Zentrum für Medizinische Ethik MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN Heft 187 AUFSÄTZE ZUR BIOETHIK 1927 - 1947 FRITZ JAHR Nachwort und Nachweise von Hans-Martin Sass Dezember 2010 2. erweiterte Auflage September 2011 Fritz Jahr AUFSÄTZE ZUR BIOETHIK 1927-1947 Inhaltsverzeichnis 1. Bio-Ethik. 1927 1 2. Der Tod und die Tiere. 1928 5 3. Tierschutz und Ethik. 1928 8 4. Soziale und sexuelle Ethik in der Tageszeitung. 1928 12 5. Wege zum sexuellen Ethos. 1928 14 6. Zwei ethische Probleme in ihrem Gegensatz und in ihrer Vereinigung im sozialen Leben. 1928 18 7. Gesinnungsdiktatur oder Gedankenfreiheit? 1930 23 8. Unsere Zweifel an Gott. 1933 26 9. Drei Studien zum 5. Gebot. 1934 27 10. Jenseitsglaube und Ethik im Christentum. 1934 32 11. Die sittlich-soziale Bedeutung des Sonntags. 1934 34 12. Zweifel an Jesus? 1934 37 13. Ethische Betrachtungen zu innerkirchlichen Glaubenskämpfen. 1935 38 14. Glauben und Werke in ihrem Gegensatz und in ihrer Vereinigung. 1935 41 15. Drei Abschnitte des Lebens nach 2. Korinther. 1938 45 16. Der Sonntag – ein weltlicher Feiertag. 1947 51 Nachwort 53 Nachweise 56 Fritz Jahr (1895 – 1953), evangelischer Pastor in Halle an der Saale, formulierte 1927 den Begriff und das Konzept von Bioethik. Mit Ausnahme des Schlüsselaufsatzes ‚Bio-Ethik‘ im ‚Kosmos‘ 1927 erschienen seine Schriften in lokalen theologischen und pädagogischen Zeitschriften von geringer Auflage. Jahr fand wenig Echo in den politisch und kulturell turbulenten zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Erst in diesem Jahrhundert beginnt international die Diskussion über den von Jahr formulierten Bioethischen Imperativ. Diese Edition stellt Material für den heutigen und zukünftigen bioethischen Diskurs bereit. Die Schreibweise ist modernisiert, die Hervorhebungen durch Jahr sind durchgehend kursiv geschrieben. Die Literaturhinweise in den Fußnoten sind von Jahr; auf eine weitere Kommentierung wurde verzichtet. Ich danke Juliane Brenscheidt, Andrea Bergmann-Delistat und Tanja Kohnen für die Mitarbeit an der Edition. Washington D.C. im Dezember 2010 Hans-Martin Sass Herausgeber: Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Prof. Dr. med. Michael Zenz Zentrum für Medizinische Ethik Bochum e.V. Ruhr-Universität Bochum, Gebäude NABF 04/297, 44780 Bochum, TEL +49 234 32-27084/50, FAX +49 234 32-14452 Email: [email protected] Internet: www.medizinethik-bochum.de Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge deckt sich nicht immer mit der Auffassung des ZENTRUMS FÜR MEDIZINISCHE ETHIK BOCHUM. Er wird allein von den Autoren verantwortet. Das Copyright liegt beim Autor. ©Hans-Martin Sass 1. Auflage Dezember 2010 2. erweiterte Auflage September 2011 Schutzgebühr: € 6,00 Bankverbindung: Sparkasse Bochum BLZ: 430 500 00 ISBN:978-3-931993-67-2 Kto.-Nr. 133 189 035 1.BIO-ETHIK. 1927 Eine Umschau über die ethischen Beziehungen des Menschen zu Tier und Pflanze Die scharfe Scheidung zwischen Tier und Mensch, die seit Beginn unserer europäischen Kultur bis zum Ende des 18. Jahrhunderts herrschend war, kann heute nicht mehr aufrechterhalten werden. Die Seele des europäischen Menschen rang bis zur französischen Revolution um die Einheit von religiöser, philosophischer und wissenschaftlicher Welterkenntnis, aber diese Einheit haben wir seitdem unter dem Druck der Erkenntnisfülle aufgeben müssen. Es wird stets das Verdienst der modernen Naturwissenschaft bleiben, dass sie eine vorurteilslose Betrachtung des Weltgeschehens erst möglich gemacht hat. Wir würden uns heute als Wahrheitssucher aufgeben, wenn wir die Erfolge der Tierexperimente, Blutversuche, Serumforschung u. v. a. ablehnen wollten. Andererseits dürfen wir nicht verkennen, dass gerade diese wissenschaftlichen Triumphe des Menschengeistes den Menschen selbst seine beherrschende Stellung im Weltganzen genommen haben. Die Philosophie, die früher der Naturwissenschaft ihre Leitgedanken vorschrieb, musste nun selbst ihre Systeme auf naturwissenschaftlichen Einzelerkenntnissen aufbauen, und es war nur eine dichterphilosophische Formulierung der Erkenntnis Darwins, wenn Nietzsche den Menschen als ein recht minderwertiges Übergangsstadium zu einer höheren Entwicklung, als ein ‚Seil, gespannt zwischen Tier und Übermensch‘ ansah. Was folgte aus dieser Umwälzung? Zunächst die grundsätzliche Gleichstellung von Mensch und Tier als Versuchsobjekt der Psychologie. Diese beschränkt sich heute nicht mehr auf den Menschen, sondern arbeitet mit denselben Methoden auch auf dem Gebiet des Tierischen, und wie es eine vergleichende anatomisch-zoologische Forschung gibt, so werden auch höchst lehrreiche Vergleiche zwischen Menschen- und Tierseele angestellt. Ja, sogar die Anfänge einer Pflanzenpsychologie machen sich bemerkbar, die bekanntesten ihrer Vertreter sind: G. Th. Fechner in der Vergangenheit, R. H. Francé, Ad. Wagner und der Inder Bose in der Gegenwart, so dass die moderne Psychologie alle Lebewesen in den Bereich ihrer Forschungen zieht. Unter diesen Umständen ist es nur folgerichtig, wenn R. Eisler zusammenfassend von einer Bio-Psychik (Seelenkunde alles Lebenden) spricht. Von der Bio-Psychik ist nur ein Schritt bis zur Bio-Ethik, d.h. zur Annahme sittlicher Verpflichtungen nicht nur gegen den Menschen, sondern gegen alte Lebeweisen. Sachlich ist die Bio-Ethik durchaus nicht erst eine Entdeckung der Gegenwart. Als ein besonders anziehendes Beispiel aus der Vergangenheit dürfte uns gerade jetzt die Gestalt des hl. Franz von Assisi (1182-1226) mit seiner großen Liebe auch zu den Tieren in der Erinnerung 1 aufsteigen, der in seiner warmen Sympathie für alle Lebewesen der Rousseauschen Schwärmerei für die ganze Natur um Jahrhunderte vorauseilte. Als die Einheit der europäischen Weltanschauung gegen das Ende der Barockzeit zerbrach, war das europäische Geistesleben auch zum ersten Mal in der Lage, fremde Gedankenwelten vorurteilslos auf sich wirken zu lassen. Schon Herders umfassender Geist, der für kommende Dinge damals vielleicht die feinste Witterung hatte, erwartete vom Menschen, dass er sich nach dem Vorbild der alles mit ihrem Gefühl durchdringenden Gottheit in jedes Geschöpf versetzen und in dem Maße mit ihm empfinden könne, als das Geschöpf es bedarf. Dieser Gedanke erinnert schon ganz an die indische Geisteswelt, die gerade damals von England aus entdeckt wurde. Aber erst in der Romantik hat Indien das europäische Geistesleben, und seine damals bedeutendste Provinz Deutschland, wirklicht befruchtet. Die in Indien ausgebildete Lehre von der Seelenwanderung hat auch das Denken der indischen Philosophenschulen, vor allem der Sankhyaschule beeinflusst. Von dieser Schule trennte sich die Yogalehre ab, die die schärfsten Folgerungen aus diesen Gedankengängen zieht. Der Yogabüßer soll unter keinen Umständen auf Kosten seiner Mitgeschöpfe leben; er soll vor allem keine Tiere töten, aber auch Pflanzenkost nur unter gewissen Voraussetzungen genießen. Er muss ein Tuch vor dem Mund tragen, um beim Einatmen kein noch so kleines Lebewesen zu vernichten; aus demselben Grund muss er das Trinkwasser filtrieren und darf nicht baden. Die Sucht, keinem Lebewesen bei der Selbsterhaltung zu schaden, führt auch noch heute gewisse indische Büßer dazu, sich von Pferdemist zu nähren. Wenn in diesem Zusammenhang natürlich auch Buddha genannt werden muss, so muss doch betont werden, dass gerade von diesem Religionssünder die fanatischen Selbstschädigungen der Yogaschule abgelehnt wurden. Buddha verbietet den Genuss tierischer Lebensmittel, lässt dagegen Pflanzenkost in weitem Umfang zu. Wie Buddha selbst und seine Lehre vom Glauben der Seelenwanderung durchdrungen war, zeigt für uns Europäer wohl am schönsten die Sammlung der Jatakas , der buddhistischen Märchen, die Buddha in den Mund gelegt werden, und in denen er Geschichten aus seiner früheren Lebenszeit erzählt. Nicht nur als Mensch will er schon gelebt haben, sondern er weiß auch von Daseinsformen zu berichten, in denen er ein Elefant, eine Gazelle, ein Krebs usw. gewesen sein will. Noch schöner als bei Franz von Assisi ist in diesen Geschichten der Gedanke ausgebrochen, dass der Mensch mit allen Geschöpfen wesensverwandt sei. Diese Gedankenreihen lösten im europäischen Geistesleben seit der Romantik verwandte Gedanken aus, wenn auch natürlich zunächst nicht in dieser schroffen Form. Der Theologe Schleiermacher (1768 - 1884) erklärte es für unsittlich, dass Leben und Gestaltung, wo sie schon sind, also auch beim Tier und bei der Pflanze, zerstört werden, ohne dass ein 2 vernünftiger Zweck damit verbunden sei. Desgleichen fordert der Philosoph Krause, ein Zeitgenosse Schleiermachers, dass jedes Lebewesen als solches zu achten sei und zwecklos nicht zerstört werden dürfe. Denn sie alle, die Pflanzen und die Tiere, ebenso wie der Mensch, seien gleichberechtigt, allerdings nicht zu gleichem, sondern ein jedes nur zu dem, was ein notwendiges Erfordernis zur Erreichung seiner Bestimmung sei. Offen berief sich auf die indische Gedankenwelt der Philosoph Schopenhauer, der es als einen besonderen Vorzug seiner Ethik ansah, ihre Haupttriebfeder das Gefühl des Mitleids, auch für das Tier gefordert zu haben. Durch Richard Wagner, der von Schopenhauer stark beeinflusst ist und ein leidenschaftlicher Tier- und Tierschutzfreund war, sind diese Gedanken für breiteste Kreise Allgemeingut geworden. So ist uns in Bezug auf das Tier die sittliche Forderung längst eine Selbstverständlichkeit geworden, wenigstens in der Form, es nicht nutzlos zu quälen. Anders ist es schon mit den Pflanzen. Dass wir auch gegen diese gewisse ethische Pflichten haben, dürfte manchem im ersten Augenblick als widersinnig erscheinen. Aber schon ein Paulus lenkte unser Mitgefühl auch auf Tier und Pflanzen. Ein Gegenstück dazu sind die verklärt stimmungsvollen Ausführungen im 3. Akt von Richard Wagners Parsifal. In frommer Huld schont der Mensch wenigstens am Karfreitag Halm und Blume auf der Au mit sanftem Schritt, um sie nicht zu verletzen. Aber auch in den pflanzenethischen Überlegungen eines so nüchternen Philosophen, wie es der vor 20 Jahren verstorbene Ed. von Hartmann war, finden wir verwandte Gedanken. In einem Aufsatz über den Blumenluxus schreibt er von einer gepflückten Blüte: ‚Sie ist ein zum Tode verwundeter Organismus, dessen Farben nur noch nicht beschädigt sind, ein noch lebendes und lächelndes Haupt, das von einem Rumpf getrennt ist. - Wenn ich aber die Rose im Wasserglas oder auf den Draht eines Buffets geflochten sehe, so kann ich mich des widerwärtigen Gedankens nicht erwehren, dass der Mensch ein Blumenleben gemordet hat, damit es im Sterben ein Auge erfreue, dass herzlos genug ist, den unnatürlichen Tod unter dem Schein des Lebens nicht herauszufühlen.‘ So fein empfindend wie Ed. Von Hartmann, ist die große Menge natürlich nicht. Jeder weiß zwar, dass auch die Pflanze ein Lebewesen ist, das durch das Abschneiden der Blumen verletzt wird, aber der Gedanke, dass sie dies auch verspüren könne, liegt uns völlig fern. Soweit ist das Bewusstsein von einer Pflanzenseele noch nicht in uns vorgedrungen. Zudem wissen wir, dass die Blumen auch an der Pflanze selbst verwelken und verdorren, und deshalb findet man an dem Abschneiden von Blumen, namentlich wenn sie zu diesem Zweck herangezogen worden sind, nichts auszusetzen. 3 Wir gehen dabei von ganz anderen Voraussetzungen aus als die indischen Schwärmer, die überhaupt kein Lebewesen antasten wollen. Auch unsere gesetzlichen oder polizeilichen Bestimmungen über den Schutz einzelnen Pflanzen oder Blumen in einer bestimmten Gegend (z.B. der Alpenpflanzen) beruhen auf einer ganz anderen Anschauung: Der Polizeistaat will die betreffenden Pflanzen schützen, damit sie in der Gegend nicht vernichtet werden und später auch noch andere Menschen erfreuen können. Wo eine Pflanze in ausreichender Menge vorhanden ist, denkt der Staat gar nicht daran, sie um ihrer selbst wissen zu schützen. Auch unsere Anschauung vom Tierschutz beruht auf einer wesentlich anderen Grundlage als das Verhalten der Inder. Wenn wir in dem Roman von Richard Voß ‚Der heilige Hass‘ lesen, wie ein Rodiya-Knabe, also ein Angehöriger einer verachteten Kaste, selbst eine giftige Schlange nicht töten will, ‚weil auch die Schlangen unsere Brüder und Schwestern sind‘, so haben wir für dieses Empfinden kein Verständnis, und wir halten es sogar für unsere Pflicht, schädliche Tiere zu töten, wenn wir können. Wir lassen auch Haustiere vom Schlächter töten oder harmloses Wild vom Jäger erlegen, weil wir Fleisch essen wollen, dass manche Leute in unseren Gegenden nicht entbehren zu können glauben, während in tropischen Ländern pflanzliche Nahrungsmittel in überreicher Fülle zur Verfügung stehen. Unser Tierschutz findet also eine Grenze an einem Nützlichkeitsgesichtspunkt, über den sich der Inder kühn hinwegsetzt, und wir begnügen uns damit, wenigstens unnütze Tierquälerei zu vermeiden. Leider reichen noch bei weitem nicht in allen Kulturländern die gesetzlichen Bestimmungen zur Verhütung oder Bestrafung solcher Quälereien aus. Aber wir sind doch auf dem Wege des Fortschritts, und der Tierschutz gewinnt in immer weiteren Kreisen Raum, so wie es ja auch kein anständiger Mensch widerspruchslos ansieht, wenn irgendein Flegel gedankenlos Blumen am Wege mit dem Spazierstock köpft, oder wenn Kinder Blumen abreißen, um sie nach wenigen Schritten wegzuwerfen. Unsere Selbsterziehung hat in dieser Hinsicht schon wesentliche Fortschritte gemacht, aber wir müssen es noch so weit bringen, dass als Richtschnur für unser Handeln die bio-ethische Forderung gilt: Achte jedes Lebewesen grundsätzlich als einen Selbstzweck, und behandle es nach Möglichkeit als solchen! 4 2. DER TOD UND DIE TIERE. 1928 Eine Betrachtung über das 5. Gebot ‚Du sollst nicht töten‘, so mahnt uns Christen das 5. Gebot.- Bezieht sich das Töten nicht immer auf etwas Lebendiges? Und da das Gebot nicht ausdrücklich nur das Töten des Menschen verbietet, sollten es dann nicht vielleicht auch in Beziehung auf andere Lebewesen besonders auf die Tiere, für uns Geltung haben? Vielleicht hat ein Künstler, wie der Maler Fidus, mit seinem Sinn das Rechte getroffen mit seinem Bilde ‚Du sollst nicht töten‘: eine ideale Kindesgestalt, Unschuld und Reinheit verkörpernd, die sich mit abwehrend ausgebreiteten Armen vor ein Tier, einen Hirsch stellt, um ihn vor dem tödlichen Geschoß des Jägers zu erretten!? Stehen uns die Tiere aber wirklich so nahe, dass wir sie gleichsam als unsere ‚Nächsten‘ einschätzen und behandeln müssten? - Ohne Zweifel sind ganz gewaltige Unterschiede zwischen dem Menschen und den Tieren vorhanden, und auch die moderne Naturwissenschaft bestätigt diese Tatsache nur. Das hindert jedoch nicht, dass andererseits die Biologie, die Wissenschaft vom Leben, besonders seit Darvin auch nicht wenige verwandte Züge bei beiden festgestellt hat, Züge die in der Medizin eine eminent praktische Verwertung finden. Tierexperimente, Blutversuche, Serumforschung, Überpflanzung von tierischem Gewebe auf den Menschen und noch manches andere wäre hier zu nennen. Auch auf dem Gebiete des Seelenlebens sind interessante Parallelen zwischen Mensch und Tier festzustellen, so dass sich beide nicht nur physiologisch, sondern auch psychologisch in gewisser Weise ‚nahe stehen‘. Diese Tatsache braucht uns jedoch keineswegs ein Grund zur Beunruhigung zu sein. Ist sie doch vielmehr geeignet, uns mit Stolz zu erfüllen; denn was der menschliche Forschergeist erst in neuerer Zeit von sich aus fand, das ist in seinem Kerne schon in der heiligen Schrift zu finden. So spricht bereits das I. Buch Mosis von einer ‚Seele‘ der Tiere (I. Mose 9, 16). Auch der Prediger Salomos setzt eine solche, ebenso wie beim Menschen, so auch bei ihnen voraus und fragt zweifelnd: ‚Wer weiß, ob der Odem des Menschen aufwärts fahre, und der Odem des Viehes unterwärts in die Erde fahre?‘ (Pred. 3, 21.) Auf jeden Fall aber sehnt sich alle Kreatur, nicht nur der Mensch, sondern auch die Tiere, nach der Erlösung von Tod und Vergänglichkeit, wie der Apostel Paulus in seinem Briefe an die römische Gemeinde lehrt (Römer 8, 18-23); ein Zeichen dafür, dass man schon in jenem nun längst vergangenen Zeiten bei Mensch und Tieren gemeinsame Eigenschaften erkannte. Was Wunder, dass dann später ein Franz von Assisi alle Lebewesen seine Schwestern und Brüder nannte, und dass auch ein Herder in den Tieren ‚des Menschen ältere Brüder‘ 5 erblickte. Wenn dem aber wirklich so ist, dann begreift man, dass Gott, ähnlich wie mit den Menschen, auch mit den Tieren einen Bund machte, wie im I. Buch Mosis (Mose 9, 9-10. 17) und beim Propheten Hosea (Hos. 2, 20) zu lesen ist, und dass sie sogar in dem kommenden Reiche Gottes einen Platz haben werden, wie Jesaja (11, 6-8) schreibt: ‚Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen, und die Pardel bei den Böcken liegen. Kälber und junge Löwen werden miteinander weiden, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kühe und Bären werden auf der Weide gehen, und ihre Jungen werden beieinander lagern, und die Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. Ein Säugling wird seine Lust haben an der Höhle der Otter, und ein Entwöhnter wird seine Hand strecken in die Höhle der Natter.‘ Kein geringerer als Luther selbst hat sich in seinen Tischreden zum Glauben an eine solche Aufnahme der Tiere in das künftige Gottesreich bekannt. Ist dem aber so, dass Naturwissenschaft und heilige Schrift in gleicher Weise, die Tiere so hoch einschätzen, dann folgt ohne weiteres aus dieser Tatsache, dass wir Christen sittliche Verpflichtungen gegen sie haben. So wäre denn das 5.Gebot von uns tatsächlich auch auf die Tiere anzuwenden. Ausdrücklich hat Schleiermacher, der bedeutendste Theologe der neueren Zeit, diese Folgerung gezogen, indem er es für unsittlich erklärt, dass Leben und Gestaltung, wo sie schon sind, also auch bei den Tieren, zerstört werden, ohne dass ein vernünftiger Zweck damit verbunden ist. Allerdings scheint die Erfüllung des 5.Gebotes in seiner Ausdehnung auf die Tiere eine Utopie zu sein; denn das Schlachten und Töten der Tiere, möge dieses letztere auch nur mittelbar geschehen durch Entziehung der notwendigen Lebensbedingungen infolge der Ausbreitung des Menschengeschlechtes, ist schlechterdings unvermeidlich. Der Kampf ums Dasein ist es, der uns diese Notwendigkeit auferlegt. Aber dieser Grundsatz beeinflusst ja auch, je sehr wir das vielleicht bedauern mögen, unser sittliches Verhalten gegen unsere Mitmenschen. Denn unser ganzes Leben und Treiben in der Politik, im Wirtschaftsleben, im Kontor, in der Werkstatt, auf dem Acker, es ist in seinen Ursachen und Zielen keineswegs in erster Linie auf die Liebe eingestellt, vielmehr aber auf Kampf mit irgendwelchen Mitbewerbern. Wir werden uns dessen meist nur nicht bewusst, solange dieser Kampf in gesetzlich erlaubter Weise geführt wird. In diesem Kampfe der Menschen ums Dasein wird auch mit vollem Bewusstsein Menschenkraft, Menschengesundheit und Menschenleben verbraucht, und das gilt nicht etwa nur für Kriegszeiten, sondern auch für das ‚friedliche‘ Leben der fortschreitenden Kulturentwicklung, besonders in manchen Industriezweigen. Trotz alledem wird niemand das 5. Gebot als eine utopische Forderung ansehen. Und da das Verhalten gegen die Tiere, wenn es durch den Kampf ums Dasein bestimmt wird, 6 grundsätzlich nicht aus dem Rahmen unseres Verhaltens gegen die Menschen herausfällt, so kann und muss das Gebot als Ideal, als Richtungspunkt unseres sittlichen Vorwärtsstrebens, auch hier seine Geltung behalten. Aber welchen Einfluss kann im Hinblick auf die genannte Einschränkung das Ideal, auch das Leben der Tiere zu schonen, auf die Wirklichkeit haben? - Das sagt uns Schleiermacher mit seiner Forderung, Tiere nur dann zu töten, wenn es zur Erreichung eines vernünftigen Zweckes notwendig ist. Im Übrigen geben uns die Tierschutz-Paragraphen in den Gesetzbüchern aller Kulturstaaten sowie die Bestrebungen der Tierschutzvereine weiter Anleitung, wie wir uns ‚unseres Viehes erbarmen‘ sollen. Die Forderung, auch das tierische Leben zu schonen, hat absolute Geltung, ohne jede Rücksicht darauf, ob uns ein äußerer Vorteil daraus erwächst, wie denn überhaupt die Ethik nach solchen Dingen nicht fragt und nicht fragen darf. Wie Schopenhauer, so betont besonders auch Richard Wagner diese Tatsache: ‚Jeder, der bei dem Anblicke der Qual eines Tieres sich empört, wird hierzu einzig vom Mitleiden angetrieben, und wer sich zum Schutze der Tiere mit anderen verbindet, wird hierzu ebenfalls nur vom Mitleiden bestimmt, und zwar von einem seiner Natur nach gegen alle Berechnungen der Nützlichkeit durchaus gleichgültigen und rücksichtslosen Mitleiden.