Der Schlüssel zur Wahrheit

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RELIGION
STANDPUNKT
Der Schlüssel zur Wahrheit
Passen Glaube, Rationalität und Wissenschaft überhaupt
zueinander?
05.08.2010 - von Rabbiner Levi Brackman
Vor ungefähr vier Jahren traf ich mich mit dem hiesigen katholischen Pfarrer, um zu erörtern, ob
wir für unseren Bezirk in Nord-London eine religionsübergreifende Gruppe ins Leben rufen
sollten. Unter anderem kamen wir auch auf das Thema biblische Geschichten zu sprechen.
»Glauben Sie, dass Noah wirklich existierte und es eine Flut gab?« Ich bejahte. »Dann sind Sie
ein Fundamentalist!«, rief er voller Verachtung. Vor Kurzem fragte mich wieder jemand, ob ich
glauben würde, G’tt habe die Welt in sechs Tagen erschaffen. Wieder antwortete ich mit Ja.
»Wenn herauskommt, dass du an die buchstäbliche Bedeutung dieser primitiven Erzählungen
glaubst, nehmen die Menschen dich nicht mehr ernst«, antwortete mein Gesprächspartner.
Wir haben es mit einer ernsten Angelegenheit zu tun: Wie können moderne Intellektuelle solche
aus der Antike stammenden Geschichten für wahr halten? Seit der wissenschaftlichen Revolution
gibt es doch bestimmt keinen rationalen, frei denkenden Menschen mehr, der diese überholten
Vorstellungen von der Erschaffung des Universums noch glaubt. Tatsächlich haben sich aus
diesem Grund zahlreiche religiöse Apologetiker bemüht, zu demonstrieren, dass die Bibel
100-prozentig mit der Wissenschaft kompatibel ist. Viele davon sahen sich aber gezwungen, das
traditionelle Verständnis der biblischer Erzählungen abzuändern, um sie den wissenschaftlichen
Theorien anzugleichen.
RATIONALISIERUNG Als Rabbiner, Theologe und Student der Philosophie habe ich eine
etwas andere Antwort auf die Frage, wie sich der Glaube zu Intellekt und Wissenschaft verhält.
Ich behaupte, dass echter Glaube nie blind ist – er führt immer zur Vernunft. Mein Freund
Daniel Rynhold hat ein Buch veröffentlicht: »Two Models of Jewish Philosophy: Justifying One’s
Practices« (Oxford University Press, 2005). Das Buch versucht, den Beweis für eine ähnliche
Behauptung zu führen. Es stellt zwei Methoden vor, mit denen jüdische Rituale und Praktiken
rationalisiert werden. Die erste Methode, im Buch »Priorität der Theorie« genannt, ist das
traditionelle Muster, nach dem Verhaltensweisen rationalisiert werden: Zunächst wird eine
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Theorie oder ein Prinzip aufgestellt. In einem zweiten Schritt wird eine bestimmte religiöse Praxis
mithilfe dieser Theorie oder dieses Prinzips gerechtfertigt.
So behauptet etwa Maimonides, die religiösen Bräuche der Juden seien so beschaffen, dass sie die
Vervollkommnung des Menschen herbeiführten. Ausgehend von diesem Prinzip erläutert
Maimonides, wie einzelne Bräuche dazu beitragen, diese Vervollkommnung zu verwirklichen. Hat
man also erst einmal eine Theorie zur Hand, kann man sie dann verwenden, die Rituale selbst zu
rationalisieren.
PRAXIS Diese Methode der Rationalisierung religiöser Praxis weist eine Reihe immanenter
Probleme auf, von denen Rynhold das folgende besonders betont: Wenn sich herausstellt, dass
eine Praxis von der aufgestellten Theorie oder dem Prinzip abweicht, besteht die Neigung,
entweder die Praxis selbst oder ihren hergebrachten Sinn zu ändern. Geschieht dies, lässt sich
daraus schließen, dass nicht alle religiöse Praktiken in ihrer ursprünglichen Form dem
behaupteten rationalen Prinzip oder der Theorie entsprechen, wodurch die ursprüngliche
Behauptung, nämlich dass alle Praktiken in einem bestimmten Prinzip oder einer Theorie fassbar
sind, widerlegt wäre.
Aufbauend auf diesem Gedanken behaupte ich, dass die Rechtfertigung religiöser Glaubenssätze
durch eine Reihe externer Prinzipien, nämlich die Wissenschaft, nicht weniger problematisch ist.
Stellt sich zum Beispiel heraus, dass die gesamte Schöpfungsgeschichte wörtlich genommen
unmöglich der Evolutionstheorie angepasst werden kann, liegt es nahe, den überlieferten Sinn der
biblischen Erzählung zu ändern, und das wurde auch von vielen getan. Dadurch wird
zugestanden, dass die biblische Geschichte im wörtlichen Sinne nicht rational ist und die
wissenschaftliche Realität verneint. So gerät man in die absurde Position, das ursprüngliche Ziel,
nämlich zu beweisen, dass die biblische Erzählung ganz und gar wissenschaftlich plausibel ist, zu
verwerfen.
