Deliktorientierte Psychotherapie

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Forensische Psychiatrie
für Juristinnen und Juristen
Deliktorientierte Psychotherapie
Basel, 24. April 2013
Dr. med. Marc Graf
Forensisch Psychiatrische Klinik
Universitäre Psychiatrische Kliniken
Basel
Wirksamkeit Therapie von Sexualstraftätern
Verfahren
Schmucker und Lösel 2008
1
Wirksamkeit Therapie von Sexualstraftätern
Modalitäten
Art des Delikts
Alter
Behandlungsteilnahme
Behandlungsansatz
Spezifität der Therapie
Vergewaltigung
4.91
Kindsmissbrauch extrafam.
2.15
Kindsmissbrauch Inzest
1.02
Exhibitionismus
3.72
Jugendliche
2.35
Erwachsene
1.43
freiwillig
1.45
unfreiwillig
1.05
kognitiv-behavioral
1.46
klassisch behavioral
2.18
einsichtsorientiert
1.01
therapeutische Gemeinschaft
0.87
psychosozial unklar
0.94
hormonelle Medikation
3.11
spezifisch Sexualstraftäter
1.56
unspezifisch
0.76
Schmucker und Lösel 2008
Psychotherapie Voraussetzungen
• ausreichende Intelligenz / kognitive
Leistungsfähigkeit
• Introspektionsfähigkeit
• Mindestmass an Motivation /
Problembewusstsein
• Lebensführung, welche PT erlaubt
2
Entwicklung der kognitiven
Verhaltenstherapie
•
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•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Freud 1905: unbewusste Prozesse
Pavlov 1927: klassische Konditionierung
Thorndike 1931 und Skinner 1974: operante Konditionierung
Bandura 1969: Modell-Lernen
Beck 1970: „Kognitive Wende“
Bandura 1986: Selbstwirksamkeit
Meichenbaum 1985: Kognitive Verhaltenstherapie
Linehan 1993: Dialektisch-behaviorale Therapie
Ryle 1997: Kognitiv-analytische Therapie
Grawe 2004: Neuropsychotherapie
Young 2005: Schematherapie
integrative Ansätze…
Therapie nach dem „risk, need,
responsivity“ Prinzip
• Risk:
– Wahrscheinlichkeit für die Begehung von (schweren) Straftaten
– Täter mit hohem Risiko sprechen besser auf Therapie an als
Täter mit niedrigem Risiko > benötigen mehr Therapie!
• Need:
– dynamische, d.h. beeinflussbare kriminogene Faktoren
• Substanzmissbrauch, aggressive Verhaltensweisen, kriminogene
Einstellungen etc.
• Responsivity:
– Ressourcen, kognitive Fähigkeiten, Lern-Stil, kultureller
Hintergrund, Sprache, Therapiemotivation
Andrews & Bonta 2003
3
wo möglich, ambulant oder
teilstationär
• Hinweise für schlechtere Wirksamkeit von Therapien in
Institutionen:
– Schwierigkeiten beim Transfer von neu Gelerntem in die reale
soziale Situationen
– negatives therapeutisches Klima in der Institution
– ungünstige bis paradoxe Interventionen des Personals
• Motivation
• Erfahrung
• Ausbildung
Lösel 1995, Lipsey & Wilson 1998
Behandlungsmethoden
• Kognitive Verhaltenstherapie:
– kognitive Restrukturierung
– positive Verstärkung
– soziales Lernen
• Relapse-Prevention:
– Selbst-Monitoring
– Selbst-Managment
4
Therapieform und -stil
• Inhalte müssen für den Patienten relevant sein
– sozio-kulturellen Hintergrund berücksichtigen
• Inhalte müssen für den Patienten verständlich sein
• Positive Verstärkung!
