Die Musik machts - Jüdische Allgemeine

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RELIGION
ETHIK
Die Musik machts
Welche Lieder gut sind für Geist und Gemüt – und welche nicht
19.08.2010 - von Asher Meir
Die jüdische Tradition betont weniger den abstrakten Glauben, als vielmehr die konkrete Praxis.
Dadurch ergibt sich die Notwendigkeit, eine Umgebung zu wählen und Gewohnheiten
anzunehmen, die dem menschlichen Weiterkommen förderlich sind. Eine der berühmtesten
Aussagen dazu ist die Erklärung im Sefer Hachinuch, in der es heißt, die praktischen Gebote seien
notwendig, weil »das Herz den Taten nachfolgt«. Die Tora legt nicht irgendein spezielles Gefühl
oder eine bestimmte Charaktereigenschaft nahe, sondern beeinflusst uns, indem sie uns an
Handlungen und Erfahrungen gewöhnt, die ihrerseits eine aufgeklärte Sicht begünstigen.
BOTSCHAFTEN Zweifellos werden unsere Ansichten und Gewohnheiten stark beeinflusst von
den Botschaften, die die Kommunikationsmedien und Künste verbreiten und denen wir ausgesetzt
sind. Aus diesem Grund werden für Werbekampagnen Hunderte von Milliarden Dollar
ausgegeben, um auf die Kaufentscheidungen der Konsumenten einzuwirken. Das Gleiche gilt für
die Musik.
Rabbi Yehudah Amital erläuterte diesen Sachverhalt anhand einer Geschichte. In unseren
täglichen Gebeten ist die Kaddisch-Rezitation das häufigste Motiv. Der Gebetsleiter oder
Trauernde erklärt: »Erhoben und geheiligt werde sein großer Name« auf der Welt. Und die
Gemeinde antwortet: »Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit!« Der Talmud hebt die
Bedeutung dieser Erwiderung hervor und sagt, dass jeder, der diese Erklärung mit ganzer Kraft
und großer Konzentration ausspricht, vor bösen Gesetzen errettet wird. Doch wir müssen uns
eingestehen, dass viele von uns diese Höhe der Begeisterung nicht erreichen; und gelegentlich
(oder auch öfter als gelegentlich) antworten wir rein automatisch.
Rabbi Amital erzählt die Geschichte von einem Schüler, der zu seinem Rabbiner kam und
meinte, er komme sich wie ein Heuchler vor, da er das »Sein großer Name sei gepriesen« wieder
und wieder ganz mechanisch aufsage. Vielleicht wäre es besser, es einfach wegzulassen. Der
Rabbiner erwiderte: »Was würde geschehen, wenn wir alle zehnmal am Tag ausrufen würden:
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›Trink Coca-Cola!‹? Glauben Sie nicht, dass das auf uns eine Wirkung haben würde, selbst wenn
wir es auf mechanische, gewohnheitsmäßige Weise sprächen? So beeinflusst uns auch die Erwiderung auf das Kaddisch,
auch wenn wir die Wirkung nicht gleich spüren können.«
EINFLUSS Untersuchungen haben ergeben, dass junge Menschen jeden Tag hunderte Male
populärer Musik ausgesetzt sind, die gewalttätige sexuelle Beziehungen oder gewalttätige und
antisoziale Taten glorifizieren und zur Ablehnung von Autorität anspornen. Es ist einfach nicht
realistisch, zu glauben, diese Botschaften hätten keinen Einfluss auf den Charakter eines
Menschen – insbesondere den noch formbaren Charakter eines jungen Menschen, der in der
Entwicklung ist. Und Forschungsergebnisse bestätigen diesen Einfluss. Musik ist eine besonders
wirksame Art der Botschaft. In unserer Überlieferung wird die Macht der Musik, unsere
Emotionen und unseren Charakter zum Guten und zum Bösen zu beeinflussen, wiederholt
thematisiert. In der Heiligen Schrift wird berichtet, dass David einst die Harfe für Saul spielte, um
Sauls sorgenschweren Geist aufzurichten (1. Samuel, Kapitel 16); und der Prophet Elischah
pflegte den Geist der Prophezeiung in sich hineingehen zu lassen, indem er sich Musik vorspielen
ließ (2. Könige 3:15). Musik ist eine mächtige Art und Weise, die Lobpreisung Gottes kundzutun
(Psalmen, Kapitel 150) oder auf einer Hochzeit Freude auszudrücken (Jeremias 33:11).
