Die Syntax der externen Obligation im Sprachvergleich: ist deutsch MÜSSEN eine typologische Rarität? Vortrag, Otto-Friedrich-Universität, Bamberg, 04.07.2009 Geoffrey Haig Seminar für Allgemeine und Vergleichende Sprachwissenschaft der Universität Kiel Einleitung In diesem Vortrag werde ich der Frage nachgehen, wie das semantische Konzept der externen Obligation sprachübergreifend zum Ausdruck gebracht wird. Damit ist gemeint, wie in Sprachen unterschiedlichen Types das zum Ausdruck kommt, was wir unter anderen mittels Verben wie MÜSSEN oder SOLLEN zum Ausdruck bringen. Das vorläufige Ergebnis dieser Studie ist, dass außerhalb der Sprachen Westeuropas, vor allem aber ausserhalb der germanischen Sprachen, ein für das Konzept der Obligation spezialisertes Verblexem vergleichbar mit dem deutschen MÜSSEN eine Seltenheit ist – wie selten bleibt allerdings zu ermitteln. Statt dessen wird externe Obligation gewissermaßen parasitär zum Verblexikon ausgedrückt:– entweder durch spezielle Konstruktionen (etwa SEIN + Infinitiv / Konjunktivformen), oder durch Substantive/Adjektive Bedeutungen wie ‚Pflicht’, oder ‚gut’ oder ‚passend’ oder durch Lehnwörter, oder auch gar nicht. Dieser vorläufige typologische Befund deutet auf einen deutlichen Widerspruch hin: Einerseits gehört die externe Obligation zum Kernbereich der traditionellen sprachphilosophischen Konzeption der deontischen Modalität. Andererseits jedoch scheint sie in den Sprachen der Welt außerhalb Westeuropas ein eher marginales Phänomen zu sein, dass nur selten durch ein spezielles Lexem im Verblexikon verankert noch durch auf diese Funktion spezialisierte morphologie grammatikalisiert wird. Haig: Handout Obligation, Bamberg, 04.07.2009 Es stellt sich deshalb die Frage, inwiefern die traditionelle Auffassung von Obligation als Kernbereich der deontischen Modalität einen sehr eurozentrischen Blickwinkel widerspiegelt. 1. Gliederung des Vortrags 1. Einleitung 2. Traditionelle Definitionen von externer Obligation als Teil der deontischen Modalität 3. Das deutsche Verb MÜSSEN 4. Obligationsausdrücke in typologischer Perspektive: die wichtigsten Strategien 5. Obligation in sprachvergleichenden Forschungsansätzen: Sprachkontakt, Grammatikalisierung, Cross-cultural semantics 6. Abschließende Überlegungen 2. Zu den Definitionen von externer Obligation Bybee et al (1994: 177), unter Agent-oriented modality: Obligation reports the existence of external, social conditions compelling an agent to complete the predicate action [...] Wymann (1996:18): In other words, deontic modality is concerned with obligations or permissions placed upon agents which in appropriate cases will accept these, i.e. act in a morally responsible manner. Palmer (2001:9): Thus deontic modality relates to obligation or permission emanating from an external source, whereas dynamic modality relates to ability of willingness, which comes from the individual concerned. [...] John must come in now (obligation) -2- Haig: Handout Obligation, Bamberg, 04.07.2009 Demnach beinhaltet Obligation vier Teilkomponenten: An einem deutschen Beispiel (1) durchgeführt, lassen sich diese 4 Teilkomponenten wie folgt identifizieren: Ich muss die Hausarbeit morgen abgeben Ø (1) Ich OBLIGER nur implizit, kontextuell erschließbar (hier etwa: die Seminarleitung) muss OBLIGEE 3. Das deutsche Verb MÜSSEN 3.1 Semantisch die Hausarbeit morgen abgeben. OBLIGATIONSAUSDRUCK HAUPTPRÄDIKATION Spezialisiert auf Obligation (epistemische Lesarten möglich, wird hier aber nicht thematisiert) 3.2 Morphologisch: MÜSSEN ist ein vollwertiges deutsches Verblexem, allerdings eines der Präterito-Präsentia: flektiert nach Person flektiert nach Tempus verfügt über eine eigene Infinitivform sowie eigene Partizipien 3.3 Syntaktisch: die Subjektsbeziehung Das Subjekt von MÜSSEN ist der Obligee. MÜSSEN erlaubt es nicht, den Obliger auszudrücken, zumindest nicht ohne umständliche Umschreibungen. 