– Änderungen in Einstellung und Verhalten müssen sich konkret
und unmittelbar positiv auswirken
• Stil: Herausfordernd und engagiert
– Gratwanderung zwischen Unterhaltung und Langeweile
Therapeutischer Stil
•
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•
•
•
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•
•
•
empathisch
respektvoll
warm und freundlich
aufrichtig und authentisch
belohnend und ermutigend
direktiv vs. spiegelnd
vertraulich
interessiert
herausfordernd, aber nicht
konfrontativ
nicht kollusiv
•
•
•
•
•
•
•
•
angebracht sich selbst
darstellend
angebracht humorvoll
klare Kommunikation
aktive Teilnahme ermutigend
prosoziale Einstellungen
fördernd
offene Fragen stellend
kompetenter Umgang mit
Frustrationen / Schwierigkeiten
gutes Zeitmanagement
Marshall, Mulloy & Serram 1998
5
Gruppentherapie
Rückfallprävention
Risikobeurteilung
Opferempathie
Phantasien
Stressmanagement
individuelle Prädisposition
Problematischer Internetgebrauch
Deliktrekonstruktion
6
Lebensqualität
•
Primärbedürfnisse:
– körperliche:
– persönliche:
• Autonomie
• Kompetenz
• Beziehungen:
– Verstandenwerden, Intimität, erfüllte Sexualität, Austausch, Unterstützung
– soziale:
• Familienleben
• Arbeitsmöglichkeiten und -bedingungen
• soziale Sicherheit
Rasmussen 1999
Rolle von Hoffnung in der
Therapie
•
„agency thoughts“ (Willenskraft, Selbstwirksamkeit) und „pathway
thoughts“ (Strategie)
Abwägung der Wichtigkeit
zielgerichtetes Verhalten
distale Ziele herunterbrechen auf realisierbare, konkrete proximale
distale Ziele von (Sexual-)Straftätern entsprechen i.d.R. denen von
nicht delinquenten Personen. Strategien zur Erreichung der Ziele
sind aber dysfunktional
kognitive Restrukturierung: „ich bin eine schlimme Person (und
werde das bleiben)“ >>> „ich habe etwas schlimmes getan (aber ich
kann damit aufhören)“
7
Beispiel Opferempathie
•
Wirkung:
– Normverdeutlichung
– verdeckte Sensibilisierung (deviante Fantasien und Gedanken werden
unattraktiv / sexuell nicht mehr erregend)
– akzeptieren eigener Missbrauchserlebnisse und Klärung der damaligen
Rollen
– Validieren von sozialen Primärbedürfnissen:
• Autonomie
• Sicherheit
• Beziehungen
–
–
–
–
Training sozialer Fertigkeiten
Kompetenz zur Gestaltung von (nicht missbräuchlichen) Beziehungen
Selbstwirksamkeit
Selbstbewusstsein
Therapie von deliktrelevanten
Phantasien
•
•
•
•
Analyse der deliktrelevanten Phantasie
Therapeut muss Orientierung und Stabilität vermitteln
Therapeut: „Phantasien können verändert werden!“
Patient:
– Steuerung der Phantasie ist möglich
– Steuerung der Phantasie ist wichtig
•
Modifikation:
–
–
–
–
Geschichte der Phantasieentwicklung
verdeckte Sensibilisierung
„Re-priming“ nicht devianter Phantasien
Selbstwirksamkeit
Urbaniok und Endrass 2006
8
Instinktives Verhalten
(Joe Sullivan)
• = erworbenes Verhalten oder Reagieren,
dessen sich der Täter bewusst oder nicht
bewusst ist.
• instinktiv heisst in diesem Sinne nicht
angeboren!
(„intuitiv“ wäre zutreffender)
Pro-active enabling Therapy
(Joe Sullivan)
• bisher unentdecktes Verhalten aufdecken
• sich einigen über instinktives Verhalten des
Patienten
• instinktives Verhalten in Bezug auf
Deliktverhalten untersuchen
• emotionale Reaktionen hervorrufen >
Betroffenheit!
• „making it real!“
9
Pro-active enabling Therapy
Vorbereitung
• Verhalten, das untersucht werden soll,
bestimmen
• entsprechende Übung auswählen /
kreieren
• Ablauf und Durchführung planen
• mögliche Manipulationen erkennen
• Dauer ungefähr festlegen
Pro-active enabling Therapy
Auswertung
• 3 Phasen:
– Phase 1
– Phase 2
– Phase 3
Benennen!
Verstehen!
Relevanz herstellen!
10
Deliktrekonstruktion
• Life-graph
• Story-board
• Footsteps
Konzept des sexuellen Missbrauchs
Prädisposition
Scham / Schuld
nicht geeignete / illegale
Fantasien
kognitive
Verzerrungen
Selbstbefriedigung
Missbrauch
Targetting
Vorbereitung: - Opfer
- Situation
- Drittpersonen
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Risikofaktoren
Veränderungsprozess
Problem erkennen
Problem verstehen
Sprache
Denken
Gefühle
Einstellung
langfristiges Verhalten
12
Relapse Konzept
Behandlung
abstinent, Vertrauen nicht zu delinquieren,
Erwartung erfolgreich zu sein
+
SID
geeignetes
Coping
+
high risk
AVE
ext. Fakt.
int. Fakt.