Der Talmud weiß auch, dass Lieder helfen können, uns bei der Arbeit zu motivieren und einen
Rhythmus zu finden. Maimonides erklärt, Musik trage dazu bei, uns aufzumuntern, wenn wir
uns niedergeschlagen fühlen. Wir wissen aber auch, dass Musik einen negativen Einfluss haben
kann. Unsere Weisen befürchteten zum Beispiel, die Vertiefung in die Musik könnte dazu führen,
dass wir die Zerstörung des Tempels vergessen. Den Menschen heute fällt es schwer, die
Bedeutung der Erinnerung an den alten Tempel zu verstehen. Im Grunde hatten die Rabbiner
Angst, dass Musik als eine Art Beruhigungspille funktioniert und uns die Tatsache vergessen lässt,
dass die Welt wesentlich unvollständig ist, solange die göttliche Gegenwart nicht beständig unter
uns ist.
INSPIRATION Daher besteht der beste Nutzen der Musik darin, dass sie uns inspiriert, auf eine
höhere Stufe zu gelangen: auf eine höhere Stufe der Freude am Dienst Gottes (Musik für Braut
und Bräutigam zu spielen zum Beispiel); auf eine höhere Stufe des Bewusstseins und der
Lobpreisung Seines wohltätigen Wirkens (insbesondere in religiöser Musik); sogar auf eine höhere
Leistungsstufe bei unserer Arbeit. Heute, da aufgezeichnete Musik die Regel ist, ist nichts verkehrt
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daran, nebenbei Radio oder CDs zu hören, solange sie keine negativen Botschaften aussendet.
Doch das unüberlegte Hören birgt zweifellos eine Gefahr. Wir alle müssen uns schützen und
aufpassen, dass wir keinen antisozialen Botschaften ausgesetzt sind, und dass wir jenen, die wir
nicht vermeiden können, bewusst widerstehen.
Das Bemühen, zwischen konstruktivem und antisozialem künstlerischen Ausdruck eine klare
Linie zu ziehen, ist alt. Das bekannteste Beispiel ist das universelle Klassifizierungssystem für
amerikanische Filme. Es gibt Initiativen für eine ähnliche Klassifizierung von Websites. Ein
Beispiel aus jüngster Zeit ist das amerikanische »Parents Music Resource Center«, das einigen
Erfolg damit hat, die Musikproduzenten zu bewegen, Rockmusik nach gewalttätigen und explizit
sexuellen Inhalten zu klassifizieren.
GEWALT Am augenscheinlichsten wird das Problem bei solchen Liedern, die Verhaltensweisen
glorifizieren, die wir verurteilen: Gewalt, selbstzerstörerische Praktiken wie Drogenmissbrauch
oder auf Ausbeutung beruhende sexuelle Beziehungen. Glauben wir, dass die Musik tatsächlich
das Verhalten eines Menschen soweit beeinflusst, dass er antisoziale Taten verübt? Doch selbst
wenn das Anhören eines gewaltverherrlichenden Liedes nicht gleich dazu führt, dass jemand
selbst gewalttätig wird, so wird ein Mensch doch von der Summe seiner Erfahrungen beeinflusst,
und diese ethischen »Sollposten« neigen dazu, rasch zu akkumulieren.
TRADITION Die jüdische Tradition sensibilisiertuns für Dinge, die unseren normalen Sinn für
Scham oder Ekel unterhöhlen könnten. Praktisch verfügen wir alle über antisoziale Impulse, die
wir teilweise aufgrund sozialer Sanktionen – etwa Gefängnisstrafen für Gewaltdelikte –
blockieren, vor allem aber aufgrund unseres angeborenen Sinns für Anstand und Scham. Doch
dieser Sinn kann sich abnutzen, wenn Menschen gegen gewisse Erfahrungen unempfindlich
gemacht werden, bis ihnen diese Erfahrung nicht mehr seltsam oder ekelhaft vorkommt.