‘ Wenn man an diesem Grundsatz festhält, so ist es aber dennoch sehr interessant und nutzbringend, sich mit der Frage zu beschäftigen: ‚Welche Wirkung hat die Ausdehnung unserer sittlichen Verpflichtungen über den Menschen hinaus auf die Tiere auf unser Verhältnis zu unseren Mitmenschen? Ist nicht zu befürchten, dass unsere Aufmerksamkeit von der Not der letzteren abgelenkt wird, wenn wir unser Augenmerk auf die ersteren richten?‘- Gerade das Gegenteil ist der Fall: Wenn wir ein fühlendes Herz auch für die Tiere in der Brust hegen, dann werden wir der leidenden Menschheit unser Mitleid und unsere Hilfe ebenfalls nicht vorenthalten. Wessen Liebe so groß ist, dass sie, über die Grenzen des NurMenschlichen hinausgehend, noch im armseligsten Geschöpf etwas Heiliges sieht, der wird auch in den ärmsten und geringsten seiner Menschenbrüder dieses Heilige zu finden und hoch zu achten wissen und sich dabei auch nicht auf einen begrenzten Teil derselben, etwa eine Gesellschaftsklasse, einen Interessenverband oder eine Partei, beschränken. Umgekehrt ist Grausamkeit gegen die Tiere ein Zeichen für einen rohen Charakter, der auch seiner menschlichen Umgebung gefährlich werden kann. Auf diese Tatsache weist neben vielen anderen Denkern der Philosoph Kant nachdrücklich hin, und im Hinblick auf sie bezeichnet er die schonende und barmherzige Behandlung der Tiere geradezu als eine Pflicht des Menschen gegen sich selbst. 7 Vor allem aber ist die Schonung des tierischen Lebens, soweit sie möglich ist, Pflicht gegen Gott; denn wenn wir den Schöpfer ehren wollen, dann müssen wir zugleich sein Werk, also auch die Tiere, mit Ehrfurcht ansehen und behandeln, um so mehr, als wir wissen, dass er diese ebenfalls liebt (Jona 4, 11) und ihrer mit gedachte, als er gebot: ‚Du sollst nicht töten!‘ 3. TIERSCHUTZ UND ETHIK IN IHREN BEZIEHUNGEN ZUEINANDER. 1928 Das Mitleid mit den Tieren erscheint als ein empirisch gegebenes Phänomen der Menschenseele. Diese Tatsache hat u. a. schon der Dichterphilosoph Herder erkannt und in seinen ‚Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‘ ausgesprochen. Dass dieses Phänomen in jeder normalen Menschenseele in größerem oder geringerem Maße vorhanden ist, nimmt auch das deutsche Strafgesetzbuch an, indem es in § 360, 13 voraussetzt, dass Tierquälerei dazu angetan ist, Ärgernis zu erregen. Ausnahmen, die natürlich vorhanden sind, können an der Richtigkeit dieser psychologischen Beobachtung ebenso wenig etwas ändern, als das Dasein von Blinden ein Beweis dafür sein kann, dass das Sehvermögen keine wesentliche Eigenart der Menschenart sei. Dieses Mitleid ist das eigentliche Motiv des Tierschutzgedankens. Dasselbe nimmt keine Rücksicht darauf, ob dem Menschen ein äußerer Vorteil daraus erwächst oder nicht, eine Tatsache, die unter dem Einfluss von Schopenhauers Schrift ‚Über das Fundament der Moral‘ auch Richard Wagner betont, indem er sich in einem ‚Offenen Briefe‘ an Ernst von Weber folgendermaßen äußert: ‚Jeder, der bei dem Anblicke der Qual eines Tieres sich empört, wird hierzu einzig vom Mitleiden angetrieben, und wer sich zum Schutze der Tiere mit anderen verbindet, wird hierzu ebenfalls nur vom Mitleiden bestimmt, und zwar von einem seiner Natur nach gegen alle Berechnungen der Nützlichkeit gleichgültigen und rücksichtslosen Mitleiden.‘ Wenn man den unbedingten Charakter der Tierethik (wie man den Tierschutz nach dem Vorbild von Bregenzer, der als erster eine wissenschaftliche ‚Tierethik‘ vom ethischjuristischen Standpunkte aus schrieb, wohl auch nennen kann) jedoch auch anerkennt, so darf man trotzdem nicht unterlassen, die Frage nach einem etwaigen Zusammenhang zwischen Tierschutz und Ethik zu stellen, bzw. zu beantworten zu suchen. Mit anderen Worten: Welche Wirkungen hat die Ausdehnung unserer sittlichen Verpflichtung über den Menschen hinaus auf die Tiere auf unsere Verhältnisse zu unseren Mitmenschen? Ist nicht zu befürchten, dass unsere Aufmerksamkeit von der Not der letzteren abgelenkt wird, wenn wir unser Augenmerk auch auf die ersteren richten? Der Philosoph Eduard von Hartmann, der jedoch im Übrigen keineswegs tierfeindlich ist, befürchtet allerdings dieses letztere in einem Aufsatze über ‚Unsere Stellung zu den Tieren‘. Als Beispiel dafür weist er hin auf eine ‚versauerte alte 8 Jungfer‘, die ihren fetten Mops mit Braten und Süßigkeiten überfüttert, während sie ihre Dienstboten darben lässt. Oder er findet die Tierliebe bei verbitterten Menschenverächtern, kaltgrausamen Ketzerrichtern und blutdürstigen Revolutionshelden. So sicher nun auch derartige Fälle zu beobachten sind, ebenso sicher ist es andererseits, dass sich solche Ausführungen Hartmanns letztlich gegen eine falsche Tierliebe richten. Solche falsche Liebe kann aber ebenso gut einen Menschen zum Gegenstand haben. Sie äußert sich dort etwa in widerlicher Verhätschelung, in ungerechter Bevorzugung, in ‚Vetternwirtschaft‘ und manchen anderen Dingen, die leider noch immer weit verbreitet sind. Ist aber solche falsche Menschenliebe kein durchschlagendes Argument gegen die Ethik, so ist auch die zuweilen auftretende falsche Tierliebe kein Beweis gegen die Berechtigung des Tierschutzes. Vielmehr liegt die Sache so: Wenn wir ein fühlendes Herz auch für die Tiere in der Brust hegen, dann werden wir leidenden Menschen unser Mitleid und unsere Hilfe ebenfalls nicht vorenthalten. Wessen Liebe so groß ist, dass sie, über die Grenzen des Nur-Menschlichen hinausgehend, noch im armseligsten Geschöpf etwas Heiliges sieht, der wird auch in den ärmsten und geringsten seiner Menschenbrüder dieses Heilige zu finden und hoch zu achten wissen und sich dabei nicht auf einen begrenzten Teil derselben, etwa eine Gesellschaftsklasse, einen Interessenverband, eine Partei und was sonst noch in Betracht kommen mag, beschränken. Umgekehrt ist gefühllose Grausamkeit gegen die Tiere ein Zeichen für einen rohen Charakter, der auch seiner menschlichen Umgebung gefährlich werden kann. Auf diese Tatsache von höchster Bedeutung für die Gesellschaftsethik weist neben vielen anderen Denkern der Philosoph Kant nachdrücklich hin, und im Hinblick auf sie bezeichnet er in den ‚Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre‘ die schonende und barmherzige Behandlung der Tiere geradezu als eine Pflicht des Menschen gegen sich selbst. Ein Ausspruch des Grafen Leo Tolstoi: ‚Vom Tiermord zum Menschenmord ist nur ein Schritt‘ mag in dieser Formulierung vielleicht übertrieben erscheinen. Jedoch entspricht seine Äußerung ihrem Sinne nach letzten Endes der Anschauung Kants. Auch die Tierschutzparagraphen in den Strafgesetzbüchern werden oft in ähnlicher Weise wie bei Kant begründet. Z.B. ist dies der Fall bei dem Juristen R. von Hippel, der zugleich den größten Teil des in Betracht kommenden historischen und statistischen Materials gesammelt und geordnet hat. Nun ist jedoch ein zweckmäßiger, leistungsfähiger Tierschutz nur dann gut möglich, wenn genügende Naturerkenntnis und wenigstens einiges Naturverständnis vorhanden ist. Denn tatsächlich kann man die Tiere nur dann wirklich schützen, wenn man ihre physiologischen und psychologischen Eigenschaften und Lebensbedingungen einigermaßen kennt. Daher ist es 9 mit ein Hauptziel der Tierschutzbewegung, solche Kenntnis und solches Verständnis der Natur nach Möglichkeit zu wecken, zu verbreiten und zu vertiefen. Solches Naturinteresse wird sich dann ganz von selbst nicht auf die Tiere beschränken, sondern nach der einen Seite die Pflanzen, nach der anderen Seite (und das ist für uns in diesem Zusammenhange das Wichtigere) den Menschen mit einbeziehen müssen. Wird dieses Ziel, wenn auch nur zum Teil, erreicht, dann ist ein günstiger Einfluss auf den Menschen und seine Lebensführung mit Sicherheit zu erwarten, und zwar im Sinne einer normalen, gesunden Natürlichkeit, die jedoch nichts zu tun hat mit einem ungezügelten Ausleben überreizter, ungesunder und damit letzten Endes unnatürlicher Triebe, welche Zügellosigkeit leider oft fälschlich als Natürlichkeit angesehen wird. Dass die Förderung der Naturerkenntnis, des Naturverständnisses und der echten Naturliebe z.B. auch auf die Sexualethik günstig einwirken muss, ist eines Beweises wohl nicht weiter bedürftig. Ist es nun tatsächlich so, dass der richtig verstandene und richtig betriebene Tierschutz fördernd auf die Ethik einwirkt, stimmt es, dass er volkserziehenden und volksbildenden Wert hat, dann darf er unter keinen Umständen vernachlässigt werden. Andererseits wird ein jeder, der tierschützerisch eingestellt ist, allgemein ethische Bestrebungen, die ja, wie gesagt, auch an der Tierethik nicht ablehnend oder schweigend vorübergehen dürfen, nach Kräften zu fördern suchen, weil er damit indirekt zugleich für den Tierschutz arbeitet. Die Tatsache des engen Zusammenhanges zwischen Tierschutz und Ethik beruht letztlich darauf, dass wir nicht nur gegen die Mitmenschen, sondern auch gegen die Tiere, ja, sogar gegen die Pflanzen - kurz gesagt gegen alle Lebewesen - ethische Verpflichtungen haben, so dass wir geradezu von einer ‚Bio-Ethik‘ sprechen können. Sachlich ist die Bio-Ethik durchaus nicht erst ein Gedanke der Gegenwart. Schon der Skeptiker Montaigne, ‚der erste Franzose, der zu denken wagte‘, räumt als zunächst noch alleinstehender Vertreter des modernen Gefühlsethos allen Lebewesen einen Anspruch auf Behandlung nach ethischen Grundsätzen ein: Den Menschen seien wir Gerechtigkeit schuldig, Milde und Barmherzigkeit allen übrigen Geschöpfen, welche davon Vorteil zu haben fähig sind. So geschrieben in seinem ‚Essais‘ von 1588. Ganz in demselben Sinne erwartet Herder vom Menschen, dass er sich nach dem Vorbild der alles mit ihrem Gefühl durchdringenden Gottheit in fades Geschöpf versetzen und in dem Maße mit ihm empfinden könne, als das Geschöpf es bedarf. Ausdrücklich schließt er die Pflanzen dabei mit ein. Ein Höhepunkt wird erreicht durch den Theologen Schleiermacher und den Philosophen K. Chr. Fr. Krause. Der erstere erklärt es in seiner ‚Philosophischen Ethik‘ für unsittlich, dass Leben und Gestalten, wo sie schon sind, also auch bei den Tieren und Pflanzen, zerstört werden, 10 ohne dass ein vernünftiger Zweck damit verbunden ist. Der letztere, ein Zeitgenosse Schleiermachers, fordert in seiner ‚Rechtsphilosophie‘, dass jedes Lebewesen als solches zu achten sei und zwecklos nicht zerstört werden dürfe. Denn sie alle, die Pflanzen und die Tiere ebenso wie der Mensch, seien gleichberechtigt; allerdings nicht zu gleichem, sondern ein jedes nur zu dem, was ein notwendiges Erfordernis zur Erreichung seiner Bestimmung ist. So zu lesen in Krauses ‚Abriss der Philosophie des Rechts‘. An die Einstellung Herders erinnert eine Äußerung aus dem Tagebuche des Dichters Hebbel, nach welcher er nicht bloß im Menschen, sondern in allem, was lebt und webt, ein unergründliches, göttliches Geheimnis erblickt, dem man durch Liebe näher kommen könne. Dass es versucht worden ist und noch, je länger, je mehr, versucht wird, den bioethischen Gedanken durch biologische und biopsychische Argumente nicht ohne Erfolg zu unterstützen, sei in diesem Zusammenhange nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Was die Möglichkeit der Verwirklichung solcher ethischer Verpflichtungen gegen alle Lebewesen anbetrifft, so wird sie manchem zunächst als eine Utopie erscheinen. Da ist jedoch nicht zu übersehen, dass die ethischen Verpflichtungen gegen ein Lebewesen sich praktisch nach dessen ‚Bedürfnissen‘ (Herder), bzw. nach seiner ‚Bestimmung‘ (Krause) richten. Nun sind ja die Bedürfnisse der Tiere an Zahl weit geringer und an Inhalt weniger kompliziert als die des Menschen. In erhöhtem Maße gilt dies für die Pflanze, so dass die praktischen sittlichen Verpflichtungen, die schon gegen die Tiere (wenn auch nicht grundsätzlich, so doch praktisch) geringer sind, gegen sie noch viel weniger Schwierigkeiten bereiten. Des Weiteren ist hier noch das Prinzip des Kampfes ums Dasein von Einfluss, ein Grundsatz, der auch unsere ethischen Pflichten gegen unsere Mitmenschen in gewisser Weise modifiziert, so sehr wir dies auch bedauern mögen. Denn unser ganzes Leben und Treiben in der Politik, im Wirtschaftsleben, im Kontor, im Laboratorium, in der Werkstatt, auf dem Acker, es ist, wie Naumann sehr richtig betont, in seinen Beweggründen und Zielen keineswegs in erster Linie auf Liebe eingestellt, vielfach aber auf Kampf mit irgendwelchen Mitbewerbern. Wir werden uns dessen oft nur nicht bewusst solange dieser Kampf ohne Hass in ehrlicher, gesetzlich erlaubter Weise geführt wird. Ebenso wenig wie wir nun den Kampf mit unseren Mitmenschen ganz vermeiden können, ebenso unvermeidlich ist auch der Kampf ums Dasein mit anderen Lebewesen. Trotzdem aber werden wir weder im ersteren noch im letzteren Falle das Ideal ethischen Verpflichtetseins als Richtungspunkt aus dem Auge verlieren. Auf welche Weise sich dieses auf dem Gebiete des Tierschutzes praktisch auswirken vermag, darüber geben die Tierschutzparagraphen in den Strafgesetzbüchern der Kulturländer, sowie die Bestrebungen der Tierschutzvereine Auskunft. Auf dem Gebiet der Pflanzenethik weist uns 11 unser Gefühl den Weg, wenn es uns hindert während eines Spazierganges im Freien die Pflanzen rechts und links von unserem Wege mit dem Spazierstock zu köpfen, oder Blumen zu pflücken und sie nach kurzer Zeit achtlos wieder wegzuwerfen, oder wenn es uns mit Abscheu erfüllt über den blinden Zerstörungstrieb roher Burschen, welche die Kronen junger Bäume an der Landstraße oder im Walde abknicken. Nach alldem ergibt sich als Richtschnur für unser sittliches Handeln der bio-ethische Imperativ: Achte jedes Lebewesen, also auch die Tiere, als einen Selbstzweck, und behandle es nach Möglichkeit als solchen! Und wenn man die absolute Geltung dieses Grundsatzes, soweit er sich eben auf die Tiere und Pflanzen bezieht, nicht anerkennen will, so möge man ihn, um schon Gesagtes zu wiederholen, mit Rücksicht auf die sittlichen Verpflichtungen gegen die gesamte menschliche Gesellschaft dennoch befolgen. 4. SOZIALE UND SEXUELLE ETHIK IN DER TAGESZEITUNG. 1928 Jede ethische Bestrebung wird nur in dem Falle zweckvoll sein, wenn Arbeit, sei es theoretische oder praktische, von ihr geleitet wird. Ist nun die praktische Betätigung, besonders auch die durch das eigene Beispiel, vielleicht die wichtigste, so darf doch auch die theoretische Aufklärung durch Wort und Schrift auf keinen Fall unterschätzt werden. Was das gesprochen Wort in der Form privater Beeinflussung von Mensch zu Mensch anbetrifft, sowie auch in der Form von Vorträgen, bedarf in Hinblick auf die in der Gegenwart so zahlreichen Vorträge und Kurse verschiedenster Art und die daraus folgende Vortragsmüdigkeit, die sich vielfach in einem schlechten Besuch der betreffenden Veranstaltung äußert, die auf mündlichem Wege erreichte Wirkung nicht allzu übermäßig hoch bewertet werden. Größeren Einfluss dürfte vielleicht der Rundfunk haben. So kämen wir denn auf die theoretische Aufklärung des Ethos betreffend durch das gedruckte Wort. Hier muss an erster Stelle wohl die Fachpresse Berücksichtigung finden. Dieselbe hat den großen Vorteil, dass sie ihre Spalten ausschließlich den fraglichen ethischen Problemen öffnen kann, und dass sie von Leuten, die der Bewegung gleichgültig oder gar als Gegner gegenüberstehen, grundsätzlich mehr oder weniger unabhängig ist. Allerdings ist mit diesen Vorzügen leider auch ein gewisser Mangel verbunden. Die Fachzeitung erreicht letztlich nur diejenigen, welche der betreffenden ethischen Bewegung bereits als Mitglieder angehören oder ihr sonst schon irgendwie nahe stehen. So fehlt die unmittelbare Wirkung auf die breite Masse des Volkes. Mehr noch tritt dieser Mabel beim Buch in Erscheinung; denn einerseits schreckt der Anschaffungspreis manchen zurück, und andererseits ist es nicht Sache eines jeden, die notwendige innere Sammlung und die Zeit, die zum Lesen einer nicht ganz leichten 12 und manchmal auch ziemlich umfangreichen Schrift erforderlich ist, aufzubringen. Dazu kommt, dass der Büchermarkt an ethischen Schriften keineswegs Mangel hat, so dass es im Allgemeinen schwierig ist, die rechte Wahl zu treffen. Mithin bleibt uns noch die Hauptsache übrig, nämlich die Tageszeitung auf ihre Bedeutung für die Ethik hin zu untersuchen. Auch die Zeitung ist vom Standpunkte eines jeden ‚Ethikbundes‘ aus nicht ohne Mängel. Hat sie doch z.B. bei weitem nicht denselben Raum für ein besonderes Gebiet zur Verfügung, wie ihn eine Fachzeitschrift oder ein Buch besitzt. Außerdem muss sie aus Gründen leider nie ganz zu vermeidender Opportunität (bestehend etwa in der Rücksicht auf eine Partei, auf die Inserenten und den Leserkreis) zuweilen eine mehr als vorsichtige Zurückhaltung üben. Diesen Mängeln stehen jedoch sehr große Vorzüge gegenüber. Der erste und wichtigste davon dürfte die große Verbreitung der Tagespresse sein. Ungeheure Massen von Papier werden täglich verbraucht zur Herstellung von Zeitungen. Millionen von Augen überfliegen Tag für Tag die Abermillionen Spalten der Zeitungen. Auch die bedeutendste Fachzeitschrift und das meistgelesene Buch können da nicht mit. Dieser ungeheuren Verbreitung entspricht durchaus eine ebenso große Bedeutung, wie man auch sonst über den Wert der Zeitung denken mag. Was in der Stadt vorgeht, was in der heimatlichen Provinz geschieht, was das Vaterland bewegt, was sich in der weiten Welt ereignet, wo erfahren wir das sonst, wenn nicht durch die Tagespresse? Sie zieht ebenso die großen politischen und wirtschaftlichen Fragen und Bewegungen in ihren Betrachtungskreis Dinge, die wir auf alle Fälle wissen müssen, wenn wir unsere sozialen Verpflichtungen erkennen und erfüllen wollen - wie sie uns darüber unterrichtet, wie die Lebensmittelpreise stehen, wie man sich kleiden soll, wo und zu welchem Preise solche Kleidung zu haben ist, welche sonstigen täglichen Gebrauchsartikel zu empfehlen sind und noch manches andere, das, wenn auch in verhüllter Form, in gewisser Beziehung zur Ethik steht. Und da sie weiß, dass der Mensch nicht von Brot und ähnlichen Dingen allein lebt, so berichtet sie auch über geistige Dinge, unter denen die Ethik nicht fehlen darf. Endlich: indem die Tagespresse nur ab und zu als ethisch deutlich erkennbare Aufsätze bringt, die nicht allzu lang sind und die durch ihre feuilletonistische Form dem Laien Interesse und Verständnis abzugewinnen vermögen, so ist auch von diesem Standpunkte aus die Bedeutung der Presse für die Ethik, einschließlich der Sozial- und Sexualethik, nicht zu übersehen. Ausdrücklich sei nochmals festgestellt, dass der Zusammenhang der Tageszeitung mit der Ethik unter allen Umständen anzuerkennen ist. