Bundesrepublik Deutschland - Geschichte und Perspektiven

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Bundesrepublik Deutschland - Geschichte
und Perspektiven
Dieter Thränhardt
23.3.2009
Die Entstehung der Bundesrepublik ist geprägt von der Katastrophe des "Dritten
Reiches" und der Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Kommunismus. Von den
Nachkriegsjahren bis zur deutschen Wiedervereinigung war es ein langer Weg.
Bundeskanzler Willy Brandt kniet vor dem Denkmal der Helden des Aufstandes im
Warschauer Ghetto nieder. Die Entspannungspolitik der Regierung Brandt führte zur
Annäherung an die östlichen Nachbarn der Bundesrepublik. (© AP)
1. Innenpolitische Grundlegung
Die Entstehung der Bundesrepublik ist geprägt von der politisch-moralischen und militärischmateriellen Katastrophe des "Dritten Reiches" und der Auseinandersetzung mit dem
sowjetischen Kommunismus. In der unmittelbaren Nachkriegszeit bestand auf der Ebene der
Besatzungsmächte und der deutschen Politik ein antifaschistischer Konsens unter Einschluss
der Kommunisten. Dem Einheitsdenken der unmittelbaren Nachkriegszeit entstammen
wesentliche Strukturprinzipien der Parteien- und Verbändelandschaft wie die
Einheitsgewerkschaft, der einheitliche Bauernverband, die überkonfessionelle CDU und CSU,
die Öffnung der SPD gegenüber neuen Schichten und die Vereinigung der nationalliberalen
und linksliberalen Traditionslinien in der FDP.
Während der Blockade Berlins durch die Sowjetunion 1948/49 kam ein antikommunistischer
Konsens hinzu. Auf dieser Grundlage gingen die Ministerpräsidenten der westdeutschen
Länder auf das Angebot der Westmächte ein, einen Staat aus den Westzonen zu bilden zunächst als Provisorium oder Transitorium (Th. Heuss) bis zu einer gesamtdeutschen Lösung
betrachtet. Die so entstandene Bundesrepublik sollte nach der von dem ersten SPDVorsitzenden Kurt Schumacher formulierten "Magnet-Theorie" so attraktiv gemacht werden,
dass die Sowjets ihre Zone allein mit militärischer Macht nicht halten könnten.
Die breite sozialistische Grundstimmung der Nachkriegszeit, die bis weit in die CDU/CSU
hinein reichte, wich in den fünfziger Jahren schrittweise einem Konsens über die Soziale
Marktwirtschaft, die von dem ersten Wirtschaftsminister Erhard repräsentiert und vertreten
wurde. Die Grundlage dafür war das "Wirtschaftswunder", d.h. die hohen Wachstumsraten
seit 1951, die breiten Schichten die Möglichkeit eröffneten, sich einen nie gekannten
Wohlstand zu erarbeiten. Nach mehr als drei Jahrzehnten von Kriegen und Krisen brachte die
neue stabile Ordnung zum ersten Mal wieder ein Gefühl der Sicherheit und Normalität. Nach
anfänglichen Wahlniederlagen von CDU und CSU in Landtagswahlen 1951/52 bildete der
Wirtschaftserfolg seit dem "Korea-Boom" bei der zweiten und dritten Bundestagswahl die
Grundlage für das "Wahlwunder": 1957 erreichte zum ersten und einzigen Mal eine Partei in
freien Wahlen die absolute Mehrheit. Dies schuf die Grundlage für eine hegemoniale Stellung
der CDU/CSU in der Bundespolitik. Da in diesen Jahren auch die Ministerien und
Verwaltungen aufgebaut wurden, sprachen Kritiker nicht ohne Grund polemisch vom "CDUStaat".
Entgegen den liberalen Ideen Erhards blieben Staatseingriffe, Bankenmacht und
korporatistische Arrangements in Wirtschaft und Gesellschaft entscheidend (Abelshauser
1983). Eine weitgreifende und undoktrinäre Sozialpolitik bildete wesentliche
"Integrationsklammern" (Kleßmann 1988) des neuen Staates. Den zwölf Millionen
Ostvertriebenen wurde, finanziert von Vermögensabgaben, ein Lastenausgleich gewährt, der
zunächst vor allem in produktive Investitionen floss. Ein Umsiedlungsprogramm erleichterte
ihnen den Weg in die Industriezentren. Im sozialen Wohnungsbau errichteten
gewerkschaftliche, kirchliche und kommunle Träger mit staatlicher Hilfe Millionen
Mietwohnungen. Kriegsopfer erhielten Renten. Wenige Monate vor der Bundestagswahl 1957
wurden die Altersrenten wesentlich erhöht und zugleich an die Einkommensentwicklung
gebunden ("dynamisiert"), erst seitdem lagen sie überwiegend über dem Existenzminimum.
Die staatliche Umverteilungsquote übertraf in den Gründungsjahren der Bundesrepublik die
aller anderen westlichen Länder. Im ständigen Wettbewerb zwischen den beiden großen
Parteien bildeten sich stabile Muster des Sozial- und Verteilungsstaates aus, alle Beteiligten
gewöhnten sich an wachsende Erträge und staatliche Leistungen. Nach dem Stolz auf die
eigene ökonomische Leistung, dem Wirtschaftspatriotismus, entwickelte sich nun der Stolz
auf den Sozialstaat, Sozialpatriotismus.
2. Einbindung in westeuropäisch-atlantische Strukturen
Schon vor der Gründung der Bundesrepublik waren die westlichen Besatzungszonen in den
Marshall-Plan und die auf ihm fußenden europäischen Handelsstrukturen einbezogen worden.
In den folgenden Jahren wurde die Politik der Westintegration konsequent weitergeführt,
ohne Rücksicht auf die immer rigider werdende Teilung Deutschlands. Dies war der Kern der
Außenpolitik des ersten Bundeskanzlers Adenauer. Die Bundesrepublik sollte fest im
westeuropäischen und atlantischen Zusammenhang verankert und auf diese Weise sowohl
gesichert wie vor nationalistischen Sonderwegen bewahrt werden. Adenauer war bereit,
gegenüber dem Westen Vorleistungen zu erbringen und weitreichende Kompromisse zu
schließen, um damit Verbesserungen zu erreichen. Mit diesem pragmatischen Vorgehen
gelang es ihm, der westeuropäischen Einigung Schubkraft zu geben und die Bundesrepublik
als Partner in die europäische und atlantische Staatengemeinschaft zu führen (Europapolitik).
Im Petersberger Abkommen 1949 erreichte Adenauer das Ende der westlichen Demontagen.
Die Bundesrepublik trat gleichzeitig in die Ruhrbehörde ein und sanktionierte so eine
Sonderkontrolle des Kerns der deutschen Industrie. 1952 entstand mit der Europäischen
Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) eine supranationale europäische Struktur, mit der
einerseits die deutsche Schwerindustrie kontrolliert wurde, in der aber andererseits die
Bundesrepublik als gleichberechtigter Partner mit Frankreich, Italien und den BeneluxStaaten zusammenwirkte. Im Jahr 2002 lief dieser Vertrag aus. Weitergehende europäische
Projekte wie die Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) und die Europäische
Verteidigungsgemeinschaft (EVG), in der deutsche Truppen ohne direkte NATO-Beteiligung
aufgestellt werden sollten, scheiterten indes am französischen Widerstand. Stattdessen wurde
die Bundesrepublik 1955 mit den Pariser Verträgen Partner in der Westeuropäischen Union
(WEU) und der NATO (Äußere Sicherheit/ Verteidigung/NATO), der sie alle künftigen
Truppen unterstellte. Sie verzichtete auf eigene atomare, biologische und chemische (ABC-)
Waffen und erlangte die Souveränität - abgesehen von Viermächte-Zuständigkeiten für Berlin
und Gesamtdeutschland. Bestandteil des Vertragspakets war ein Abkommen mit Frankreich
über die endgültige Abtrennung des Saarlandes (Land Saarland), das mit einem "europäischen
Statut" unter französischem Einfluss verbleiben sollte. Als das saarländische Volk dieses
Modell mit großer Mehrheit in einer Abstimmung ablehnte, gelangte das Saarland 1957 an die
Bundesrepublik zurück.
