderen Autoren – wenn auch mit anderer Stoßrichtung – nachlesen. 109 Die konzise Begriffsanalyse von „Opposition“ und „Dissidententum“, die Konsumabhängigkeit des Menschen in Ost und West, der Verlust des Gefühls für Verantwortung und die Negation des „Lebens in Wahrheit“ haben noch immer nicht an Aktualität verloren. Weizsäckers Sichtweise der (Natur)Wissenschaft als einer Kulturtechnik neben anderen, die Nivellierung ihres Wahrheitsanspruchs, die Sichtweise von Technik als Bereitstellung von Mitteln für Zwecke oder die Interpretation der Gegenwart als Krisenebene und Durchgangsstadium zu einer neuen Entwicklungsstufe scheinen sehr plausibel und sind gut begründet. Was die präsentierte Öffentlichkeit angeht, so finden sich diese in den Veröffentlichungen der Fachwelt genauso wie in Zeitungsartikeln oder Vorträgen. Eindrucksvoll sind hier vor allem die Vortragsreisen von C.F. von Weizsäcker nach seiner Pensionierung im Jahr 1980. Auch V. Havel wird immer wieder in die USA zu Vorträgen eingeladen und schreibt Kolumnen für die „Washington Post“. Daneben kennt man ihn natürlich als Redner in Europa.110 Denselben öffentlichen Wirkgrad kann K.R. Popper111 beanspruchen. Die sensitive und sensible Öffentlichkeit als Organe zur Aufnahme des Zeitgeistes variieren, sind sie doch von der jeweiligen Gesellschaftsform und den darin aufscheinenden besonderen Umständen geprägt. Die Reflexionen und Gedanken dieser Intellektuellen betreffen nicht nur den lokalen Kontext, sondern weisen über den jeweiligen Kulturkreis hinaus. Poppers Bücher sind auch in Sprachen übersetzt, die mit der abendländischen Kultur wenig gemein haben. So kennt man Übersetzungen ins Chinesische, Arabische oder in einige afrikanische Sprachen. Weizsäckers Arbeiten am Max–Planck–Institut beschäftigten sich mit dem Nord–Süd–Konflikt und mit Umweltzerstörung, Havels Gesellschaftsanalyse trifft genauso auf alle totalitär geführten Staaten zu. Ein LokalkoZu denken ist hierbei an russischen Autoren wie Alexander Solschenizyn. So hielt er 1990 die Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele und im gleichen Jahr die Eröffnungsansprache beim Gipfeltreffen der KSZE in Helsinki. 111 Als Beispiel neben vielen anderen sei hier der Vortrag „Erkenntnis und Gestaltung der Wirklichkeit“ erwähnt, den er im Rahmen des „Forum Alpbach“ im August 1982 hielt. 109 110 62 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 lorit lässt sich zwar in der Argumentation aufzeigen, doch weisen die Überlegungen durchaus ein universalistisches Moment auf und sind daher global relevant. Julien Bendas Einwand, der Intellektuelle sei in partielle Interessen verstrickt, kann nicht gelten, denn sowohl Weizsäcker als auch Havel agieren in ihrem Denken blockfrei. Ihnen geht es um die Freiheit und Unabhängigkeit des Menschen wie um seine friedvolle Existenz. Allen gemeinsam ist als Anliegen der bessere Mensch. 3. Intellektuelle Redlichkeit 3.1 Akademische Redlichkeit Eine bereits getroffene Differenzierung unterscheidet zwischen intellektueller Arbeit und intellektueller Tätigkeit. Akademische Redlichkeit fällt in den Zuständigkeitsbereich intellektueller Arbeit und betrifft deshalb alle, die in Forschung und Lehre tätig sind. Beispiele akademischer Unredlichkeit finden sich in Forschungs– und Wissenschaftsskandalen. Hierunter fallen Plagiate beim Abschreiben sowie das Fälschen und Frisieren von Daten. Ein zwar harmloses, aber anschauliches Beispiel ereignete sich während der Zeit des Kalten Krieges: So erfanden ein amerikanischer und ein britischer Wissenschafter zwei westliche Forscherkollegen, W. Gehring und M. Falkenstein, die in den 1980ern als erste den Error–Detektor112 mittels Instrumenten nachwiesen. Sie wollten damit den Vorsprung russischer Wissenschafter nivellieren. Viel gravierender nehmen sich da schon die Manipulationen in chemischen, biologischen oder medizinischen Laboratorien aus, bei denen unliebsame Daten vertuscht und eigentlich nicht aussagekräftige Daten den Status von unumstößlichen und in die Zukunft weisenden Fakten erhalten.113 Mit solch bewusst veränder- Der Error–Detektor beschreibt einen Mechanismus, der unser Handeln und unsere Umgebung permanent auf Richtigkeit überprüft. Wenn keine Probleme auftreten, nehmen wir unsere Umgebung unbewusst wahr. Sobald sich nun aber ein Fehler ereignet, merken wir jedoch jäh, dass z.B. die Waschmaschine nicht mehr schleudert oder der Puls rast. Vgl. geoscience online: http://www.g–o.de/index.php?md=focus_ detail2&f_id=110&rang. 113 In diesem Zusammenhang ist die Rekonstruktion des Falls Heinz Breer von U. Schnabel und W. Bartens in der ZEIT (Müde Schnüffler im Labor, Nr. 21/03) aufschluss112 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 63 tem Datenmaterial fließen dann Drittmittel, Gelder aus Industrie und Privatwirtschaft. Besonders problematisch wird die Situation dann, wenn Krebsforscher wie Friedhelm Hermann in gleich 94 Fällen der Datenfälschung überführt werden.114 Gefälschte Daten lukrieren Drittmittel, damit weitergeforscht werden kann, so dass die Pharmaindustrie Medikamente produzieren kann, die dann den Patienten zugute kommen. Akademische Redlichkeit bedeutet daher gewissenhaftes und ehrliches Arbeiten. Seriöses Arbeiten schützt zwar nicht vor Irrtümern, doch sind diese nichts Ungewöhnliches, wenn ein Forscher aufgrund seiner Daten eine Theorie aufstellt, die später nach einer neuen Dateninterpretation einer neueren Theorie weichen muss. Zudem lassen Daten mitunter mehrere Theorien zu, weshalb Experimente durchgeführt werden, damit eine Theorie bestätigt wird. Kommt es zu keiner Bestätigung, wird die Theorie verworfen. Wird dieses Grundprinzip experimenteller Wissenschaft nicht eingehalten und werden einmal gewonnene und außerordentliche Ergebnisse nicht mehr überprüft und wird weitergearbeitet, als wären die Daten unumstößlich, dann kann man nicht mehr von gewissenhaftem Arbeiten sprechen, denn Ungenauigkeiten und Datenschlampigkeit haben Methode. Der Skandal um Friedhelm Hermann war ausschlaggebend, dass sich Wissenschaftsinstitutionen wie das Max–Planck–Institut mit dem Thema wissenschaftliche Redlichkeit auseina ndersetzten. 115 Der Berufsverband Deutscher Soziologen (BDS) setzte sich 1993 mit dem Thema der guten wissenschaftlichen Praxis auseinander und konnte sich auf einen Ethikkodex116 einigen. Hier werden Anforderungen wie Integ rität und Objektivität bei der Arbeit, Beachtung der Persönlichkeitsrechte der Untersuchten (z.B. freie Entscheidung bei der Mitwirkung an und Einwilligung zu Experimenten), Fairness beim Publizieren u.a. genannt. Besonders in Hinblick auf die Persönlichkeitsrechte der Untersuchten kann die Wissenschaft die Übernahme von Verantwortung nicht außer Acht lassen. Redliche wissenschaftliche Arbeit hat ethische Implireich und interessant. Sie bereichten von den Problemen, mit denen der Informant in seiner zukünftigen wissenschaftlichen Karriere zu rechnen hat. 114 Vgl. ZEIT, Nr. 29/2001 bzw. Nr. 21/2003. 115 So verabschiedete der Senat des Max–Planck–Instituts am 24. November 2000 in Berlin einen für alle WissenschafterInnen verbindlichen Kodex für wissenschaftliche Redlichkeit und Verantwortung in der Forschung. Siehe: http://www.mpg.de/pri00/hg_regeln.htm 116 http://www.userpage.fu–berlin.de/%7Eifs/bds/ethkod.html 64 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 kationen. H. Lenk und M. Maring erarbeiteten unterschiedliche Typen und Dimensionen von Verantwortung. Sie sprechen (i) von der Rollen– und Aufgabenerwartung (Rollenpflichten, spezifische Aufgabenverantwortung, Loyalitätsverantwortung, kooperative Verantwortung von Institutionen) und von (ii) der universalmoralischen Verantwortung. Hierzu zählen die direkte (gegenüber Personen) und die indirekte (Folgen von Handlungen und Unterlassungen) Verantwortung, die Selbstverantwortung, die höherstufige (Vertragspflichten) und die moralische Verantwortung von Institutionen. 