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob man sich zu den Lobrednern oder zu den Gegnern der Presse rechnet. Und ebenso bedeutungslos ist es, ob man der Ansicht huldigt, dass die Zeitung eine Äußerung der öffentlichen Meinung darstelle 13 oder dass sie im Gegenteil eine solche öffentliche Meinung erst ‚mache‘, bzw. entscheidend beeinflusse. Der überzeugte Freund der Tagespresse wird diese gern als Instrument ethischer Arbeit benutzen, besonders deshalb, weil er von dem Vorhandensein der Möglichkeit überzeugt ist, auf diesem Wege ethische Gedanken nicht nur äußern, sondern auch verbreiten zu können. Aber auch der geschworene Gegner der Zeitung dürfte kaum gänzlich darauf verzichten wollen, mit oder wenigstens an derselben zu arbeiten, sei es auch nur aus dem Grunde (ob derselbe berechtigt ist oder nicht, hat hierbei keine Bedeutung), bessernd auf sie einwirken zu wollen. Die Möglichkeit einer solchen Einwirkung ist ohne weiters gegeben, wenn man die Zeitung als ein Sprachrohr der öffentlichen Meinung betrachtet. Und glaubt man, in den Spalten der Presse allein das Motiv zu finden, eine öffentliche Meinung erst zu bilden oder wenigstens einen entscheidenden Einfluss auf sie auszuüben, dann wird es vom ethischen Standpunkte aus betrachtet sogar zur Pflicht, sich an dieser Gesinnungsbildung nach bestem Wissen und Gewissen aktiv zu beteiligen. Dass man solches zunächst bei besonders geeigneten Tageszeitungen beginnt, ist ein Gebot der Zweckmäßigkeit. Ebenso wichtig ist es, mit einer passenden Korrespondenz in Verbindung zu treten. Im Übrigen sind praktische Winke Sache von Fachleuten auf ethischem und zugleich zeitungstechnischem Gebiet. Diese letztere Möglichkeit zu benutzen, ist im Interesse der guten Sache, bei der es sich in der Sozial- und Sexualethik handelt, sehr zu empfehlen. 5. WEGE ZUM SEXUELLEN ETHOS. 1928 . Das sexuale Problem ist eines der brennendsten Probleme der Ethik in der Gegenwart überhaupt. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass dieses Problem auch schon in früheren, ja, in ganz alten Zeiten und bei den verschiedensten Völkern aufgetaucht ist. Nur dass man demselben meist nicht so große Tragweite beigemessen hat wie in neuerer und besonders neuester Zeit. Als ein Mittel, vielleicht sogar als das einzige Mittel, sexualethischen Schäden bei der Jugend, ebenso wie beim Erwachsenen vorzubeugen, bzw. solche Schäden zu beheben, hat man seit dem 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein in weitesten Kreisen die rein verstandesmäßige Aufklärung über das Geschlechtsleben, vor allem über die physiologischen Grundlagen desselben, angesehen. So tritt z.B. schon Rousseau, von dessen Todestag wir die 150jährige Wiederkehr am 2. Juli dieses Jahres begehen durften, im 4. Buche seines Erziehungsromanes ‚Emile, ou de l’éducation‘ für die durch den Verstand vermittelte sexuelle Aufklärung der Jugendlichen vom 16. Lebensjahre ab ein. Und da Rousseau die Anschauung 14 als unentbehrlich für die verstandesgemäße Erkenntnis ansieht, so hat er, eben aus Gründen der Anschaulichkeit, sogar Besuche seines gedachten Zöglings Emil bei Syphiliskranken und von Bordellen vorgesehen. Als bedeutendster Freund und Verbreiter von Rousseaus Ideen hat sich in Deutschland Basedow, ein Zeitgenosse und guter Bekannter Goethes, berühmt gemacht. Auch er trat, wie mit und nach ihm viele Jugenderzieher, für Aufklärung auf sexuellem Gebiet ein. Interessant ist der aus diesen Kreisen stammende Vorschlag, zwecks besserer Veranschaulichung der vorgetragenen Belehrung auf dem Gebiet des Geschlechtlichen den Hörern geeignete Sektionen an der Leiche vorführen zu lassen. Gehen wir zur Gegenwart über, dann sehen wir deutlich, dass die verstandesmäßige Belehrung über sexuelle Dinge mindestens noch die gleiche Wertschätzung genießt wie in jener ‚Aufklärungszeit‘, wie Kant sie nennt. Dafür zeugen zahlreiche Vorträge, Ausstellungen, Abbildungen, Filme, Schriften und noch manches andere (wobei allerdings manches Wertlose oder gar Schädliche mit unterlaufen mag). Wie ist diese sehr verbreitete verstandesmäßige Einstellung zu dem sexualethischen Problem zu beurteilen? - Ohne jeden Zweifel ist in allen Dingen, auch auf ethischem und damit zugleich auf sexualethischem Gebiete, die Anwendung des Denkens, des Verstandes nicht nur möglich, sondern sogar notwendig. Diese Notwendigkeit ernstlich leugnen, hieße, jeder grundsätzlichen Beschäftigung mit in Frage stehenden Problemen und jedem dadurch zu erreichenden Fortschritt die Daseinsmöglichkeit absprechen. Und das wäre unter allen Umständen der schlimmste Fehler, den es geben kann. Mit Recht lässt daher Goethe in seinem ‚Faust‘ den Mephistopheles sprechen: ‚Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft, - - - - so hab’ ich dich schon unbedingt!‘ Insoweit wäre alles klar. Nur darf auf keinen Fall übersehen werden, dass der Mensch keineswegs ein ausschließlich denkendes Wesen ist, so dass der Verstand durchaus nicht die alle anderen beherrschende Seelenregung darstellt. Allerdings ist dieses Übersehen einer psychologisch längst feststehenden Tatsache recht weit verbreitet, indem man vielfach vergisst, dass der Mensch mit einem keineswegs geringen Triebleben ausgestattet ist. Wegen eben dieser Stärke des menschlichen Trieblebens ist es äußerst schwer, das Sexualethos allein und unmittelbar durch den Verstand fördernd zu beeinflussen; ist doch hier mit einem besonders starken Trieb, dem Sexualtrieb, zu rechnen. Ganz allgemein sind die Triebe meist so stark, dass der Mensch ihnen sogar dann nachgibt, wenn er verstandesmäßig erkennt, dass ihm solches schädlich werden muss. Das gilt z. B. für den Selbsterhaltungstrieb. Hierfür ein Beispiel: Ein Ertrinkender klammert sich, wie das Sprichwort sagt, an einen Strohhalm an, oder auch an seinen Retter, wenn ein solcher vorhanden ist, obgleich der Gefährdete sehr 15 wohl weiß, dass seine Rettung dadurch sehr erschwert, wenn nicht überhaupt ganz unmöglich gemacht wird. Der Selbsterhaltungstrieb arbeitet in einem solchen Falle also ganz blind, ohne dass der Verstand auf ihn entscheidenden Einfluss zu gewinnen vermag. Eine ähnliche schwer zu widerstehende Gewalt hat auch der Sexualtrieb, besonders, wenn er stark oder gar krankhaft ausgebildet ist. Um bei dem letzten, extremsten Fall zu bleiben: Ein homosexuell veranlagter Mensch vermag sehr wohl seinen Seelenzustand in puncto Sexualtrieb als verkehrt, unnatürlich und krankhaft zu erkennen und so sehr zu bedauern, so dass er sich zeitlebens unglücklich fühlen muss. Trotz dieser verstandesmäßigen Erkenntnis seines abnormen Trieblebens vermag er jedoch nicht, besagten Trieb zu beseitigen. Ja oft kann er nicht einmal die Betätigung desselben gänzlich unterdrücken. Ähnliches gilt auch für die bei beiden Geschlechtern weit verbreitete schlechte Gewohnheit der einfachen und mutuellen Onanie. Sogar der natürliche, im Großen und Ganzen gesunde Sexualtrieb weiß sich sehr oft gegen verständige Erkenntnis und Belehrung durchzusetzen. (Selbstverständlich ist ein ausgesprochen Phlegmatiker weniger gefährdet als ein Sanguiniker.) Unter diesen Umständen leuchtet es ein, dass durch gut gemeinte vernünftige Belehrung unter Umständen sogar das Gegenteil von dem bewirkt werden kann, was eigentlich beabsichtigt ist, besonders bei sexuell reizbaren Charakteren. - Ein Beispiel dafür aus alter Zeit ist die Bibel. Zwar werden darin Dinge des Sexuallebens unbefangen und freimütig besprochen. Jedoch fehlen alle jene so aufreizend wirkenden Einzelheiten. Es fehlt jede Zweideutigkeit und jede schwüle Atmosphäre. Aber dennoch hat man bis in die Gegenwart hinein immer wieder die Erfahrung machen müssen, dass die Lektüre solcher Bibelstellen besonders für Jugendliche gefahrvoll werden kann. Ähnlich ist es, um ein entsprechendes Beispiel aus der Gegenwart anzuführen, mit mancher öffentlichen Lehrfilmvorführung, das fragliche Gebiet betreffend: Obgleich echte Lehrfilme sonst nicht gerade durch Massenbesuch ausgezeichnet werden, so lässt dagegen der Besuch sexueller Aufklärungsfilme nur äußerst selten zu wünschen übrig. Dies dürfte ohne Zweifel in erster Linie nicht auf rein verstandesmäßiges Interesse, sondern vielmehr auf eine - wenn auch nicht immer bewusste - Anregung durch den Sexualtrieb zurückzuführen sein. Die Erkenntnis, dass der Verstand nicht ganz ausschließlich das einzige Moment für die Forderung sexualethischen Fortschritts sei, ist im Prinzip keineswegs neu. Sind doch z.B. die schon Genannten, nämlich Rousseau und Basedow, ausgesprochenermaßen Gegner übertriebenen ‚Vernünftelns‘. Anstatt dessen versuchte man schon in jener Zeit, unmittelbar auf das ‚moralische Gefühl‘, wie man es damals nannte, zunächst beim Kinde im sexualethischen Sinne einzuwirken. Selbstverständlich wurde dadurch zugleich auf eine 16 Förderung der sexuellen Moral beim Erwachsenen hingezielt. Indem wir uns jedoch mit praktischer Einwirkung beschäftigen, nähern wir uns schon dem nächsten Gedanken. Welche praktischen Aussichten ergeben sich aus der sehr großen Bedeutung des menschlichen Trieblebens für die Beeinflussung und Förderung des Sexualethos? Selbstverständlich ist, um schon Gesagtes nochmals ausdrücklich zu wiederholen, die belehrende Einwirkung auf den Verstand nicht zu entbehren. Aber gerade eben unser Verstand wird uns davon überzeugen, dass neben dem rationalen Moment das physiologische und im modernsten Sinne psychologische Moment erst recht ernstliche Berücksichtigung finden muss. Ein Mittel hierzu ist u. a. die Pflege echter Religiosität. Sehr aussichtsreich ist ferner die Erweckung und Stärkung des ‚moralischen Gefühls‘, wie man es in der Aufklärungszeit nannte, das bedeutet für unser spezielles Gebiet die Pflege des Schamgefühls. Dazu ist die Abwendung schädigender Einflüsse unentbehrlich. Zu diesem Zwecke ist auf die überall angebotenen, meist bebilderten Literaturerzeugnisse, die sich sexuelle Dinge zum Vorwurf nehmen, ein scharfes Auge zu richten. Selbstverständlich darf sich solche Aufmerksamkeit nicht nur gegen die neueste Literatur richten, sondern sie muss sich auch auf ältere Schriftwerke lenken. Erwähnt seien hier nur die (nicht bearbeiteten) Erzählungen von ‚1001 Nacht‘, von Boccaccios ‚Decameron‘ und von Casanovas Abenteuern. Dass diese genannten Schriftwerke in der Vergangenheit nicht isoliert dastehen, beweißt die mehrfache ernstliche Warnung des wiederholt genannten Pädagogen Basedow vor ungeeigneter, die Sinnlichkeit reizender Lektüre. Am wichtigsten dürfte wohl eine zweckmäßige Lebensweise sein. Dazu gehört etwa, dass die Nahrung in rechter Zusammensetzung, Menge und zeitlicher Verteilung aufgenommen wird, dass hygienische Grundsätze einen weitgehenden Einfluss auf die Kleidung haben, dass ungünstige Wohnverhältnisse (besonders Schlafgelegenheiten) beseitigt werden, dass Arbeit und Erholung im rechtem Verhältnis zueinander stehen (von beiden nicht zu viel und nicht zu wenig), dass nicht gesellschaftliche und weltliche Vergnügungen, sondern Leibesübungen und Freude in der leider immer mehr zurückgedrängten freien Natur (Sport, Wandern , Gartenbau usw.) den Hauptteil der Erholung ausmachen und dass die alte goldene Regel Geltung erhalte: Früh zu Bett gehen und früh aufstehen! Ein weiteres Eingehen auf diese und andere (z.B. die Alkoholfrage) für die Sexualethik so äußerst wichtigen Dinge ist an dieser Stelle nicht möglich. Auch dürfte für dieselben das Urteil erfahrener Ärzte am kompetentesten sein. Besonders wichtig ist die unmittelbare, nicht durch den Verstand vermittelte sexualethische Beeinflussung für das kindliche und jugendliche Alter; denn einerseits ist hier die Gefahr einer Schädigung der Sittlichkeit besonders groß, und andererseits ist jedoch die Möglichkeit 17 einer erfolgreichen erziehlichen Beeinflussung gegeben. Dass damit aber zugleich an der sexualethischen Förderung des nächsten Erwachsenengeschlechtes gearbeitet wird, bedarf keines Beweises. 6. ZWEI ETHISCHE PROBLEME IN IHREM GEGENSATZ UND IN IHRER VEREINIGUNG IM SOZIALEN LEBEN. 1928 Zwei für die Individual- und Sozialethik hochbedeutende Grundprobleme gibt es: I. Die egoistische und egozentrische; II. die altruistische Einstellung, auch Gerechtigkeitssinn, Mitgefühl, Mitleid oder Liebe (nicht in sexuellem Sinne!) usw. genannt. In der philosophischen und theologischen wissenschaftlichen Ethik werden die soeben parallel genannten Bezeichnungen nicht immer in dem gleichen Sinne gebraucht. Hier möge es jedoch der Einfachheit halber erlaubt sein, indem die Ausdrücke ‚egoistisch‘, bzw. ‚egozentrisch‘ die psychologische Tatsache bezeichnen sollen, deren Ergebnis der Kampf ums Dasein ist, und indem ‚Altruismus‘, ‚Liebe‘ usw. die gegenteilige Gefühls-, Willens- und Gedankeneinstellung, verbunden mit entsprechenden praktischen Auswirkungen, bezeichnen soll. - Ganz ausdrücklich sei betont, dass mit den obigen Bezeichnungen ein Werturteil wenigstens zunächst nicht gegeben werden soll. I. Kommen wir zuerst zu der egozentrischen Einstellung, d.h. zu dem Interesse am eigenen Ich. Dass diese Einstellung zunächst einmal eine gefühlsmäßige, triebhafte ist, darf nicht übersehen werden. Erst in zweiter Linie kommt, wenn es sich überhaupt einstellt, das bewusste, verständige Nachdenken über eine etwaige berechtigte daseinskämpferische Einstellung und über die besten Methoden, diesen Kampf zu führen, zur Geltung. Schon bei den Pflanzen ist ein Kampf ums Dasein festzustellen, indem sie sich durch starke Vermehrung, durch unangenehmen Geruch oder Geschmack, durch Brennhaare, Stacheln, Dornen usw. gegen räuberische Tiere zu schützen suchen. Die Tiere dagegen wissen in vielen Fällen den Selbstschutz der Pflanzen unwirksam zu machen. Dafür müssen sie sich aber selber durch allerlei Mittel der Gewalt und der List, mit welcher sie von der Natur ausgestattet sind, in einem harten, meist aussichtslosen Kampf gegen den Menschen wehren. Der Mensch schließlich benutzt Pflanzen und Tiere für seine eigenen, persönlichen Zwecke, eine Tatsache, die eines Beweises nicht bedarf. Daran kann der Umstand nichts ändern, dass gewisse Nutzpflanzen (etwa Getreide und Kartoffeln) und Nutztiere (Rinder, Schafe, Schweine usw.) nur dem Menschen ihre große Verbreitung verdanken. Das letzte Motiv ist und bleibt eben der Selbsterhaltungstrieb und der Kampf ums Dasein des individuellen und kollektiven Ich. 18 Dieser Egoismus ist so groß, dass er nicht einmal vor den Individuen der eigenen Klasse halt machen kann. Bekannt ist, dass sich die Pflanzen gegenseitig Nahrung und Licht wegnehmen und dass ein Tier das andere zur Nahrung benutzt. Im Prinzip sind auch beim Menschen ähnliche Beobachtungen zu machen. Das gilt zum Beispiel für das Wirtschaftsleben, worauf seinerzeit besonders Friedrich Naumann hingewiesen hat. Ist es doch das stete Bestreben eines Geschäftsmannes, die Konkurrenz zu überflügeln oder ihr wenigstens standzuhalten, und auch die Kundschaft versucht er, diesem Zwecke dienstbar zu machen. Ein schlechter Geschäftsmann übrigens, der sich anders einstellen wollte! Ähnliches gilt auch für die Volksund Weltwirtschaft, die ebenfalls den Kampf zwischen den einzelnen Berufsklassen und Staaten nicht entbehren will und kann. Sogar die geistigen Bestrebungen, wenigstens insoweit, als sie rein beruflich gepflegt werden, bilden keineswegs immer eine Ausnahme. Wie fragt doch ein junger Mensch (bzw. seine Eltern oder sein Vormund), wenn er sich einen solchen geistigen Lebensberuf erwählt? Er fragt, wofür er sich am meisten interessiert, wo er die meisten Aussichten hat, vorwärts zu kommen, manchmal auch, welche Rücksichten auf die eigene Familie zu nehmen sind. Sehr selten kommt jedoch die Frage ernstlich zur Geltung: ‚Wie kann ich mit meinen Anlagen und Fähigkeiten der Allgemeinheit am besten dienen?‘ Nicht einmal Kant hat es vermocht, das Nützlichkeitsprinzip, also ein egozentrisches Motiv, aus seinem ‚kategorischen Imperativ‘ gänzlich fernzuhalten, wie Schopenhauer in seiner Abhandlung ‚Über das Fundament der Moral‘ ausführlich nachweist. Nochmals sei in diesem Zusammenhange darauf hingewiesen, dass die oben nachgewiesenen Tatsachen nicht ohne weiteres eine abfällige Kritik bedeuten sollen. Ist doch die egozentrische Einstellung und der Kampf ums Dasein ein äußerst bedeutungsvolles Agens für das Entstehen und die Fortentwicklung der Zivilisation, bzw. der Kultur. Und unter diesen Umständen sind die Folgen davon sowohl für die Allgemeinheit als auch ganz besonders für den Einzelnen von den segensreichsten Folgen, obgleich solche ursprünglich nicht geplant waren. II. Wer allerdings nur den Egoismus gelten lassen will, wie Stirner in seinem Buche ‚Der Einzige und sein Eigentum‘ und Nietzsche mit seinem ‚Herrenmenschentum‘ ‚jenseits von gut und böse‘ das tun, der übersieht, dass es auch einen Altruismus gibt, der ebenfalls eine natürliche Gegebenheit des normalen menschlichen Seelenlebens ist. Darum sind Gefühl für Recht und Billigkeit, Mitgefühl, Mitleid, Liebe oder wie man es sonst noch nennen mag, zunächst als psychologisch gegebene Tatsache zu erkennen und zu werten. Geschieht dieses nicht oder soll dieselbe gar unterdrückt werden, dann wird der menschlichen Natur geradezu 19 Gewalt angetan. Und wenn auch jemand alles mit Vererbung und Erziehung erklären wollte, so wäre dennoch die Frage zu beantworten: ‚Wie kann sich gerade der Altruismus ebenso vererben wie irgendeine andere menschliche Seeleneigenschaft?‘ bzw. ‚Warum lenkt man die Erziehung der Jugend und des ganzen Menschengeschlechts überhaupt gerade nach dieser und keiner anderen Richtung?‘ Als am meisten befriedigende Antwort bleibt doch immer diejenige, dass eben der Altruismus, wie gesagt, eine empirisch feststellbare psychologische Tatsache der Seele des Menschen ist, welcher er beinahe zwangläufig Rechnung zu tragen hat. ‚Was ist nun eigentlich das Symptom des Altruismus?‘ Dass das eigene Ich völlig hinter einem anderen zurücktritt, unter Umständen bis zur Selbstvernichtung, und dass egoistische Motive überhaupt nicht zur Wirksamkeit gelangen. Ein sehr einleuchtendes Beispiel ist der Tierschutz aus reinem Mitgefühl, wie ihn Schopenhauer und Richard Wagner verstehen und wie ihn die modernen Tierschutzvereine und die Tierschutzgesetzgebung auffassen. Dass der Betreffende, der seine altruistischen Regungen auslebt, selber seine innere Befriedigung dabei findet, ist noch kein Beweis dafür, dass es sich auch hier eigentlich um eine egoistische Regung handele. Im Gegenteil: Wer, wie Kant es will, nur die ‚Vernunft‘ allein walten lassen will, oder wer wie Ed. von Hartmann nur die kalt-logische Gerechtigkeit als das einzig richtige Motiv des Ethos ansieht, der steht dem Egoismus zum allermindesten ebenso nahe und tut außerdem den Phänomenen des menschlichen Seelenlebens Gewalt an. Freilich, wie der Egoismus so gut wie gar nicht ohne altruistischen Einschlag ist, ebenso wenig ist auch der Altruismus nicht ganz ohne jeden Egoismus denkbar. Ein Beispiel für viele: Das Christentum, obgleich es mit größtem Recht die Religion der Liebe genannt werden kann, der Liebe, die gegen das eigene Ich gleichgültig sein soll, ist anderseits ungleich eine Erlösungsreligion, deren Ziel man am besten mit den Worten bezeichnen konnte: ‚Schaffet, dass ihr selig werdet‘ (Philipper 2, 12). Wichtig sind auch die Worte Jesu: ‚Alles, was ihr wollet, dass es euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch‘ (Matth. 