3.4 Zusammenfassung semantisch spezialisiert auf das Konzept der Obligation vollwertiges Mitglied des Verblexikons: allerdings etwas geringere Flexionspotenzial gegenüber Nicht-Modalverben Obligee als kanonisches Subjekt, Ausdruck des Obligers nur beschränkt möglich -3- Haig: Handout Obligation, Bamberg, 04.07.2009 4. Obligation in Sprachen außerhalb Westeuropas 4.1 Westiranische Sprachen Als Einstieg soll ein Blick in eine Gruppe miteinander verwandter Sprachen dienen, die zwar indo-europäisch sind, aber externe Obligation anders zum Ausdruck bringen, als die vertrauteren Sprachen Westeuropas. Es handelt sich um die folgenden Sprachen: 1. Persisch (südwestiranisch) 2. Nordkurdisch / Kurmanji (nordwestiranisch) 3. Zentralkurdisch / Sorani (nordwestiranisch) 4. Hawrami (südwestiranisch (?)) 5. Zazaki (südwestiranisch (?)) (Paul 1998) 6. Baluchi, Turkmenistan Dialekt (nordwestiranisch) (Axenov 2006) Mit Ausnahme von Zazaki, verfügen alle diese Sprachen über zwei Möglichkeiten: Pers NK CK Haw person flektierbares Verb / Partikel; ✓ ✓ ✓ ✓ 2. Entlehntes ✓ ✓ ✓ ✓ 1. Ein defektives, nur noch in der dritten ursprüngliche Bedeutung: ‚nötig sein’ Substantiv/Adjektiv+Kopula Zaz Bal ✓ ✓ ✓ (ar. lāzim, maʤbur, türk. gerek) Tabelle 1: Obligation in Westiranischen Sprachen Einige Beispiele folgen, wobei keine vollständigen Auflistung hier angestrebt wird: Beispiele Möglichkeit 1: defektives Verb / Partikel PERSISCH (2) man 1SG bāyad OBLIG be zu xāne Haus be-rav-am KONJ-geh:PRÄS-1S ʻI muss nach Hause gehen.ʼ (3) man 1SG în DEM ketāb=rā Buch=AKK bāyad be-xar-am. KONJ-kauf-1SG OBLIG ‚Ich muss dieses Buch kaufen’ -4- Haig: Handout Obligation, Bamberg, 04.07.2009 Beispiele Möglichkeit 2: entlehntes Nomen/Adjektiv HAWRAMI (4) (Αmin) (1SG) maʤbūr-anān bilū(na) OBLIG-KOP:1SG geh:KONJ:1SG pay yānay nach Hause ‘Ich muss nach Hause gehen’ Zusammenfassend: In diesen Sprachen finden wir kein eigenständiges, vollwertiges Verb, mit dem das Konzept der externen Obligation zum Ausdruck kommt. Das gleiche gilt für die grossen Sprachen des Areals (Arab. und Türkisch), sowie weitere, mir bekannte, wobei ein vollständiges Survey noch ausbleibt. TÜRKISCH (5) git-meli-yim git-OBLIG-1SG < *git-me-li-yim ‚Ich muss gehen’ geh-NOM-ADJ-KOP:1SG Vorläufige Zusammenfassung Zwischen dem Nahen Osten und Westeuropa zeichnet sich diesbezüglich eine klare Trennlinie ab: Ein vollwertiges, lexikalisches MÜSSEN-verb ist im ersten Areal nichtz auffindbar. Ebenfalls auffällig ist die hohe Zahl der Entlehnungen in diesem Bereich. 4.2 Pilotstudie zu Obligation in Sprachen außerhalb Eurasiens Es stellt sich die Frage, welche dieser beiden Areale eine - global betrachtet - Ausnahme darstellt. Um dieser Frage nachzugehen, wurden Obligationsausdrücke in den folgenden zehn Sprachen untersucht. Es handelt sich lediglich um eine explorative Stichprobe, wobei auf eine möglichst ausgewogene Verteilung der Sprachen in genetischer und arealer Hinsicht geachtet wurde (vgl. Tabelle 2). -5- Haig: Handout Obligation, Bamberg, 04.07.2009 NAME GENETISCHE ZUGEHÖRIGKEIT ORT Fon Cluster Gbe cluster < Kwa Sprachen < Benin u.a. (Fongbe/ Niger-Kongo QUELLE Nauze 2008 Gongbe Dialekte Valley Zapotec Zapotec < Ottomanguean Mexiko Munro 2006 Mali Heath 2005 Sino-Tibetan < Tibeto-Burman Nepal Genetti 2007 nicht klassifiziert Nord- und Nauze 2008, Südkorea Wymann 1996 Samoa Mosel & linguistic stock Tamashek Südberber < Berber < AfroAsiatisch Dolakha Newar Koreanisch Samoanisch Samoic Outlyer < Polynesian < Oceanic < Austronesian Kayardild Tangkic < non-Pama-Nyungan Hovdhaugen 1992 Queensland, Evans 1995 Australien Yimas Papuan Papua Neuguinea Foley 1991 Lao Tai Laos, Cambodia Enfield 2007 Jarawara Arawá Brazil Dixon 2004 Tabelle 2: Untersuchte Sprachen und Quellen Die Befunde aus den Einzelsprachen werden in den folgenden Abschnitten besprochen. 