Forensische Psychiatrie für Juristen Deliktorientierte Psychotherapie Basel, 25. April 2012 Dr. med. Marc Graf Forensisch Psychiatrische Klinik Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel 2000 Nobelpreis Physiologie Medizin Aplysia 1 Algorithmus der kombinierten Psycho- und Pharmakotherapie SSRI Insbesondere bei depressiver, ängstlicher und zwanghafter Symptomatik leicht Bei unzureichender Wirksamkeit und mittlerem bis hohem Risiko für „handson“ Delikte, starker Impulsivität, Aggressivität, Persönlichkeitsstörung, gefährlicheren Paraphilien (Pädophilie, Sadismus) mittel Cyproteronacetat oral, bei problematischer Compliance: i.m. Bei unzureichender Wirksamkeit oder Leberfunktionsstörungen unter CPA schwer 1) + SSRI insbesondere bei depressiver, ängstlicher und zwanghafter Symptomatik LHRH (i.m./s.c.) Bei Risiko für gleichzeitigen Anabolikamissbrauch Alle Patienten: Psychotherapie (supportiv oder Intensiv) + Pharmakotherapie komorbider Störungen [1) bei unzureichender Wirkung] LHRH (i.m./s.c.) + CPA i.m. Briken, Hill, Berner biologische Therapieverfahren • Chirurgie – (stereotaktische Neurochirurgie) – Kastration • Medikamente – – – – Nutzung von Nebenwirkungen von Psychopharmaka SSRI (Selektive Serotonin Reuptake Inhibitoren) Androcur LHRH-Agonisten 2 Testosteron-Suppression mit Goserelin Mittlere 18 Testosteron16 konzentration 14 (nmol/l) Goserelin (Zoladex®) 3,6 mg (n=42) Goserelin (Zoladex®) 10,8 mg (n=38) 12 10 8 6 4 Obergrenze des Kastrationsbereichs 2 0 0 4 8 12 16 20 24 26 28 32 36 40 44 Zeit (Wochen) Dijkman et al, 1995 3 Therapie nach dem „risk, need, responsivity“ Prinzip • Risk: – Wahrscheinlichkeit für die Begehung von (schweren) Straftaten – Täter mit hohem Risiko sprechen besser auf Therapie an als Täter mit niedrigem Risiko > benötigen mehr Therapie! • Need: – dynamische, d.h. beeinflussbare kriminogene Faktoren • Substanzmissbrauch, aggressive Verhaltensweisen, kriminogene Einstellungen etc. • Responsivity: – Ressourcen, kognitive Fähigkeiten, Lern-Stil, kultureller Hintergrund, Sprache, Therapiemotivation Wong & Hare 2006 wo möglich, ambulant oder teilstationär • Hinweise für schlechtere Wirksamkeit von Therapien in Institutionen: – Schwierigkeiten beim Transfer von neu Gelerntem in die reale soziale Situationen – negatives therapeutisches Klima in der Institution – ungünstige bis paradoxe Interventionen des Personals • Motivation • Erfahrung • Ausbildung Lösel 1995, Lipsey & Wilson 1998 4 Psychotherapie Voraussetzungen • ausreichende Intelligenz / kognitive Leistungsfähigkeit • Introspektionsfähigkeit • Mindestmass an Motivation / Problembewusstsein • Lebensführung, welche PT erlaubt Behandlungsmethoden • Kognitive Verhaltenstherapie: – kognitive Restrukturierung – positive Verstärkung – soziales Lernen • Relapse-Prevention: – Selbst-Monitoring – Selbst-Managment 5 Stadienmodell der Veränderung 1. 2. 3. 4. 5. Präkontemplation (Leugnen des Problems) Kontemplation (Ambivalenz) Entschlussphase („ich will etwas ändern“) Umsetzungsphase (vertiefte Risikoanalyse, Strategien) Rückfallprävention (Anwendung, Selbstmanagement, Booster-Sitzungen) Prochaska et al. 1992 Lebensqualität • Primärbedürfnisse: – körperliche: – persönliche: • Autonomie • Kompetenz • Beziehungen: – Verstandenwerden, Intimität, erfüllte Sexualität, Austausch, Unterstützung – soziale: • Familienleben • Arbeitsmöglichkeiten und -bedingungen • soziale Sicherheit Rasmussen 1999 6 Beispiel Opferempathie • Wirkung: – Normverdeutlichung – verdeckte Sensibilisierung (deviante Fantasien und Gedanken werden unattraktiv / sexuell nicht mehr erregend) – akzeptieren eigener Missbrauchserlebnisse und Klärung der damaligen Rollen – Validieren von sozialen Primärbedürfnissen: • Autonomie • Sicherheit • Beziehungen – – – – Training sozialer Fertigkeiten Kompetenz zur Gestaltung von (nicht missbräuchlichen) Beziehungen Selbstwirksamkeit Selbstbewusstsein Rolle von Hoffnung in der Therapie • „agency thoughts“ (Willenskraft, Selbstwirksamkeit) und „pathway thoughts“ (Strategie) Abwägung der Wichtigkeit zielgerichtetes Verhalten distale Ziele herunterbrechen auf realisierbare, konkrete proximale distale Ziele von (Sexual-)Straftätern entsprechen i.d.R. denen von nicht delinquenten Personen. Strategien zur Erreichung der Ziele sind aber dysfunktional kognitive Restrukturierung: „ich bin eine schlimme Person (und werde das bleiben)“ >>> „ich habe etwas schlimmes getan (aber ich kann damit aufhören)“ 7 Pro-active enabling Therapy Auswertung • 3 Phasen: – Phase 1 – Phase 2 – Phase 3 Benennen! Verstehen! Relevanz herstellen! Therapieform und -stil • Inhalte müssen für den Patienten relevant sein – sozio-kulturellen Hintergrund berücksichtigen • Inhalte müssen für den Patienten verständlich sein • Positive Verstärkung! – Änderungen in Einstellung und Verhalten müssen sich konkret und unmittelbar positiv auswirken • Stil: Herausfordernd und engagiert – Gratwanderung zwischen Unterhaltung und Langeweile 8 Therapeutischer Stil • • • • • • • • • • empathisch respektvoll warm und freundlich aufrichtig und authentisch belohnend und ermutigend direktiv vs. spiegelnd vertraulich interessiert herausfordernd, aber nicht konfrontativ nicht kollusiv • • • • • • • • angebracht sich selbst darstellend angebracht humorvoll klare Kommunikation aktive Teilnahme ermutigend prosoziale Einstellungen fördernd offene Fragen stellend kompetenter Umgang mit Frustrationen / Schwierigkeiten gutes Zeitmanagement Marshall, Mulloy & Serram 1998 Therapieprogramm Beurteilung Vertrag Deliktrekonstruktion Opferempathie RP Deliktkreis Fantasie 9 Gruppentherapie Rückfallprävention Risikobeurteilung Opferempathie Phantasien Stressmanagement individuelle Prädisposition Problematischer Internetgebrauch Deliktrekonstruktion Deliktrekonstruktion • Life-graph • Story-board • Footsteps 10 Konzept des sexuellen Missbrauchs Prädisposition Scham / Schuld nicht geeignete / illegale Fantasien kognitive Verzerrungen Selbstbefriedigung Missbrauch Targetting Vorbereitung: - Opfer - Situation - Drittpersonen Fantasie 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. Lernen, dass positive, nicht deliktbezogene, nicht missbräuchliche Fantasien ein schöner und wichtiger Teil des Lebens sind. Realismus (Realitätsbezug) in der Fantasie. Fantasie-Inhalte, -Themen. Auslöser für Fantasie (Stimuli). Lernen, dass Fantasie beeinflussbar ist. Geeignete / nicht geeignete Fantasien. Rolle der Fantasie bei Delikt. > Fantasiemodifikation > verdeckte Sensibiliserung (Opferempathie, eigene Viktimisierung, Strafverfolgung) 11 Veränderungsprozess Problem erkennen Problem verstehen Sprache Denken Gefühle Einstellung langfristiges Verhalten Relapse Konzept Behandlung abstinent, Vertrauen nicht zu delinquieren, Erwartung erfolgreich zu sein + SID geeignetes Coping + high risk AVE ext. Fakt. int. Fakt. (kontrollierbar) (Scham, Schwäche) SID = seemingly irrelevant decision AVE = abstinence violation effect Rückfall 12