Die Tora verbietet es, Insekten zu essen. Sie sagt: »Jedes Kleintier, das sich auf dem Boden
bewegt, ist abscheulich und darf nicht gegessen werden ... Macht euch nicht selbst abscheulich
mit all diesem Gewimmel von Kleintieren, und macht euch durch sie nicht unrein, indem ihr
euch durch sie verunreinigen lasst« (3. Buch Moses 11,41–43). Aufgrund der Formulierung dieses
Verbots hat unsere Überlieferung es auf alles übertragen, was ein Mensch von Natur aus als
ekelhaft und widerlich empfindet. Der Talmud lehrt: »Sünde stumpft das Herz ab, denn es steht
geschrieben: Und macht euch durch sie nicht unrein, indem ihr euch durch sie verunreinigen
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lasst.« Lies nicht venitmeitem (verunreinigt werden), sondern venitamtem (abgestumpft werden
– offensichtlich aus der gleichen Wurzel abgeleitet). Wenn wir gegen unseren natürlichen Sinn
für Anstand handeln, geht die Tendenz dahin, dass die menschliche Sensibilität insgesamt
abgestumpft wird.
LIEBE Was ist mit Liebesliedern? Hier finden wir eine ähnlich ambivalente Einstellung, wie die,
die wir beim Thema Sport diskutiert haben. Auf der einen Seite ist der Wert dieser Lieder
sicherlich unbestritten. Die Heilige Schrift selbst enthält ein höchst kunstvolles Liebesgedicht: das
Hohelied. Obwohl die Liebesgeschichte des Hohelieds eine Allegorie der Liebe zwischen Gott und
dem Volk Israel ist, beweist allein die Tatsache, dass ein Liebeslied als passendes Medium für eine
solche Allegorie angesehen wurde, seinen inhärenten Wert.
Doch wir lesen auch die Warnung von Maimonides, vom Hohelied Abstand zu halten, denn es
bestehe die Gefahr, dass sich ein Mensch durch die Lektüre an Unanständigkeit gewöhnt. Und
Rav Ovadiah von Bartenura meinte geringschätzig, diese Art Literatur sei reine
Zeitverschwendung. Das, was wir über Sport gesagt haben, gilt auch hier: Die innere Einstellung
und das Ausmaß legen den Unterschied fest. Wenn ein Mann ein Liebeslied für seine geliebte
Ehefrau oder eine Frau für ihren geliebten Ehemann schreibt oder singt, ist das wahrlich
erhaben. Oft aber ist die Art der »Liebe«, die in solchen Liedern gefeiert wird, eine Liebe zum
Liebeserlebnis um seiner selbst willen. Das Judentum erkennt die Bedeutung der Liebe an, auch
der romantischen Liebe zwischen Eheleuten. Doch die jüdische Liebe ist ein Sport mit
Teilnehmern, kein Sport bloß für Zuschauer.
REALITÄT Wir leben in einer äußerst voyeuristischen Gesellschaft. »Reality Shows« sind
lediglich die Spitze des Eisberges. Die Obsession zuzuschauen, was andere Menschen treiben, statt
uns in unserer eigenen sozialen oder geistigen Realität zu engagieren, ist allgegenwärtig. Sogar
innerhalb unseres eigenen Lebens werden wir oft zu Zuschauern unserer eigenen privaten Reality
Show. Das Judentum aber, mit seiner Betonung auf der direkten, praktischen Erfahrung, die
Gebote zu befolgen, ist ganz darauf ausgerichtet, uns mit der Welt zu verbinden, damit die
Erfahrung sich mit Sinn füllt.
Der Autor ist wissenschaftlicher Direktor des Business Ethics Center of Jerusalem.
www.besr.org
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