117 Akademische Redlichkeit, respektive gute wissenschaftliche Praxis, beschränkt sich nicht nur auf die Fehlerfreiheit im Vorgang der Untersuchung oder Forschung, sondern sprengt den reinen wissenschaftlichen Rahmen, weil das Umfeld (Personen, Institutionen etc.) ebenfalls berücksichtigt werden muss. Der Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Ethik scheint auch in den „Ethischen Grundsätzen für gute wissenschaftliche Praxis“ der Universität Salzburg auf. Es wird ausdrücklich hervorgehoben, dass wissenschaftliche Unredlichkeit die Wissenschaft schädigt und deshalb auch die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft nicht wahrnimmt.118 Akademische Redlichkeit betrifft natürlich gleichfalls den geisteswissenschaftlichen Sektor. Hier ist es vornehmlich der Umgang mit fremdem geistigen Eigentum, das nicht ordnungsgemäß wiedergegeben oder zitiert wird. Als besondere Form der akademischen Redlichkeit kann die journalistische Tätigkeit angesehen werden. So listet der Ehrenkodex119 für die österreichische Presse Grundsätze für die publizistische Arbeit auf: Er spricht von Wahrhaftigkeit, Sauberkeit und Korrektheit. Daneben findet Vgl. Lenk, Hans und Matthias Maring, Ethikkodices und Verantwortung in der Soziologie und in den Sozialwissenschaften, in: Lübschen, Günther (Hg.], Das Moralische in der Soziologie, Opladen 1998, 300f. 118 Vgl. http://www.sbg.ac.at/organisation/senat/aktuelles/uniethik.htm. Erwähnenswert ist hierbei die Muss–Bestimmung, dass diese Grundsätze dem wissenschaftlichen Nachwuchs und den Studenten zu vermitteln sind. 119 Die kurze Version findet sich im Internet unter http://www.religionsfreiheit.at/ ehrenkodex.htm und spricht von Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit und dem eigenen Gewissen sowie von Gefahren der Einflussnahme von Personen auf die Zeitung als auch von Schreibenden auf öffentliche Personen. Die längere Version hingegen (http://www.aurora–magazin.at/journalismus/kodex.++htm) pflegt einen allgemeineren Ton und hebt die ethische Dimension des Schreibens hervor. 117 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 65 man noch für verschiedene andere Berufsgruppen wie z.B. Ingenieure oder Richter fachspezifische Anleitungen zur Redlichkeit. Gemeinsam ist diesen Richtlinien, dass sie auf die jeweilige (intellektuelle) berufsspezifische Arbeit zugeschnitten sind und seriöses Arbeiten garantieren wollen. Akademische Redlichkeit meint daher Techniken, die in der gewissenhaften Ausübung einer Profession eine wesentliche Aufgabe erfüllen. Hiervon ist die intellektuelle Redlichkeit zu unterscheiden. Weil intellektuelle Tätigkeit ein anderes Betätigungsfeld als intellektuelle Arbeit hat, nämlich einen Beitrag zur Lebensorientierung und Sinnfindung zu leisten, unterscheiden sich auch ihre Aufgabenbereiche. So wie auf den Experten die akademische Redlichkeit maßgeschneidert ist, so gehört zum Intellektuellen die intellektuelle Redlichkeit. 3.2 Hinweise auf intellektuelle Redlichkeit Nachdem akademische Redlichkeit als Arbeitstechnik und Methode charakterisiert wurde, scheint es sinnvoll zu sein, intellektuelle Redlichkeit als innere Haltung, genauer als Grundhaltung und geistiges Fundament für alles Denken und Schreiben zu verstehen. Als Einstellung ist sie bestimmendes Moment des Intellektuellen. Intellektuelle Redlichkeit kann nicht etwas Formales, wie etwa beim Experten das Einhalten bestimmter Regeln, bedeuten, sondern wird als geistiges Prinzip, das sich inhaltlich manifestiert, aufgefasst. Was sind nun die markanten Inhalte und Motive, die intellektuelle Redlichkeit kennzeichnen? 3.2.1 Humanistische Einstellung Der Begriff Humanismus120 signalisiert immer, dass es um den Menschen geht und impliziert zugleich ein pädagogisches, politisches oder anthro120 Der Begriff Humanismus weist in mehrere Richtungen. Einmal bezeichnet er (i) eine Richtung in der Pädagogik und indiziert die Beschäftigung mit dem, was der Ausbildung einer höheren Kultur des Menschen dient, und einmal (ii) bestimmt er eine Epoche, vornehmlich die Zeitspanne des 14. und 15. Jahrhunderts, die auf Inhalte der Antike zurückgriff. Weiters (iii) wird er im 20. Jahrhundert gerne für eine weltanschauliche Position bzw. für ein bestimmtes Philosophieren gebraucht. So fragt beispielsweise J.P. Sartre expressis verbis in einem Buchtitel „Ist der Existentialismus ein Humanismus?“. Auch H. Marcuse, der als Entdecker der frühen Marx–Schriften gilt, bezeichnet den Marxismus als Humanismus. 66 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 pologisches Programm. Zielführend scheint es zu sein, wenn man Humanismus nicht als einen abstrakten Begriff verwendet und versteht, sondern von Humanismus nur in Hinblick auf fassbare Beispiele spricht. Wenn daher als ein wesentliches Substrat intellektueller Redlichkeit die humanistische Einstellung angeführt wird, dann besagt das, dass der jeweilige Intellektuelle in seiner Äußerung konkrete menschliche oder gesellschaftliche Situationen diskutiert. Besonders evident ist diese Einstellung bei V. Havel: Er opponiert gegen die Ideologie und die Politik, die den Menschen anonymisiert und damit Unterdrückung herbeiführt: „… je weniger irgendeine Politik von dem konkreten menschlichen „hier und jetzt“ ausgeht, je mehr sie sich an irgendein abstraktes „irgendwo“ und „irgendwann“ klammert, umso leichter kann sie zu einer neuen Variante der Versklavung des Menschen werden.“ 121 Intellektuelle Redlichkeit bedeutet daher nicht, in sozialen, politischen u.a. Visionen das Pro und Kontra um seiner selbst willen zu analysieren, sondern das Dafür und Dagegen in Bezug auf den Menschen zu untersuchen. Das Verweilen in einem theoretischen Rahmen kommt einem Spiel–Spielen gleich, es verliert seine Anbindung an die Realität. Thema ist hier nicht der Streit um den Primat von Theorie oder Praxis, denn der Intellektuelle wurde als Person beschrieben, die sich kognitiv mit ihrer Umwelt auseinandersetzt. Der Intellektuelle ist deshalb ohnehin dem Bereich des Denkens zuzuschreiben, allerdings bleiben seine Reflexionen nicht auf den Intellekt bezogen, sondern zielen auf den Menschen ab. Ein außergewöhnliches Beispiel für eine humanistische Einstellung in Geistes– und Naturwissenschaft kann man bei Weizsäcker entdecken: Wenn er der Frage nachgeht, wer das Subjekt in der Physik sei, 122 gibt er zu bedenken, dass die aristotelische Philosophie den Weg in die Erfahrungswissenschaften vorgab, so Fortschritt ermöglichte, wodurch der Mensch aber das Wahrnehmungsvermögen für die Einheit verlor. Konsequenz war die Abnahme von Harmonie und Weisheit, die dem Menschen Orientierung ermöglichen. Die moderne Physik, d.h. die Quantenphysik, kehrt diesen Prozess wieder um, reduziert die Vielheit und Diversität und rückt den Menschen wieder ins Zentrum. Die Quantenphysik war der Anlass, dass der Beobachter, respektive das Subjekt, ausführlich diskutiert 121 122 Havel, Versuch, 41. Vgl. Weizsäcker, Wer ist das Subjekt in der Physik, in: Ders., Der Garten des Menschlichen, 169–186. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 67 wurde. Aus dieser Diskussion ging hervor, dass man sich von der descartschen Trennung von Subjekt und Objekt distanzieren musste. Objekte und Subjekte existieren als solche nur für endliche Subjekte. Fakten kann es nur geben, wenn es Subjekte gibt. Fokussiert das Subjekt nun ein bestimmtes Objekt, kommt es immer zu einer indirekten Wahrnehmung der dieses Objekt umgebenden Einheit. „In jedem Begriff ist eine Mitwahrnehmung von Einheit, aber die Einheit selbst kann nicht direkt durch Begriffe beschreiben werden, denn dies ließe sie von der Vielheit abhängen; Vielheit jedoch, wie sie in Begriffen beschreiben wird, beruht auf der begleitenden Einheit. Die Quantentheorie geht sogar über dieses alte platonische Argument hinaus. Vielheit ist letztlich nicht wahr. Der Begriff eines isolierten Objekts ist in der Quantentheorie nur eine Annäherung, und eine schlechte.“ 123 Aus naturwissenschaftlicher Sicht ist also die letzte Wirklichkeit eine Einheit. Die Wahrnehmung der Aufsplitterung und Zerrissenheit der Welt, die zur Desorientierung des Menschen führte, hat einen Mitgrund in einem bestimmten Weltbild, das durch Natur– und Geisteswissenschaft geschaffen wurde. Weizsäcker bemerkt gegenwärtig eine Tendenz zur Umkehr und registriert Anzeichen dafür, dass sich Harmonie und Weisheit wieder einstellen, ohne dass dabei gewonnenes positives Wissen verloren geht. Es wird nur neu eingeordnet und interpretiert. So wie Scholastik, Naturwissenschaft und industrielle Revolution die Einheit von Sippe und Familie sowie die Einheit von Mensch und Natur zerstört haben, so schufen sie doch eine wirtschaftliche und informationelle Einheit der Menschheit, der eine politische folgen wird. So wie die Quantenphysik den Menschen wieder ins Zentrum rückt, so wird in einer neuen politischen Weltordnung die Menschheit, respektive ihr Überleben, das primäre Interesse sein. Die humanistische Einstellung Weizsäckers zeigt sich eben darin, dass er auch in der Physik eine Diskussion über die Rolle des Menschen mitgestaltet hat und dabei den Bogen zu anderen Disziplinen hin spannt. Man kann daher sagen, Weizsäcker propagiert eine neue Anthropozentrik, die von der Physik ihren Ausgangspunkt nimmt und den Menschen als eine letzte Realität setzt. 