In der Konferenz von Messina 1955 vereinbarte die Bundesrepbulik mit Frankreich, Italien
und den Benelux-Staaten die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG),
die 1957/58 gleichzeitig mit der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) ins Leben trat.
Die EWG wurde von beiden großen Parteien getragen, die FDP lehnte sie als zu
protektionistisch ab. Sie hat als Keimzelle der EG bzw. EU langfristig große Bedeutung
gewonnen, indem sie Westeuropa einen stabilen ökonomischen Unterbau gab und
Unternehmen ebenso wie Konsumenten einen großen Markt öffnete.
3. Kalter Krieg und Verfestigung der Teilung
Deutschlands
So phantasievoll, konstruktiv und kompromissbereit Adenauer seine Politik nach Westen
gestaltete, so inflexibel, desinteressiert und verständnislos war er gegenüber dem Osten. Jedes
sowjetische Angebot wurde mit Misstrauen betrachtet, Kompromisse mit der Sowjetunion
oder der DDR galten als unmoralisch. Befürworter von Verhandlungen mit dem Osten
wurden kommunistischer Sympathien bezichtigt. Dies traf im westlichen Deutschland auf
Befürchtungen und Sicherheitsängste der Bevölkerung. "Sicherheit" und "keine Experimente"
waren zentrale Slogans der Regierung in den Wahlkämpfen.
Schon beim Petersberger Abkommen hatte der SPD-Oppositionsführer Schumacher deutsche
Gleichberechtigung angemahnt. Auch der EVG und den Pariser Verträgen stimmte die SPD
nicht zu. Für die Verhandlungsführung des Bundeskanzlers war diese Opposition zu Hause
nicht ungünstig, ließ sie ihn doch als gemäßigteren Vertreter Deutschlands erscheinen.
Als die UdSSR 1952 und nochmals 1955 das Angebot einer Wiedervereinigung mit freien
Wahlen unter der Bedingung der Neutralität Deutschlands machte, polarisierte sich die
Debatte um die Außenpolitik. Die mit den Westverträgen verbundene Wiederbewaffnung und
das Streben nach Atomwaffen 1958/59 riefen Kriegsängste hervor. Aggressive Äußerungen
wie die Forderung Adenauers nach einer Neuordnung Osteuropas oder Straußsche
Überlegungen zu einem Präventivschlag gegen den Osten verstärkten diese Ängste noch.
Nicht nur die SPD, sondern auch viele FDP-Politiker und der Minister für gesamtdeutsche
Fragen, J. Kaiser (CDU), wollten das sowjetische Angebot ausloten. Adenauer brachte
gleichwohl eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag für den NATO-Beitritt und die
Wiederbewaffnung zustande. Er versuchte Verhandlungen mit der UdSSR zu hintertreiben
und kündigte immer wieder an, die wachsende Überlegenheit des Westens werde die
Wiedervereinigung bringen ("Politik der Stärke"). In der Praxis war die Wiedervereinigung
aber für die Regierung Adenauer "im besten Fall eine sekundäre Angelegenheit",
entscheidend blieb immer der sacro egoismo des Weststaates (Besson 1970: 129, 152). Auch
die Wellen von Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Wiederbewaffnung 1950/53
("Ohne-mich-Bewegung") und gegen die Atomrüstung in Deutschland 1958/59
("Ostermarsch-Bewegung") konnten an der Aufrüstung im Herzen Europas nichts ändern.
Zwar erhielt die Bundesrepublik keine Atomwaffen, wie das Strauß als Verteidigungsminister
geplant hatte. Dies war aber weniger das Verdienst der Demonstranten als des Unwillens der
Westmächte, dem geteilten D Massenvernichtungswaffen anzuvertrauen. Stattdessen wurde
die Bundeswehr konsequent in die NATO integriert, die sich strategisch und taktisch auf
amerikanische Atomwaffen stützte. In Mitteleuropa entstand das dichteste Waffenarsenal der
Welt.
In den folgenden Jahren schien jedoch nicht der Westen, sondern der Osten stärker zu werden.
Mit dem spektakulären Sputnik-Start 1957 wurde ein sowjetischer Vorsprung in der
Raketentechnik deutlich. In der nuklearen Hochrüstung entwickelte sich das "Gleichgewicht
des Schreckens", der einen Nuklearkrieg zum allseitigen Selbstmord gemacht hätte. Unter der
dynamischen Führung Chruschtschows versuchte die UdSSR ihre neue Stärke auszunutzen,
die DDR zu stabilisieren, deren Anerkennung durchzusetzen und die Westmächte aus Berlin
zu verdrängen. Als der amerikanische Präsident Kennedy daraufhin nur die Sicherung
Westberlins und der freien Zugänge dorthin als "essentials" definierte, baute die DDR die
Berliner Mauer und vollendete damit die Teilung Deutschlands. Eine Wiedervereinigung
gegen die UdSSR ließ sich also nicht erreichen, die Bundesregierung musste sich dieser
Tatsache beugen. Dies galt gleichermaßen für die SPD-Opposition. Sie musste erkennen, dass
eine Wiedervereinigung auf Jahrzehnte irreal geworden war und Europa in zwei Blöcken
organisiert war.
Deutschland war gespalten, aber in der Bundesrepublik waren die Grundlagen für ein stabiles
demokratisches Gemeinwesen gelegt worden. Das deutsche Nationalgefühl wurde europäisch
überformt, der Staat durch die Einbindung in stabile europäische und atlantische
Zusammenhänge gezähmt und neu orientiert worden. Ein besonderer Beitrag dazu war das
Abkommen mit Israel über deutsche Zahlungen zur "Wiedergutmachung". Es wurde nicht mit
der Mehrheit der Regierungsparteien, sondern mit den Stimmen der SPD und großer Teile der
CDU ratifiziert. Für die geistige Neuorientierung war die Übernahme dieser Verantwortung
ein wichtiger Schritt, dem Entschädigungen für andere Opfer des Nationalsozialismus folgten.
4. Entspannungspolitik und Friedensbereitschaft 19621989
Auch nach dem Bau der Mauer hielt die Bundesregierung am Alleinvertretungsanspruch für
Deutschland fest. Zwei deutsche Botschaften gab es nur in Moskau, anderen Staaten
gegenüber wurde die Aufnahme von Beziehungen zur DDR mit dem Abbruch der
Beziehungen durch die Bundesrepublik beantwortet (Hallstein-Doktrin). 1965 führte diese
selbst gesetzte Erpressbarkeit zu dem Fiasko, dass die Bundesrepublik in der arabischen Welt
kaum mehr vertreten war. Im Westen drohte ebenfalls zunehmend Isolation, weil das
Beharren der Bundesrepublik auf deutschlandpolitischen Konzessionen die
Entspannungspolitik behinderte (Baring 1982: 444). Auflockerungsversuche des
Außenministers Schröder (CDU) in Richtung auf die Ostblockstaaten unter Umgehung der
DDR scheiterten 1964. Auch die weitergehenden Versuche der Großen Koalition 1966-69
waren nicht erfolgreich und verfingen sich im Streit zwischen den Koalitionspartnern, der
auch die Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrages blockierte.