7, 12; Lukas 6, 31), sowie: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst‘ (Lukas 10, 27 nach 3. Mose 19, 18) Mit diesen Worten wird der Egoismus als Vorhanden anerkannt, indem als selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass ein jeder Mensch von seinen Mitmenschen nur Gutes zu empfangen wünscht und dass ein jeder sich selbst liebe. Will man diese Tatsache bedauern?Sicherlich so leicht nicht. Denn wie wäre es sonst möglich, das Gebot der Liebe zu verwirklichen, wenn nicht zugleich die Möglichkeit bestünde, einem anderen Ich förderlich zu sein, d.h. dieses in seinem Kampf ums Dasein, also in seiner egozentrischen Einstellung, zu schützen und zu stützen?! Besonders zeigt sich ein solcher Zusammenhang von Altruismus und Egoismus bei dem Verhältnis des Einzelnen zu irgendeinem Teil der Gesamtheit, etwa zu 20 einer beruflichen Organisation, zu einer Partei, zu einer Dorf- oder Stadtgemeinde, zu einer staatlichen Organisation usw.. Ohne Zweifel gibt es so manchen Menschen, der sein Ich ganz und gar einer solchen Gesamtheit unterordnet oder gar aufopfert und auf diese Weise sich rein altruistisch einstellt. Was jedoch die fragliche Gesamtheit anbetrifft, so ist sie in der Regel auf Kampf mit anderen Organisationen oder Personen eingestellt, d.h. sie vertritt einen kollektiven Egoismus. Ein solcher kollektiver Egoismus jedoch kommt den einzelnen Gliedern der fraglichen Gesamtheit zugute und ist in Beziehung auf diese also Altruismus. Wird endlich diese fördernde Wirkung der betreffenden Organisation erkannt und benutzt (und schließlich muss das so sein; sonst wäre die fragliche Vereinigung ja zwecklos), dann spielt auch für den Einzelnen neben der Hingabe an das Ganze das eigene, individuelle Ich eine große Rolle. (Ausführlicher hat sich F. Paulsen in seiner Ethik über solche und ähnliche Zusammenhänge geäußert.) Was die Wertschätzung anbetrifft, welche die beiden psychologischen bzw. ethischen Tatsachen, welche oben behandelt wurden, genießen, so ist darüber folgendes zu sagen: Die egozentrische Einstellung wird nur von dem ethischen Skeptizismus mit Bewusstsein ernstlich vertreten. Aber das sind verhältnismäßig wenige Ausnahmen. Viel größer ist die Zahl derjenigen, die unbewusst ihr eigenes Ich zum Mittelpunkt ihres Interesses machen. Dass solches unvermeidlich und nicht ohne weiteres zu verurteilen ist, ist oben zu zeigen versucht worden. Allerdings liegt eine Übertreibung des Egoismus und damit eine große Gefahr für das Ethos sehr nahe. Unter diesen Umständen ist es verständlich, wenn der Altruismus in der öffentlichen Meinung ein weit größeres Ansehen genießt. Selbst derjenige, der die Liebe als ‚Sentimentalität‘ anspricht, vermeidet es in der Regel, seinen psychischen Mangel (denn um einen solchen handelt es sich schließlich) zuzugeben. Die meisten Menschen jedoch besitzen, je nach ihrer Veranlagung, den ernsthaften Willen und Glauben, ‚gerecht‘, ‚gut‘, ‚altruistisch‘ zu sein. Die gefühlsmäßige, mehr oder weniger unbewusste Höhereinschätzung des Altruismus gegenüber dem Egoismus wird auch dadurch erkennbar, dass trotz des letzteren der erstere als Ideal, an dessen einstige Verwirklichung man glaubt, so ziemlich allgemein anerkannt wird, wofür sich Zeugnisse aus den verschiedensten Zeit- und Geistesperioden anführen lassen. Schon der altjüdische Prophet Jesaja redet von einem zukünftigen Friedensreiche, in welchem der Kampf ums Dasein zwischen den Tieren und auch zwischen Tieren und dem Menschen ein Ende haben wird. (Jesaja 11, 6-9.) Ähnlich predigt Jesus vom Kommen des Reiches Gottes, das bedeutet zugleich des Reiches der Liebe. Verständlich ist es daher, wenn Paulus im ersten Briefe an die Korinther, Kapitel 13, der Liebe vor Glaube und Hoffnung den Vorzug gibt (Vers 13) und ihr ewiges Fortbestehen zuschreibt (Vers 8). Aus 21 neuerer Zeit erwähnt sei Kant, der durch Aufstellung eines moralischen Gottesbeweises bekundet, dass auch er das Ideal einer künftigen ausschließlichen Herrschaft des Guten hat. Nicht unerwähnt möge auch der im Sozialismus einst sehr beliebte Gedanke des ‚Zukunftsstaates‘ sein, ein Gedanke, der ohne Zweifel ebenfalls von ethischem Idealismus und Optimismus Zeugnis ablegt. Welches sind nun die wichtigsten Folgerungen hieraus für die Sozialethik? 1. Egoismus und Altruismus brauchen nicht unvereinbare ethische Gegensätze zu sein. 2. Die Egozentrische Einstellung ist als natürliches Phänomen zugleich ein allgemeines Menschenrecht. Wird dieses Recht in verständiger Weise in Anspruch genommen (natürliche, gesunde Lebensweise, besonders in den Nahrungs-, Kleidungs-, Wohnungs- und Arbeitsverhältnissen, sowie in einer geregelten, auskömmlichen Entlohnung, nicht zu vergessen auch in einem Kampf ums Dasein, der in weitgehender Weise sich durch Recht und Billigkeit regulieren lässt), so wirkt er fördernd auf weiteste Kreise und ist, wenigstens in seinen Auswirkungen, geradezu altruistisch. 3. Die psychologische Tatsache der altruistischen Einstellung darf ebenfalls nicht übersehen werden. Und vor allem darf sie nicht ohne Berücksichtigung bleiben. Diese Forderung ist umso leichter zu erfüllen, als ihre Befolgung keineswegs immer eine persönliche Schädigung bedeuten muss. Denn was zum Beispiel für die soziale Fürsorge und für die Erhaltung und Mehrung der Volkskraft ausgegeben wird, das kommt mit Zinsen wieder herein, indem Staat und Wirtschaft das größte Interesse an treuen Beamten, guten Arbeitern, kaufkräftigen Abnehmern, an der günstigen Entwicklung der Jugend, überhaupt an der Wohlfahrt des ganzen Volkes haben. 4. Nun wird der Egoismus allerdings leider sehr oft übertrieben, eine Tatsache, die beim Altruismus nicht vorliegt. Darum ist der Glaube an das Ideal der Liebe so sehr als möglich zu pflegen und seine zukünftige Verwirklichung nach Möglichkeit optimistisch zu betrachten, etwa mit dem hoffnungsvollen Wort aus Goethes ‚Faust‘: ‚Wer immer strebend sich bemüht, den dürfen wir erlösen‘, - erlösen auch von jedem übertriebenen Egoismus. Diese Pflege des Ideals darf natürlich niemals ohne praktische Auswirkung sein. Zu nennen wären hier alle Arten der sozialen Fürsorge besonders die Förderung der wirtschaftlich Schwachen, ohne Rücksicht darauf, ob es sich gerade rentiert oder nicht (zum Beispiel die Sorge für Alte und Gebrechliche. Genannt werden möge an dieser Stelle auch noch einmal der Tierschutz). Im Übrigen geben die verschiedenen christlichen Kirchen genügende Anweisungen für die Arbeit im Dienste der Liebe. 22 7. GESINNUNGSDIKTATUR ODER GEDANKENFREIHEIT? 1930 Gedanken über eine liberale Gestaltung des Gesinnungsunterrichts. Die Gesinnung geht stets in irgendeiner Weise auf ein als sittlich empfundenes Werturteil zurück. Im Gegensatz zu jeder Gesinnung steht die Wissenschaft, indem sie solche Werturteile nicht als Grundlage ihrer Arbeit anerkennt. Freilich kann die Wissenschaft eine Gesinnung begründen, bzw. das Material für eine solche liefern. Und das ist ohne Zweifel sehr zu begrüßen. Allerdings kommt es vor, dass gar keine Folgerungen gezogen werden, oder, wo es doch geschieht, dass sie bei verschiedenen Menschen einander geradezu widersprechen. (Deutsche und Franzosen betrachten sich in der Regel als Erbfeinde. Die einen nehmen das kritiklos als Tatsache hin. Andere beschäftigen sich näher mit der Sache, kommen jedoch zu verschiedenen Ergebnissen: Teils will man das Problem durch kriegerische Auseinandersetzungen lösen, teils durch Verständigung.) Andererseits wird zuweilen versucht, und nicht immer ohne Erfolg, nicht von den wissenschaftlich fassbaren Tatsachen der Wirklichkeit auszugehen, sondern von der von vornherein feststehenden Gesinnung aus auf Wirklichkeit, Wissenschaft und Kulturverständnis Einfluss auszuüben, was übrigens auch ohne innere bewusste Klarheit zur Auswirkung kommt. Der genannte Schritt von Gesinnung zu Wissenschaft (vorausgesetzt, dass ein solcher Schritt überhaupt möglich ist) ist jedoch nur ausführbar unter Ausschaltung des objektiven Denkens überhaupt oder wenigstens für das in Frage stehende Gebiet. Außerdem wird durch Überhängen eines wissenschaftlich aussehen-sollenden Mantels diesem Schritt sehr oft ein Dekorum verliehen, das ihm nicht zusteht. An Stelle weiterer Überlegungen möge im folgenden ein Blick auf die Praxis des Gesinnungsunterrichts, wie er war, wie er zum großen Teil noch ist und wie er sein soll, geworfen werden. Zunächst sind die alten Gesinnungsfächer, die sich bis in die Gegenwart hinein gehalten haben: Religion, Deutsch und Geschichte, zu beachten. Bei dem Religionsunterricht im alten Stil steht von vornherein fest, dass die Religion, mehr noch das Christentum und vor allem eine bestimmte Konfession, die Gesinnung zu bestimmen habe, zunächst innerhalb des Unterrichts, aber auch für die spätere Zeit. Vergessen wird, dass der Glaube gerade nach christlicher Anschauung nicht anzudemonstrieren ist; vergessen wird, die Mängel der eigenen und die Vorzüge der fremden Konfession einzugestehen. Die Bibel und sonstige Werke religiöser Tendenz werden gern in der Weise benutzt, dass man sich Passendes heraussucht. Widersprechendes mit Stillschweigen übergeht oder den Sinn tendenziös verändert nach dem Grundsatz des Mephistopheles in Goethes ‚Faust‘: ‚Im Auslegen seid frisch und munter. Legt ihr nichts aus, so legt was unter‘. Natürlich 23 können sich gleichartige Missstände auch bei Dissidenten finden; denn Missstände sind es, mit solchen Mitteln eine willkürliche Gesinnung zu züchten, wodurch die Gedankenfreiheit praktisch illusorisch gemacht wird (vgl. damit Art. 135 der Deutschen Reichsverfassung, welcher ausdrücklich allen Bewohnern des Reiches volle Glaubens- und Gewissensfreiheit zugesteht.) Im Deutsch- und Geschichtsunterricht wird, besonders seit der Zeit der Romantik, eine Gesinnung erstrebt, die sich in der Liebe zu Vaterland und Volk, später zum Staate und zum angestammten Herrscherhause auswirken soll. Als Beispiel einige wenige bekannte Proben für diese Gesinnung an Stelle eines fast unabsehbaren Materials: ‚Right or wrong my country‘, sagt der Engländer, während der Deutsche glaubt, dass am deutschen Wesen die Welt wieder genesen soll, und während der Franzose sein Volk als ‚La Grande Nation‘ ansieht. Ob solche Gesinnungen wünschenswert sind oder nicht, darüber soll hier kein Urteil gefällt werden. Ja, nehmen wir ruhig einmal an, dass solche Gesinnung tatsächlich erstrebenswert sei. Aber wie steht es mit der Methodik der Gesinnungsbeeinflussung bzw. des Gesinnungsunterrichts? Man geht von einer bereits vorhandenen Gesinnung aus, man verbirgt den subjektiven Charakter dieser Gesinnung unter einer sich wissenschaftlich-objektiv gebenden Tünche, man verpönt streng das voraussetzungslose, logische Nachdenken über die fragliche Gesinnung. Wie Goethe seinen ‚Faust‘ sagen lässt: ‚Du hast wohl recht, ich finde nicht die Spur von einem Geist, und alles ist Dressur.‘ Also nicht Gedankenfreiheit, sondern Dressur, sondern Diktatur der Gesinnung (die übrigens, das sei ausdrücklich festgestellt, von der politischen und pädagogischen Rechten, von der Mitte und von der Linken ausgehen kann). Nun gibt es allerdings Kreise, welche die Methode, mag sie noch so subjektiv und unpsychologisch sein im Hinblick auf den sicher zu erwartenden Erfolg gelten lassen. Ob man sich jedoch mit einer Entziehung der Gedankenfreiheit und mit einem Ersatz derselben durch eine Gesinnungsdiktatur im Allgemeinen sowie besonders in der Schule heute noch befreunden kann, ist mehr als zweifelhaft. Wie aber soll es dann sein? Die Antwort ergibt sich nach dem vorhergehenden von selbst: Nicht Dressur, sondern Liberalismus bzw. ‚Demokratisierung‘ der Gesinnung. Dies wirkt sich für den Unterricht in folgender Weise aus: 1. Keine feststehende, subjektive Gesinnung ist zu lehren. 2. Streng zu vermeiden ist es, eine vorgefasste Gesinnung mit einer angeblichen Objektivität und einen Anstrich von fälschlich so genanntem Arbeitsunterricht zu verschleiern. 3. Es ist methodisch unzulässig, nur Passendes zu berücksichtigen und unbequeme Tatsachen zu verschweigen, abzuleugnen oder nach Bedarf zu verdrehen. 24 4. Stets sind verschiedene Gesinnungseinstellungen zu berücksichtigen. 5. Auch einander widersprechende Gesinnungen sind in ihren Vorzügen und Fehlern gleichmäßig-tendenzlos zu behandeln. (Nicht die eine durch eine rosige, die andere durch eine schwarze Brille zu betrachten.) 6. Wenn man eine persönliche Anschauung mitteilt, so sollte das stets unverbindlich geschehen. Auch darf man nicht vergessen, die Problematik dieser eignen Gesinnung aufzuzeigen. 7. An Stelle jeder tendenziösen Gesinnungsmacherei ist den Schülern Gelegenheit zu geben, sich eine eigene Gesinnung zu bilden bzw. ihnen das objektive Material für eine spätere eigene Gesinnung zu geben. 8. ‚Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft‘, darf nie bei der Bildung einer neuen bzw. bei der Kontrolle einer bereits bestehenden Gesinnung fehlen. Falsch ist daher der in einer in München erscheinenden Zeitung gebrachte Grundsatz: ‚Erst die Gesinnung, dann den Verstand‘. Übrigens, wenn der ‚Verstand‘ auch nur nachträglich eine objektive Kontrolle der Gesinnung ausüben würde, so könnte man damit schon zufrieden sein. 9. Man soll sich nicht darauf berufen, die Jugend sei nur reif für die Methode der Autorität, nicht für die Methode der Freiheit, eine Behauptung, die nicht ganz ohne Widerspruch bleiben dürfte. Aber wenn auch! Die Saat ist immer früher als die Ernte. Die praktischen Folgerungen für den Religionsunterricht ziehen die ‚Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens‘ in den methodischen Bemerkungen für die einzelnen Unterrichtsfächer, wo ausdrücklich gesagt wird, dass sich der Religionsunterricht als Klassenunterricht damit begnügen muss, für die spätere Selbstentscheidung der Schüler geeignetes Material zu schaffen. 10. Und wenn auch einmal eine nicht wünschenswerte Gesinnung sich entwickelt, so ist nicht zu vergessen, dass solche Fälle nach der alten Erziehungs- und Unterrichtsmethode erst recht vorkommen können. Außerdem: Eine selbst erarbeitete Gesinnung ist besser als eine bloß übernommene, besser als eine kindliche und unreife Einstellung zur Gesinnungsfrage. Für den Schulunterricht ist die Erkenntnis wichtig, dass sich alle Fächer gesinnungsbildend auszuwirken vermögen. Mathematik, Physik und Chemie können zu exakter Genauigkeit und strengster Wahrhaftigkeit erziehen, und zwar unter Vermeidung jeglichen Moralisierens. Die Biologie ist geeignet, die sehr im Argen liegende Naturerkenntnis zu fördern, alte, längst überlebte Vorurteile zu beseitigen und Liebe zur Natur zu ergründen bzw. zu vertiefen. Musik, Zeichnen, Handfertigkeit und Nadelarbeit wirken günstig auf den Geschmack ein und geben der Gesinnung dadurch einen ästhetischen Zug. Turnen und Sport befriedigen den 25 Trieb des Menschen zum Kampf ums Dasein. Außerdem erziehen sie zu einer gewissen Kameradschaftlichkeit auch dem Gegner gegenüber. Beide Momente bilden eine Hemmung für Rauf- und Kriegslust und unbegründeten Völkerhass. In demselben Zusammenhange ist auch der Sprachunterricht, der heute ohne einen entsprechenden Sachunterricht nicht mehr erteilt wird, von größter Bedeutung für die Gesinnung der Jugend und damit zugleich für die der nächsten Erwachsenengeneration. 8. UNSER ZWEIFEL AN GOTT. 1933 1. Die Wahrheit ist nicht erkennbar. Auch das, was nach landläufigem Sprachgebrauch Wissenschaft genannt wird, bringt kein wahres Wissen, keine wirkliche Erkenntnis der Wahrheit. Das folgt für mich aus dem Skeptizismus in alter und neuer Zeit, aus agnostizistischen, positivistischen und pragmatistischen Gedankengängen. Frage ich mich: ‚Was ist Wahrheit?‘ (Pontius Pilatus nach Joh. 18, 38), so muss ich mir selbst antworten: ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘ (Sokrates) ‚und sehe, dass wir nichts wissen können‘ (Goethe: Faust). 2. Eines jedoch weiß ich, weiß es mit Sicherheit, nämlich ob ich glücklich bin oder nicht. 3. Mein Glück hängt nicht von Geld und Gut und anderen äußerlichen Dingen ab, wenigstens nicht in seinen entscheidenden Ursachen. Immer kommt es letzten Endes auf etwas Innerliches, Geistiges an. 4. Das höchste Glück von allen geistigen Dingen ist für mich mit der Liebe verknüpft. 5. Da die Liebe das höchste Glück bringt, ja, selbst die höchste Seligkeit ist, so soll mein Streben nicht eigennützig sein, sondern es schließt den Allgemeinnutz als unentbehrlichen Bestandteil in sich. 6. Von dem, was mir erkennbar ist, sozusagen von praktischen Gesichtspunkten her, beurteile ich den Glauben. Da interessieren mich zwei Glaubensformen: (a) Die ständig wechselnde Tagesmeinung, jeweils zu ihrer Zeit als ‚gesunder Menschenverstand‘ bezeichnet und auf die gerade bestehenden wissenschaftlichen Anschauungen und Erkenntnisse (die aber eben nur eine Form des Glaubens sind) gegründet. – (b) Die christliche Religion. 7. (Zu 6a). Das, was sich zu den verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten Wissenschaft nennt, hat gewiss sehr oft zum Glück der Allgemeinheit und somit zu meinem eigenen Glück beigetragen. In solchen Fällen ist der Glaube an die fragliche wissenschaftliche Erkenntnis mehr als berechtigt. Allerdings lässt die vermeintliche Erkenntnis der Wahrheit, wenn sie sich auch als wissenschaftliche Wahrheit gibt, oft gerade auf den schwierigsten Gebieten und in den verhängnisvollsten Augenblicken mein Streben nach Glück im Stich. 26 Unter Umständen schädigt sie mich sogar, etwa indem sie mich durch Zivilisation und Technik in eine Sphäre reiner Äußerlichkeiten hineinzuzwingen sucht und darauf abzieht von dem Innerlichen und Geistigen, von dem mein Glück und das Glück der Allgemeinheit letztlich abhängt. In diesem Falle wird der wahre, gute Glaube an das vermeintliche Wissen von der Wahrheit zum falschen Glauben, zum schädlichen Aberglauben. 8. (Zu 6b.) Die christliche Religion ist auch nur ein Glaube. Aber sie besitzt durchaus nicht weniger Glaubwürdigkeit als der Glaube, der sich vernünftige oder wissenschaftliche Erkenntnis nennt. Vor allen Dingen aber: Dieser Glaube macht mich glücklich; denn er gibt mir geistige Güter, er ist die Religion der Liebe. Und als Religion der Liebe macht sie mich dazu fähig, ein lebendiges, nützliches Glied der Allgemeinheit zu sein. 9. Je ‚unverdünnter‘ und ‚massiver‘, je ‚positiver‘, je entschiedener der christliche Glaube ist, das soll heißen: je unabhängiger er von der ewig sich ändernden Meinung des Augenblicks ist, wenn diese sich auch als exakte wissenschaftliche Erkenntnis vorstellt oder verstellt, desto größer ist die Möglichkeit, dass er Glück bringt, - desto wahrer ist er. 10. ‚Unsere Zweifel an Gott?‘ - Die sind damit gegenstandlos geworden. 9. DREI STUDIEN ZUM 5. GEBOT. 1934 I. Das 5. Gebot als Ausdruck des Sittengesetzes Wie tun wir Gutes? - Auf diese Frage gibt die so genannte ‚Goldene Regel‘ Antwort: Alles, was ihr wollt, dass es euch die eure tun sollen, das tut ihnen auch (Matthäus 7, V. 12; Lukas 6, V. 31). Kants ‚Kategorischer Imperativ‘: Handle so, dass die Maxime deines Handelns zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne, bedeutet im Grunde genau dasselbe. - Jedoch geben solche und ähnliche Formulierungen eben nur ein formales Kennzeichen einer ‚guten‘ Handlungsweise. Das Motiv könnte trotz dieses Kennzeichens sogar krasser Eigennutz sein, nämlich eine Art Vertrag auf Gegenseitigkeit: Tue mir nichts, dann tue ich dir auch nichts. (Das zeigt Schopenhauer in seiner ‚Grundlage der Moral‘.) Denkt man daran, dass die Liebe des Sittengesetzes Erfüllung sei (Römer 13, V.10), dann ist man zwar einen Schritt weiter: Man kennt das Motiv. Aber man kennt noch nicht den konkreten Inhalt des Sittengesetzes, weiß nicht, was man im Einzelnen tun oder lassen soll. Hier hilft Schopenhauer weiter. Er nennt als die beste, konkrete Beschreibung einer moralischen Handlungsweise den Satz: Nemin Laede, imo omnes, quantum potes, juval (Verletze niemanden, sondern hilf allen, soweit du es irgend vermagst!) 27 Mehr als zwei Jahrtausende vor Schopenhauer hat bereits das 5. Gebot solche Erkenntnis gebracht, und zwar unter einem größeren Gesichtspunkte, als Nutzen und Schaden, nämlich unter dem Gesichtspunkte der Heiligkeit des Lebens und der Lebensäußerungen. Darum die Forderung: ‚Du sollst nicht töten!‘ Wir wissen durch Jesus, dass das 5. Gebot nicht nur das Morden verbietet, sondern alle bösen Taten gegen den Anderen, ja sogar das böse Wort, die böse Gesinnung. Das bedeutet: Es verbietet nicht nur die böswillige oder fahrlässige Vernichtung eines Lebens, sondern alles, was irgendwie störend oder hemmend auf ein Leben einzuwirken geeignet ist. Dass das 5. Gebot nicht nur negativ, sondern auch positiv zu verstehen ist, hat Luther in seinem Katechismus deutlich gemacht. - Aus allem ergibt sich, dass das 5. Gebot einen ganz besonders guten Ausdruck dessen, was sittlich gut sein praktisch bedeutet, darstellt. II. Die Pflicht der Selbsterhaltung Wenn man von ethischen Pflichten spricht, dann versteht man darunter eigentlich immer nur Pflichten gegen andere Menschen. In der Regel wird nicht daran gedacht, dass ein jeder Mensch auch gegen sich selbst sittliche Verpflichtungen hat, und dass diese von sehr großer Wichtigkeit sind. Die christliche Religion weist auf diese ethische Pflicht jedes Menschen gegen sich selbst ausdrücklich hin. Das geschieht grundsätzlich durch das fünfte Gebot: ‚Du sollst nicht töten.