123 Ebd., 185. 68 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 3.2.2 Kritische Grundposition Eine kritische124 Grundeinstellung mobilisiert gegen Absolutheits– und Letztansprüche. Diese manifestieren sich in der Wissenschaft genauso wie in bestimmten Weltsichten, gesellschaftlichen und politischen Konstellationen. Profunde Kritik setzt immer die Kenntnis und Interpretation eines gegenwärtigen Zustands voraus. Die Auseinandersetzung mit momentanen Verhältnissen bedingt dabei nicht immer ein Schlechtreden, sondern kann sich darauf beschränken, Chancen und Risken, Tendenzen oder Perspektiven aufzuzeigen. Kritik im Sinn von etwas prüfen, beurteilen, beinhaltet daher nicht zwangsläufig ein Negativurteil. Neben dieser aktiven Form, die Defizite bzw. Möglichkeiten anspricht, steht die passive, die Alternativen entwirft, Visionen, Utopien und konkurrierende Modelle schafft. Wenn eine kritische Grundhaltung als Bedingung intellektueller Redlichkeit propagiert wird, dann deshalb, weil sie Unzufriedenheit anzeigt. Voraussetzung jeder Kritik ist immer ein Unbehagen. Kritik basiert auf Hellhörigkeit, geistiger Reg– und Wachheit, d.h. sie rekurriert auf einen unruhigen, quirligen Geist. Dieses Vermögen meint dabei natürlich nicht eine krankhafte Veranlagung, die ein permanent Unglücklicher, ein notorisch Nörgelnder und Lamentierer vorweist. Der Unterschied zwischen dem intellektuell Redlichen und dem psychisch Verstörten liegt darin, dass ersterer seine emotionale, biographische und situationsbezogene Konstellation transzendiert, während beim Kranken die momentane Situation Ursache und Auslöser für Beanstandungen ist. Kritikbewusstsein und Kritikfähigkeit als Konstitutivum intellektueller Redlichkeit bedeutet daher, dass die Person von ihrer Position abstrahieren, in Distanz zu sich selber treten kann, dass die Kritik nicht individuell–subjektive Gründe hat. Dabei sind die biographischen Eckpunkte wie Erziehung, Art der Wissensaneignung, 124 Das Nomen Kritik geht auf das altgriechische ????e?? bzw. ???s?? zurück und bedeutet beurteilen oder entscheiden. Bei Platon verdichtet sich ????e?? zur abwägenden und unterscheidenden Erkenntnis. Neben dem allgemeinen Unterscheidungsvermögen werden die ethisch–politische und die richterliche Urteilskraft betont. Aristoteles übernimmt diese Differenzierung. (Vgl. Bormann, Claus von, Die Geschichte des Kritikbegriffs von den Griechen bis Kant, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel–Stuttgart 1984, 1249f.). Die Verwendung des Kritikbegriffs im altgriechischen Sinn kann für den Intellektuellen und für intellektuelle Redlichkeit nutzbar gemacht werden, wird doch Kritik nicht als wissenschaftliche Methode oder Schule, sondern als geistige Tätigkeit aufgefasst. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 69 Situationsanalyse etc. wie auch der momentane emotionale Zustand durchaus verantwortlich für die Wahrnehmung von Umständen, doch dient die Kritik nicht der Behebung subjektiver Malheurs oder der Förderung eigener Wünsche, sondern richtet sich auf einen allgemeinen gesellschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen oder geistigen Zustand. Ein Beispiel für einen wissenschaftlichen Zustand: Bei Popper wurde aufgezeigt, dass es keine allgemeingültige wissenschaftliche Methode gibt, die es erlaubt, auf der Grundlage empirischer Zeugnisse Theorien aufzustellen und zu beweisen. Die wissenschaftliche Rationalität besteht in mehreren verschiedenen methodologischen Regeln. Nur so kann eine beste Theorie gefunden werden. Diese ist unter den konkurrierenden Theorien jene, die der Wahrheit am nächsten kommt. Diese Theorie ist kritisch, weil der Forscher selber versuchen soll, seine Theorie zu widerlegen. Wissenschaft ist Problemlösen mittels Hypothesen und anschließender Fehlereliminierung. Diese theoretische kritische Einstellung weist den Weg in die Lebenspraxis. Ein Problem generiert eine bestimmte Hypothese. Durch Kritik kommt es zur Fehlereliminierung bzw. Falsifikation, daraufhin zu einem zweiten Problemfeld P2, dann zu einer zweiten Hypothese H2, anschließend zur zweiten Fehlereliminierung E2. Diese Reihe setzt sich fort und man kommt dadurch der Wahrheit immer näher. Das gleiche Schema findet auch in der Politik Anwendung, und zwar bei der Veränderung einer gesellschaftlichen Institution. Einen Kritiksinn zu haben heißt bei Popper, dass die innere Unruhe – angestachelt durch Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation – antreibt, man sich auf die Suche begibt und dabei der Wahrheit ein Stück näher kommt. Auch bei Havel zeigt sich diese innere Unruhe. Das „Leben in Lüge“ schafft eine innere Unzufriedenheit, die nicht in einer miserablen wirtschaftlichen Situation begründet liegt. Bei ihm wird besonders deutlich, dass er nicht die eigene Stellung verbessern möchte, er strebt also Verbesserungen über seinen Radius hinaus an. Die Kritik am System wurzelt im eigenen Unbehagen. Gleiches lässt sich bei Weizsäcker demonstrieren: Sein Problembewusstsein zeigt ihm die Ambivalenz des Fortschritts, der außer enormen 70 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 Angenehmlichkeiten materielle und strukturelle Besorgnisse 125 für die Menschheit zu Tage fördert. Die innere Sehnsucht lässt ihn die absoluten Erkenntnisansprüche der Naturwissenschaft relativieren und verweist die Naturwissenschaft unter die anderen Kulturtechniken, so dass sie nur lokal und temporär eine Vorrangstellung beanspruchen kann. 3.2.3 Sprache Die Sprache steht in enger Verbindung mit der humanistischen Grundeinstellung. Sprache transportiert Inhalte, ihre Verwendung beschreibt eine Situation, hat als Gegenstand ein Wofür oder ein Wogegen bzw. entwirft ein alternatives Szenario. Erkenntnis ist an Sprache gebunden, weshalb vom Sprachgebrauch abhängt, was wahr und wirklich ist. Dabei lässt sich der Inhalt nicht von der Form lösen. So kann ein seriöser Inhalt ironisierend wiedergegeben werden, so dass der Wahrheitsgehalt nicht mehr wahrgenommen wird. Gemäß der Sprechakttheorie ist Sprache eine bestimmte Form der Praxis, denn in ihr wird gehandelt. Im verbalen Verurteilen ha ndelt man, es wird eine Wirklichkeit geschaffen. Fängt der Mensch in der Sprache zu handeln an, übermittelt er Einstellungen, Einsichten und Werthaltungen, dann erhält Sprache einen ethischen Stellenwert. Wird mit der Sprache fahrlässig umgegangen, reduziert sich ihre Wahrheitswertfähigkeit. Die Seriosität der Sprachverwendung indiziert deshalb auch das Maß der Verantwortung sich und anderen gegenüber. Eindringlich beschreibt George Steiner das Wesen der Sprache und den Auftrag, der daran geknüpft ist: „Das Geheimnis der Sprache ist groß; die Verantwortlichkeit für sie und ihre Reinheit ist symbolischer und geistiger Art, sie hat keineswegs nur künstlerischen, sondern allgemein moralischen Sinn, sie ist die Verantwortlichkeit selbst, menschliche Verantwortlichkeit schlechthin, auch die Verantwortung für das eigene Volk, die Reinerhaltung seines Bildes vorm Angesicht der Menschheit …“126 Sprache dient nicht bloß dem Gedankenaustausch, denn in ihr spiegeln sich menschliche Werte und Haltungen. Vgl. Weizsäcker, Der Mensch im naturwissenschaftlich–technischen Zeitalter, in: Ders., Im Garten des Menschlichen, 49–56. 126 Steiner, George, Das hohle Wunder, in: Ders., Sprache und Schweigen. Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche, Frankfurt a.M. 1967, 166. Thema dieses Essays ist der Niedergang der deutschen Sprache durch den Nationalsozialismus. Dieser höhlte endgültig die deutsche Sprache aus, er vergleicht ihn mit freigewordner Ra125 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 71 Der inhaltliche Zusammenhang von humanistischer Grundeinstellung und sprachlicher Sensibilität ist nicht von der Hand zu weisen: In erster Linie interessiert nicht das reine, abstrakte Wissen, sondern dessen Anwendung und Bedeutung für das konkrete Leben. Hier lässt sich also ein pädagogischer Impetus ausmachen. Ein ausgeprägtes Sprachbewusstsein wird daher als Charakteristikum intellektueller Redlichkeit aufgefasst. Der Inhalt, das Was, von Äußerungen, vor allem aber die Aufbereitung, das Wie, weist intellektuelle Redlichkeit aus. Um das näher zu erläutern, bietet sich ein nochmaliger Blick auf Peter Sloterdijk, seine Menschenparkrede und die Kontroverse im Feuilleton, an. Schriftsteller gehen mit der Wirklichkeit – auch der von Texten – um. Sie experimentieren mit Wörtern, heben gefährliche und brisante Themen, zerlegen sie in Bausteine und stellen sie anschließend wieder zusammen. Sloterdijk kennt nun verschiedene Möglichkeiten, andere Autoren zu zitieren, zu kommentieren und zu ironisieren. 