Erst die sozialliberale Koalition 1969-82 brachte den Mut auf, die existierenden Grenzen
anzuerkennen, um sie durchlässiger zu machen und auf dieser Grundlage ein neues,
friedliches Verhältnis zu Osteuropa zu suchen. Im Gegenzug konnte in
Viermächteverhandlungen die Beilegung des ständig schwelenden Berlin-Konflikts erreicht
werden. Die harten Auseinandersetzungen um die Ostpolitik und die Übertritte einiger
Abgeordneter zur CDU/CSU führten 1972 zum erfolglosen Versuch eines Misstrauensvotums
gegen Bundeskanzler Brandt und schließlich zu Neuwahlen, in denen die Regierung mit
deutlicher Mehrheit bestätigt wurde. Zum ersten Mal wurde die SPD in dieser von der
Auseinandersetzung um die Ostverträge bestimmten Wahl stärkste Fraktion im Bundestag.
Nach der Westintegration in den 50er Jahren wurde mit dieser Wahlentscheidung die
Friedenspolitik nach Osten Konsens. Schrittweise schloss sich in den folgenden Jahren auch
die CDU/CSU dieser Grundorientierung an, vor allem als sie 1982 wieder an die Regierung
kam. Mit der Vermittlung des "Milliardenkredits" an die DDR 1983 sprang auch Strauß, der
sich jahrzehntelang in der West-Ost-Konfrontation profiliert hatte, auf den Zug der
Entspannung auf.
Innenpolitisch unkontrovers war die Vertiefung und Erweiterung der Europäischen
Gemeinschaft, in der EWG, EGKS und Euratom zusammengefasst wurden. Sie gelang in
Brandts Kanzlerzeit aufgrund des durch die Ostpolitik gewachsenen Gewichts der
Bundesrepublik, das die französische Regierung mit Großbritannien ausbalancieren wollte.
Seit der Kanzlerzeit H. Schmidts wurde das deutsch-französische Sonderverhältnis innerhalb
der EG als Antriebskern europäischer Entscheidungen aktiviert. An die Stelle des Dollars als
Leitwährung trat in Europa eine europäische Währungszone, in der die DM die
Ankerwährung bildete. Die Bundesrepublik wurde zum größten Handelspartner aller EU-
Länder außer Spanien und Irland, die ökonomischen und politischen Beziehungen sind eng
miteinander verflochten. Da die deutschen Exportinteressen aber über die EU hinausgehen,
trat die Bundesrepublik von jeher für eine offene Handelspolitik nach außen ein, mit
Ausnahme der protektionistischen Landwirtschaftspolitik. Für ihr Selbstverständnis sind diese
Weltoffenheit und Friedensbereitschaft konstitutiv geworden, sie wird deswegen als Exportund Handelsstaat charakterisiert (Rosecrance 1987).
Sicherheitspolitisch konnte das deutsch-französische Verhältnis wegen der Sonderrolle
Frankreichs in der NATO nicht fruchtbar gemacht werden. Noch die Gründung des deutschfranzösischen Eurokorps 1992 hatte keine operative, sondern eher symbolische Bedeutung.
Die USA blieben die entscheidende Führungsmacht der NATO und der eigentliche
Sicherheitsgarant, vor allem in Bezug auf West-Berlin. Die Bundesrepublik wurde
andererseits wegen der konventionellen Stärke der Bundeswehr als Alliierter für die USA
immer wichtiger.
Das gefährliche Ausmaß der sowjetischen Raketenrüstung Ende der 70er Jahre wurde zuerst
von Bundeskanzler Schmidt kritisiert. Als Reaktion kündigte die NATO eigene Raketen an,
falls die sowjetische Hochrüstung nicht eingestellt werde ("Doppelbeschluss"). Zusätzliche
Besorgnis löste der sowjetische Einmarsch in Afghanistan aus, der dann zur Wahl Reagans als
US-Präsident und seinem harten Konfrontationskurs beitrug - einem Nachwinter des Kalten
Krieges. Die Raketenaufstellung rief in der Bundesrepublik leidenschaftliche Reaktionen
hervor ("Friedensbewegung"), die das pazifistische Selbstverständnis der deutschen
Gesellschaft sichtbar machten.
Jedoch waren beide deutsche Staaten auch während des neuen Ost-West-Konflikts, der
"Nachrüstung" im Westen und der östlichen Reaktion einer weiteren Raketenaufstellung
bemüht, die Spannungen zu begrenzen, statt wie früher die Konfrontation zu schüren. "Von
deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen" wurde ein gesamtdeutsches Leitwort. Die
Ereignisse machten dem sowjetischen Führungspersonal einerseits klar, dass der Westen
reaktionsfähig blieb und stärker war, andererseits aber, dass D sich entscheidend gewandelt
hatte und ein Friedenskonsens entstanden war. Im Frühjahr 1989 wurde dies noch einmal
deutlich, als D angesichts der sowjetischen Abrüstung die Stationierung neuer
Kurzstreckenraketen verweigerte und diese vermittelnde Haltung in den USA als
"Genscherismus" kritisiert wurde.
5. Gesellschaft im Wandel 1962-1989
Auch als 1960 die Vollbeschäftigung erreicht, die Kriegszerstörungen weitgehend beseitigt,
der Vorkriegs-Lebensstandard überschritten und die Nachholbedürfnisse befriedigt waren,
ging das epochale Wirtschaftswachstum weiter. D hatte nach dem Krieg mit einem niedrigen
Lebensstandard begonnen. Aufgrund niedrigerer Löhne und der Unterbewertung der DM auf
dem Weltmarkt bis 1969 war es besonders konkurrenzfähig, die Kapitalbildung war hoch.
Vor allem wenig industrialisierte Regionen wie Bayern (Land Bayern ) profitierten von der
Zuwanderung von Großunternehmen wie Siemens und von Branchenkernen aus den
Vertreibungsgebieten, der DDR oder Berlin. Auf diese Weise entwickelten sich auch bis
dahin benachteiligte Regionen zu modernen Industriezentren, und regional ergab sich eine
weitgehende Ausgewogenheit.
Als 1961 der Arbeitsmarkt erschöpft und der Zustrom aus der DDR abgeschnitten war, zudem
der Aufbau der Bundeswehr dem Arbeitsmarkt Kräfte entzog, ging die Bundesrepublik in
großem Ausmaß zur Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte über. Wie vorher die
Vertriebenen zogen sie dorthin, wo die Industrie sie brauchte. Zunächst wurden sie für ein bis
zwei Jahre angeworben und leisteten meist schwere oder unbeliebte Arbeit. Da aber ganze
neue Produktionslinien etwa bei den Automobilunternehmen auf ihrer Arbeitskraft beruhten,
wurden viele von ihnen für die Industrie unverzichtbar und zu Stammarbeitern. Die
Vertragszeiten verlängerten sich von Jahr zu Jahr und die Vorstellung von der Zeitweiligkeit
des Aufenthalts wurde immer mehr Fiktion. Gleichwohl wurde mit dem Schlagwort "kein
Einwanderungsland" an ihr festgehalten. Die rechtlich marginale Existenz der "Gastarbeiter",
die ökonomisch zum Kern der Industriearbeiterschaft gehörten, wurde zum permanenten
Provisorium - wie das der Bundesrepublik selbst.