(kontrollierbar)
(Scham, Schwäche)
SID = seemingly
irrelevant decision
AVE = abstinence
violation effect
Rückfall
Algorithmus der kombinierten
Psycho- und Pharmakotherapie
leicht
mittel
SSRI
Insbesondere bei depressiver, ängstlicher und
zwanghafter Symptomatik
Bei unzureichender Wirksamkeit und mittlerem bis hohem Risiko für „handson“ Delikte, starker Impulsivität, Aggressivität, Persönlichkeitsstörung,
gefährlicheren Paraphilien (Pädophilie, Sadismus)
Cyproteronacetat oral,
bei problematischer Compliance: i.m.
schwer
Bei unzureichender Wirksamkeit oder
Leberfunktionsstörungen unter CPA
1)
+ SSRI
insbesondere bei
depressiver, ängstlicher
und
zwanghafter
Symptomatik
LHRH (i.m./s.c.)
Bei Risiko für gleichzeitigen
Anabolikamissbrauch
Alle Patienten:
Psychotherapie
(supportiv oder
Intensiv)
+
Pharmakotherapie
komorbider
Störungen
[1) bei
unzureichender
Wirkung]
LHRH (i.m./s.c.) + CPA i.m.
Briken, Hill, Berner
13
Testosteron-Suppression
mit Goserelin
Mittlere
18
Testosteron16
konzentration
14
(nmol/l)
Goserelin (Zoladex®) 3,6 mg (n=42)
Goserelin (Zoladex®) 10,8 mg (n=38)
12
10
8
6
4
Obergrenze des Kastrationsbereichs
2
0
0
4
8
12
16
20
24
26
28
32 36
40
44
Zeit (Wochen)
Dijkman et al, 1995
Wirkung antihormoneller
Therapie
100
90
80
CPA (N = 29)
LHRH (N = 19)
70
60
50
40
30
20
10
0
Reduktion sexuell
devianten Verhaltens
Reduktion sexuell
devianter Phantasien
kein Effekt
Czerny, Briken & Berner. Eur Psychiatry 2002
14
Behandlungsverlauf unter
Leuprorelinacetat
vor Beginn
3 Monate
6 Monate
12 Monate
0
„nie“
1
2
Fantasien
Masturbation
3
4
„mehrmals täglich od. täglich“
Ejakulation Erektion
Briken et al. 2000
Unerwünschte Wirkungen
Unerwünschte Wirkungen
chirurgische Kastration
Irreversibel, Feminisierung, Osteoporose
CPA
Feminisierung, Gynäkomastie, Leberzellschädigung,
Adipositas
MPA
Feminisierung
LHRH
Reversibilität Azoospermie? Osteoporose, Adipositas
SSRI
gering
Naltrexon
gering
15
Wirksamkeit hinsichtlich Rückfall
spezifische Rückfallrate
Autoren
chirurgische Kastration
4.13 % vs 50 %
unbehandelt (5 j)
Cornu 1973
CPA
0 – 33 %
Meyer u. Cole 1997
MPA
3 – 83 % (mean 27 %)
Rösler u. Witztum 2000
LHRH
0%
Review Briken, Hill u.
Berner 2003
SSRI
keine Daten
Naltrexon
keine Daten
Fazit
•
Ein Kind kann, wie jede andere denkbare Person, jeglicher
Gegenstand oder jegliche Handlung, zum sexuellen Objekt werden.
•
Eine sexuelle Präferenz sucht man sich nicht aus und sie ist auch
nicht einfach «wegzutherapieren»
•
Mit geeigneten therapeutischen Massnahmen (oft integriert) lässt
sich der Leidensdruck der Betroffenen und die Wahrscheinlichkeit
übergriffigen Verhaltens reduzieren.
•
Entstigmatisierung zur Früherfassung und Angebote zur
Frühintervention wären dringend notwendig.
•
„Beati…“
16
Literatur
•
•
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•
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•
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•
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•
Fiedler 2004: Sexuelle Orientierung und sexuelle Abweichung
Sheldon und Howitt 2007: Sex offenders and the Internet
Craig et al. 2008: Assessing risk in sex offenders
Marshall et al. 2006: Sexual offender treatment
Saleh et al. 2009: Sex offenders. Identification, risk assessment,
treatment and legal issues
Beier, Bosinski, Loewitt 2005: Sexualmedizin
Stoller 1998: Perversion. Die erotische Form von Hass
Taylor und Quayle 2003: Child pornography
W. Marshall et al. 2005: Working positively with sex offenders.
Journal of Interpersonal Violence, Vol. 20, No. 9. 1096-1114
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