127 Was allerdings auffällt ist, dass er Anspielungen, die er gerade gemacht hat, nicht erläutert. Sloterdijk verwendet wie in eben zitierter Stelle Wörter wie „Magna Charta“, die fortschrittlich und positiv konnotiert sind, verschafft sich damit beim Rezipienten eine bejahende Zustimmung, setzt jedoch kurz darauf eine Zäsur, in dem er das Einvernehmen mit dem Leser auf einen anderen Inhalt, in dem Fall auf die Menschenzüchtung überträgt. Damit erweist er sich als Provokateur, der zum Nachdenken anregt. Er lässt dem Leser aber keine Zeit, diesen Sprung zu überdenken, denn innerhalb des gleichen Satzes dioaktivität, die bis heute (1967) schädigt. „Etwas von der Lüge und dem Sadismus setzt sich im Mark der Sprache fest. Unmerklich zunächst, so wie radioaktive Ausstrahlungen sich stillschweigend im Knochenmark festsetzen“ (164f.). 127 Es mutet etwas sarkastisch an, wenn man die Einleitung zur Besprechung von Platons „Politikos“ liest. Man gewinnt den Eindruck, als führe Sloterdijk mit Platon ein Gespräch über das bereits damals virulente Thema der Möglichkeit der (genetischen) Veränderung von Menschen. So lautet die Einführung zu dieser fiktiven Diskussionsrunde: „Es gehört zur Signatur der Humanitas, daß Menschen vor Probleme gestellt werden, die für Menschen zu schwer sind, ohne dass sie sich vornehmen könnten, sie ihrer Schwere wegen unangefasst zu lassen. Diese Provokation des Menschwesens durch das Unumgängliche, das zugleich das Nichtbewältigbare ist, hat schon am Anfang der europäischen Philosophie eine unvergeßliche Spur hinterlassen – ja vielleicht ist die Philosophie selbst diese Spur im weitesten Sinn. […] Plato hat in seinem Dialog Politikos […] die Magna Charta einer europäischen Pastoralpolitologie vorgelegt“ (Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 47). 72 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 findet sich eine weitere Wortungewöhnlichkeit, die „Pastoralpolitologie“, eine Anspielung auf religiöse Menschenlenkung gepaart mit politischer Ideologie. Auch hier werden zwei eigentlich nicht zusammengehörige Themenbereiche zusammengefügt. Sloterdijk entfacht auf diese Weise einen Gedankensturm im Kopf des Rezipienten. Dieser bewirkt beim Leser ein stolzes Lächeln auf der Stirn, hat er doch in Windeseile verschiedene gedankliche Welten miteinander kombiniert. Der Leser beschäftigt sich nur noch mit sich selbst. Der Autor verbirgt jedoch mit Hilfe solcher sprachlichen Gebärden seine eigene Position, wird dadurch nicht richtig greifbar. Eine sachliche Diskussion kommt deshalb nur schwer auf. Die Vermittlung eines Inhalts, der Wie–Aspekt, weist den Verfasser als Wortakrobaten aus und es entsteht der Eindruck, als stehe die Verpackung im Vordergrund und die Sache selbst – wie sah Platon wirklich die Aufgabe des Politikers – tangiere nur peripher. So schafft hier die Sprache eine Wirklichkeit, die vom historischen Dialog abgehoben ist, ihn eigentlich nur noch als Anlassfall für die eigene Artikulation benützt. Die Wahrheitswertfähigkeit der Sprache wird hier in Mitleidenschaft gezogen, sie dient lediglich dem selbstverliebten Spieltrieb der sprachlichen Kombinationsfähigkeit. Die Causa Sloterdijk liefert noch zusätzliches Material: Nachdem dieser Vortrag Sloterdijks öffentlich rezipiert worden war, kam es zu einem regelrechten verbalen Schlagabtausch, der mit einigen sprachlichen Tiefschlägen geführt wurde. Der Umgang der Autoren miteinander demonstrierte eine Vakanz von Redlichkeit. So wurden nicht sachliche Kontroversen ausgetragen, sondern persönliche Angriffe geführt. Thomas Assheuer eröffnet den Schlagabtausch mit einer Diskreditierung: „Philosophen, so lautet eine landläufige Beschwerde, wohnen hinter dem Mond, von dem sie auch keine Ahnung haben. Sie spekulieren im Sonnenschatten der eigenen Weltdeutung, verstehen von der Naturwissenschaft nichts und von Gentechnologie noch weniger.“128 Er knüpft daran eine Verharmlosung und Beleidigung Sloterdijks: „Für einen Augenblick klammert sich Sloterdijk an seinen Hausgott Heidegger.“ 129 Daran fügt sich nahtlos ein Lächerlichmachen und Deklassieren, das Slo terdijk in die Provinz verweist: „Dennoch entspringt Sloterdijks skandalöse Rede Assheuer, Peter, Das Zarathustra–Projekt. Der Philosoph Peter Sloterdijk fordert eine gentechnische Revision der Menschheit, in: Die ZEIT, 36/1999. 129 Ebd. 128 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 73 nicht nur der Verwirrung eines Weltanschauungsphilosophen, der in den Fußstapfen von Nietzsche und Heidegger versinkt und sich dabei einbildet, er könne im Stadtwald von Karlsruhe die Moderne begraben.“ 130 Sloterdijk kontert in seinem Antwortschreiben: 131 Er degradiert Assheuer zu einem Schüler, schreibt in einem Lehererton, der Bemühen suggeriert, aber nicht verhehlen kann, dass die Belehrung auf keinen fruchtbaren Boden fällt. Er bezeichnet Assheuer als „Problemgans“, die eine „Wahnsinnsarie“ singt und die in selbstverliebter Weise den Alarm ästhetisiert. Assheuer mache nur Publicity für sich und die Kritische Theorie. Im anschließenden zweiten Brief wendet er sich Habermas zu. Er unterstellt ihm bösen Willen in der Verbreitung von Gerüchten, die ihn selber betreffen. Er gibt sich Habermas gegenüber jovial, denn er gewährt ihm „den Bonus des Älteren“. So wirkt diese Bescheidenheit und Demut gespielt. Sloterdijk attestiert Habermas Fahrlässigkeit und Mutwilligkeit in der Verletzung kollegialer, akademischer und publizistischer Sitten, weil er zum Falschlesen angeleitet habe. Schließlich mündet seine Polemik in die Demontage des Gegners.132 Interessant ist, dass Sloterdijk einräumt, von der – für ihn evidenten – Hetze gegen ihn tief getroffen und verletzt worden zu sein. 133 Er ortet bei Habermas eine Kommunikationsverweigerung, den Versuch ihn zu zensurieren, wirft ihm Unehrlichkeit und Ehrverletzung vor. Die Liste ließe sich fortsetzen. Fasst man die gegenseitigen Vorwürfe zusammen, dann kann man folgende Liste erstellen: (i) Persönliche Angriffe: nicht argumentieren, sondern be– und verurteilen, absichtlich kränken und missverstehen, Suche nach medialer Aufmerksamkeit und öffentlicher Rezeption, Unterstellen von Selbstverliebtheit, Eigenlob, Selbstbezüglichkeit; Ziel solcher Attacken ist es, den OpEbd. Sloterdijk, Peter, Die Kritische Theorie ist tot, in: Die ZEIT, 37/1999. 132 „Sie gehören zum inhumanen Erbe des ideologiekritischen Denkstils, der bei ihnen gewiss nicht schlimmer ausgeprägt ist als bei anderen Vertretern dieser inzwischen nicht mehr ganz so ansehnlichen Tradition. Sie sind hierin nur ein durchschnittlicher Träger einer problematischen Gewohnheit, die man einst mit dem Ehrennamen der Kritik umkleidete“ (ebd.). 133 „Was glauben Sie, was geschähe, wenn das Ding Sloterdijk mit einem Mal zu sprechen begänne? Wie wäre es, wenn dieses Ding, dieser Mechanismus, als nervöses An–sich, als schmerzempfindliches Es eine Reaktion zeigte, eine Überreaktion sogar, wer weiß? Wenn das Ding auf den Gedanken käme, eine Ehre zu haben?“ (ebd.). 130 131 74 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 ponenten zu deklassieren, in persönlich zu treffen und zu verunsichern, indem dessen Beruf, seine Persönlichkeit und sein Charakter wie auch die Fähigkeit des Wissenserwerbs ins schiefe Licht gerückt werden. (ii) Vermischung der sachlichen Information mit persönlichen Elementen: Der Text wird wiedergegeben bzw. der Inhalt referiert, doch wird er durch die Sätze davor oder danach, die subjektive und einseitige Kommentare transportieren, verzerrt. 