In den 60er Jahren gewann die Bundesrepublik Selbstbewusstsein hauptsächlich über ihre
ökonomische Leistung, und in der Zeit der Vollbeschäftigung hatten fast alle Bürger eine
reale Möglichkeit, daran zu partizipieren. Da Arbeitskräfte knapp waren, entwickelten sich
die unteren Einkommen günstig. Als die dringendste Wohnungsnot befriedigt war, nahm der
Eigenheimbau zu. Alle Schichten wuchsen immer mehr in die Konsumgesellschaft hinein, die
über ihr standardisiertes Angebot nivellierend wirkte. Die großen
Bevölkerungsumschichtungen verstärkten diesen Prozess, und regionale ebenso wie
konfessionelle Identitäten verloren an Relevanz. Insgesamt kam es zu einer sozialen
Homogenisierung der Bevölkerung und der Lebensstile. Immer mehr Menschen arbeiteten als
abhängig Beschäftigte. Der Anteil der Landwirte in den alten Bundesländern sank zwischen
1950 und 2001 von 24,6% auf 2,4%, ihr Anteil an der Wertschöpfung sank auf 1,2%. Die
Zahl der mithelfenden Familienangehörigen und Hausangestellten ging zurück, die Anteile
kommerzieller und administrativer Dienstleistungen nahmen zu.
Während die Lebenserfahrung 1914-45 in extremer Weise nationalstaatlich eingeschnürt
worden war, wurde die Bundesrepublik von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ein offeneres Land. Jahr
für Jahr reisten mehr Menschen als Touristen ans Mittelmeer und in andere europäische
Länder, seit den 80er Jahren auch stärker nach Afrika, Asien und Amerika. Die kommerzielle
Jugendkultur prägte eine Generation nach der anderen, Englisch wurde immer mehr zur
dominierenden Sprache der Unterhaltungskultur. Im Film setzten sich amerikanische Genres
vom Western bis zu den soap operas durch. Auch die Hochkultur gewann ihre
Internationalität zurück. Wirtschaft und Wissenschaft wurden internationaler, auch hier wurde
Englisch zur dominierenden Sprache.
Solange die Wirtschaft wuchs, konnte auch immer mehr verteilt werden. Insbesondere
wuchsen die Infrastrukturausgaben. Straßen, Autobahnen und Kanäle, Wasser- und
Abwassersysteme, Gas- und Ölleitungen wurden modernisiert. Auch die Renten konnten mit
dem Rhythmus des Wachstums erhöht werden. Stockte das Wachstum, so wurden
Anpassungen notwendig. Mit dem Erfolg der Rentenformel ergab sich allerdings eine
Unausgewogenheit zwischen den Leistungen für die Alten und denen für die Kinder.
Kindergeld und Kinderfreibeträge blieben bis 1998 sehr bescheiden. Benachteiligt blieben
durch die Rentenformel, die sich am Verdienst orientierte, die Mütter, die geringe oder keine
Einkommen gehabt hatten. Früher und dramatischer als in anderen Industrieländern gingen
die Kinderzahlen zurück. 1970 fielen sie unter die Reproduktionsrate, heute sind die
nachwachsenden Jahrgänge um ein Drittel schwächer als die Erwachsenen-Jahrgänge. Dem
entsprechen andererseits hohe Einwanderungsraten. Bei der Wiedervereinigung wiederholte
sich der Geburtenrückgang in Ostdeutschland in zugespitzter Weise, die Geburten fielen
zeitweilig auf ein Drittel der Ausgangswerte.
6. Die Parteien-Demokratie und ihre Konflikte
In der inneren und äußeren Stabilität der Anfangsjahrzehnte der Bundesrepublik, nach all den
Katastrophen, erfuhren die Bundesdeutschen die Demokratie als Ordnung, die Sicherheit und
Wohlstand brachte. Dies kam zunächst der Regierungspartei zugute, die mit ihren
Führungsfiguren Adenauer und Erhard Sicherheit und Wohlstand verkörperte. Erst als der
Kanzler selbst in der langen Krise um seine Nachfolge diesen Mythos zerstörte, schlug die
Stunde der Opposition.
Zunächst plante Adenauer 1959, nach dem Ausscheiden des populären Präsidenten Heuss
dessen Nachfolge anzutreten, besann sich dann aber anders, um eine Nachfolge Erhards im
Amt des Bundeskanzlers zu verhindern. Als diese Nachfolge 1963 dann schließlich doch
zustande kam, hatte Adenauer viel vom Prestige beider zerstört. In der Berlin-Krise seit 1959
entstand vielfach der Eindruck, Adenauer reagiere hilflos. In der anschließenden
Bundestagswahl 1961 verlor die CDU/CSU ihre absolute Mehrheit. Die FDP, die angekündigt
hatte, mit der CDU, aber ohne Adenauer zu regieren, konnte den Kanzler zunächst nicht zum
Amtsverzicht zwingen und belastete sich mit dem Odium des "Umfallens". Die SpiegelAffäre 1962, in der Verteidigungsminister Franz Josef Strauß die staatliche Verfolgung dieses
kritisch über ihn berichtenden Magazins organisieren ließ, führte zu einer kritischen Wendung
der Öffentlichkeit. Punkt für Punkt wurden illegale Machinationen und Falschaussagen
aufgedeckt, Strauß musste zurücktreten, Adenauer sein Ausscheiden für 1963 ankündigen.
Zwischen CSU und FDP tat sich seit der "Spiegel-Affäre" eine Kluft auf, die bis zum Tode
von Strauß bestehen blieb.
Mit Erhard als Kanzler feierte die CDU 1965 noch einmal einen glanzvollen Wahlsieg, der
aber schon ein Jahr später von Gesichtsverlust gerade in Erhards Kompetenzbereich, der
Ökonomie, abgelöst wurde. Überhitzung der Wirtschaft hatte die Bundesbank zu
Diskonterhöhungen veranlasst, die stark durchschlugen und schließlich im Februar 1967 zu
637.572 Arbeitslosen führten - eine Ziffer, die damals wegen der Identifikation mit dem
ökonomischen Erfolg und der Gewöhnung daran tief erschütternd wirkte.
Die CDU verlor 1966 im Zuge dieser Krise die Wahlen in NRW, das sie zwei Jahrzehnte
regiert hatte (Land Nordrhein-Westfalen ). Bundeskanzler Erhard trat zurück, das bürgerliche
Bündnis war zerrüttet. Stattdessen wurde eine Große Koalition unter Kiesinger (CDU)
gebildet. Mit Wirtschaftsminister Karl Schiller stellte für die nächsten Jahre die SPD die
ökonomische Identifikationsfigur. Er vermittelte die Vorstellung einer Globalsteuerung der
Wirtschaft durch den Staat und der Einbeziehung von Unternehmern, Gewerkschaften und
anderen Verbänden in die Wirtschaftspolitik in der "Konzertierten Aktion". Der rasche
ökonomische Aufschwung, der den Einbruch von 1966/67 mehr als wettmachte, bestätigte ihn
und brachte gleichzeitig die Mittel und den Optimismus, mit dem die
Modernisierungsreformen der nächsten Jahre in Angriff genommen werden konnten. Die
sozialdemokratischen Vorstellungen über "Gemeinschaftsaufgaben", die in den 60er Jahren
entwickelt worden waren, wurden nun zum Modernisierungskonsens: Bildungs- und
Wissenschaftsförderung, Umweltschutz, Ausbau des Gesundheitswesens, der sozialen
Sicherung und der Infrastruktur. Die Bundesländer schufen in Gebietsreformen größere
kommunale Gebietseinheiten. Die staatlichen Konfessionsschulen fielen weitgehend der
Bildungsreform zum Opfer, in Bayern wurde dies mit einem Volksbegehren durchgesetzt.