‘ In dem Sinne von: ‚Du sollst niemanden an seinem Leben Schaden oder Leid tun, sondern ihm helfen und fördern in allen Nöten seines Leibes und Lebens, wo du irgend vermagst‘ 1 , bezieht es sich zunächst allerdings auf das Leben des ‚Nächsten‘. In der letzten Konsequenz aber bedeutet es: Nach christlicher Auffassung ist jedes Menschenleben als solches ethisch ‚heilig‘ - als auch das eigene Leben. Erhaltung des Lebens auch das eigene Leben nicht ausgenommen ist Pflicht. Und Vernichtung oder Schädigung von Leben - wiederum auch des eigenen Lebens - ist Sünde. ‚Wisset ihr nicht, dass ihr der Tempel Gottes seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Den Tempel Gottes aber sollt ihr heilig halten und nicht verderben.‘ (Nach 1. Korinther 3, V. 16-17) Wie haben sich die im fünften Gebot gegebenen ethischen Verpflichtungen gegen das eigene Leben im Einzelnen praktisch auszuwirken? Dadurch, dass man nicht sich selbst sein Leben nimmt, dass man es nicht abkürzt, schädigt oder gefährdet, indem man seine Gesundheit durch Unkeuschheit, Unmäßigkeit im Essen und Trinken, heftigen Zorn, leichtsinnige Tollkühnheit und Waghalsigkeit u. dgl. schwächt. Besonders wichtig ist die Bewahrung der geschlechtlichen Reinheit sowie die Vermeidung des Missbrauchs geistiger Getränke. Was das erstere anbetrifft, so ist dabei das Neutestamentalische Urteil besonders deutlich: ‚Wer 1 Vgl. dazu Luthers Erklärung zum 5. Gebot, deutsch und lateinisch. 28 Unzucht treibt, der sündigt gegen das eigene Leben.‘ (Nach 1. Korinther 6, V. 18.) Aber nicht nur die unzüchtige Tat zu unterlassen ist ethische Pflicht das Menschen gegen sich selbst, sondern auch die Vermeidung alles dessen, was zur Unkeuschheit verleitet: Unehrbare Blicke, unreine oder zweideutige Reden, Scherze und Lieder, unsittliche Schriften und Bilder, unanständige Spiele, Tänze, Kleider u. dgl. - Was die Alkoholfrage anbetrifft, so wird die christliche Einstellung durch die Erkenntnis begründet, dass ‚der Wein viele Leute umbringt‘ (Vgl. Sirach 31, V. 30), d.h. dass von der Seite des Alkohols her dem Leben und der Gesundheit große Gefahren drohen. Müssen die ethischen Verpflichtungen gegen das eigene Leben nicht unbedingt mit den Pflichten gegen den Nächsten in Kollision kommen? Das ist durchaus nicht notwendig. Im Gegenteil: Wer seine sittlichen Pflichten gegen sich selbst recht erfüllt, der vermeidet eben dadurch viele Schädigungen anderer Menschen. Das sei an der schon erwähnten sexualen und an der Alkoholfrage gezeigt: Wer dem Laster der Unkeuschheit verfallen ist, der ist in Gefahr, sich körperlich und geistig zu schwächen. Auch drohen die Geschlechtskrankheiten. Schwäche und Krankheit aber bewirken, dass der davon Befallene der Allgemeinheit mehr oder minder zur Last fällt, sie also schädigt. Hat er Nachkommenschaft, so schädigt er auch diese, indem er ihr eine schwächliche oder kranke Natur vererbt, wodurch dann in der weiteren Folge der Allgemeinheit wiederum Belastung und Schaden erwächst. Wer jedoch in dieser Hinsicht sein eigenes Leben vor Schaden bewahrt, der tut damit zugleich auch seine Pflicht gegen die Allgemeinheit. Ähnlich verhält es sich mit dem Alkohol: Auch der dem Alkoholgenus Ergebene setzt sich unter Umständen den schwersten körperlichen und geistigen Gefahren aus. Auch er schädigt dann nicht etwa nur sich selbst, sondern seine Familie, seine Nachkommenschaft, sein Volk, seine Rasse 2 . Und wiederum: Wer sich selbst in dieser Hinsicht vor Schaden bewahrt, der tut damit zugleich an seinem ‚Nächsten‘, ja, an seinem ganzen Volke Gutes. III. Der bio-ethische Imperativ ‚Du sollst nicht töten‘, so mahnt das fünfte Gebot. Nun bezieht sich der Begriff des Tötens immer auf etwas Lebendiges. Lebewesen sind aber nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere und die Pflanzen. Da nun das fünfte Gebot nicht ausdrücklich nur das Töten von Menschen verbietet, sollte es dann nicht vielleicht sinngemäß auch auf Tiere und Pflanzen anzuwenden sein? 2 Der Alkohol ist ‚ein schlimmer Feind unserer Rasse‘. Vgl. die so betitelte Schrift von Wilhelm John, die in Nr. 2 der ‚Ethik‘ besprochen wurde. 29 Aber stehen uns Tiere und Pflanzen so nahe, dass wir sie gleichsam als unsere Nächsten einschätzen und behandeln müssten? Blicken wir auf die Arbeiten der modernen Naturwissenschaft, dann finden wir zunächst eine grundsätzliche Gleichstellung von Mensch und Tier als Versuchsobjekte nicht nur der Physiologie, sondern auch der Psychologie. Diese beschränkt sich heute, wie gesagt, nicht mehr auf den Menschen, sondern sie arbeitet mit denselben Methoden auch auf dem Gebiet des Tierischen, und wie es eine vergleichende anatomisch-zootomische Forschung gibt, so werden auch höchst lehrreiche Vergleiche zwischen Menschen- und Tierseele angestellt 3 . Ja, sogar die Anfänge einer Pflanzenpsychologie machen sich bemerkbar - die bekanntesten ihrer Vertreter sind G. Th. Fechner 4 in der Vergangenheit, R.H. Francé 5 und Ad. Wagner 6 in der Gegenwart -, so dass die moderne Psychologie alle Lebewesen in den Bereich ihrer Forschungen zieht. Unter diesen Umständen ist es nur folgerichtig, wenn E. Eisler 7 zusammenfassend von einer BioPsychik spricht. Von der Bio-Psychik ist nur ein Schritt bis zur Bio-Ethik, d.h. zur Annahme ethischer Verpflichtungen nicht nur gegen den Menschen, sondern gegen alle Lebewesen. Sachlich ist die Bio-Ethik durchaus nicht erst eine Entdeckung der Gegenwart. Bereits Montaigne 8 räumt als zunächst noch alleinstehender Vertreter des modernen Gefühlsethos allen Lebewesen einen Anspruch auf Behandlung nach ethischen Grundsätzen ein: Den Menschen seien wir Gerechtigkeit schuldig; Milde und Barmherzigkeit allen übrigen Geschöpfen, welche davon Vorteil zu haben fähig sind. Im gleichen Sinne fordert Herder 9 vom Menschen, dass er sich nach dem Vorbild der alles mit ihrem Gefühl durchdringenden Gottheit in fades Geschöpf versetzen und in dem Maße mit ihm empfinden könne, als das betreffende Geschöpf es bedarf. Diese Gedankenreihen werden durch den Theologen Schleiermacher 10 fortgesetzt, der es für unsittlich erklärt, dass Leben und Gestaltung, wo sie schon sind, also auch beim Tier und bei der Pflanze, zerstört werden, ohne dass ein vernünftiger Zweck damit verbunden ist. Desgleichen fordert der Philosoph Krause 11 , ein Zeitgenosse Schleiermachers, dass jedes 3 Von neueren tierpsychologischen Arbeiten sind besonders zu empfehlen: Sommer, Tierpsychologie, Leipzig 1925. - Alverdes, Tiersoziologie, Leipzig 1925. 4 G..Th. Fechner, Nanna oder das Seelenleben der Pflanze. 5 R.H. Francé, Pflanzenpsychologie als Arbeitshypothese der Pflanzenphysiologie, Stuttgart 1909. 6 Ad. Wagner, Die Vernunft der Pflanze, Dresden 1926. 7 E. Eisler, Das Wirken der Seele, Stuttgart 1908. 8 Montaigne, Essays. 9 Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 10 Schleiermacher, Philosophische Sittenlehre (Kirchmann 1870) 11 K.Chr.Fr. Krause, Das System der Rechtsphilosophie (Röder, Leipzig 1874). 30 Lebewesen als solches zu achten sei und zwecklos nicht zerstört werden dürfe. Denn sie alle, die Pflanzen und die Tiere ebenso wie der Mensch, seien gleichberechtigt; allerdings nicht zu gleichem, sondern ein jedes nur zu dem, was ein notwendiges Erfordernis zur Erreichung seiner Bestimmung ist. Auf die indische Gedankenwelt berief sich Schopenhauer, der es als einen besonderen Vorzug seiner Ethik ansah, ihre Haupttriebfeder, das Gefühl des Mitleids, auch für das Tier gefordert zu haben 12 . Durch Richard Wagner, der von Schopenhauer stark beeinflusst ist und ein leidenschaftlicher Tierfreund war, sind diese Gedanken für breiteste Kreise Allgemeingut geworden. In bezog auf das Tier ist uns die ethische Forderung längst eine Selbstverständlichkeit geworden 13 , wenigstens in der Form, es nicht nutzlos zu quälen. Anders ist es schon mit der Pflanze. Jedoch dürften im Hinblick auf die biologischen und biopsychischen Erkenntnisse der Gegenwart (siehe oben) sowie auf die oben mitgeteilten Gedankenkreise von Montaigne, Herder, Schleiermacher und Krause ethische Verpflichtungen auch gegen die Pflanze erkennbar sein. Mit rein gefühlsmäßig-dichterischer Begründung ist auch diese Erkenntnis nichts Neues. Man denke z.B. an Goethe, der von Faust die Pflanzen als Brüder bezeichnen lässt, oder an Richard Wagners ‚Parsifal‘: In frommer Huld schont der Mensch wenigstens am Karfreitag Halm und Blume auf der Au mit sanftem Schritt, um sie nicht zu verletzen. Ernster zu nehmen sind die pflanzenethischen Überlegungen, die der sehr nüchterne Ed. v. Hartmann 14 anstellt. In einem Aufsatze über den Blumenluxus schreibt er von einer gepflückten Blüte: ‚Sie ist ein zum Tode verwundeter Organismus, dessen Farben nur noch nicht beschädigt sind, ein noch lebendes und lächelndes Haupt, das von seinem Rumpfe getrennt ist. Wenn ich aber die Rose im Wasserglas sehe, so kann ich mich des widerwärtigen Gedankens nicht erwehren, dass der Mensch ein Blumenleben gemordet hat, damit es im Sterben ein Auge erfreue, das herzlos genug ist, den unnatürlichen Tod unter dem Scheine des Lebens nicht herauszufühlen‘ 15 Die pflanzenethischen Forderungen, die diese Anschauung enthält, sind ohne weiteres deutlich. Was die Möglichkeit der Verwirklichung solcher ethischer Verpflichtungen gegen alle Lebewesen anbetrifft, so scheint sie eine Utopie zu sein. Da ist jedoch nicht zu übersehen, dass die ethischen Verpflichtungen gegen ein Lebewesen sich praktisch nach dessen ‚Bedürfnissen‘ (Herder), bzw. nach seiner ‚Bestimmung‘ (Krause) richten. Nun sind ja die 12 Schopenhauer, Über das Fundament der Moral. Das umfassende Werk auf diesem Gebiete ist immer noch: Bregenzer, Tierethik, Bamberg 1894. 14 Die psychologischen Voraussetzungen behandelt W. v. Schnehen, Ed. v. Hartmann und die Pflanzenpsychologie, Stuttgart 1908. 15 Ed. v. Hartmann, Der Blumenluxus, 1885. 13 31 Bedürfnisse der Tiere an Zahl weit geringer und an Inhalt weniger kompliziert als die des Menschen. In erhöhtem Maße gilt dies für die Pflanze, so dass die ethischen Verpflichtungen, die schon gegen das Tier (wenn auch nicht grundsätzlich, so doch praktisch) geringer sind, gegen sie noch viel weniger Schwierigkeiten bereiten. Des Weiteren ist hier noch das Prinzip des Kampfes ums Dasein von Einfluss, ein Prinzip, welches auch unsere ethischen Pflichten gegen die Mitmenschen nicht wenig modifiziert. Innerhalb dieser Grenzen bleiben immer noch zahlreiche Möglichkeiten zur bioethischen Betätigung. Eine Anleitung dazu, auf welche Weise diese auf dem Gebiete der Tierethik etwa geschehen kann, geben die Tierschutzparagraphen in den Strafgesetzbüchern der verschiedenen Kulturländern 16 . Vergleiche besonders das neue deutsche Reichstierschutzgesetz. Auf dem Gebiet der Pflanzenethik weist uns unser Gefühl den Weg, z.B. indem es uns hindert, Blumen zu pflücken und sie nach kurzer Zeit achtlos wieder wegzuwerfen, oder im Freien Pflanzen am Wege mit dem Spazierstock zu köpfen, oder wenn es uns mit Abscheu erfüllt über den blinden Zerstörungstrieb roher Burschen, welche junge Bäume an der Landstraße abbrechen. Auch ist übertriebener Blumenluxus, um von Ed. v. Hartmann zu lernen, ethisch nicht fein und wohl vermeidbar. In all dem zeigt sich der universale Geltungsbereich des fünften Gebotes, das in Beziehung auf alles Leben angewendet zu werden verlangt. Als Umschreibung des fünften Gebotes ergibt sich der bio-ethische Imperativ: ‚Achte jedes Lebewesen grundsätzlich als einen Selbstzweck und behandle es nach Möglichkeit als solchen!‘ 10. JENSEITSGLAUBE UND ETHIK IM CHRISTENTUM. 1934 Eine nachösterliche Betrachtung Wenn man das Wort ‚Christen‘-tum mit Verständnis hört, daran erkennt man aus dieser Bezeichnung, dass der Glaube an Christus ein wesentlicher Bestandteil des Christentums ist. Und wenn wir genauer nachprüfen, dann ergibt sich, dass es sich dabei besonders um den Glauben an den auferstandenen Christus handelt. Das braucht nicht erst noch bewiesen zu werden. Nur ein einziges, aber besonders lehrreiches Beispiel sei hier angeführt: Als Paulus in Athen vor einem Hörerkreis von Philosophen predigt, da ist der Kern seiner Verkündigung ‚Jesus und die Auferstehung‘ (Apostelgeschichte 17, Vers 18, 31). Und in einem Briefe an die Gemeinde von Korinth schreibt er im folgenden Sinne: Ein Christentum ohne den Glauben an die Auferstehung Christi ist eigentlich kein Christentum 16 Das Material ist zum ersten Male ausführlich zusammengestellt und besprochen bei. R. v. Hippel, Die Tierquälerei in der Strafgesetzgebung des In- und Auslandes, Berlin 1891. 32 (vgl. 1, Korinther 15, Vers 14, 17). Mit dem österlichen Auferstehungsglauben aber ist zugleich der Glaube an die Auferstehung der durch Christus Erlösten gegeben. Das bedeutet: Der Christusglaube ist ein Jenseitsglaube 17 ). Andererseits wird das Christentum als Religion der Liebe erkannt und hochgeschätzt und nicht mit Unrecht. Auch dafür braucht nicht erst noch ein Beweis geliefert zu werden: Immer wieder tritt uns im Neuen Testament das Gebot der Bruderliebe und Nächstenliebe, ja, sogar der Feindesliebe entgegen, und von Anfang an bis auf den heutigen Tag hat das Christentum den verschiedensten Nöten gegenüber die Liebe praktisch und planmäßig betätigt. Ein besonderes Ruhmesblatt in der Geschichte ihrer Liebestätigkeit ist ihre Arbeit auf dem Gebiete der Jugenderziehung, der Altershilfe, der Armenpflege, der Fürsorge für Kranke und Gebrechliche, der Arbeit an sittlich Gefährdeten und Gefallenen und Verwahrlosten. Sie hat auch andere zu solch praktischer Betätigung erzogen - die nun ihre Lehrmeisterin längst vergessen haben und sie womöglich gar verachten. In den letzten Jahrhunderten hat der christliche Jenseitsglaube mehr als früher Zweifel und Ablehnung erfahren. Dagegen ist die christliche Ethik wertbeständiger geblieben, sie genießt noch weithin große Achtung auch da, wo der Glaube an die Osterbotschaft fehlt. Diese Entscheidung gegen den Jenseitsglauben und für die Ethik des Christentums ist von den geistigen Strömungen der neueren Zeit aus begreiflich. Jedoch ist es nicht angängig, beides voneinander zu trennen, weil jedes das andere wesentlich bestimmt. Einerseits ist der Jenseitsglaube sehr stark ethisch fundiert: Wenn man ein Gebot Gottes kennt, das die Heilighaltung des Lebens fordert 18 , dann ist es eine fast zwingende Konsequenz, zu glauben, dass Gott, in selbstverständlicher Übereinstimmung mit seinem eigenen Gebot, seine Geschöpfe als ‚heilig‘ behandeln und sie nicht dem Tode verfallen lassen wird. Das ist die eine ethische Wurzel des Jenseitsglaubens. Eine andere ist folgende: Alles Gute findet unter allen Umständen endlich seinen gerechten Lohn, alles Böse seine gerechte Sühne. Da das in dieser Welt schlechterdings nicht die Regel ist, so ist der Glaube an ein Jenseits, wo das Gute seine gebührende Stellung erhält, die es hier nicht hat, geradezu ein Postulat des Glaubens an das Gute und seinen endlichen Sieg. Stützt sich so der Jenseitsglaube stark auf ethische Gedankengänge, so erhält ihrerseits die Ethik eine charakteristische Ausprägung durch den Jenseitsglauben: durch die Siegeserwartung für das Gute, welche durch den Jenseitsglauben zur Gewissheit wird, wird die Ethik in ihrer Kraft und Unbedingtheit ganz ungemein gefördert. 17 18 Vgl. dazu ‚Vom Leben nach dem Tode‘, 11. Jahrg., 2. Heft, S. 50. Vgl. dazu ‚Drei Studien zum 5.Gebot‘, 11. Jahrg., 4. Heft, S. 183. 33 Hieraus ist die Lehre zu ziehen: Wer mit dem Jenseitsglauben des Christentums nichts Rechtes anzufangen weiß - und das sind auch im Christentum selber wohl mehr, als sich die christlichen Kirchen selbst eingestehen - , aber den Wert der christlichen Ethik erkennt, der möge von der Ethik aus zu einem tieferen Verständnis und mit diesem zu einer höheren Schätzung des Jenseitsglaubens gelangen. 11. DIE SITTLICH-SOZIALE BEDEUTUNG DES SONNTAGS. 1934 Der wöchentliche Ruhe- und Feiertag, das ist für die arisch-abendländische Kulturwelt der Sonntag, stammt aus der Religion der Bibel. Trotzdem sind sich deren Anhänger des eigentlichen Sinnes, den dieser Tag hat, am wenigsten klar bewusst. Was antworten sie, wenn man sei fragt? ‚Der Sonntag ist der Gedächtnistag der Auferstehung Jesu‘. Das ist freilich richtig. Aber schließlich soll sich der Christ dieser für seinen Glauben so wichtigen Tatsache nie aus dem Auge verlieren, auch nicht in der Woche. Eine andere Antwort lautet: ‚Der arbeitsfreie Tag am Wochenende will an die Vollendung der Weltschöpfung durch Gott erinnern‘. Dies trifft allerdings ebenfalls zu. Aber der Gläubige wird seinen Schöpfer schließlich auch in der Woche nicht vergessen. Oder: ‚Der Sonntag ist dazu da, Gottes Wort zu hören oder irgendwie Gott zu dienen‘. Auch diese Antwort ist richtig. Aber schließlich braucht man dazu nicht unbedingt einen arbeitsfreien Tag; das kann man auch in der Woche tun. Außerdem kann die Arbeit unter Umständen selbst als ein Gottesdienst angesehen werden. Da wäre die Sonntagsruhe sogar noch ein Hindernis, Gott zu dienen. Worauf kommt es dann an? Dass nicht gearbeitet wird, und dass man auch andere nicht zur Arbeit nötigt. Die Befreiung von der Arbeit als etwas Wünschenswertes anzusehen, ist von idealistischen Gesichtspunkten aus betrachtet zunächst verwunderlich. Ist dieselbe doch in dreifacher Hinsicht unentbehrlich: als ein notwendiges Instrument der Liebe, oder zeitgemäßer formuliert, des sozialen Pflichtbewusstsein. Sie ist ferner nun eben einmal eine praktische Notwendigkeit. Endlich: sich zweck- und sinnvoll zu betätigen schafft Freude, - Werte schaffen bringt Wertgefühl. Leider kommt dieser dreifache Wert der Arbeit nur allzu oft in Verlust, und zwar dadurch, dass die Liebe, das soziale Pflichtbewusstsein fehlt. Dafür herrscht die Selbstsucht in der kaum verhüllten Form von Gewinnsucht und Genusssucht. Und wenn solches im neuen Deutschland von Staats wegen auch grundsätzlich anders wurde, so bleibt doch die Feststellung, auf die Menschheit als Ganzes angewendet, leider zu Recht bestehen. Diese Selbstsucht erkennt überhaupt nur die eigenen Interessen an. Den Interessen anderer gegenüber ist sie gleichgültig und schreitet kalt über sie hinweg, wenn es von Vorteil ist; es 34 sei denn, dass sie dieselben aus Gründen der Zweckmäßigkeit schont. Diese andere wird dadurch beinahe zwangsweise in eine Atmosphäre des Misstrauens und steter Kampfbereitschaft hineingetrieben, so dass auch ihnen der Segen der Arbeit genommen wird. Auf diese Weise macht der Mensch die Arbeit zu einem Kampf aller gegen alle, und das bedeutet leider einen Kampf von Bruder gegen Bruder. Dieser Kampf verliert auch dadurch nicht an Erbitterung, dass er sich gern als ‚friedlicher Wettbewerb‘ maskiert. Damit schafft sich der Mensch für seine Arbeit selbst Disteln und Dornen, die viel schlimmer sind als die, welche der Acker draußen hervorbringt. Und die Schweißtropfen, die dieser selbstgeschaffenen Kampf den Menschen auspresst, brennen und fressen viel schärfer als die, welche ihn die Arbeit an sich vergießen lässt. Diese Lasten, die sich der Mensch selber aufgeladen hat, sind viel drückender als die Mühen, welche durch Gegebenheiten der Natur, durch das natürliche Tagesgeschehen – für den Gläubigen sind das göttliche Zulassungen oder Schickungen (1. Mose 3, Vers 18 und 19), die letztlich irgendwie dem menschlichen Besten dienen (Roemer 8, Vers 18 und 28) – verursacht werden. Unter diesen Umständen wird dem Menschen auch die Freude, welche die Arbeit mit sich bringt, vergällt, wenn nicht gänzlich genommen. Hier tritt nun der wöchentliche freie Arbeitstag helfend ein. Ruht die Arbeit, dann sind Gewinnsucht und Geiz, wenn auch noch vorhanden, praktisch unwirksam geworden, soweit sie sich der Arbeit als Mittel bedienen. Ruht die Arbeit, dann ist auch der Kampf um die besten Lebensbedingungen, um das Dasein überhaupt, um das taugliche Brot, jener Kampf, den die Menschen gegeneinander führen, anstatt gemeinsam und in Einigkeit die gemeinsamen Hindernisse zu überwinden. An diesem Tag legt sich die Sonntagstimmung wie ein Friede über die Gemüter. An einem solchen Tag des Friedens wird auch die Sprache der Liebe deutlicher vernehmbar, die sonst durch das friedlose Weltgetümmel übertönt wird. Das Herz findet dann leicht den Weg zum anderen Herzen, auch die Menschen, die Seelen kommen sich näher. Und wenn sich die Liebe zunächst auch nur im Unterlassen auswirkt, so gibt es eben leider so unendlich vieles, was der Mensch aus Liebe, aus dem Mitfühlen heraus unterlassen müsste, dass der Gewinn, der aus solchem Unterlassen folgt, für die Kultur und zwar für die sittliche, die ‚soziale‘ Kultur, ein ganz außerordentlicher ist.19 Ein ganz besonderer Vorzug besteht darin, dass der Ruhetag nicht auf einen begrenzten Kreis von Menschen beschränkt ist. Er gilt auch nicht nur für die Vornehmen, sondern auch für die 19 Übrigens: ‚Es sind nicht nur ethische Momente, die dafür sprechen, die Sonntagsruhe heilig zu halten, vielmehr … auch gesundheitliche‘; vgl. Abderhalden ‚Die Bedeutung der Sonntagsruhe auf dem Lande‘, in: ‚Ethik‘, 10.Jahrg., 4. Heft, S. 241 35 Geringen, nicht nur für die Besitzenden, sondern auch für die Besitzlosen, nicht nur für den Herrn, sondern auch für Knecht und Magd, nicht nur für den Unternehmer, sondern auch für den Arbeiter. Selbst dem armen Arbeitstier soll der Ruhetag zugutekommen. Die Segnung des Ruhetages ist auch nicht ausschließlich den Bibelgläubigen zugedacht, sondern allem Menschen, ohne Rücksicht auf ihre Einstellung zur heiligen Schrift der Christen, überhaupt allem, was Leben hat. Diese Einrichtung des Ruhetages für alle Abreitenden ohne Ansehen des Standes, der wirtschaftlichen Verhältnisse und des Glaubens ist von kulturgeschichtlichem Standpunkte aus betrachtet eine sittlich-soziale Großtat allerersten Ranges. Dass der Gläubige in einer derart sozialen Einrichtung, wie es der Ruhetag ist, eine Offenbarung Gottes, der göttlichen Liebe erblickt, und dass er das Feiertagsgebot als eines der ersten (an dritter oder vierter Stelle) und wichtigsten zählt, wirft ein helles Licht auf seinen Glauben. Dieses Licht wird noch verstärkt durch die Tatsache, dass dieser bedeutungsvolle Gedanke nicht nur nachträglich, nachdem er anderswo erblüht ist, von dem eigenen Glauben übernommen wurde, sondern dass er ganz auf ihm gekeimt und gewachsen ist. Und wenn die Durchführung des Gedankens im Großen auch durch den Arm der Obrigkeit bewirkt wurde (Kaiser Konstantin der Große gab im Jahre 321 n. Chr. das erste Sonntagsgebot), so stammt der Gedanke selbst doch eben aus der Bibel, und bibelgläubige Menschen haben ihn in ihrem kleinen Kreis schon längst vorher verwirklicht gehabt. Wenn der Gedanke dort nicht entstanden und lebendig geworden wäre, so würde der Mensch vielleicht bis in die neueste Zeit hinein ohne jede Pause, ohne einen Waffenstillstand in dem harten, von ihm selbst entheiligten Kampfe stehen ums Dasein, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr, ‚bis dass er wieder zur Erde wird, von der er genommen ist‘ (1. Mose 3, Vers 19). So erweist die sittlich-soziale Bedeutung des wöchentlichen Ruhetages zugleich diejenige des Bibelglaubens, der den Ruhetag geschaffen hat und ihn bis auf den heutigen Tag als ein wesentliches Stück vertritt. 