134 (iii) Sachliche Auseinandersetzung: Die Wiedergabe der Äußerungen ist falsch, das Gesagte wird unzulässigerweise und nicht ohne ideologischen Hintergedanken uminterpretiert. Die intellektuelle Unredlichkeit findet sich in den Punkten (i) und (ii). Wie die Debatte redlich, d.h. nüchtern und sachlich, gestaltet hätte werden können, zeigt der Aufsatz von Ernst Tugendhat135. Er fasst den Inhalt in drei Thesen zusammen und diskutiert – ohne jede Polemik, aber doch mit Humor und Witz – Sloterdijks Ansatz. Es fallen keine großen Worte, es wird lediglich der Inhalt besprochen und zu Erkenntnissen der Genforschung 136 in Beziehung gesetzt. Erinnert wird man bei dieser Debatte an Weizsäckers Forderung nach Gerechtigkeit im Denken: 137 Erst wer ein Plädoyer für die ihm entgegengesetzte Meinung geben kann, ist reif, eine eigene Überzeugung zu vertreten. Intellektuelle Redlichkeit im Bereich der Sprache erfordert daher zuerst einmal eine wertungsfreie Wiedergabe einer von der eigenen Meinung divergierenden Position. In diesem sehr persönlich geführten Wortgefecht scheint die Schlichtheit und Einfachheit der Sprache, vor allem aber der sehr wohlwollende und positive Ton Weizsäckers als ein Kontrapunkt auf. Ein Beispiel: „Ihm schwebt eine demokratiefreie Arbeitsgemeinschaft aus echten Philosophen und einschlägigen Gentechnikern vor, die nicht länger moralische Fragen erörtern, sondern praktische Maßnahmen ergreifen. Diesem Elitenverbund fällt die Aufgabe zu, mithilfe von Selektion und Züchtung die genetische Revision der Gattungsgeschichte einzuleiten. So wird Nietzsches schönster Traum bald wahr: die Zarathustra– Fantasie vom Übermenschen“ (Assheuer, Das Zarathustra–Projekt, in: Die ZEIT, 36/1999). 135 Tugendhat, Ernst, Es gibt keine Gene für die Moral. Sloterdijk stellt das Verhältnis von Ethik und Gentechnik schlicht auf den Kopf, in: Die ZEIT 39/1999. 136 Vgl. dazu auch: Zimmerli, Walther Ch., Die Evolution in eigener Regie. In einem Punkt hat Sloterdijk Recht: Über die Normen für gentechnische Eingriffe muss öffentlich debattiert werden, in: Die ZEIT 40/1999. 137 Vgl. Weizsäcker, Soziale Gerechtigkeit, in: Benzinger, O. (Hg.), Das Carl Friedrich von Weizsäcker Lesebuch, 152f. 134 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 75 In diesem Zusammenhang darf noch einmal auf Popper zurückgegriffen werden. Sehr eindringlich äußert er sich gegen die großen Worte: „Was ich oben […] die Sünde gegen den heiligen Geist genannt habe – die Anmaßung des dreiviertel Gebildeten –, das ist das Phrasendreschen, das Vorgeben einer Weisheit, die wir nicht besitzen. Das Kochrezept ist: Tautologien und Trivialitäten gewürzt mit paradoxem Unsinn. Ein anderes Kochrezept ist: Schreibe verständlichen Schwulst und füge von Zeit zu Zeit Trivialitäten hinzu. Das schmeckt dem Leser, der geschmeichelt ist, in einem so „tiefen“ Buch Gedanken zu finden, die er schon selbst einmal gedacht hat.“ 138 Poppers Worte sind ein Aufruf, auf Wortschwall und verbale Oberflächigkeit zu verzichten, denn mit dem Instrumentarium Sprache lässt sich viel Unheil anrichten: „Ich bin der Überzeugung […], dass wir – die Intellektuellen – fast an allem Elend schuld sind, weil wir zu wenig für die intellektuelle Redlichkeit kämpfen.“ 139 Für Popper ist damit Sprache das Medium, in dem intellektuelle Redlichkeit aufscheint. Sprechen bedeutet Handeln, es ist mit Pflichten verbunden und damit ethisch. 3.2.4 Politisches Interesse Eine Verpflichtung, die aus der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft resultiert, ist Verantwortung zu übernehmen. Das zeigt sich darin, dass man seine Umwelt mitgestaltet. Von Weizsäcker weiß man, dass ihn einige gerne als Kandidaten bei der Wahl zum deutschen Bundespräsidenten gesehen hätten. Er selbst lehnte eine Kandidatur ab, weil er der Überzeugung war, er könne auch auf seinem Gebiet dem allgemeinen Interesse dienen. Parteien hält er für wichtige Institutionen, doch trat er zeitlebens keiner bei, weil er immer den Verdacht einer Interessenspolitik vermeiden wollte. 140 Politisch engagierte er sich bei unabhängigen Initiativen in diversen Projekten, wie z.B. in der erwähnten Göttinger Erklärung von 1957 oder als Leiter einer Forschungsstelle für Kriegsverhütung. Bei Havel löste die Politik sein öffentliches Engagement aus. Sie bildet den Motor und das Motiv seines Denkens. Das konstruktive ZusammenPopper, Gegen die großen Worte. Ein Brief, der ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, in: Ders., Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 112002, 103. 139 Ebd., 109. 140 Vgl. Weizsäcker, Rechenschaft vor der Öffentlichkeit: Als Physiker zwischen Philosophie und Politik, in: Ders., Wahrnehmungen der Neuzeit, 346f. 138 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 76 leben der Menschen, die Sorge und die gemeinsame Arbeit für eine bessere Zukunft sind Thema seiner Reden als Staatspräsident. Gemeinsam ist beiden Autoren, dass sie zwar anfänglich die eigene Nation im Blick haben, doch daneben gewinnt die Sorge um die gesamte Menschheit an Bedeutung. Weizsäckers Anliegen entfaltet sich zu Ansätzen einer „Global Governance“. Diese weltumspannende Regierungspolitik steht für ein politisches Modell mit den Zielen der Verrechtlichung und Verstärkung von internationalen Beziehungen besonders über die UNO. Diese internationalen Intentionen können genauso bei Havel aufgespürt werden. So hält er 1990 zwei Reden, eine Rede vor der UNO und eine in der parlamentarischen Versammlung des Europarates. Intellektuelle Redlichkeit in Zusammenhang mit Politik darf als tendenzielle Geisteshaltung des Intellektuellen verstanden werden. Der Denker greift hier für gewöhnlich nicht als aktiver Politiker ein, sondern interessiert sich für internationale Zusammenhänge, für weltumspannende Themen und Probleme. Intellektuelle Redlichkeit meint in dieser Hinsicht ein Abwägen, ein In–Beziehung–Setzen von emergierenden Fragen. Der Intellektuelle demonstriert damit Distanz zu Partikularinteressen und hat einen Blick für globale und allgemein gültige Prozesse wie Inhalte. 3.2.5 Selbstreflexion Wie stellen sich Intellektuelle selber dar, welches Bild vermitteln sie von sich der Öffentlichkeit? Zu denken ist hierbei einmal an die klassische Ich–Rede, wie sie in Biographien 141 vorkommt. Kennzeichnend für diese Texte ist oftmals eine Idealisierung, eine Ästhetisierung oder Selbsterniedrigung. Eine solche Sichtweise des Intellektuellen auf sich selber scheidet aus, denn sie signalisiert Hybris und Eitelkeit. Vielmehr ist hier die Bescheidenheit und die innere Ruhe und Sicherheit angebracht, die Weizsäcker auszeichnen. Wenn er Rechenschaft über seine eigene Rolle ablegt, dann liegt ihm viel daran, dass die Leser zwischen ihm und seinem Anliegen unterscheiden: „Ich werde aber vor allem versuchen, die Sache deutlich zu machen, für die ich stehe, und die unvergleichlich wichtiger ist als 141 Typische Beispiele für solche Biographien sind die „Confessiones“ des Augustinus oder Goethes „Dichtung und Wahrheit“. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 77 meine Person.“ 142 Er charakterisiert sich als einen Bescheidenen, der immer noch ein Fragender und Stauender geblieben ist. Das Feld seiner Untersuchungen ist so groß, dass er schon zufrieden ist, wenn er etwas zur Begriffsklärung beitragen konnte. 143 Außerdem ist er nicht jemand, der auf alles sofort Antwort geben kann, er braucht „meditative Spielräume“. In einer „Notiz zum 70. Geburtstag“144 zeichnet er ein Bild von sich, das ihn als Zweifelnden und Unsicheren zeigt. Er gibt ein Gespräch mit Karl Barth wieder, in dem er seine Mitverantwortung für die Atombombe eingesteht und deshalb darüber nachdenkt, ob es verantwortungsvoll ist, weiterzuforschen. Ähnliches kann bei Popper gefunden werden. Wenn er seine biographischen Eckdaten, als Tischlerlehrling oder Philosophieprofessor, in Erinnerung ruft, dann sprechen nicht Stolz und Hochmut aus ihm. Er sieht darin ein Privileg, an das ein Auftrag geknüpft ist, nämlich Erkenntnisse in bescheidener Form zu vermitteln und sich nicht als orakelnder Philosoph auszugeben. 145 Havel übertrifft diese Bescheidenheit und Demut. In seiner Schlussrede vor dem Prager Gericht von 1999 begehrt er nicht gegen das gegen ihn gefällt Urteil auf, sondern will seine Strafe als Opfer für eine gute und gerechte Sache auf sich nehmen. 146 Er stellt sich dadurch selbst in die zweite Reihe, ist sich selber nicht die wichtigste Person und verweist damit auf Ideale, die höher anzusetzen sind als der persönliche Freiheitsentzug. Bescheidenheit demonstriert Havel auch, wenn er einräumt, nicht immer Recht gehabt zu haben: „Doch wenn ich mich irre, dann ist das ausschließlich die Konsequenz der beschränkten Schärfe meines Geistes, der Unaufmerksamkeit, ungenügender Bildung oder meiner Unzulänglichkeiten, niemals aber die Folge von ideologischer Blindheit oder Fanatismus. Deshalb macht es mir auch keine Schwierigkeiten, eine Ansicht zu ändern, wann immer ich feststelle, dass ich mich irre.