Steigende Übergangsquoten zu weiterführenden Schulen, bis dahin vielfach mit Unbehagen
betrachtet, wurden nun ein allgemein anerkanntes Ziel.
Die Große Koalition hatte zwiespältige Effekte. Einerseits wurden ihre Stabilitätserfolge und
modernisierenden Reformen zur Grundlage aller künftigen Politik. Andererseits wurde sie
wegen ihrer erdrückenden Mehrheit als undemokratisch empfunden. Das
Gemeinschaftsdenken, das zu Beginn der Bundesrepublik noch allgemein verbreitet gewesen
war, hatte der Übernahme des britischen Parlamentarismus-Modells Platz gemacht: Einer
leistungsfähigen Regierung sollte eine starke Opposition gegenüber stehen.
Die Befürchtung von Demokratieverlust mischte sich mit anderen Themen. Eines war der
Vietnam-Krieg, der das amerikanische Modell entzauberte und kommunistische
Befreiungskämpfer faszinierend erscheinen ließ. Ein anderes war die nationalsozialistische
Vergangenheit, die erst in den 60er Jahren zum großen Thema wurde und deren Schrecken
durch den großen Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963-65, durch die Debatten um die
Verjährung von NS-Verbrechen und auch durch literarische Auseinandersetzungen wie
Hochhuths Anklage-Drama "Der Stellvertreter" ins Bewusstsein vieler jüngerer Deutscher
getreten war. Obwohl der Prozess und die offene Auseinandersetzung Zeichen für die neue
Qualität der deutschen Demokratie waren, nährten sie bei vielen einen generellen Verdacht
gegenüber staatlicher Macht. Zum Ausdruck kam diese Furcht bei der Debatte um die
Notstands-Gesetzgebung (Notstandsverfassung), mit der der Katastrophen- und
Verteidigungsfall geregelt werden sollte. Ängste vor dem Chaos und kommunistischer
Bedrohung auf der einen Seite standen Ängsten vor einem neuen Faschismus auf der anderen
gegenüber - eine Ex-post-Bewältigung der Vergangenheit mit dem falschen Adressaten.
Überhaupt löste die Studentenbewegung eine neue Ideologisierung aus, es entstanden neue
Konfliktfronten in Politik und Gesellschaft. Sprach man vorher vom "Ende der Ideologien",
so wurden nun Probleme ideologisch aufgeladen und überfrachtet - von der Linken ebenso
wie von der Rechten. Die Wahlkämpfe der folgenden Jahre lebten von diesem Gegensatz.
1968 zog auch die NPD (Splitterparteien), die nach der Verunsicherung der Wähler bei
Erhards Sturz ihre ersten Erfolge gefeiert hatte, aus der Konfrontation mit der
Studentenbewegung Gewinn.
Die Wahlen von 1969, die über das eher spezielle Problem einer Aufwertung der DM
ausgetragen wurden, ermöglichten eine Regierungsbildung aus SPD und FDP und damit den
ersten wirklichen Machtwechsel. Dies rief bei der CDU/CSU, die stärkste Partei blieb,
Aggressionen hervor. Über Abwerbungs- und Konfliktstrategien suchte sie die neue
Regierung Brandt/Scheel zu stürzen. Als offensichtlich wurde, dass auch Geld im Spiel war,
entstand Erregung in der Bevölkerung. Erst das eindeutige Ergebnis der Wahlen von 1972
brachte eine Klärung.
War die Große Koalition eher technokratisch aufgetreten, so strahlte die sozialliberale
Koalition Reform-Enthusiasmus aus. Die Themen blieben die gleichen - Bildung,
Wissenschaft, Forschung, Infrastruktur, insbesondere Verkehr und Städtebau, Gesundheit und
Sozialpolitik. Neu hinzu kamen die Erhaltung und der Schutz der Umwelt. Stärker wurde nun
allerdings nicht das bloße Mehr, sondern die Neuorganisation und Umverteilung angestrebt,
was Widerstände auslöste. Vor allem in den Fragen von Schulen und Hochschulen ergab sich
eine brisante Mischung aus Reformwille, entgegenstehenden Statusängsten und
Ideologisierung, die in der Nachfolge der Studentenbewegung zum Teil unrealistisch und
sektiererisch wurde. Solange es immer mehr zu verteilen gab, ließen sich derlei Diskrepanzen
verkraften. 1972 erlebte die Verteilungspolitik einen neuen Höhepunkt, als die CDU/CSU mit
einer kurzzeitigen Stimmenmehrheit im Bundestag noch über die dynamische Rentenformel
hinausging, zusätzliche Erhöhungen durchsetzte und andererseits Reformen in Richtung
Mindestrente blockierte, die sich vor allem zugunsten von Frauen ausgewirkt hätten.
Die Ölpreiskrise von 1973/74 setzte diesem Typus von Verteilungspolitik ein Ende. Die
Verwerfungen in der Weltwirtschaft schlugen auch auf die Bundesrepublik durch. Es gab
vorübergehend keine Zuwächse zu verteilen, und seither ist es nicht mehr gelungen, die
Vollbeschäftigung wiederherzustellen. Das demokratische System wurde mit diesen
Herausforderungen entgegen einigen sozialwissenschaftlichen Thesen über
"Legitimationskrisen" (Offe) gut fertig. H. Schmidt übernahm nach dem Rücktritt W. Brandts
1974 das Kanzleramt und wurde schnell zur Vertrauensfigur der Deutschen in den neuen
ökonomisch-politischen Weltkonflikten. Die Bewältigung der Wirtschaftskrise und die
produktive Zusammenarbeit der Tarifparteien mit der Regierung ließ Wissenschaftler sogar
das Wahlkampfschlagwort vom "Modell Deutschland" ernst nehmen.
Das Reformklima aber war mit der neuen Lage beendet. Da es weniger zu verteilen gab,
wurden Konflikte bitterer. Die Ideologisierung setzte sich fort, der CSU-Vorsitzende Strauß
versuchte das Unbehagen mit einem Kurs der totalen Konfrontation auszunutzen ("SonthofenStrategie"), erreichte aber damit nur die Isolierung der CDU/CSU in der Opposition und eine
Verhärtung der innenpolitischen Lage. Gespenster-Kampagnen über "Systemveränderung"
bestimmten die Bildungspolitik. Auch die ökologische Diskussion wurde ideologisch
aufgeladen, beispielsweise durch die Kampagnen gegen das Benzin-Blei-Gesetz und die
Geschwindigkeitsbegrenzung ("freie Fahrt für freie Bürger"). Einsparungen bei den Renten
wurden zur "Rentenlüge" stilisiert. Die größte Zuspitzung erreichte die innenpolitische
Konfrontation bei den Themen Extremismus und Terrorismus. Die spektakulären Anschläge
kleiner Gruppen und die Reaktion des Staates prägten ein Klima des Verdachts und der Angst.
Intellektuelle und Politiker wurden als "Sympathisanten" der RAF verdächtigt. In einer
Zitatensammlung des CDU-Generalsekretärs Geißler wurde sogar der Präsident des
Bundeskriminalamtes in diesen Verdacht einbezogen, dem andererseits Kritiker wie
Enzensberger vorwarfen, einen "Sonnenstaat" mit totaler Kontrolle anzustreben. Abgelöst
wurde dieses Thema seit 1979 durch Kampagnen gegen "Asylanten", die 1980-82 zum ersten
Mal auch Gewaltanschläge zur Folge hatten. Im Wahlkampf 1982 versprach
Oppositionsführer Kohl die Reduzierung der Zahl der "ausländischen Mitbürger", andere
Politiker gingen in ihren Formulierungen noch weiter.