36 12. ZWEIFEL AN JESUS? 1934 20 In der Person des Parsifal verkörpert sich der Gedanke vom ‚reinen Toren‘: Derselbe Gedanke klingt im Neuen Testament an in zwei Seligpreisungen: ‚Selig sind, die reines Herzens sind!‘ (Matth. 5,8). ‚Selig sind die Armen im Geist!‘ (Matth. 5, 3). Er erinnert ferner an jene Geschichte, wo Jesus seinen Jüngern ein Kind als Vorbild hinstellt (Mark. 10, 15) in Abzielung auf Unschuld und Unkompliziertheit. Im Einklang hiermit spricht sich Wagner an anderer Stelle sehr temperamentvoll gegen das Intellektuelle aus, weil er es auf Irrwegen sieht. Auf solchen Irrwegen erblickt er besonders die Naturwissenschaft seiner Zeit, insoweit sie meinte, die Welt aus ‚Stoff und Kraft‘ ausschließlich erklären, Philosophie und Religion als Rudimente einer vergangenen Epoche verachten und religiöse Intuition leugnen zu können. Es wäre aber ein arger Irrtum, zu glauben, Wagner habe den Grundsatz gehabt: ‚Verachte nur Vernunft und Wissenschaft!‘ Sein Zorn ist nicht gegen die Wissenschaft an sich gerichtet, sondern gegen rationalistische Einseitigkeiten und materialistische Verzerrungen. Echtes Wissen dagegen hat für ihn einen unvergleichlich hohen Wert. Und wie gelangt man zu solchem? Durch Liebe, die sich nach der pessimistischen Anschauung Schopenhauers, die Wagner teilt, praktisch nur als Mitleid äußern kann. ‚Durch Mitleid wissend‘. Wie verläuft in dieser Hinsicht die Entwicklung Parsifals? - Den ersten Schritt auf der Bahn, die zum Wissen leitet, tut Parsifal, indem er Schmerz darüber empfindet, dass er einen Schwan (Tiere sind für Wagner, den Anhänger Schopenhauers, dem Menschen wesensverwandt) im Übermut getötet hat. In den Gralstempel geführt, ist Parsifal aufs tiefste bewegt, als er den unglücklichen Gralskönig Amfortas auf seinem Schmerzenslager sieht. Vollkommenes Wissen, höchste Weisheit erlangt er, als er in Klingsors Zaubergarten lernt, die größte, das ist die seelische Pein des schuldig gewordenen Amfortas, mitfühlend und mitleidend zu begreifen. Nun ist er “durch Mitleid wissend” geworden. Die oben bereits mitgeteilte Bedeutung dieses Werdeganges ist deutlich - auch für die Religion: Nicht Intellektualismus in einseitiger, verkehrter Form, sondern ‚des Mitleids Liebesmacht‘ führt zum Wissen von der Wahrheit: ‚Durch Mitleid wissend‘. Das gilt auch für die Wahrheit der Religion: ‚Gott lieben ist die schönste Weisheit‘ (Jesus Sirach, 1, 14). Können wir das, was Wagner durch künstlerische Intuition findet, auch vom Standpunkte philosophischer Überlegungen aus begreifen? Dass die Liebe sich im Mitleid auf das Wohl 20 Eine Betrachtung nach Richard Wagner’s ‚Parsifal‘; vgl. ‚Unsere Zweifel an Gott‘. 10. Jahrg., 2. Heft [Nov./Dez. 1933], S. 115 37 anderer, überhaupt aller richtet, ist eine erfahrungsmäßig gegebene Erscheinung im Gefühlsleben des Menschen. Eine die Allgemeinheit umfassende Liebe zu fühlen und zu betätigen aber bedeutet wiederum erfahrungsgemäß höchstes Glück, höchste Seligkeit. Die Wirklichkeit dieser Beseligung hält allen zweifelnden Erwägungen stand; denn wer sich glücklich fühlt, der ist es auch. Schein und Sein fällt hier zusammen, wenn es überhaupt einen Sinn hat, einen Unterschied zwischen beiden in diesem Zusammenhange zu machen. Unter diesen Umständen ist die Liebe sehr wohl geeignet, die Grundlage für weitere Erkenntnisse, für das Wissen um die Wahrheit religiöser Anschauung. Nach dem Bisherigen erscheint die religiöse Gedankenwelt des ‚Parsifal‘ zunächst als eine buddhistische Mitleidsreligion, durch Anschauungen Schopenhauers vermittelt. Schopenhauer sieht in dieser Religiosität einen Gegensatz zum Christentum. Das trifft jedoch nicht zu. Ja, wir befinden uns bei dieser Hochschätzung des Mitleids sogar im Mittelpunkt der christlichen Gedankenkreise. Wird doch auch im Christentum die Liebe (das Mitleid ist ja nur eine Form derselben) höher geschätzt als alles, was sich sonst Erkenntnis, Wissen, Weisheit nennen mag (1. Kor. 13). Dass es sich hier im eigentlichen Grunde um christliche Anschauungen handelt, wird durch Nietzsche bestätigt, der infolge seiner gegensätzlichen Einstellung zum Christentum Wagner und den ‚Parsifal‘ auf das schärfste angreift. Es trifft eben auch für die christliche Religion zu: Die Liebe (die sich als Mitgefühl, als Mitleid zeigt) ist Grundlage und Voraussetzung für jede Erkenntnis der Wahrheit. Ausschließlich und allein bestimmt die Liebe auch das Verhältnis zu Jesus. Sein Leiden ist ein ‚Liebesopfer‘ aus Erbarmen und Mitleid. Nach seinem Kreuzestod naht er sich mystisch den Seinen ‚durch des Mitleids Liebesmacht‘ im heiligen Mahle, das auch insofern zu einem ‚Liebesmahle‘ wird. Dem entspricht die Liebe des erlösten Menschen zu seinem Erlöser, so dass im Gralstempel der Himmelsgesang ertönen kann: ‚Nehmet hin meinen Leib, nehmet hin mein Blut um unsrer Liebe willen!‘ Die Liebe bedeutet aber auch hier Wissen. Und wer durch Liebe gewiss wurde, dass Jesus Bringer des Heils ist, der hat ‚selig in Liebe, selig im Glauben‘, jedes Zweifeln überwunden. 13. ETHISCHE BETRACHTUNGEN ZU INNERKIRCHLICHEN GLAUBENSKÄMPFEN. 1935 Das Christentum ist in Hunderte von Richtungen, welche Kirchen, Freikirchen, Sekten, Gemeinschaften, u. dgl. Genannte werden, gespalten. Das ist ganz gewiss sehr zu bedauern. Und ebenso gewiss ist diese Zerspaltung nicht im Sinne Jesu. Immerhin ist diese Vielgestaltigkeit psychologisch verständlich. Echte Religiosität ist ja doch eine ganz 38 persönliche Angelegenheit der einzelnen Menschenseele. Und je ernster und intensiver Anteilnahme und Hingabe an die Religionen sind, desto mehr wird sich herausstellen, dass zwischen den verschiedenen Menschen und Menschengruppen im einzelnen immer mehr oder minder unterscheidende Abstufungen oder wirkliche Verschiedenheiten bestehen, so dass nicht zwei Menschen in ihrem religiösen Glaubensleben bis zum letzten völlig gleich gestaltet sind. Ist so die Vielgestaltigkeit der religiösen Glaubensformen möglicherweise ein Zeichen dafür, dass man es mit der Religion ernst meint, so ist die Vielgestaltigkeit des Christentums, wenn man sie unter diesem Gesichtspunkte betrachtet, unter Umständen ein gutes Zeichen. Allerdings ist es unbedingt erforderlich, dass diese an sich gute Reichhaltigkeit der religiösen Glaubensformen im Christentum nicht der Anlass zu religiösem Unfrieden ist. Diese Gefahr liegt freilich sehr nahe, und von alters her bis auf den heutigen Tag hat sich dieselbe immer wieder eingestellt: Die christlichen Kirchen, welche bahnbrechend und einzigartig in ihrer Liebestätigkeit gewesen sind, ein Vorbild für die ganze moderne Kulturwelt, haben diese Liebe zuweilen recht vermissen lassen in ihrem gegenseitigen Verhalten, nämlich wenn es sich um die beiderseitigen religiösen Anschauungen handelte. Anstelle des Friedens, den Jesus verlangt, stehen hier – man möchte beinahe sagen: als Normalzustand – Unduldsamkeit, Unfrieden, Zank und Streit. Das brauchte nicht so zu sein, und das darf eigentlich auch nicht so sein. Wohlgemerkt. Da die Vielgestaltigkeit der christlichen Anschauungen ein gutes Zeichen sein kann, so sind auch sachliche Auseinandersetzungen, ist ein Kampf – wenn man solche Auseinandersetzungen einmal so nennen will – unter Umständen nützlich und notwendig. Nur muss dieser „Kampf“ von Christen untereinander auch in christlichen Formen und im christlichen Geist geführt werden. Dazu gehört mancherlei. Drei wichtige Punkte, welche die christlichen Richtungen in ihrem Kampf miteinander wohl beachten können und unbedingt beachten sollten, seien im Folgenden hervorgehoben und besprochen: 1. Bevorzugt vor dem Trennenden ist das Gemeinsame ins Auge zu fassen 21 . In der Regel wird zu jedem christlichen Kirchengebilde als besonders wichtig die Frage behandelt: Wie unterscheiden wir uns von anderen Christen? Zu den evangelischen Staatskirchen z.B. fragt man sich: Was unterscheidet uns von den verschiedenen protestantischen Freikirchen und Sekten? Was unterscheidet uns von den katholischen Anschauungen? Bei den Freikirchen und bei den Katholiken dürfte das grundsätzlich ganz ähnlich sein. So mancher Katechismus widmet der so genannten Unterscheidungslehre einen 21 Vgl. dazu die Bestrebungen der Thüringer ‚Kirchenbewegung Deutsche Christen‘ und deren empfehlende Besprechung durch Erich Friebel in Jahrg. 11 der ‚Ethik‘, 5. Heft, S. 213ff. (‚Die Kirche der Liebe‘). 39 besonderen Abschnitt. Auch bei Schul- und Universitätsprüfungen sind diese Dinge Gegenstand der Prüfung. So unerlässlich das Wissen um die Unterschiede ist, - man muss doch schließlich wissen, warum man sein kirchliches Sonderdasein führt – noch viel wichtiger ist das Wissen um das Gemeinsame. Und des Gemeinsamen gibt es mehr, als es bei oberflächlicher Betrachtung der Fall zu sein scheint. 2. Wenn man sich schon mit den Unterschieden beschäftigt, dann soll man nicht die schwachen Seiten der anderen Denkweise über Gebühr herausheben, während man zugleich ihre guten Seiten geflissentlich verschweigt. Alles Menschenwerk ist unvollkommen, und es ist gar nicht so schwer, überall irgendwelche Mängel aufzuzeigen – zumal wenn man sich Mühe gibt. Das gilt besonders auch für alle religiösen Anschauungen und deren Formulierungen – die christlichen nicht ausgenommen. Es ist mit anderen Worten immer irgendwie möglich, beim anders denkenden Christen irgendwelche Schwächen oder Unvollkommenheiten in der Theorie oder in der Praxis aufzuzeigen – und tendenziös zu unterstreichen. Wenn dann zugleich vorhandene gute Seiten geflissentlich verschwiegen werden, dann ist das zwar taktisch sehr wirksam: Man kann den Gegner sozusagen eins versetzen. Eine solche Taktik ist ohne Zweifel auch sehr menschlich. Aber mit christlicher Ethik ist sie durchaus unvereinbar. 3. Wirkliche Fehler oder Schwächen anderer Glaubensvorstellungen sollen abgelehnt werden, jedoch auf sachliche Weise und ohne leidenschaftliche Regungen. Man darf, bildlich gesprochen, ein Weiß nicht übersehen oder gar in ein Schwarz umfärben wollen. Das verbieten Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit unter allen Umständen. Aus demselben Grunde darf selbstverständlich auch ein Schwarz, wo es zweifelsfrei vorhanden ist, nicht übersehen oder gar mit einem Weiß überdeckt werden. Allerdings, das sei ausdrücklich wiederholt: Die Fehler müssen wirklich zweifelsfrei vorliegen. Man sei deshalb nicht zu schnell mit einer abfälligen Kritik bei der Hand; denn gerade auf dem Gebiet der Religion – auch der christlichen Religion – liegt die Gefahr zu nahe, dass man nur vom Standpunkte einer bloß vermeintlichen Wahrheit und Gerechtigkeit aus urteilt, d.h. dass man fehlurteilt. Ist aber tatsächlich eine Ablehnung berechtigt und notwendig, dann soll dieselbe immer in sachlicher Weise und ohne Mitwirkung leidenschaftlicher Regungen erfolgen, das soll heißen: ohne tendenziöse Vergröberung, ohne Feindseligkeit und Gehässigkeit, ohne Überheblichkeit und Besserwisserei, ohne Streitsucht und bloße Lust am Kritisieren an sich, ohne das Verlangen nach der Genugtuung, dem Gegner einen Fehler einstreichen zu können. Und endlich soll man sich bewusst sein, dass auch die eigenen religiösen Anschauungen Mängel und Schwächen haben dürften, deren nachsichtige Beurteilung man als 40 selbstverständlich ansieht. Dieses Bewusstsein dürfte geeignet sein, das Urteil über Mängel anderer Anschauungen etwas milder ausfallen zu lassen. 14. GLAUBE UND WERKE IN IHREM GEGENSATZ UND IN IHRER VEREINIGUNG. 1935 Der Philosoph Kant sagt, dass allein der gute Wille gut sei. Das bedeutet: die Bezeichnung gut kann nur auf den Willen zu Recht gebraucht werden. In alltäglichverständlicher Ausdrucksweise bedeutet das etwa: Auf den Willen, auf das Herz, auf die Gesinnung kommt es an. Das Tun des Menschen ist gut, wenn die Gesinnung, aus der es entspringt, gut ist. Allerdings, ins Herz kann man keinem Menschen blicken. Und sogar bei der Kritik des eigenen Tuns täuscht man sich nicht selten über die wirklichen Motive, die einen Bewegen: Man Glaubt in der Regel an die eigene gute Gesinnung, und in Wahrheit ist es mit dieser recht oft gar nicht weit her. Im praktischen Leben wird es also fast immer darauf hinauslaufen, nicht von der Gesinnung aus auf den Wert des Tuns zu schließen, sondern von dem Tun auf die Gesinnung. (Matth. 7, 16.20: ‚An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!‘) Das tut auch Kant in seinem ‚Kategorischen Imperativ‘: ‚Handle so, dass die Maxime deines Handelns zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne!‘ Das bedeutet eine Mahnung zum guten Handeln, wobei die Güte des Handelns nicht etwa doch wieder von der Gesinnung, sondern von ganz realen Dingen, nämlich vom Gemeinnutz her bestimmt wird. Also das eine Mal heißt es: Auf die Gesinnung kommt es an, das andere Mal heißt es: Auf das Tun kommt es an. Das scheint ein Widerspruch zu sein, ist aber keiner. Denn selbstverständlich ist ehrliches, gutes Wollen unter allen Umständen die Voraussetzung für das Tun, wenn es die Bezeichnung gut wirklich verdienen soll. Aber andererseits ist das Tun, wenn es gegenüber der Gesinnung logisch auch an zweiter Stelle kommt, der Maßstab, nach welchem die Beschaffenheit der Gesinnung beurteilt wird. Es gibt eben keine gute Gesinnung, ohne dass das daraus entsprechende Handeln gut ist, und ebenso ist kein Tun wirklich gut, wenn nicht die Gesinnung gut ist, aus der es hervorgeht. Gesinnung und Handeln, Handeln und Gesinnung sind beide, wenn auch nicht logisch, so doch praktisch gleichwertig und nicht voneinander zu trennen. Wenn man diese Tatsache auf die christliche Gedankenwelt spezialisiert, dann wird man für Gesinnung den Begriff Glauben einsetzen – an Stelle von Handeln wird gern das Wort Werke gebraucht – und dann würde es heißen: Glauben und Werke, Werke und Glauben sind beide praktisch nicht voneinander zu trennen. Die damit zum Ausdruck gebrachte Tatsache ist von 41 keiner Christlichen Kirche jemals ganz verkannt worden. Indem jedoch das eine oder das andere, der Glaube oder die Werke, zuweilen als das Wichtigere angesehen und in der Formulierung und Darstellung vielleicht etwas einseitig unterstrichen wurde – was dann zu allerlei Missständen führen konnte -, dann ergaben sich sofort Meinungsverschiedenheiten mit denen, welche die andere Seite mehr betont und unterstrichen wissen wollten. Und je mehr die eine Seite übertrieben wurde, desto sicherer stellte sich eine Gegenbewegung ein, die gerade nach der anderen Seite hin übertrieb, wie auch nur bewusst oder unbewusst aus Opposition. Das Zustandekommen einer solchen Entzweiung ist menschlich ganz verständlich. Aber es ist zugleich sehr bedauerlich, indem die beiden entzweiten Parteien in dem in Behandlung stehenden Punkte letzten Endes eigentlich ganz gut einig sein könnten. Da ist z.B. die katholische Gedankenwelt des Mittelalters. Niemals ist dort gelehrt worden, dass es auf die Gesinnung überhaupt nicht ankomme, und dass man demnach z.B. nicht an Gott zu glauben brauche. Allerdings wurde das Tun stärker betont als der Glaube, was man sehr wohl begreifen kann: Mit angeblich oder vermeintlich guter Gesinnung kann man andere täuschen – und schließlich auch sich selbst. Das sollte vermieden werden; das gilt heute noch ebenso wie damals. Und wenn auch die gute, die rechte Gesinnung wirklich vorhanden ist, aber sie ist zu schwach, wird vielleicht durch Furcht oder Bequemlichkeit oder andere Hemmungen für das Tun unwirksam gemacht, dann ist das doch ebenfalls nicht richtig. Eine Verkennung der Bedeutung der Gesinnung braucht in dieser Betonung des Tuns durchaus nicht zu liegen. Allerdings stellte sich gerade in diesem Punkte ein Missverständnis ein: Man legte es sich so zurecht, als ob es tatsächlich auf die Gesinnung des Herzens nicht ankomme. Dieses Missverständnis war unter Umständen sehr bequem: Man tat dies oder das, opferte z.B. eine Geldsumme für einen Ablasszettel, einen Kirchenbau oder dergleichen und konnte dabei gesinnt sein, wie man wollte. Diese Auffassung war ohne Zweifel ganz und gar ein Irrweg. Denn natürlich waren solche so genannten guten Werke keine wirklichen guten Werke. Denn was aus Gesinnungslosigkeit (oder gar aus übler Gesinnung) hervorgeht, das verdient die Bezeichnung gut nicht. Solche Werke sind, wie man zu sagen pflegt, tote Werke. Tote Werke, das war die Sünde gegen den Geist der christlichen Religion, die im Mittelalter besonders verbreitet war. Die Folge war äußerliches Gewohnheitskirchentum. Gegen diese Sünde kämpfte Luther und die von ihm hervorgerufene Bewegung Reformation. Er betonte ganz richtig: Ein Tun ohne Gesinnung, d.h. Werke ohne Glauben, bedeuten gar nichts. Auf die Gesinnung, auf den Glauben kommt es ganz allein an. Deswegen wollte Luther aber durchaus nicht sagen, dass das Tun des Menschen irgendwie gleichgültig sei, und dass der Mensch keine sittlichen Pflichten hätte. Er braucht nur deshalb nicht von diesen zu 42 reden, weil es ganz selbstverständlich ist: Wie jede echte Gesinnung, so hat wirklicher Glaube immer Einfluss auf das Handeln, sonst wäre es kein echter Glaube. Darum genügt es, wenn nur der Glaube vorhanden ist. Die Betonung des Glaubens war zudem besonders angebracht, weil dadurch die Missstände der mittelalterlichen Frömmigkeit, die toten Werke, vermieden werden mussten. Dieser Irrweg wurde denn auch wirklich versperrt. Jedoch machte sich dafür im Laufe der Zeit ein Fehler nach der anderen Richtung bemerkbar. Man meinte nämlich, dass der Glaube keinen Einfluss