“ 147 Diese Selbstschilderung zeugt von geistiger Offenheit und Veränderungsbereitschaft und signaliWeizsäcker, Rechenschaft vor der Öffentlichkeit: Als Physiker zwischen Philosophie und Politik, in: Ders., Wahrnehmungen der Neuzeit, 329. 143 Vgl. ebd., 334. 144 Vgl. ebd., 353–357. 145 Vgl. Popper, Gegen die großen Worte, 100. 146 Vgl. Havel, Die Schlussrede von Vaclav Havel am 21. Februar 1989 vor dem Prager Gericht, in: Ders., Versuch, in der Wahrheit zu leben, 8. 147 Havel, Sommermeditationen, 60. 142 78 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 siert zugleich Überparteilichkeit. Sein Denken ist nicht der eigenen Person oder einer bestimmten Gruppe verpflichtet. Hier klingt Martha Nussbaums primäre und sekundäre Loyalität an: In „Cultivating Humanity“ fragt sie nach den Eigenschaften des Bürgers in der heutigen multikulturellen Gesellschaft und fordert einen Weltbürger und Kosmopoliten, der zuallererst durch die primäre Loyalität bestimmt ist, d.h. der der gesamten Menschheit verpflichtet ist. Die sekundäre Loyalität gilt dann nationalen, lokalen, berufsspezifischen u.a. Interessen. 148 Das darin vorgestellte pädagogische Konzept fußt auf drei Säulen, dem überprüfenden Leben, der Verpflichtung zum Weltbürger und der narrativen Imagination. Das überprüfende Leben rekurriert auf Sokrates Technik der Infragestellung und macht klar, dass es keine nicht hinterfragbaren Überzeugungen geben darf, dass Tradition und Verhaltensmuster vor der Vernunft bestehen, konsistent und gerechtfertigt sein müssen. Bücher dürfen nicht als absolute Autoritäten gelten, denn diejenigen, die in ihrer jeweiligen Tradition viele kanonische Bücher gelesen haben, glauben, weise zu sein. Das führt zu Arroganz und unterbindet jeden Forschergeist. Bücher müssen als Anleitung zum selbstständigen Denken benützt werden.149 Ihr zweites Anliegen, der Weltbürger, ist ein Playdoyer für eine multikulturelle Erziehung, denn nur dadurch können Respekt und Dialog Einzug halten. Die narrative Imagination betont den Perspektivenwechsel, die Empathie und Einnahme des anderen Standpunktes. Das führt nicht zu kritikloser Übernahme der fremden Position, sondern ermöglicht erst in der anschließenden Gegenüberstellung mit der eigenen eine fundierte Auseina ndersetzung und Kritik. Diese Überlegungen von Martha Nussbaum begleiten wie ein Cantus firmus die Selbstreflexionen von Havel, Popper und Weizsäcker, sie bekräftigen, dass intellektuelle Redlichkeit mit einer bestimmten Fragehaltung sich selbst gegenüber beginnt, sie eine Einstellung des Intellektuellen zu sich selber inkludiert. Das zeigt sich besonders in ihrer Verpflichtung oder Loyalität gegenüber der Menschheit. Ihre Selbstbeschreibungen zeugen von einem Apostolat bzw. einem Dienst am Menschen. Sedmak bringt Vgl. Nussbaum, Martha C, Cultivating Humanity. A Classical Defense of Reform in Liberal Education, Cambridge 72003, 9. 149 Vgl. ebd., 33ff. 148 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 79 diese Haltung auf den Punkt: „Intellektuelle Arbeit als ein Dienst verstanden, bedeutet auch, nicht die Aspekte der Selbstpromotion in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die geleistete Arbeit und die eigene Person in einem Ganzen zu situieren.“ 150 Bescheidenheit, Fehlen von Hybris und von außen geleitetem Ehrgeiz, Offenheit, Lern– und Veränderungsbereitschaft, Ruhe, Rückzug und „meditative Spielräume“ werden als geistige Charakteristika intellektueller Redlichkeit zugeschrieben. 3.2.6 Voluntativer Akt und optimistische Grundhaltung Intellektuelle können beschrieben werden als Personen, die sich mit menschlichen Problemen befassen, die sich noch nicht allen Menschen als greifbar zeigen, die sich erst langsam herauskristallisieren. Sie stehen damit an einer Schnittstelle eines Prozesses, in dem das Alte noch nicht ganz verschwunden ist und das Neue nur als Tendenz, als Andeutung vorhanden, d.h. noch nicht wirklich sichtbar ist. Ihre Sensibilität drückt sich in einer geistigen Grundhaltung aus, die vielleicht als Vorsichtigkeit oder Behutsamkeit gedeutet werden kann. Diese Eigenschaft leitet sich von ihrem Status quo ab. Sie nehmen eine Zwischenposition ein, sie sind keinem Extrem zuordenbar. Inhaltlich steht dieses Merkmal im Zusammenhang mit der oben erwähnten Bescheidenheit. Das Dasein in einer Zwischenwelt bedeutet, dass sie alte Muster, Weisheiten, Wahrheiten studiert haben, diese aber für die Gegenwart als untauglich oder bedenklich, wenn nicht als falsch einstufen. Intellektuelle Redlichkeit stellt eine geistige Charaktereigenschaft dar, die sich in Toleranz gegenüber anderen Sichtweisen bewährt, die Demut und Nachsicht anzeigt, weil sie nicht die eigene Sichtweise verabsolutiert. Dieser Grundhaltung widerspricht dabei nicht, dass Einstellungen und Sichtweisen mit Nachdruck und in aller Deutlichkeit vorgebracht werden. Intellektuelle Redlichkeit inkludiert das Wissen darum, dass die eigene Überzeugung ebenso wie die anderer irrtumsanfällig ist. Irrtumsanfälligkeit steht hier in Beziehung zu Wertneutralität, denn auch diese kann der Intellektuelle nicht von sich aussagen, auch ist sie keine letzte und endgültige Wahrheit, sondern nur ein hoher ethischer Wert. Intellektuelle Redlichkeit zeigt sich in der Übung zu wertfreier Analyse. Damit haftet ihr ein individuelles und subjektives Moment an. 150 Sedmak, Clemens, Katholisches Lehramt und Philosophie. Eine Verhältnisbestimmung, Freiburg im Breisgau 2003, 306. 80 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 Diese persönliche Seite thematisiert Weizsäcker: „Übung in wertfreier Analyse bedeutet für jeden von uns zunächst eine Schulung in der Distanz von sich selbst, also einen Schritt auf dem Weg zur menschlichen Reife. Sie zielt auf Überwindung des Wunschdenkens, auf Einübung der Selbstkritik, auf Distanz zur eigenen Ideologie, auf Erwachsenwerden.“151 Die Einübung auf Wertfreiheit bzw. Wertneutralität zeigt somit ein prozessuales Moment an. Übertragen auf die intellektuelle Redlichkeit heißt das, dass diese ein Ziel anzeigt, auf das man sich hinbewegt, wobei natürlich Rückschläge genauso vorkommen können. Der Wille und der Vorsatz werden damit zu einem zentralen Moment intellektueller Redlichkeit. Oben wurden Intellektuelle als Menschen beschreiben, die sich an einer Schnittstelle befinden, weil sie keinem Extrem zuordenbar sind. Sie leben in einer Zwischenwelt. Dieser Terminus will eine Aufbruchs– und Umbruchsstimmung anzeigen, die immer mit Ungewissheit verbunden ist. Dieses Wahrnehmen eines Schwebezustandes indiziert dabei nicht zwangsläufig einen Zukunftspessimismus. Im Gegenteil: Popper als auch Weizsäcker sehen zuversichtlich in die Zukunft. Popper ist optimistisch und sieht keinen Grund, die Hoffnung auf eine bessere Welt aufzugeben.152 Weizsäcker erkennt trotz Ambivalenz des Fortschritts positive Anzeichen und registriert eine Aufbruchsstimmung.153 Havel fragt sogar, ob die bessere Zukunft wirklich nur eine Angelegenheit eines fernen Dort ist und ob sich das Bessere nicht vielleicht schon im Hier zeigt. Eine positive Zukunft ist bereits angebrochen: „Wir stehen an der Schwelle einer neuen Ära der Globalität, einer Ära der offenen Gesellschaft, einer Ära, in der Ideologie von Ideen abgelöst werden.“154 Intellektuelle Redlichkeit signalisiert eine geistige Offenheit, eine suchende, fragende und tendenziell optimistische Grundhaltung. Weizsäcker, Gottesfrage und Naturwissenschaften, in: Benzinger, O. (Hg.), Das Carl Friedrich von Weizsäcker Lesebuch, 129. 152 Vgl. Popper, Selbstbefreiung durch Wissen, 157f. 153 Vgl. Weizsäcker, Wer ist das Subjekt in der Physik, in: Ders., Der Garten des Menschlichen, 170. 154 Havel, Sommermeditationen, 153. 