Der zweite Ölpreisschub 1979/80 wurde von der Regierung Schmidt nicht mit "deficit
spending" oder einem Reformkonzept angegangen, sondern mit Einschnitten in den
Staatshaushalt. Der Abschwung wurde dadurch verstärkt. Nur die aggressive betriebene
Kanzler-Kandidatur von F.-J. Strauß sicherte der Regierung Schmidt 1980 noch einmal eine
breite Mehrheit. Die Arbeitslosigkeit stieg an und belastete die Sozialkassen, was zu
Einschnitten führte und innerhalb der SPD Unzufriedenheit weckte. Gleiches galt für den von
Schmidt initiierten NATO-Beschluss über die "Nachrüstung" angesichts der sowjetischen
Raketenstationierungen. Schwere Einbrüche der SPD in Landtagswahlen folgten. Die FDP
setzte sich daraufhin von der SPD ab. Sie forderte eine "Wende" und Einschnitte ins "soziale
Netz" und setzte Kürzungen und eine quälende Debatte darüber durch. Ihre Taktik der
langsamen Demontage des Kanzlers Schmidt wurde von diesem schließlich mit der
Entlassung von Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff beantwortet. Mit einem konstruktiven
Misstrauensvotum wählten CDU/CSU und FDP daraufhin am 1.10.1982 H. Kohl zum
Kanzler.
Angesichts der verbalen Radikalität der politischen Auseinandersetzungen überraschte viele
das Ausmaß der Kontinuität nach der "Wende". Es gab nur wenige grundlegende Einschnitte,
darunter bei den Stipendien für Schüler und Studenten. Die Abschaffung der Förderung des
sozialen Wohnungsbaus (Wohnungspolitik) musste nach der Wiedervereinigung wieder
rückgängig gemacht werden. Ansonsten wurden zwar Kürzungen vorgenommen, aber an
anderer Stelle Neues hinzugefügt. Ein Musterbeispiel war das Mutterschaftsgeld. Es wurde
zunächst gekürzt, dann 1986 vor der Wahl in Erziehungsgeld umbenannt und auf
nichtberufstätige Frauen erweitert und schließlich partiell wieder aufgestockt. Insgesamt war
eine Verlagerung der Finanzleistungen des Staates hin zu den Ober- und Mittelschichten nicht
zu verkennen, was gleichzeitig eine Verarmung der unteren Gruppen bedeutete
("Zweidrittelgesellschaft"). Dies beruhte großenteils allerdings auf Marktprozessen und wurde
von staatlichen Umverteilungen nur akzentuiert.
Für den Staat war die "Wende" gleichwohl stabilisierend. Viele Gruppen identifizierten sich
neu mit der Regierung. Auch die CDU/ CSU profilierte sich in der folgenden Zeit mit
Themen, die sie vorher scharf abgelehnt hatte, etwa dem Umweltschutz. Wesentlich trug dazu
der Wahlerfolg der Grünen bei, denen es 1983 als erster Partei nach dreißig Jahren gelang,
neu in den Bundestag einzuziehen. Entgegen allen Ausgrenzungs- und
Selbstausgrenzungsbemühungen hatten sie letztlich eine integrative Funktion. Sie führten
viele Gruppen, die sich in der Tradition der Studentenbewegung fundamental-oppositionell
verstanden hatten, wieder in den politischen Prozess zurück. Während die CDU sie noch 1983
beschuldigte, verfassungsfeindlich zu sein, koalierte sie 1995 schon in fünfzig Kommunen mit
ihnen, darunter auch in Großstädten wie Mülheim.
7. Das vereinte Deutschland
Im Rahmen der Entspannungspolitik entwickelte sich schrittweise ein eigenartiges
Sonderverhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten. Zwar blieb es bei Mauer,
Stacheldraht und Schüssen an der Grenze, bei der Betonung der Eigenständigkeit der DDR
und dem Verfassungsgebot der Wiedervereinigung im Westen. Die Rigidität der totalitären
Grausamkeit wurde aber abgemildert. Statt in harte Haft wurden DDR-Oppositionelle nach
Westen abgeschoben, was Protestaktionen kalkulierbarer machte. Wichtig dabei war der
Wunsch der DDR-Führung nach Respektabilität im Westen, aber auch nach
Transferzahlungen. Häftlingsfreikauf, Einreise- und Aufenthaltsgebühren, Pauschalen für die
Straßenbenutzung, Finanzierung von Verkehrswegen nach Berlin, kirchliche Zahlungen,
private Geschenke und westdeutsche Kredite stabilisierten das DDR-Regime, machten es aber
gleichzeitig abhängiger und weniger gewaltsam. In der westdeutschen Öffentlichkeit wurden
der Unrechtscharakter und die Rigidität des Regimes immer weniger registriert. Die Medien
berichteten über wirtschaftliche Erfolge der DDR, Günther Gauss beschrieb den Charme der
"Nischengesellschaft". Westdeutsche Ministerpräsidenten wetteiferten um Fototermine bei
Erich Honecker, und 1987 schließlich erschien dieser zum Staatsbesuch in Bonn, Saarbrücken
und München, womit die Anerkennung der DDR vollendet zu sein schien und ihre
internationale Respektabilität einen Höhepunkt erreichte.
Der Zusammenbruch der DDR 1989 traf die Westdeutschen überraschend, mehrheitlich
hatten sie die Wiedervereinigung (Vereinigung) abgeschrieben. Enthusiastisch wurde das
Ende von Mauer und Stacheldraht zwischen Ost und West begrüßt. In Bezug auf die
eigentliche Wiedervereinigung aber fand Bundeskanzler Kohl es nötig, den Deutschen zu
versprechen, keinem werde es schlechter und vielen besser gehen und es werde nicht zu
Steuererhöhungen kommen. SPD-Kanzlerkandidat Lafontaine äußerte Zweifel an diesem
Konzept und machte im Wahlkampf immer wieder seinen geringen Enthusiasmus für die
staatliche Wiedervereinigung deutlich.
Der Wettbewerb der westdeutschen Parteien überlagerte rasch auch die Politik im Osten.
Zunächst profilierten sich die neu gegründete ostdeutsche SPD und Bündnis '90 als einzige
unbelastete Parteien. Im Frühjahr 1990 gelang es der CDU, aus zwei Blockparteien und einer
Neugründung eine "Union für Deutschland" zu formieren. Entsprechendes geschah bei der
FDP. Mit einem Kanzlerwahlkampf erreichte die Koalition 1990 in allen drei Wahlen in
Ostdeutschland dominierende Mehrheiten.
Ökonomisch war die DDR seit der Öffnung der Grenze auf die Bundesrepublik angewiesen.
Im nun einsetzenden Vergleich der beiden Systeme und der Herausstellung der skandalösen
Verhältnisse in der DDR erstrahlte die Bundesrepublik in hellem Licht. Das Grundgesetz,
einst als Provisorium konzipiert, war inzwischen zum Symbol des neuen demokratischen D
geworden (Verfassungspatriotismus). Für die Mehrheit der Westdeutschen stand es nicht zur
Debatte, für die Ostdeutschen war sein Artikel über den Beitritt populär. Hier wiederholte sich
das materielle Motiv bei der Eingliederung in den Westen, das auch für die Westdeutschen so
wichtig gewesen war. Im Vertrag über den Beitritt der DDR, bei dessen Gestaltung
Innenminister Schäuble dominierte, wurde die Bundesrepublik in jeder Beziehung zum
Modell. Außer der Fristenlösung wurde hier nichts verändert, in der DDR dagegen so gut wie
alles. Auch extrakonstitutionelle Regelungen in der Bundesrepublik erhielten aus diesem
Anlass zum ersten Mal allgemeinen Gesetzesrang, so die privilegierte Stellung der Wohlfahrts
-und der Sportverbände und die Kultusministerkonferenz.