auf das Tun hätte oder zu haben brauchte. Das war ja außerdem auch wirklich das allerbequemste: Man brauchte sich um gar nichts zu kümmern, brauchte für sein Tun keinerlei Hemmungen zu haben, und hatte dann anderen sowie sich selber gegenüber die Ausrede: ‚Auf das Tun kommt es ja nicht an, nur auf den Glauben, und den habe ich‘. Wer das sagte, der vergaß dabei nur, dass ein solcher Glaube – wenn bei ihm, der solchen zu haben vorgab, wirklich etwas derartiges vorhanden war – kein wirklicher Glaube ist. Denn eine Gesinnung, die nicht zu Taten oder wenigstens zum ernsthaften Versuch von solchen führt, ist nicht echt. Wenn man daher, wie oben erwähnt wurde, in Beziehung auf das religiöse Leben des Mittelalters von toten Werken gesprochen hatte, so musste man in der Zeit nach Luthers Tode bald von einer toten Orthodoxie, d.h. von einer toten Rechtgläubigkeit reden: ‚Was hilft es, so jemand sagt, er habe den Glauben, und hat doch die Werke nicht? – Der Glaube, wenn er nicht Werke hat, ist er tot an sich selber‘ (Jak. 2,14a. 17). Die Folge war auch hier äußerliches Gewohnheitskirchentum. Dieser Irrweg hatte durchaus nichts mit der Lehre Luthers zu tun, das ist ganz ausdrücklich festzuhalten. Aber es stellte sich eben ein - und war noch schlimmer als der soeben bekämpfte und überwundene. Denn ein Tun, bei welchem die rechte Gesinnung fehlt, das ist sicherlich eine zweifelhafte Sache. Aber es ist doch immerhin etwas Greifbares und hat unter Umständen wenigstens einen praktischen, einen Nützlichkeitswert. Aber eine Gesinnung, richtiger: Eine angebliche oder vermeintliche Gesinnung ohne Auswirkung im Tun oder wenigstens im Wollen ist nur leeres Geschwätz, wenn nicht Verlogenheit, und auf jeden Fall völlig wertlos. (Ein Gleichnis: Wenn die Anordnungen in einem Staatswesen nicht die innere Zustimmung der Staatsangehörigen haben, sondern nur deshalb befolgt werden, weil das eben so verlangt wird, dann ist das natürlich ein Mangel. Aber der lässt sich zur Not ertragen. Ganz unerträglich wäre es jedoch, wenn jemand seine willige und freudige innere Zustimmung beteuern würde und dabei nicht einmal den Versuch machte, die betreffenden Anordnungen wirklich zu befolgen.) Gegen die soeben geschilderte tote Gläubigkeit und das daraus folgende äußerliche Gewohnheitskirchentum trat im 18. Jahrhundert von den verschiedensten Seiten aus eine 43 Reaktion ein – jedoch nicht etwa so, dass man in den alten Fehler, den Luther aufgezeigt und bekämpft hatte, zurückgefallen wäre. Da ist an erster Stelle der Pietismus zu nennen. (Auch dem Nicht-Theologen sind bekannt A. H. Francke und seine Stiftungen in Halle, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeinde.) Die entsprechende Erscheinung im evangelischen Sprachgebiet war der Methodismus. Der Pietismus verlangte an Stelle des ‚toten‘ einen „lebendigen“ Glauben und damit einen frommen christlichen Lebenswandel. Heiligung nannte man das. Der Ausdruck Heiligung bedeutet also mit anderen Worten, dass man wieder daran dachte, dass wirklicher, lebendiger Glaube ohne Einfluss auf die Lebensgestaltung, auf das Tun, nicht möglich ist. Diese Heiligungsbewegung wirkte sich aus in einer Neubelebung des praktischen Christentums. Ungefähr zu derselben Zeit, wenn auch von einer ganz anderen Mentalität her, wirkte die deutsche Aufklärung nach ebenderselben Richtung. Als Beispiel seien einige Zeilen aus einem Gedicht Gellerts, betitelt ‚Der tätige Glaube‘, hier angeführt: ‚Wer Gottes Wort nicht hält und spricht: Ich kenne Gott! der trüget. Alsdann bin ich Gott angenehm, wenn ich Gehorsam übe. Ein täglich tätig Christentum, das ist des Glaubens Frucht und Ruhm.‘ Das ist so ganz im Sinne der religiösen Aufklärung geschrieben, die so großen Wert auf die praktisch-ethische Seite des Christentums legte, und die, ähnlich wie der Pietismus Heiligung erstrebte, ‚Tugend‘ forderte. (Heiligung und Tugend sind also, wenn auch nicht gleiche, so doch parallele Begriffe: Sie betonen beide das Tun in bewusstem Gegensatz zu einer toten Gläubigkeit.) Auch außerhalb der speziell christlichen Glaubensvorstellungen im engeren Sinne zeigten sich Gedankenregungen und Geistesströmungen, die als Reaktion gegen tote Gläubigkeit und verwandtes Denken wirkten. Am Anfang dieses Aufsatzes ist bereits über Kant gesprochen worden: Wenn dieser sagt, dass gut allein der gute Wille sei, so bedeutet das: Auf das Herz, auf die Gesinnung kommt es an. Indem diese Gesinnung jedoch als Wille charakterisiert ist, zeigt sich unverkennbar eine Abzielung auf das Tun. Ganz klar und deutlich mahnt Kant zum guten Handeln im Kategorischen Imperativ (siehe oben!). Übrigens, wenn er dabei von der ‚Maxime‘ des Handelns spricht, dann zeigt das, dass er, wie das nicht anders sein darf, die Notwendigkeit der Gesinnung dabei nicht vergisst, dass er also nicht in den Fehler verfällt, der vor Luther im Mittelalter weithin geherrscht hatte. Außer auf Kant sei in diesem Zusammenhange auf Goethe hingewiesen. Bezeichnend ist das Wort gegen Ende von ‚Faust‘, II. Teil: ‚Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.‘ Das bedeutet doch zunächst wohl: Auf die Gesinnung kommt es an. Da diese aber als ein Streben und Bemühen in die Sphäre des Willens gerückt ist, so ist eine deutliche 44 Abzielung auf das Tun unverkennbar. Es ist übrigens interessant, wie dieses Wort Goethes in seiner Bedeutung und in seinen Folgerungen an ein Wort Wesleys, des Begründers des Methodismus, erinnert, das geraume Zeit vor Goethe gesprochen wurde: ‚Vergiss nicht: Du wirst belohnt werden nach deiner Arbeit, nicht nach deinem Erfolg.‘ Ganz entschieden aber legt Goethe Wert auf das Tun in dem großen Monolog Fausts in dem I. Teil der Tragödie, und zwar in folgendem Wort: ‚Im Anfang war die Tat‘. Was dieses Wort meint, das ist bis in die Gegenwart ein kaum angefochtener Grundsatz der Lebensgestaltung geblieben, auch für das christliche Bewusstsein) 22 . Schleiermacher, der bedeutendste kirchliche Theologe des Protestantismus seit Luther, hat solche Erkenntnisse zu ihrem Recht kommen lassen und den Begriff der Heiligung (wie gesagt, bedeutet das Bewährung des Glaubens im Leben) ausführlich und im positiven Sinne besprochen und in seine Glaubenslehre eingebaut 23 ). So ist die Lage mit der Zeit doch etwas erfreulicher geworden. Wie man zuweilen wohl sagt, habe die katholische Kirche in dieser Beziehung vom Protestantismus gelernt. Wie dem auch sei – oder nicht sei, es erscheint sicher, dass mancherlei, was man der Kirche des Mittelalters mit Recht zum Vorwurf machen kann, nunmehr beseitigt oder wenigstens weitgehend gemildert ist. Desgleichen hat man im Protestantismus den Irrweg der toten Gläubigkeit weithin grundsätzlich verlassen zugunsten eines lebendigen Glaubens. Mit anderen Worten: Man arbeitet in Richtung auf ein Christentum des Lebens und der Tat. Möchte dieser Weg immer mehr zu dem einzigen Weg werden. 15. DREI ABSCHNITTE DES LEBENS. 1938 Eine Betrachtung nach II. Korinther 5, 1-10 und nach dem Apostolischen Glaubensbekenntnis. Manches auf dem Gebiet der Weltanschauung geht auf die Bibel zurück. Nur wird das oft vergessen. So ist es mit den Gedanken, die der Naturwissenschaftler und Philosoph Gustav Theodor Fechner (1801-1887) in seinem ‚Büchlein vom Leben nach dem Tode‘ (1866) entwickelt. Wir finden ganz dieselben Gedanken in der ‚Großen Unterrichtslehre‘ (vollständig erschienen 1657) von Johann Amos Comenius 1592-1670), der ebenso als Pädagoge wie als aufrichtiger Christ und Bekenner er war Bischof der böhmischen Brüdergemeinde, einer Wurzel der Herrenhuter Brüdergemeinde - bekannt ist. Es handelt sich bei Fechner ebenso 22 In diesem Zusammenhange sei erwähnt: Abderhalden, Halle, ‚Ethik‘, 12. Jahrgang, 4. Heft, S. 151: ‚Könnte ich, wie ich möchte, dann würde ich verlangen…das herauszuheben, was grundlegend ist, nämlich das Christentum der Tat.‘ 23 Schleiermacher, Der christliche Glaube usw., § 110-112. 45 wie bei Comenius im vorliegenden Zusammenhange um die Einteilung des menschlichen Lebens in drei Abschnitte. Von besonderer Bedeutung ist dabei jener Teil, der über die Grenze dessen, was man nach gewöhnlichem Sprachgebrauch unter ‚diesem Leben‘ versteht, hinausgeht als ein ‚Leben nach dem Tode‘, jener Teil, der nicht nur die letzte Stufe darstellt, sondern zugleich als die höchste verstanden wird. Lange, lange vor Fechner und Comenius hat bereits ein anderer das Menschenleben in ähnlicher Weise dreigeteilt aufgefasst, ebenfalls unter besonderer Betonung des ‚Lebens nach dem Tode‘: Es ist der Apostel Paulus. Das Verdienst von Samuel Keller (1859 bis 1924) ist es, durch sein nach dem Krieg von 1914-1918 erschienenes Buch ‚Das Los der Toten‘ (in der früheren Auflage ‚Auferstehung des Fleisches‘ betitelt) auf diese Dreiteilung erneut hingewiesen und sie eingehend besprochen zu haben. Unsere Betrachtung bringt die Aussagen von Paulus über die drei Abschnitte des Lebens, die er 2. Korinther 5, 1-10 macht. Diese entsprechen den drei Abschnitten des Lebens Jesu, von denen wir im Apostolischen Glaubensbekenntnis lesen. Diese drei Abschnitte sind die folgenden: Erster Abschnitt: Am Anfang steht das Leben ‚in der Hütte‘ (2. Kor. 5, 1) dieses Leibes (auch 2. Petrus 1, 13. 14), in der irdischen ‚Behausung‘ (2. Kor. 5, 2) - zu Beginn außerdem sogar noch in der Hütte und Behausung des mütterlichen Leibes ‚im Fleische‘ (Galater 2, 20; Philipper 1, 24; Kolosser 2, 1). Die erste Lebensstufe ist eine Vorbereitung auf die zweite (und letztlich auch auf die dritte). ‚Denn wir sind nicht umsonst in diese Welt gesetzt, wir sollen hier reif für eine andere werden‘. (Matthias Claudius.) Auch Jesus hat zuerst in der Hütte und Behausung des Leibes gelebt. Fleisch und Blut hat er angenommen (Johannes 1, 14a): ‚Er war gleichwie ein andrer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden‘ (Phil. 2, 7). Das Bekenntnis berichtet besonders vom letzten Teil seines rein-menschlichen Lebens: ‚Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben‘. Zweiter Abschnitt: Der Mensch ist ‚entkleidet‘ (2. Kor. 5, 4), oder er ‚wandelt außer dem Leibe‘ (2. Kor. 5, 8). Es ist zu beachten: Entkleidetsein braucht nicht immer und in allen Fällen zu bedeuten Splitternacktsein. Man kann - um die bildliche Ausdrucksweise des Apostels weiter auszuspinnen sich entkleiden bis auf das Hemd, man kann Nachtzeug anlegen - und darf sich trotzdem nach einem weit verbreiteten Sprachgebrauch als entkleidet bezeichnen. Aber wenn auch gänzlich nackt und bloß, schließlich kommt der Mensch nicht ‚aus seiner Haut‘ 46 (gewissermaßen auch einer Art Bekleidung) heraus. So mag auch, wenn der Mensch seinen irdischen Leib abgelegt hat, etwas wie ein ‚Zwischenleib‘ oder ‚Seelenleib‘ (Bezeichnungen, die von Keller gebraucht werden) sein. Mitsamt der irdischen Überkleidung des Menschen verschwindet jede durch das Leibliche bedingte Schwachheit und Unvollkommenheit, so dass Paulus die Entkleidung aus diesem Leibe als eine Erlösung erkennt (Römer 7, 24). Da dieser Zustand oder Ort des ‚Entkleidetseins‘ der mittlere von dreien ist, so mag er ‚Zwischenort‘, ‚Zwischenreich‘ oder auch ‚Zwischenwelt‘ genannt werden. Das Neue Testament (im griechischen Grundtext) nennt ihn den ‚Hades‘, ein Wort, das wir auch mit Unterwelt, Totenreich, Reich der Abgeschiedenen, Schattenreich, Seelen- oder Geisterreich übersetzen mögen. Je nachdem wir uns befleißigt haben, dem Herrn wohlzugefallen (2. Kor. 5, 9), je nachdem wir bei Leibes Leben gehandelt haben, es sei gut oder böse (2. Kor. 5,10), werden wir es im Zwischenreich antreffen. Wir finden entweder einen Zustand der Ruhe (Offenbarung 14, 13), gleichsam des Schlafes (1. Kor. 11, 30; 15, 20; 1. Thessalonicher 4, 1315). Und wenn das Entschlafensein auch den Tod bedeuten soll, und falls das Wort Tod auch wirklich gebraucht wird, so handelt es sich doch immer um einen Zustand, der durch die Auferweckung bzw. durch Auferstehung sein Ende findet. Außerdem hindert dieser Zustand nicht daran, die Stimme Jesu zu hören. (Joh. 5, 25; 1. Petr. 4, 6) - Oder das Seelenreich kann uns ein ‚Gefängnis‘ werden (1. Petr. 3, 19), ein Ort der Qual (Lukas 16, 23.24) - es findet sich für ihn die Bezeichnung ‚Tartarus‘ (2. Petr. 2, 4, nach dem griechischen und lateinischen Grundtext). Endlich kann uns auch eine Stätte der Seligkeit erwarten: ‚Abrahams Schoß‘ (Luk. 16, 22), ein ‚Paradies‘ (Luk. 23, 43), ein ‚Elysium‘ im Vergleich zu dem im 2. Petrusbrief erwähnten Tartarus, ‚das kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben‘, (1. Kor. 2, 9), eine enge Gemeinschaft mit Jesus Christus. Wir denken an die Worte Jesu am Kreuz. ‚Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein‘. (Luk. 23, 43.) Auf diese Gemeinschaft mit Jesu hat sich auch der Apostel Paulus sehnend gefreut: ‚Ich habe Lust, abzuscheiden und daheim zu sein beim Herrn‘ (2. Kor. 5, 8; auch Phil. 1,23). Im Hinblick auf die letztere Aussicht, die auch für uns vorhanden ist, bitten wir singend: ‚Lasst mich gehen, lasst mich gehen, dass ich Jesum möge sehen! Meine Seel’ ist voll Verlangen, ihn auf ewig zu umfangen und vor seinem Thron zu stehen‘ (Gustav Friedrich Ludwig Knak). Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch Johann Heermann mit seinem Lied ‚O Gott, du frommer Gott‘, wo es in der 7. Strophe heißt: ‚Die Seele nimm zu dir hinauf zu deinen Freuden‘. 47 Wie ist es Jesus ergangen, als er entkleidet von seiner Leiblichkeit war? Das Bekenntnis sagt: ‚Er ist niedergegangen zur Hölle‘. Das ist eine schwerverständliche Aussage auch für sonst gläubige Menschen: Die Hölle ist ja doch der Ort der unabänderlichen, ewigen Verdammnis. Was sollte Jesus dort getan haben? Nun, in der ‚Hölle‘ ist Jesus auch wirklich nicht gewesen. Aber das sagt ja das Glaubensbekenntnis auch nur in seiner deutschen Übersetzung. In der maßgeblichen anderssprachigen Grunderfahrung ist nur die Rede von der Unterwelt, das meint das Reich der Abgeschiedenen oder der Schatten oder der Seelen und Geister, von dem wir schon oben gesprochen haben. Dort hat Jesus nach Schrift und Bekenntnis vom Karfreitagnachmittag bis Ostersonntag in der Frühe geweilt und hat den ‚Toten‘ das Evangelium verkündet (1. Petr. 4, 6) und den ‚Geistern im Gefängnis gepredigt‘ (1. Petr. 3, 19). Dritter Abschnitt Der Mensch ist ‚überkleidet‘ (2. Kor. 5, 4). Aus dem Alltagskleid wird ein Feierkleid, aus der Hütte wird ein Palast, aus dem ‚natürlichen‘ Leib wird ein ‚geistlicher‘ (1. Kor. 15, 44), ein ‚verklärter‘ Leib (Phil. 3, 21). Was gesät wird verweslich, das wird auferstehen unverweslich. Was gesät wird in Unehre, das wird auferstehen in Herrlichkeit. Was gesät wird in Schwachheit, das wird auferstehen in Kraft (1. Kor. 15, 42. 43). Rückschauend denken wir auch hier an Johann Heermanns Lied ‚O Gott, du frommer Gott‘, dessen 7. Strophe (2. Hälfte) und 8. Strophe folgende Bitte enthalten: ‚Dem Leib ein Räumlein gönn’ bei frommer Christen Grab, auf dass er seine Ruh’ an ihrer Seite hab’. Wenn du die Toten wirst an jenem Tag erwecken, so tu auch deine Hand zu meinem Grab ausstrecken, lass hören deine Stimm’ und meinen Leib weck auf und führ’ ihn schön verklärt zum auserwählten Hauf‘. Eine gute Zusammenfassung der drei Abschnitte des Lebens, soweit sie den Menschen betreffen, gibt die Agende der altpreußischen Union von 1895 und der später darauf folgende Entwurf einer neuen Agende in dem Formular, das bei Bestattungen gebraucht wird: ‚Nachdem es dem allmächtigen Gott gefallen hat, unseren Bruder (Schwester) aus diesem Leben (1. Abschnitt) abzuberufen, befehlen wir seine (ihre) Seele der Gnade Gottes (2. Abschnitt) und legen seinen (ihren) Leib in Gottes Acker - - in der Hoffnung der Auferstehung zum ewigen Leben durch unsern Herrn Jesum Christum (3. Abschnitt)‘. Zu diesem letzten Punkte des Formulars ist noch zu bemerken: Es geschieht uns auf diese Weise ähnlich wie Jesus, der allerdings schon ‚am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten‘ ist. Endlich wird die ganze Welt verklärt werden zu einem neuen Himmel und zu einer neuen Erde, 2. Petr. 3, 13; Offb. 21,1.) 48 Der Übergang aus dem ersten Lebensabschnitt in den zweiten wird ‚Tod‘ genannt. Er ist dem natürlichen Gefühl des Menschen zuwider. Der trägt ihn mehr oder minder mit hoffnungsloser Ergebung, mit stummer Trauer oder mit lautem Klagen, - wie das Kind, das eben geboren wird, mit Geschrei die umgebenden Hüllen im mütterlichen Leibe und diesen selbst verlässt. Das ist wohl begreiflich; denn das Verlassen einer Wohnung, sei es selbst einer ‚Hütte‘, bringt Unbequemlichkeiten mit sich, das weiß ein jeder, der einen Umzug durchgemacht hat. Auch das Ablegen einer Kleidung bedeutet schließlich immer eine gewisse Umständlichkeit. Entsprechend ist das Sterben ähnlich wie das Geborenwerden - für die Natur des Menschen gefühlsmäßig mit Unlust verknüpft, ja nicht nur das Sterben selbst, sondern schon der bloße Gedanke daran. Ist da nicht das Verlangen begreiflich, ‚überkleidet‘ zu werden, ohne dass vorher noch eine ‚Entkleidung‘ stattfindet nicht die Sehnsucht, die Hütte, das Kleid dieses Leibes und Lebens gar nicht ablegen zu brauchen, sondern zu erlangen, ‚dass das Sterbliche gleichsam verschlungen würde durch das Leben‘? (2. Kor. 5, 4.) Nach der Heiligen Schrift wurden ja so, ohne den Tod zu schmecken, Henoch (1. Mose 5, 24; Hebr. 11, 5) und Elias (2. Könige 2, 11) zu Gott in sein Reich aufgenommen. Wenn der einzelne Christ auch kaum wagen wird, ähnliches wie eine Art Sonderbegünstigung für sich zu erhoffen, dann würde aber doch jeder gern zu denen gehören, welche die Wiederkunft des Herrn noch in dieser Leiblichkeit erleben; denn dann würde ja das Verlangen nach sofortiger ‚Überkleidung‘ ohne vorherige ‚Entkleidung‘ erfüllt werden. Der Apostel Paulus kennt diese Erwartung, diesen sehnsuchtsvollen Wunsch recht wohl. (2. Kor. 5, 1-4; 1. Kor.15, 51-53.) Solches Sehnen ist auch sonst im Sinne der Heiligen Schrift. Denn ‚es spricht, der solches bezeuget: Ja, ich komme bald!‘ (Offenb. 22, 20.) Und damit ist die Bitte gegeben: ‚Ja, komm Herr Jesus!‘ (Offenb.22, 20.) Wer aber nicht zu dem unmittelbaren Übergang berufen ist, steht denen letztlich nicht nach, die es sind. (1. Thess. 4, 15.) Denn der Tod, obwohl er als das Ende alles Lebens erscheint, ist in Wirklichkeit nur eine Erlösung von Schwachheit und Unvollkommenheit (Röm. 7, 24), ist die Eingangspforte in ein vollkommeneres Sein, und das Sterben ist nicht anderes als ein ‚Heimgehen‘: (2. Kor. 5, 8.) Und wie ist es mit dem Weizenkorn? (vergl. 1. Kor. 15, 36-38.) Scheint es nicht, als ob es ‚tot‘ sei und beim Säen ‚begraben‘ würde? Aber dieses Sterben, Begrabenwerden und Verwesen ist eben nur Schein. In Wahrheit bedeutet es für das Korn ein Quellen und Keimen, ein sich Regen verborgener Lebenskräfte, bis dass es aufgeht in reicheren Lebensformen als 49 zuvor. ‚Noch köstlicheren Samen bergen wir trauernd in der Erde Schoß und hoffen, daß er aus den Särgen erblühen soll zu schönerm Los‘(Schiller). Es ist jedoch zu beachten, dass vom christlichen Standpunkte aus statt des Wortes ‚hoffen‘ besser das Wort ‚glauben‘ zu brauchen ist im Sinne von: eine feste, eine gewisse Zuversicht haben (Hebr. 11, 1), und dass die Trauer unter diesen Umständen ihren schärfsten Stachel verloren hat. Die beiden Gleichnisse von der Geburt und von der Saat erinnern daran, dass das Sterben stets als ein katastrophaler Vorgang, als ein gewaltsamer Wechsel erscheint, - wenigstens für den, der diesen Wechsel noch nicht selber durchgemacht hat. Und das sind alle Menschen in dieser Welt. Wer aber das Sterben rückschauend wird betrachten können, der wird vielleicht finden, dass es gar nicht so katastrophal, so gewaltsam gewesen ist, wie es vorher erschien! Dann gäbe auch hier der von Paulus 2. Kor. 5, 1 ff. dargebotene Vergleich des Sterbens mit einer Entkleidung oder mit dem Auszug aus einer Hütte die beste Vorstellung: Wenn unsere Seele diesen Leib verlässt, dann ist das, nachträglich betrachtet, vielleicht nicht unbequemer, als wenn wir die Kleidung oder nur ein Kleidungsstück ablegen, und wir finden unter Umständen, dass das betreffende Stück doch eigentlich recht unbequem und mangelhaft war, und dass wir uns nun viel besser befinden. Oder es ist, als ob wir über die Schwelle einer Hütte oder irgendeines sonstigen menschlichen Bauwerks hinaus schreiten in eine große, freie Natur. Oder wir treten gleichsam aus einem engen Vorraum mit wenigen kleinen und trüben Fenstern in einen weiten, lichten Saal mit ungehindertem Ausblick. Und das ist doch auf jeden Fall eine große Verbesserung. Der Übergang aus dem 2. Lebensabschnitt in den dritten ist die ‚Auferstehung‘, die ‚Auferstehung des Fleisches‘ (oder des Leibes), wie es das apostolische Glaubensbekenntnis im 3. Artikel ausdrückt. Sie bedeutet unseres Leibes Erlösung (Röm. 8, 23). Zu wissen, auf welche Weise die Auferstehung vor sich gehen wird, ist uns nicht gegeben, wie wir uns ja auch nicht vorstellen können, wie sich die Auferstehung Jesu am frühen Ostermorgen abgespielt hat. Eines aber haben wir im Glauben fest ergriffen, nämlich dass ‚Christus ist auferstanden von den Toten und der Erstling geworden unter denen, die da schlafen. In ihm werden alle lebendig gemacht werden‘. (1. Kor. 15, 20.22; 6, 14; 2. Kor. 4, 14.) Und da ‚müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf dass ein jeglicher empfange, je nachdem er sich befleißigt hat, dem Herrn wohlzugefallen, je nachdem er gehandelt hat, es sei gut oder böse‘ (2. Kor. 5, 9 u. 10). Wir vergleichen dazu das Glaubensbekenntnis: Jesus ist ‚aufgefahren gen Himmel, sitzend zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten‘. 