151 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 81 3.2.7 Intellektuelle Redlichkeit als supererogatorisches Element Intellektuelle Redlichkeit misst sich am Verhalten gegenüber und an der Behandlung anderer Positionen, Einstellungen und Menschen. Damit eröffnet dieser Begriff den Blick in eine ethische Dimension. Grundsätzlich gibt es bei ethisch relevanten Handlungen drei Klassifizierungsmöglichkeiten, obligatorische, erlaubte und verbotene. Gebotene und verbotene Handlungen sind einforder– und einklagbar, erlaubte neutral. Nachdem intellektuelle Redlichkeit als positive geistige Eigenschaft beschrieben wurde, brauchen verbotene Handlungen nicht weiter beachtet zu werden. Es erübrigt sich auch, wegen der positiven Konnotation intellektuelle Redlichkeit als erlaubte bzw. indifferente Handlung zu behandeln, denn fließt sie in eine Auseinandersetzung ein, ist sie schon kraft ihres Daseins zu begrüßen. Zu fragen ist, ob intellektuelle Redlichkeit dem obligatorischen Bereich zuzuordnen ist. Für einige akademische Berufe und deren Betätigungsfelder gibt es Kriterienkataloge, an denen das professionelle Verhalten und Vorgehen gemessen werden kann. Dort gibt es Sanktionierungsmöglichkeiten, die akademische Redlichkeit ist also einklagbar. Völlig anders stellt sich die Situation beim Intellektuellen dar. Für geistige Haltungen, Umgangsformen und Behandlungsweisen kann es keine judizierbaren Schablonen oder Gesetze geben. Somit sprengt intellektuelle Redlichkeit die herkömmlichen Beurteilungsmaßstäbe für ethisches Handeln und ist einem anderen, einem übergeordneten Bereich zuzuzählen, dem der Supererogation155. Dieser Terminus steht für Handlungen, die jenseits jeder moralischen Pflicht anzusiedeln sind. Als klassisches Beispiel für solche Handlungen wird gerne der biblische Samariter angeführt, der einen Verwundeten auf seinen Esel packt, ihn zum nächsten Gasthaus bringt und ihn dort auf seine eigenen Kosten verarzten und versorgen lässt. Ein anderes Beispiel ist Maximilian Kolbe, der in Auschwitz sein Leben für das eines Familienvaters ließ. Supererogatorische Handlungen sind demnach solche, die moralische Bewunderung zeitigen, weil sie 155 Der Begriff der Supererogation wird in ethischen Theorien eher selten systematisch diskutiert. Eine Ausnahme bildet die römisch katholische Tradition, in der dieser Terminus durch Thomas von Aquin besetzt wurde, dessen Inhalt und Relevanz danach Lutheraner und Calvinisten strikt negierten. Danach geriet diese Theorie aus dem Blickfeld und erlebte erst im 19. und 20. Jahrhundert durch A. Meinong, J.O. Urmson, R. Chisholm und Paul McNamara eine Renaissance. Vgl. Wessels, Ulla, Die gute Samariterin. Zur Struktur der Supererogation, Berlin 2002, 151–194. 82 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 über das Maß der moralischen Verpflichtung weit hinausgehen und daher nicht eingefordert werden können. Ein wesentliches Kriterium ist ihre Freiwilligkeit. Wie lässt sich nun dieser Terminus für die vorliegende Untersuchung nutzbar machen? Bedeutet das Fehlen eines Kriterienkatalogs für Intellektuelle automatisch, dass jede geistige oder sprachliche Handlung, die nicht offensichtlich interessengeleitet ist oder andere ungebührlich diskreditiert oder verletzt als supererogatorisch einzustufen ist? Intellektuelle Redlichkeit als ein Vermögen, als eine Geisteshaltung und innere Einstellung, die bereit ist, Verantwortung zu tragen, darf dann als supererogatorisch gelten, wenn sie auf die drei Pole Subjekt, Verantwortungsbereich und auf die Instanz, der gegenüber Verantwortung übernommen wird, bezogen ist. 156 In Bezug auf das Subjekt, den Intellektuellen, bezieht sich das supererogatorische Moment auf Pflichten gegenüber sich selbst und rekurriert auf die geistig intrinsische Instanz. Gemeint ist damit der Wissenserwerb, der in autonomer Weise vollzogen wird und darum von keiner anderen Autorität abhängt. Außerdem stellt sich hier der Intellektuelle den Fragen von Kompetenz und Mandat für den Verantwortungsbereich. Anders verhält es sich gegenüber den anderen beiden Dimensionen, Verantwortungsbereich und Instanz. Diese zeigen Pflichten gegenüber anderen an. Hier bedeutet intellektuelle Redlichkeit, dass der Intellektuelle seine Stimme erhebt und durch seinen unverbrauchten und unparteiischen Blick Unberücksichtigtem und Unberücksichtigten Gehör verschafft. Er ergreift Partei, ohne notwendigerweise deren Interessensvertreter zu werden. Hier kommt es besonders darauf an, wie Stellung bezogen wird. Die Pflichten gegenüber anderen splitten sich in das „Was“, ein bestimmter gesellschaftlicher Zustand, eine politische Konstellation, eine Kultur– oder Geisteshaltung wird angesprochen, und das „Wie“, sprich die sprachliche Formulierung und der Umgangston. Darüber hinaus muss noch auf einen weiteren Aspekt der Verantwortung hingewiesen werden. Genau wie Sprache, so setzt auch Wissen Handlungen. „Etwas zu wissen, heißt, mein Handeln danach auszurichten. Wissen ist kein Rucksack, den ich jederzeit ablegen kann.“ 157 Der Intellektuelle ist keine gespaltene Persönlichkeit, er integriert die erworbenen 156 157 Vgl. Sedmak, Clemens, Theologie in nachtheologischer Zeit, Mainz 2003, 60. Ebd., 84. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 83 Erkenntnisse in sein Leben, richtet es danach aus. Wissen führt daher in die Praxis und bestimmt den Alltag, es verändert Wahrnehmungen, beeinflusst die Emotionen und ist handlungsleitend. Damit zeigt sich ein Konnex von Wissen und Ethik, Erkenntnisse verpflichten und bewirken die intellektuelle Tätigkeit. Vom Wissen geht ein pädagogischer Impetus aus, den der Intellektuelle nicht beiseite schiebt, er stellt sich ihm. Daraus erwächst Verantwortung, die supererogatorisch zu verstehen ist, sie zeigt sich in einem pädagogischen Eros und manifestiert sich in der Einstellung des Intellektuellen. Intellektuelle Redlichkeit wird als supererogatorisch gesehen, weil sie ein „mehr“ als die übliche und die zu erwartend Pflicht und Verantwortungsübernahme gegenüber sich und gegenüber anderen darstellt. Als ein Werk der Übergebühr verlangt sie dem Mitmenschen Hochachtung ab, d.h. der Mitmensch ist die Instanz, die darüber entscheidet, ob Supererogation vorliegt oder nicht. 3.3 Fazit Intellektuelle Redlichkeit charakterisiert eine innere Einstellung, eine aktive Haltung, die auf geistige Tätigkeit bezogen ist und die vor der moralisch–geistig intrinsischen Instanz bestehen muss. Intellektuelle Redlichkeit bezieht sich auf den Denkenden selber und zielt auf eine Optimierung der eigenen Urteilsfähigkeit ab. Als geistige Tätigkeit meint sie daher ein sich ständiges Korrigieren, das dazu dient, den eigenen lokalen wie bildungsethymologischen Kontext zu transzendieren, um sich Verallgemeinerungen und absoluten Wahrheitsansprüchen entgegenzustellen, um Rechthaberei und Eigeninteressen zu verhindern. Intellektuelle Redlichkeit ist die fundamentale Einstellung des Intellektuellen, die supererogatorische Züge aufweist. Darüber hinaus wird intellektuelle Redlichkeit verstanden als ein Bündel von supererogatorischen Handlungen gegenüber Mitme nschen, die sich vor allem im Umgang mit Diskussionsbeiträgen bewähren muss. Sie ist zugleich die nach außen gekehrte Seite der inneren Haltung, die sich um Gleichgewicht, um Übernahme von Verantwortung bemüht und die im Dienst der Sache und des Menschen steht. 84 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 4. Resümee Was ist das Neue oder das Besondere, das dieses Working Paper unterbreitet hat? Es stellt den Versuch dar, einige unterschiedliche Konzeptionen des Intellektuellen zueinander in Beziehung zu setzen, sie zusammenzufassen und in ein neues Begriffsschema zu integrieren. Aus der Darstellung der vorgestellten Intellektuellen lässt sich die getroffene Begriffsbestimmung oder Definition des Intellektuellen begründen. So bestehen trotz divergierender Auffassungen von Baran, Said, Bourdieu, Benda, Ortega y Gasset oder Lepenies über den Intellektuellen offensichtliche Zusammenhänge und Parallelen, die eine Klassifizierung rechtfertigen, zumal sie sich bei Weizsäcker, Havel und Popper auffinden lassen. Als gemeinsamer Nenner ist daher die Definition des Intellektuellen, der sich als Person in öffentlicher, aktiv mitgestaltender, vermittelnder, nachvollziehbarer und kognitiver Weise mit menschlichen und gesellschaftlichen Themen jenseits des Expertenstatus auseinandersetzt, abgesichert. Diese Konzeption liefert indirekt gleich die dazugehörigen Eigenschaften wie die humanistische Einstellung, die geistige Haltung einer kritischen Grundposition, die besondere Funktion der Sprache und hier besonders ihre Verwendung, die politische Interessiertheit, ein elaboriertes Maß an Aufgeklärtheit über sich selbst, die optimistische Grundhaltung und den Willen zu Ehrlichkeit und Unvoreingenommenheit sowie die grundsätzliche Bereitschaft, mehr zu leisten als eingefordert werden kann. Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 85 5. Literaturverzeichnis Benda, Julien, Der Verrat der Intellektuellen, München/Hanser 1978 Benzinger, Olaf (Hg.), Das Carl Friedrich von Weizsäcker Lesebuch, München/Deutscher Taschenbuch Verlag 1992 Blumenberg, Hans, Die Vorbereitung der Aufklärung als Rechtfertigung der theoretischen Neugier, in: Friedrich, Hugo und Fritz Schalk (Hg.), Europäische Aufklärung. Herbert Dieckmann zum 60. Geburtstag, München/Fink 1967, 23-45 Blumenberg, Hans, Der Prozess der theoretischen Neugier. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von „Die Legitimität der Neuzeit“, dritter Teil, Frankfurt a. M./Suhrkamp 1973 Bormann, Claus von, Die Geschichte des Kritikbegriffs von den Griechen bis Kant, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel– Stuttgart/Schwabe 1984, 1249-1262 Bourdieu, Pierre, Die Intellektuellen und die Macht, Hamburg/VSA– Verlag 1991 Elias, Norbert, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2, Bern/Francke 21969 Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaft, Frankfurt a. M./Suhrkamp 1971 Gadamer, Hans–Georg, Gesammelte Werke in 10 Bänden, Bd. 8, Ästhetik und Poesie, Tübingen/Mohr 1985–1995 Gramsci, Antonio, Philosophie der Praxis, Frankfurt a. M./Fischer 1967 Hattrup, Dieter, Carl Friedrich von Weizsäcker. Physiker und Philosoph, Darmstadt/Primusverlag 2004 Havel, Vaclav, Versuch in der Wahrheit zu leben, aus dem Tschechischen von G. Laub, Reinbek b. Hamburg/Rowohlt 102000 Havel, Vaclav, Angst vor der Freiheit. Reden des Staatspräsidenten, übers. v. J. Bruss und G. Heißig, Reinbek b. Hamburg/Rowohlt 1991 Havel, Vaclav, Sommermeditationen, aus dem Tschechischen von J. Bruss, Reinbeck b. Hamburg/Rowohlt 1994 Husserl, Edmund, Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie, Weinheim/Beltz, Athenäum 1995 86 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 Köhler, Werner (Hg.), Carl Friedrich von Weizsäcker, Reden in der Leopoldina. Zum 80. Geburtstag des Physikers, Philosophen und Leopoldina–Mitglieds, Leipzig/Barth 1992 Köpl, Regina, Von gefallenen Engeln zur Not der geistigen Arbeiter. Der Intellektuelle als Kunstfigur moderner Subjektivität, in: Kreisky, Eva (Hg.), Von der Macht der Köpfe. Intellektuelle zwischen Moderne und Spätmoderne, Wien/WUV–Universitätsverlag 2000, 109-121 Kramer, Helmut, Wissenschafter als Intellektuelle. Von der Kunst und der Notwenigkeit der Provokation, in: Kreisky, Eva (Hg.), Von der Macht der Köpfe. Intellektuelle zwischen Moderne und Spätmoderne, Wien/WUV–Universitätsverlag 2000, 69-77 Kreisky, Eva (Hg.), Von der Macht der Köpfe. Intellektuelle zwischen Moderne und Spätmoderne, Wien/WUV–Universitätsverlag 2000 Lenk, Hans und Matthias Maring, Ethikkodices und Verantwortung in der Soziologie und in den Sozialwissenschaften, in: Lübschen, Günther (Hg.), Das Moralische in der Soziologie, Opladen/Westdeutscher Verlag 1998, 293-311 Lepenies, Wolf, Aufstieg und Fall der Intellektuellen in Europa, Frankfurt a. M/Campus 1992 Lepenies, Wolf, Das Ende der Utopie und die Rückkehr der Melancholie, in: Meyer, Martin (Hg.), Intellektuellendämmerung? Beiträge zur neuesten Zeit des Geistes, München–Wien/Hanser 1992, 15-26 Newman, John Henry, Bildung als Selbstzweck. In: Ders., Vom Wesen der Universität. Ihr Bildungsziel in Gehalt und Gestalt, Mainz/Grünewald 1960 Nussbaum, Martha C., Cultivating Humanity. A Classical Defense of Reform in Liberal Education, Cambridge (Mass.)/Havard University Press 72003 Ortega y Gasset, José, Der Intellektuelle und der Andere, in: Bergsdorf, Wolfgang (Hg.), Die Intellektuellen. Geist und Macht, Pfullingen/Neske 1982, 15-27 Popper, Karl R., Auf der Suche nach einer besseren Welt: Vorträge zbd Aufsätze aus dreißig Jahren, München–Zürich/Piper 112002 Popper, Karl R., Vermutungen und Widerlegungen, Tübingen 2000 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 87 Popper, Karl R., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bern/Francke 1957 Said, Edward W., Götter, die keine sind. Der Ort des Intellektuellen, Berlin/Berlin Verlag 1997 Sedmak, Clemens, Erkennen und Verstehen. Grundkurs Erkenntnistheorie und Hermeneutik, Innsbruck–Wien/Tyrolia 2003 Sedmak, Clemens, Katholisches Lehramt und Philosophie. Eine Verhältnisbestimmung, Freiburg im Breisgau/Herder 2003 Sedmak, Clemens, Theologie in nachtheologischer Zeit, Mainz/Grünewald 2003 Sloterdijk, Peter, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a. M./Suhrkamp 1999 Sloterdijk, Peter, Tau von den Bermudas. Über einige Regime der Einbildungskraft, Frankfurt a. M./Suhrkamp 2001 Steiner, George , Sprache und Schweigen. Essays über Sprache Literatur und das Unmenschliche, Frankfurt a. M./Suhrkamp 1967, Wessels, Ulla, Die gute Samariterin. Zur Struktur der Supererogation, Berlin/de Gruyter 2002 Weizsäcker, Carl Friedrich von, Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, München–Wien/Hanser 1977 Weizsäcker, Carl Friedrich von, Bewusstseinswandel, München/Deutscher Taschenbuch Verlag 1991 Weizsäcker, Carl Friedrich von, Wahrnehmungen der Neuzeit, München/ Deutscher Taschenbuch Verlag 1985 Weizsäcker, Carl Friedrich von, Die philosophische Interpretation der modernen Physik. Zwei Vorlesungen, in: Köhler, W. (Hg.), Carl Friedrich von Weizsäcker, Reden in der Leopoldina. Zum 80. Geburtstag des Physikers, Philosophen und Leopoldina-Mitglieds, Leipzig/Barth 1992, 129-157 Weizsäcker, Carl Friedrich von, Ebenen und Krisen in der Entwicklung der Wissenschaften, in: Köhler, W. (Hg.), Carl Friedrich von Weizsäcker, Reden in der Leopoldina. Zum 80. Geburtstag des Physikers, Philosophen und Leopoldina-Mitglieds, Leipzig/Barth 1992, 273-289 88 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 Weizsäcker, Carl Friedrich von, Technik als Menschheitsproblem, in: Benzinger Olaf (Hg.), Das Carl Friedrich von Weizsäcker-Lesebuch, München/dtv 1992, 109-126 Weizsäcker, Carl Friedrich von, Die Atomwaffe, in: Benzinger Olaf (Hg.), Das Carl Friedrich von Weizsäcker-Lesebuch, München/dtv 1992, 30-45 Weizsäcker, Carl Friedrich von, Gottesfrage und Naturwissenschaften, in: Benzinger Olaf (Hg.), Das Carl Friedrich von Weizsäcker-Lesebuch, München/dtv 1992, 127-150 Weizsäcker, Carl Friedrich von, Soziale Gerechtigkeit, in: Benzinger Olaf (Hg.), Das Carl Friedrich von Weizsäcker-Lesebuch, München/dtv 1992, 151-161 Literatur in Internet und Zeitschriften Havel, Vaclav, The Need for Transcendence in the Postmodern World, in: http://www.worldtrans.org/whole/havelspeech.htlm (5.12.2004) Ehrenkodex der Österreichischen Presse: http://www.aurora–magazin.at/journalismus/kodex.++htm (5.12.2004) http://www.religionsfreiheit.at/ehrenkodex.htm (5.12.2004) Ethikkodex des Max–Planck–Institutes: http://www.mpg.de/pri00/hg_regeln.htm (5.12.2004) Ethikkodex des BDS: http://www.userpage.fu–berlin.de/%7Eifs/bds/ethkod.html (5.12.2004) Ethikkodex der Universität Salzburg: http://www.sbg.ac.at/organisation/senat/aktuelles/uniethik.htm (5.12.2004) Geoscience online: http://www.g–o.de/index.php?md=focus_detail2&f_id=110&rang (5.12.2004) Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 89 Assheuer, Peter, Das Zarathustra–Projekt. Der Philosoph Peter Sloterdijk fordert eine gentechnische Revision der Menschheit, in: Die Zeit, 36/1999 Havel, Vaclac, Time to Act on North Korea, in: Washington Post, 18.6.2004, p. A 29 Ulrich, Schnabel und Werner Bartens, Müde Schnüffler im Labor, in: Die Zeit, Nr. 21/ 2003 Sloterdijk, Peter, Die Kritische Theorie ist tot, in: Die Zeit, 37/1999 Tugendhat, Ernst, Es gibt keine Gene für die Moral, in: Die Zeit 39/1999 Zimmerli, Walther Ch., Die Evolution in eigener Regie, in: Die Zeit 40/1999 90 Working Papers Theories & Commitments, Nr. 10, Jänner 2005 In der Reihe THEORY & C OMMITMENTS sind bisher folgende Hefte erschienen: 01 Robert DEINHAMMER (Hg.): Was heißt interdisziplinäres Arbeiten? 02 Scott FOLEY/Christoph KÜHBERGER/Clemens SEDMAK: Ethics of Science. Overview and Exemplification. November 2003 03 Daiva DÖRING et al.: Wissenschaft, Wertfreiheit, Lebensform. 04 Daniel BISCHUR /Clemens SEDMAK: ‚Aber ich bin eben auch ein Mensch’. Zum Umgang mit ethischen Fragen im Wissenschaftsalltag. Dezember 2003 05 Martin DÜRNBERGER/Markus R OSSKOPF: Option für die Armen. Zwei theologische Zugänge. Jänner 2004. 06 Robert DEINHAMMER et al.: ‚Man kann nicht denken, was man nicht tut’. Commitments und wissenschaftliche Theoriebildung. Februar 2004 07 Clemens SEDMAK: Option für die Armen. Eine Gebrauchsskizze. 08 Martin DÜRNBERGER/Clemens SEDMAK: Erfahrungen mit Interdisziplinarität. Juni 2004 09 Magdalena HOLZTRATTNER et al.: UCA – Eine Universität übernimmt die Verantwortung. Dezember 2004 Homepage: http://www.sbg.ac.at/phi/projects/start/index.htm Mai 2003 November 2003 Februar 2004