In Hinsicht auf die ökonomische Neuordnung fiel die Bundesregierung ihrer eigenen
Propaganda zum Opfer. Während die dynamische Marktwirtschaft in der alten
Bundesrepublik von staatlichen, großindustriellen und korporatistischen
Entscheidungsmustern begleitet wurde, setzten Bundesregierung, Sachverständigenrat und
Wirtschaft nun auf die Selbstorganisationskraft des Marktes, aus der "blühende Landschaften"
entstehen sollten. Die Folge dieser Illusionen war eine weitgehende Entindustrialisierung
Ostdeutschlands. Zudem kam es wegen des Restituierungsprinzips für das Eigentum zur
Blockierung ökonomischer Entscheidungen wegen unklarer Eigentumsverhältnisse vor allem
bei Grundstücken. Das Wegbrechen der industriellen Basis führte auch zum Verlust der
meisten Industriearbeitsplätze, was wiederum die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte
bedeutete. Mittelfristig hat das einen empfindlichen Rückgang der Bevölkerung im Osten zur
Folge, zugespitzt von den geringen Geburtenraten.
Der Verzicht auf Opfer und Einschnitte zu Beginn der Wiedervereinigung, wie sie von
Helmut Schmidt und Gerd Bucerius im Herbst 1989 angemahnt wurden, machte spätere
Belastungen erforderlich, die vor allem über die sozialen Sicherungssysteme vorgenommen
wurden. Wegen des hohen Niveaus des privaten Verbrauchs, wie er etwa im Tourismus zum
Ausdruck kommt, veränderte sich die Leistungsbilanz Ds 1991-97 ins Negative.
Unlustgefühle und Parteienverdrossenheit waren 1992/93 die Formen, in denen sich die
Frustration äußerte. Die Spannungslosigkeit des Parteiensystems nach dem Verlust der
äußeren Feinde und Bedrohungen führte in diesem Zusammenhang zu weiterer Demotivation.
Erst die Bundestagswahl 1994 mit einer klareren Konfrontation der Parteien brachte wieder
stärkere Integration. Im Wahlkampf 2002 entwickelte sich eine spannende
Auseinandersetzung mit neuen Themen, die integrative Wirkungen zeigte.
Im Gegensatz zu den inneren Aspekten der Wiedervereinigung konnten die außenpolitischen
Aspekte sehr erfolgreich bewältigt werden. Der Friedenskonsens, der sich in D entwickelt
hatte, war dabei wesentlich. Die Auflösung des sowjetischen Imperiums wurde ohne
unnötigen Triumphalismus genutzt. Die Verankerung im Westen blieb erhalten und wurde
verstärkt, ohne dass die sich auflösende Sowjetunion dies verhindern konnte. Die Furcht vor
einem neuen großen D, die bei einigen Nachbarn ebenso wie bei einigen Intellektuellen
geäußert wurde, erwies sich als unsinnig. Die pragmatische Haltung des "Handelsstaates", den
Außenminister Genscher verkörperte, erleichterte den Übergang zu internationalen Lösungen,
insbesondere die Grenzverträge mit den Nachbarn. Zum ersten Mal seit 1914 ist D wieder ein
Land ohne Grenzprobleme.
Auch nach dem Amtsantritt der rot-grünen Regierung 1998, der ersten vollständigen
Regierungsübernahme durch die Oppositionsparteien im Bund, wurde die außenpolitische
Linie bruchlos fortgesetzt. Ironischerweise mussten die beiden Parteien, die sich mit
Friedenspolitik identifizierten, sich sofort mit der Kosovo-Intervention beschäftigen. Sie
nahmen dabei stark moralische Argumente zu Hilfe und bezogen sich sogar auf Auschwitz.
Deutsche Truppen wurden in immer mehr Ländern mit friedenserhaltenden Aufgaben
eingesetzt. 2001/02 wurden sie im Zusammenhang mit dem Kampf gegen El Kaida ebenso
wie 1999 im Kosovo auch zu friedenserzwingenden Einsätzen kommandiert. D stellte dabei
zwar die zweitgrößte Truppenzahl, blieb aber im Gegensatz zu den USA ein stark pazifistisch
gestimmtes Land und erhöht seine Militärausgaben nicht wesentlich.
In den vier Jahren der rot-grünen Koalition wurden entscheidende Weichen in der
Staatsangehörigkeits- und Zuwanderungspolitik gestellt. Mit dem Staatsangehörigkeitsrecht,
das Kindern ausländischer Eltern mit mehr als acht Jahren Aufenthalt von Geburt an zu
deutschen macht, wurde die Tendenz gestoppt, immer mehr Einwohner als Ausländer zu
belassen und damit die demokratische Basis des Staates auszuhöhlen. Das Zuwanderungsrecht
von 2002 ermöglicht einen rationaleren und ganzheitlicheren Zugang zur
Einwanderungspolitik, auf die D in den nächsten Jahrzehnten angewiesen sein wird. Trotz
aller polemischen Auseinandersetzungen standen diese Veränderungen - ebenso wie die
privatisierende Rentenreform und die Schritte zur Gleichstellung der Homosexuellen bei den
Wahlen 2002 nicht zur Disposition.
8. Perspektiven
In der Staatenwelt tritt D heute als pragmatischer Partner auf. Eingedenk seiner historischen
Erfahrungen ist es gewaltsamen Konflikten abgeneigt und hat eine weitgehende Abrüstung
vollzogen, die pazifistische Grundstimmung ist allgemein geworden. Die Bundeswehr ist
nach dem Ende des Ost-West-Konflikts verstärkt in internationale Zusammenhänge
eingebracht worden: So entstand das Eurokorps, das deutsch-niederländische Korps, die
NATO-Eingreiftruppe und ein deutsch-dänisch-polnischer Verband. Zunächst zögernd wurde
auch die Beteiligung an friedenserhaltenden und -schaffenden Aktionen der UN und der
NATO in Angriff genommen, obwohl die deutsche Bevölkerung eine starke humanitäre
Hilfsbereitschaft zeigte und die öffentliche Meinung 1992 die zeitweilige Aufnahme von
350.000 bosnischen Flüchtlingen durchsetzte. Erst im Kosovo-Konflikt kam es zu
Kampfeinsätzen der Bundeswehr mit einem humanitären Ziel, und zwar mit der immer wieder
angeführten Begründung, Lehren aus der deutschen Geschichte zu ziehen. Dominierend sind
bei militärischen Problemen aber immer die USA, die auch nach dem Ende des Kalten
Krieges in D ihre wichtigste militärische Basis haben.
Eine führende Rolle spielt D dagegen in der europäischen Einigung. Stärker als in vielen
Partnerländern ist ein breiter proeuropäischer Konsens verankert, der im 1990 beschlossenen
Europa-Artikel des Grundgesetzes seinen Ausdruck fand. Trotz zunächst weit verbreiteter
Skepsis über den Verlust der DM wurde auch die Einführung der Europäischen
Währungsunion 1999 und des Euro 2002 mit den Stimmen aller Fraktionen verabschiedet.