RECHTFERTIGUNG Rynhold schlägt daher ein zweites Modell für die Rechtfertigung
religiöser Bräuche vor, die er als »Priorität der Praxis« bezeichnet. Das Konzept ist einfach: Die
Praxis selbst erzeugt eine Rationalität, die nicht auf Prinzipien oder allgemeine Theorien
reduzierbar ist. Auf der Grundlage der aristotelischen Philosophie, nach der aus einem
gewohnheitsmäßigen tugendhaften Verhalten eine vernunftbasierte und rationale Zuversicht in
tugendhaftes Verhalten erwächst, schließt Rynhold: »Es ist eine empirisch belegbare Tatsache,
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dass Gewohnheit und Praxis eine vernunftbasierte Zuversicht in unseren Praktiken
hervorbringen.« Ein Beispiel dafür ist der Schabbat: Den Schabbat in seinem ganzen Reichtum zu
erleben, bringt das Verständnis für die dahintersteckende vernunftgemäße Begründung hervor.
Auf diese Weise erzeugt die gewohnheitsmäßige Praxis eine rationale Wahrnehmung des Rituals,
die ohne das Erleben der Praxis selbst nicht denkbar wäre.
Nach diesem Modell der Rechtfertigung religiöser Praxis ist der Ausgangspunkt der Glaube. Man
glaubt, die Rituale seien der Mühe wert, weil sie göttlicher Herkunft sind. Doch kann man erst
nach der Ausübung eines Rituals ein rationales Verständnis seines Zweckes gewinnen. Dies sollte
niemanden überraschen, betont Rynhold, denn genau diese Methode wird angewendet, um
Kindern die Wichtigkeit des Lernens beizubringen. Nach Maimonides soll man ein Kind mit allen
möglichen materiellen Anreizen bestechen, bis es von selbst den Wert des Studiums zu würdigen
weiß.
ERKLÄRUNG Dieses Modell ist auch auf den Glauben an biblische und religiöse Lehren
anwendbar. In der Tat: Wenn man glaubt, wissenschaftliche Theorie bilde den Schlüssel zur
Wahrheit, ist die Anpassung der biblischen Schöpfungsgeschichte an diese vermeintliche
Wahrheit schwierig. Geht man jedoch vom Standpunkt des Glaubens aus und verficht die
Meinung, die Bibel sei das Wort G’ttes und enthalte daher die wahre Version der Ereignisse, wird
man früher oder später die vernünftige Erklärung hinter den Erzählungen verstehen. Einer der
großen chassidischen Meister sagte: »Für einen Gläubigen gibt es keine Fragen; für einen
Ungläubigen gibt es keine Antworten.« Das heißt nicht, dass der Gläubige blindlings glaubt. Zwar
brechen die Gläubigen von einem Standpunkt des Glaubens auf, doch endet ihre Reise nicht dort.
Wahre Gläubige können an die Lehre ihrer Religion glauben, ohne ihre intellektuelle Integrität
aufzugeben. Ähnliches gilt für die religiöse Praxis: Bevor man im Praktischen mit einem Ritual
vertraut ist, ist es schwierig, die dahintersteckende Vernunft zu erkennen. Während ein
Ungläubiger es als schwierig empfindet, die einer religiösen Lehre inhärenten Vernunftgründe zu
verstehen, fällt dies einem Gläubigen viel leichter.
VERSTÄNDNIS Bereits die Kabbalisten wussten, dass der Schlüssel zum richtigen Verständnis
biblischer und mystischer Vorstellungen der Glaube ist. Es gibt Menschen, die uns davon zu
überzeugen versuchen, dass Glaube und Intellekt eine unglückliche Ehe führen. Nichts könnte
weiter von der Wahrheit entfernt sein. Als ich 18-jährige High-School-Studenten in Jüdischen
Studien unterrichtete, waren sie oft überrascht, zu entdecken, dass es eine tiefe vernünftige Basis
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für religiöse Vorstellungen gibt. Häufig wird eine unglaubliche Menge geistiger Energie, auch
unbewusst, darauf gerichtet, unsere tiefsten Überzeugungen zur Gänze zu verstehen. Interessant
ist, dass diese Tatsache grenzüberschreitend zutrifft. Auch in der akademischen Welt wenden
Menschen gigantische Mengen Energie auf, intellektuelle und körperliche, um zu beweisen, dass
eine von ihnen geglaubte Theorie zutrifft. Wenn man wirklich an eine Theorie oder eine Lehre
glaubt, sind die meisten Hindernisse, sowohl intellektuelle als auch physische, überwindbar.
Wenn wir also die Schöpfungsgeschichte in der Tora lesen, sollten wir sie nicht als Dichtung
abtun und sagen, sie habe keinen wörtlichen Sinn. Stattdessen sollten wir erkennen, dass man
mit ein wenig Glauben das erreichen kann, was sonst schlechterdings unmöglich scheint.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. www.levibrackman.com
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