50 16. DER SONNTAG - EIN WELTLICHER FEIERTAG. 1947 (Eine Betrachtung zu Artikel 16 des Verfassungsentwurfes.) Der arbeitsfreie Sonntag ist keineswegs eine Errungenschaft christlichen Ursprungs. Zwar hatte und hat das Judentum einen Tag der Arbeitsruhe. Aber das ist nicht der Sonntag, sondern der Sonnabend, der sogenannte Sabbat. Den haben auch die Christen gehalten, solange sie zu einem jüdischen Gemeinwesen gehörten. Aber das war eigentlich nur in dem kleinen Palästina der Fall, und dort auch nur für einige Jahrzehnte. Die meisten Christen waren römische Staatsangehörige und hatten als solche keine Veranlassung, den Sabbat zu feiern. Und einen anderen, einen römischen Tag der allwöchentlichen Arbeitsruhe gab es nicht, wenigstens damals noch nicht. Das wurde im Jahr 321 unserer Zeitrechnung anders: Da wurde der Sonntag im Römischen Reich durch ein Gesetz als Tag der Arbeitsruhe eingeführt. Und somit ist dieser Tag durchaus eine staatliche, eine weltliche, keine kirchliche oder christliche Einrichtung. Weltlich ist darum bis auf den heutigen Tag der Name: Sonntag = Tag der Sonne. – Schon die Römer hatten eine Woche von sieben Tagen, benannt nach den sieben Planeten, oder was man dafür hielt: Sonntag = Tag der Sonne, Montag = Tag des Mondes, Dienstag = Tag des Mars, Mittwoch = Tag des Merkurs, Donnerstag = Tag des Jupiter, Freitag = Tag der Venus, Sonnabend = Tag des Saturn. Da nun die Sonne für den Menschen als größtes Gestirn unter diesen Himmelskörpern erscheint, und da ihre Bedeutung für die Erde und alles irdische Leben überragend ist, so lag es nahe, dem Tag der Sonne diese Sonderstellung unter den Wochentagen zu geben. Dazu kommt noch ein zweites: Da die Sonne weiterhin religiöse Verehrung genoß, so hatte der Sonntag von Anfang an sozusagen einen religiösen Beigeschmack, und zwar einen heidnischen. Kein Wunder: War doch der Kaiser Konstantin, der das Sonntagsgesetz erließ, bis zur letzten Stunde seines Lebens ein Heide. Aber auch und gerade den Christen sollte dieser Tag zugute kommen. Sie konnten ihre Gottesdienste viel feierlicher als bisher begehen. So war und ist der Sonntag für sie als rechte „donatio Constantini“, eine Schenkung Konstantins. Also der Sonntag war eine Einrichtung des Staates ohne Rücksicht auf Religion und Bekenntnis. Und so ähnlich ist es noch heute. Man vergleicht die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919, 2. Hauptteil, 3. Abschnitt, Artikel 139: „Der Sonntag … als Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“ Daß die Sonntagsruhe auch weitestgehend durchgeführt wurde, das ist vor allem eine Frucht des Kampfes der Arbeitnehmer um ihr Recht. Allerdings sollte der Sonntag wie damals, so auch heute noch 51 den Christen mit zugute kommen. Darauf deutete der Umstand, daß der zitierte Artikel 139 der Verfassung in dem Abschnitt über Religion und Religionsgemeinschaften stand. Von aktuellem Interesse ist der von der SED 1946 beschlossene Entwurf einer Verfassung für die deutsche demokratische Republik. In dem Artikel 16 stellt diese den Sonntag als Tag der Arbeitsruhe unter den Schutz des Gesetzes. 24 Diese Bestimmung steht nicht im Zusammenhang mit Bestimmungen über Religion und Religionsgemeinschaften, sondern mit solchen zum Schutze der arbeitenden Bevölkerung. Auch tritt hier der Sonntag in Gesellschaft mit den anderen Feiertagen und mit dem 1. Mai auf. Kurzum: Er erscheint hier durchaus als weltlicher Feiertag, ganz im Einklang mit seiner Entstehung. Somit ist denn der Sonntag nicht so seht ein Geschenk des Christentums an die Welt, sondern eher ein Geschenk der Welt an die Christen. Allerdings ist der Sonntag nicht zu deren alleinigen oder bevorrechtigten Gebrauch da, sondern zur berechtigten Mitbenutzung (Berechtigt im Sinne von Artikel 33 des Verfassungsentwurfes 25 ). Alle ohne Unterschied des Bekenntnisses, des Glaubens (oder Unglaubens) und der Weltanschauung mögen ihn feiern, wie es ihnen beliebt: Durch Sport und Spiel, durch Wanderung oder Spaziergang, durch frohe Geselligkeit, durch Ruhe oder Liebhabereibeschäftigung, durch Kirchgang oder eine andere Religionsausübung. 24 Verfassungsentwurf Artikel 16: „… Der Sonntag, die Feiertage und der 1. Mai sind Tage der Arbeitsruhe und stehen unter dem Schutz der Gesetze…“ 25 Verfassungsentwurf Artikel 33: „Glaubens- und Gewissensfreiheit und die ungestörte Religionsausübung stehen unter dem Schutz der Republik…“ 52 NACHWORT Das Leben von Fritz Jahr (1895-1953) verlief ereignislos und war geprägt von den turbulenten politischen, ökonomischen, und gesellschaftlichen Umbrüchen der zwanziger und dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhundert, von eigener schwacher Gesundheit und fehlender Anerkennung für seine Konzeption einer neuen Wertwisssenschaft und von neu modifizierten persönlichen und gesellschaftlichen Tugenden und Prinzipien im moralischen Verhalten unter uns Menschen und gegenüber unseren natürlichen, gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Umwelten. Mehr als vier Jahrzehnte vor Van Rensselar Potter’s Bioethics – the Science of Survival in ‚Perspectives in Biology and Medicine‘ 1970, 14:127-153 and Andre Hellegers’ Pressenotiz über die Gründung des Kennedy Institute an der Georgetown Universität in Washington DC mit dem Titel Bioethics Center formed in ‘Chemical and Engineering News’ 1971, 11:7, stellte Fritz Jahr in einem Editorial des Jahrgangs 1927 der führenden naturwissenschaftlichen Zeitschrift ‘Kosmos’ das Konzept einer angesichts der teils segensreichen, teils bedrohlichen enormen Fortschritte von Wissenschaft und Technik unverzichtbar notwendig gewordenen neuen Disziplin und Charakterhaltung vor. Er formulierte als Bioethischen Imperativs: Achte jedes Lebewesen grundsätzlich als eine Selbstzweck, und behandle es nach Möglichkeit als solchen! Jahr setzt sich durchgehend mit Kant auseinander und füllt die Formalität und Rigorosität des Kategorischen Imperativs aus mit einem konkreten Verantwortungsinhalt allen Formen des Lebens gegenüber, unter ausdrücklichem Einschluss von Tieren und Pflanzen. Der bioethische Imperativ gilt auch gegenüber allen Lebensformen des natürlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens in Biotop, Umwelt und Gemeinschaft ‚Unser ganzes Leben und Treiben in der Politik, im Wirtschaftsleben, im Kontor, im Laboratorium, in der Werkstatt, auf dem Acker‘ schreibt er 1928, ist individueller und kollektiver Kampf ums Dasein als unverzichtbares Prinzip von Leben überhaupt und deshalb dürfen wir nicht ‚das Ideal ethischen Verpflichtetseins als Richtungspunkt aus dem Auge verlieren‘. Kant hatte formuliert: ‚Das moralische Gesetz ist heilig (unverletzlich). Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muss ihm heilig sein. In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebrauscht werden; nur der Mensch und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf ist Zweck an sich selbst. Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit‘ [A156]. Jahr zerbricht diese Exklusivität und Rigorosität des kantischen Gebots, dehnt es auf alle Formen von Leben aus und fordert eine leidensreduzierende und lebensfördernde ethische Abwägung zwischen rivalisierenden sittlichen Forderungen, - was anders sonst als das verantwortungsbewusste und solidarische 53 Abwägen von Verpflichtungen, Verantwortungen, Solidarität und Mitempfinden ist das Geschäft der Ethik? Er schreibt: ‚Wessen Liebe so groß ist, dass sie, über die Grenzen des Nur-Menschlichen hinausgehend, noch im armseligsten Geschöpf etwas Heiliges sieht, der wird auch in dem ärmsten und geringsten seiner Menschenbrüder dieses Heilige zu finden und hochzuachten wissen und sich dabei nicht auf einen begrenzten Teil derselben , etwa eine Gesellschaftsklasse, einen Interessenverband, eine Partei und was sonst noch in Betracht kommen mag, beschränken‘. Heiligkeit des Lebens, nicht Heiligkeit eines Gesetzes ist die Basis des Bioethischen Imperativs. Behörden, Fabriken, Organisationen, Krankenhäuser und Nachbarschaften sind Lebensformen, - lebende Formen von Zusammenleben von Individuen und Gemeinschaften - und stehen unter ähnlichen Regeln von Egoismus und Altruismus. EvaMarie Engels [siehe Nachweise] hat im Anschluss an Jahr schon 1999 versucht, den Begriff Bioethik lexikographisch und konzeptionell aufzuschlüsseln in unterschiedliche spezialisierte Wertwissenschaften, die mit ethischen Anforderungen aus Wissenschaft und Gesellschaft korrespondieren. Der Begriff von Leben ist für den protestantischen Pastor Jahr aber nicht bloß individuell zwischen Geburt und Tod eingebunden; im Anschluss an Comenius unterscheidet er drei Lebensabschnitte: vor der Geburt, nach der Geburt, nach dem Tode, - die beiden ersteren jeweils mit Angst, Schmerzen und einem Gefühl des Endes verbunden. Die Erfahrungen nach der Geburt jedoch, die vor der Geburt nicht erfahrbar waren, schließen einen ähnlich befreienden Übergang nach den Qualen des Sterbens und einen abermals höheren Grad von Freiheit und Bewusstheit nicht aus. Das ist kein Beweis für die Unsterblichkeit, aber ähnlich wie bei Kant zuvor eine Plausibilität und ein Beweis der Nichtbeweisbarkeit. Beeinflusst von Schopenhauer und fernöstlichen Gedanken zu Einheit und Übergang von Lebensformen, begreift Jahr alle Formen des Lebens in einen christlich geprägten Begriff von Bios, Schöpfung und Erlösung und findet dafür vielfältige Belege in der Bibel. Anders als bei Publikationen von uns zeitgenössischen Bioethikern und Medizinethikern, bei denen die Halbwertzeit der zitierten Literatur oft selten länger ist als die in den biomedizinischen Wissenschaften, lebt und argumentiert Jahr aus der Fülle der Ideen- und Ethikgeschichte, wie es beispielhaft seine Interpretation des 5. Gebots und die Diskussionen mit Kant zeigen. Jahr war an weltanschaulichen und ethischen Auseinandersetzungen der dreißiger Jahre nicht ohne Mut aktiv beteiligt. Vehement verteidigt er den modernen Arbeitsunterrichts gegenüber einem ‚Gesinnungsdiktat‘ in Unterricht und Gesellschaft, als Nationalsozialismus und andere radikale Ideologien sich anschickten, Gesinnungen und Moral zu diktieren. Weitsichtig auch seine Wertung der Massenmedien in einer sich herausbildenden Informationskultur und der 54 damit verbundene Ruf an die Ethiker, sich an der Bildung des öffentlichen Bewusstseins und öffentlicher Verantwortung zu beteiligen. Seine konservative Position zur Sexualethik ist von den kulturellen Umbrüchen der dreißiger Jahre geprägt und dürfte heute differenzierter gesehen werden als damals. Der Streit zwischen Glauben und Handeln, zwischen reiner Lehre und aktivem Tun in den innerkirchlichen Auseinandersetzungen, ist heute auch in säkularen Gruppierungen und unter Bioethikern nur zu bekannt. Schließlich ist seine Forderung nach terminologischer Präzision in ethischen Diskursen des Alltags und vor allem in der Fachsprache nach wie vor aktuell in einer Zeit, in der bedauerlicherweise Begriffe wie Bioethik und Medizinethik unpräzise und unreflektiert synonym gebraucht werden. Es bleibt zu hoffen, dass diese Aufsätze von Fritz Jahr nicht nur als historisch gelesen werden, sondern vor allem auch als konzeptioneller Beitrag zu aktuellen und zukünftigen bioethischen und medizinethischen Diskussionen. Diese Edition soll hierzu eine Hilfe sein. 55 NACHWEISE Aufsätze von Fritz Jahr Bio-Ethik. Eine Umschau über die ethischen Beziehungen des Menschen zu Tier und Pflanze. Kosmos. Handweiser für Naturfreunde 1927, 24(1): 2-4 Der Tod und die Tiere. Eine Betrachtung zum 5. Gebot, Mut und Kraft, Halle 1928, 5(1): 5-6 Tierschutz und Ethik in ihren Beziehungen zueinander. Ethik. Sexual- und Gesellschaftsethik. Organ des ‚Ethikbundes’ 1928, 4(6/7): 100-102 Soziale und sexuelle Ethik in der Tageszeitung. Ethik. Sexual- und Gesellschaftsethik. Organ des ‚Ethikbundes’ 1928, 4(10/11): 149-150 Wege zum sexuellen Ethos. Ethik. Sexual- und Gesellschaftsethik. Organ des ‚Ethikbundes’ 1928, 4(10/11): 161-163 Zwei ethische Grundprobleme in ihrem Gegensatz und in ihrer Vereinigung im sozialen Leben. Ethik. Sexual- und Gesellschaftsethik 1929, 6: 341-346 Gesinnungsdiktatur oder Gedankenfreiheit? Gedanken über eine liberale Gestaltung des Gesinnungsunterrichts. Die neue Erziehung. Monatsschrift für entschiedene Schulreform und freiheitliche Schulpolitik, 1930, 12: 200-202 Vom Leben nach dem Tode. Aus J. A. Comenius ‚Didactica Magna‘ zusammengestellt. Ethik. Sexual- und Gesellschaftsethik. 1933, 10: 50-51 Unsere Zweifel an Gott. Subjektive Gedanken beim Thema eines Anderen (Nr. 1, Jg. X der ‚Ethik‘). Ethik. Sexual- und Gesellschaftsethik. 1933, 10: 115-116 Drei Studien zum 5. Gebot. Ethik. Sexual- und Gesellschaftsethik. 1934, 11: 183-187 Jenseitsglaube und Ethik im Christentum. Ethik. Sexual- und Gesellschaftsethik 1934, 11: 217-218 Die sittlich-soziale Bedeutung des Sonntags. Ethik. Sexual- und Gesellschaftsethik 1934, 11: 361-363 Zweifel an Jesus. Eine Betrachtung nach Richard Wagner’s ‚Parsifal‘. Ethik. Sexual- und Gesellschaftsethik 1934, 11: 363-364 Ethische Betrachtungen zu innerkirchlichen Glaubenskämpfen. Ethik. Ethik. Sexual- und Gesellschaftsethik. Organ des Ethikbundes 1935, 12: 58-61 Glauben und Werke in ihrem Gegensatz und in ihrer Vereinigung. Ethik. Ethik. Sexual- und Gesellschaftsethik. Organ des Ethikbundes, 1935, 12: 260-265 Drei Abschnitte des Lebens nach 2. Korinther. Nach dem Gesetz und Zeugnis. Monatsschrift des Bibelbundes 1938, 38: 182-188 56 Selected Essays in Bioethics 1927 – 1934. Bochum: Zentrum für Medizinische Ethik 2010, Medizinethische Materialien, Heft 186 Aufsätze zur Bioethik 1927 – 1947. Zweite erweitere Auflage. September 2011. Zentrum für Medizinische Ethik. Medizinethische Materialien, Hefte 187. Essays in Bioethics and Ethics 1927 – 1947. Zentrum für Medizinische Ethik. Medizinethische Materialien 2011, Heft 188. 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Heft 176: Lohmann, Ulrich: Informed Consent und Ersatzmöglichkeiten bei Einwilligungsunfähigkeit in Deutschland – Ein Überblick. August 2007. Heft 177: Neitzke, Gerald: Ethische Konflikte im Klinikalltag – Ergebnisse einer empirischen Studie. August 2007. Heft 178: Huster, Stefan: „Hier finden wir zwar nichts, aber wir sehen wenigstens etwas“. Zum Verhältnis von Gesundheitsversorgung und Public Health. April 2008. Heft 179: Ruhnau, Clemens: Ethische Orientierung für ärztliches Rationieren beim einzelnen Patienten. Juli 2008. Heft 180: Siegel, Stefan; Dittrich, Ralf; Vollmann, Jochen: Ethik der Reproduktionsmedizin aus der Sicht betroffener Familien. Ergebnisse einer qualitativen Interviewstudie. August, 2008. Heft 181: Sass, Hans-Martin: Ethische Risiken und Prioritäten bei Pandemien. Oktober 2009. Heft 182: Günther, Stefanie: Exemplarische Aspekte der Ressourcenallokation in der Onkologie. November 2009. Heft 183/184: Rauprich, Oliver; Nolte, Matthias; Vollmann, Jochen: Systematische Literaturrecherche in der Medizinethik. Werkstattbericht über Recherchen in den Datenbanken PubMed und BELIT zu einem theoretischen und einem praktischen Thema der Medizinethik. Februar 2010. Heft 185: Kielstein, Rita; Sass, Hans-Martin; May, Arnd T.: Die persönliche Patientenverfügung. Ein Arbeitsbuch zur Vorbereitung mit Bausteinen und Modellen. 7. überarbeitete Auflage, September 2010. Heft 186: Jahr, Fritz: Selected Essays in Bioethics 1927-1934 Fritz Jahr. Postscript and References by Hans-Martin Sass. November 2010. Heft 187: Jahr, Fritz: Aufsätze zur Bioethik 1927-1938 Fritz Jahr. Nachwort und Nachweise von Hans-Martin Sass. Dezember 2010. Zweite erweiterte Auflage: : Jahr, Fritz: Aufsätze zur Bioethik 1927-1947. September 2011. Heft 188: Jahr, Fitz: Essays in Bioethics and Ethics 1927 – 1947. Mai 2011. Heft 189: Vollmann, Jochen (Hg.) ; Kohnen, Tanja; Stotz , Tatjana (Mitarbeit): Freie Selbstbestimmung am Lebensende? 25 Jahre Zentrum für Medizinische Ethik Bochum 1986 - 2011. Juli 2011. Bestellschein An das Zentrum für Medizinische Ethik Ruhr-Universität Bochum Gebäude NABF 04/297 44780 Bochum Tel: (0234) 32 27084 FAX: (0234) 32 14452 Email: [email protected] Homepage: http://www.medizinethik-bochum.de Bankverbindung: Konto Nr. 133 189 035, BLZ 430 500 01 Sparkasse Bochum Name oder Institut: Adresse: ( ) Hiermit abonniere(n) wir/ich die Reihe MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN zum Sonderpreis von € 4,00 pro Stück ab Heft Nr.____. Dieser Preis schließt die Portokosten mit ein. ( ) Hiermit bestelle(n) wir/ich die folgenden Einzelhefte der Reihe MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN zum Preis von € 6,00 (bei Abnahme von 10 und mehr Exemplaren € 4,00 pro Stück). Hefte Nummer: _____________________________________________ ABSTRACT FRITZ JAHR (1895 – 1953) wird mit Recht ‚Vater der Bioethik‘ genannt. 1927 prägt er in einem Editorial in der Zeitschrift ‚Kosmos‘ den Begriff Bioethik und beschreibt in Auseinandersetzung mit Kant’s Kategorischem Imperativ die universale Bedeutung eines situativen und abwägenden Bioethischen Imperativs. Als Ergebnis kritischer Diskussion neueren naturwissenschaftlichen Wissens schlägt er vor, parallel zu den Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften in die Richtung von Bioethik weiter zu entwickeln: sowohl als akademische Disziplin wie auch als Tugendhaltung im persönlichen, kulturellen und politischen Leben und in belebten natürlichen und gesellschaftlichen Umwelten. Diese Edition von 15 Aufsätzen aus entlegenen ethischen, theologischen und pädagogischen Zeitschriften soll die bioethische Diskussion historisch und konzeptionell erweitern. Zeitgleich erscheinen von Jahr ‚Essays in Bioethics and Ethics' als Heft 188 der Medizinethischen Materialien. ZUSAMMENFASSUNG FRITZ JAHR (1895 – 1953) rightly is called Father of Bioethics. He coins the term in a 1927 Editorial in the science journal ‘Kosmos’ and describes the universal validity of a situational and balancing content-rich Bioethical Imperative in critical discussion with Kant’s content-poor Categorical Imperative. After reviewing most recent scientific knowledge, he suggests Bio-Ethics as a new discipline in the humanities - parallel to the sciences - and the promotion of refined virtues and principles in personal, cultural and political life and in stewarding living natural and social environment. This edition presents 15 essays, originally published between 1927 and 1938 in not widely circulated journals in ethics, theology and pedagogic; its purpose is to broaden actual and future bioethics debates historically and conceptually. An English languange translation of Fritz Jahr ‘Essays in Bioethics and Ethics’ is published in Medizinethische Materialien, volume 188. ISBN: 978-3-931993-67-2