Nach wie vor trägt D auch einen sehr hohen Anteil an den europäischen Finanzen und wird
diese Last auch weiterhin schultern müssen, wenn der Beitritt der östlichen Nachbarstaaten
gelingen soll. Finanzhilfen und kooperative Einbeziehung in europäische Strukturen sind auch
die bevorzugten Mittel Ds zur Lösung von Konflikten auf dem Balkan. Auf diese Weise
drückt sich eine allgemein gewordene Grundhaltung aus, die auf Frieden, Wohlstand, freien
Handel und eine offene Welt setzt. Der deutsch-französischen Sonderbeziehung, die
schwieriger geworden ist, wird häufig eine ähnlich positive Entwicklung im deutschpolnischen Verhältnis zur Seite gestellt.
Die starke Ausprägung des Umweltbewusstseins seit den 80er Jahren veranlasste auch
zunächst zögernde Regierungspolitiker zum Einschwenken. Die Nuklearkatastrophe von
Tschernobyl und eine Kette von Umweltskandalen verstärkten diese Effekte. D wurde zur
finanziellen Hauptbasis von Greenpeace. Deutsche Politiker suchten sich auf der europäischen
und der internationalen Ebene mit Umweltthemen zu profilieren, Klaus Töpfer wurde in
diesem Zusammenhang 1988 Leiter des Umweltprogramms der UN. Allerdings konfligierte
dieses Umweltbewusstsein mit anderen gewichtigen Interessen der Deutschen, insbesondere
dem Automobilismus, der in der Tatsache zum Ausdruck kommt, das D als einziges Land die
Geschwindigkeit auf Autobahnen nicht begrenzt. Bundeskanzler Schröder, dessen Partei ein
weitgehendes Umweltprogramm besitzt, verkörperte diesen Widerspruch als "Automann".
Widersprüchliche Entscheidungen zwischen Umwelt, Konsum und Produktion machten die
deutsche Politik inkonsistent und schadeten ihrer Durchsetzungsfähigkeit.
Ähnlich wie Greenpeace fand auch amnesty international eine besonders starke Basis in D.
Menschenrechtspolitik wurde zu einem allgemein anerkannten Leitprinzip. Trotz
bemerkenswerter Resolutionen des Bundestages, etwa zur chinesischen Tibetpolitik, gelang es
aber nicht, die Menschenrechtspolitik produktiv mit der Handels- und Wirtschaftspolitik zu
verknüpfen. Auch in der Entwicklungshilfe war dieser Widerspruch spürbar. Sie wurde
vielfach an Exportinteressen gebunden und ging in ihrem Umfang seit dem Ende des Kalten
Krieges zurück.
Die Stabilität Ds beruhte in der Vergangenheit auf einer Kombination marktwirtschaftlicher
Dynamik mit ausgebauter sozialer Absicherung. Mit der Einbeziehung Ostdeutschlands über
Finanztransfers wurde dieses System empfindlich belastet. Erkennbar wird zudem eine
demographische Lücke, die den "Generationenvertrag" gefährdet. Zugleich zeigen sich
Steuerungs- und Effektivitätsdefizite im Bildungssystem und der öffentlichen Verwaltung.
Die zentrale Herausforderung für Politik, Verwaltung und Wissenschaft besteht darin, das
System effektiver und produktiver zu machen, ohne seine integrativen Vorteile aufzugeben.
Dazu gehören insbesondere die im Vergleich zu den USA geringe Kriminalitätsbelastung und
die funktionierende Integration der Jugendlichen in das Beschäftigungssystem, u.a. mit Hilfe
der dualen Ausbildung.
Als zentrales innenpolitisches Problem wird allgemein die Arbeitslosigkeit definiert, die etwa
vier Mill. Menschen direkt betrifft. Sie war - in Verbindung mit der Wirtschaftskompetenz das entscheidende Thema der Wahlkämpfe von 1998 und 2002. Deutlich wurde bei beiden
Wahlen ein sozialstaatlicher Konsens in der Bevölkerung, auf den sich die Wahlkämpfer
beider großer Parteien einstellten. Unabhängig von der Konstellation dauert dieser Konsens
an, denn die jeweilige Oppositionspartei verfolgt als Opposition eine Strategie der Kritik am
Abbau staatlicher Leistungen. Finanzielle Einschnitte, mit denen die Regierung die
Haushaltssituation bereinigen will, stoßen auf Kritik und helfen der Opposition, was
wiederum Entscheidungsprozesse blockieren kann. Der Versuch der Regierung Kohl, dieses
Patt in der "Standortdebatte" offensiv aufzulösen, brachte eher Pessimismus und
Rufschädigung im Ausland als produktive Entscheidungen. Notwendig sein wird eine exakte
Analyse der Probleme und eine ständige Anpassung der Sozialsysteme an die neuen
Herausforderungen.
Während sich in den 80er Jahren die "Grünen" etablierten und zeitweise auch rechtsextreme
Parteien in Ländern und Kommunen zum Zuge kamen, haben um die Jahrhundertwende die
beiden großen "Volksparteien" mehr Gewicht gewonnen. Sie dominieren die öffentliche
Debatte und die Wähler pendeln großenteils zwischen ihnen. Ausdruck dieser Tendenz waren
mehrere Regierungswechsel in den Ländern zugunsten der Opposition, die am Ende der Ära
Kohl nur noch drei CDU/CSU-dominierte Länder und zwei Länder mit großen Koalitionen
übrig ließen. Der Höhepunkt dieser deutlichen Alternanz zwischen den beiden großen
Parteien war die Bundestagswahl 1998, mit der zum ersten Mal eine Bundesregierung
insgesamt durch Wahlen abgelöst wurde. Weniger als ein halbes Jahr nach ihrer deutlichen
Niederlage war die CDU indes fähig, ihrerseits die SPD in Hessen zu verdrängen und das
erste Land zurück zu gewinnen. Mit Regierungswechseln in Sachsen-Anhalt, Hamburg und
Niedersachsen setzte sich dieser Trend fort und brachte den Oppositionsparteien im Sommer
2003 eine sehr starke Stellung im Bundesrat ein. Im Jahr 2002 konnte allerdings die SPD zum
ersten mal über zwei Wahlen hinweg als stärkste Partei behaupten.
Die "Grünen" sahen sich bei der Regierungsübernahme mit einer Halbierung ihrer
Wählerschaft konfrontiert. Nach einer langen Krisenzeit konnten sie erst wieder aufholen, als
das hohe Prestige ihres Außenministers Fischer sich auf ein Friedensthema beziehen ließ. Die
FDP konnte 1999-2002 von einer Krise der CDU profitieren und erreichte in NordrheinWestfalen mit 9,8% der Stimmen einen großen Erfolg, gefolgt von einem ersten Durchbruch
in einem ostdeutschen Land seit 1990 bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt. Bei den
Bundestagswahlen kam ihr "Spaßwahlkampf" angesichts ernsthafter Themen aber nicht mehr
an. Grüne und FDP liegen in den neuen Ländern mit der erwähnten Ausnahme unterhalb der
Fünf-Prozent-Klausel, was ihre gesamtstaatliche Präsenz beeinträchtigt. Auch die großen
Parteien leiden im Osten an einer geringen Mitgliedschaft und einer entsprechend geringen
Wählerstabilität. Einzige große Mitgliederpartei ist dort die PDS, die in einigen Ländern sogar
zweitstärkste Partei wurde. Langfristig dürften ihre Chancen aber wegen der Überalterung
ihrer Mitgliedschaft, des mangelnden Realitätsbezuges ihrer Aussagen und der
Chancenlosigkeit im Westen geringer werden. Die Niederlage 2002 ist dabei ein Markstein.
Praxistests in Landesregierungen schmälern zudem ihr Oppositionsimage.
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aus: Bundesrepublik Deutschland - Geschichte und Perspektive, Handwörterbuch des
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