4.2.1 Fon cluster A quite surprising fact about participant-external modality in the Fon cluster is that there are no prominent lexical items (verbs, adjectives or noun-verb combinations). (Nauze 2008: 40) Zwei Möglichkeiten: (a) (b) Eine Modus-Partikel, die als “subjunctive mood marker” klassifiziert wird: Die „participant-internal modality“-Verben sìxú / sìgán (je nach Dialekt, eigentlich ‚können’) lassen gelegentlich eine „participant external“-Interpretation zu. -6- Haig: Handout Obligation, Bamberg, 04.07.2009 4.2.2 Valley Zapotec (a) (b) Copula+Präposition plus konjunktive Verbform: ein Auxiliarverb, das mit ‚need, must’ glossiert wird: r-yiììi’ny. Dieses verschmelzt gewissermaßen mit dem Modalprädikat; es regiert kein eigenes Subjekt, der Obligee folgt unmittelbar dem Hauptverb. Ferner ist es defektiv in Bezug auf TAM-Morphologie. 4.2.3 Tamashek (Heath 2005) Strong obligationals (‘must’) can be expressed with -kvrvd̩- in the main clause (with impersonal 3MaSg subject as default, cf. French il faut). The entity obligated [Obligee, G.H.] is the direct object of this verb, and reappears in the complement clause. An alternative is -vfrvd̩- ‘be required of, be a duty for’, whose complement is a PP with a preposition fǽl ‘on’ [...]. Another obligational construction uses -vlʋ- ‘have’, in its usual Reslt stem shape -ɘlɑ́- (or -lɑ́-), in the main clause, followed by s ‘that’ and ɑ̀-\d. [etwa: ‘damit’ GH] (Heath 2005: 677-678) 4.2.4 Dolakha-Newar There are four verbs in this language which take infinitive complement clauses: jir- ‘to be appropriate, should’, mal- ‘be necessary, must’, bir- ‘to give’, and yer- ‘to want to, like to, be skilled at’. The first two are modal verbs with similar syntactic behaviour. They are both intransitive and they both take a a complement clause with an infinitive verb as their subject argument. (Genetti 2007: 418-419) 4.2.5 Koreanisch Im Koreanischen wird externe Obligation hauptsächlich mittels light verbs hata ‚tun, oder (weniger häufig) toeta ‚bekommen’ kombiniert mit einem Modussuffix am Hauptverb. Dies stellt “By far the most canonical modal expression of deontic necessity” dar (Wymann 1996: 106). “One very basic way of expressing the laying of an obligation is to employ a nominal element with a core meaning of „obligation, duty, responsibility“ in conjunction with the copula, resulting in an utterance „P is the obligation of S“ which is a periphrastic encoding of „S must P“. Two such Korean examples may be listed here, namely chaekmu and ponpun, both nouns with core semantic content of „duty, obligation“, employed in conjunction with the copula, [..]” (Wymann 1996: 102) -7- Haig: Handout Obligation, Bamberg, 04.07.2009 4.2.6 Kayardild Kein eigenständiges Verb oder grammatisches Morphem ermittelbar, Obligation wird mehr oder wenige sekundär durch unterschiedliche „Final inflections“ am Verbstamm ausgedrückt: a. Potential (259): Eine Lesart davon: „the speaker prescribes (affirmative) or forbids (negative) some action [...]“; In Kombination mit Counterfactual-Partikel (378): ‚etwas hätte getan werden sollen (wurde aber nicht)’ b. Desiderative (262): „Expresses the desire of some unspecified person that some event should take place.“ c. Hortative (263-264): „expresses a desire that someone should cause a state of affairs to occur. [...] It may substitute for an imperative when kin relationships prevent one speaking directly to the hearer.” 4.2.7 Samoan Obligation wird durch ein intransitives Verb tatau zum Ausdruck gebracht (‚es ist nötig, angebracht’); die Hauptprädikation wird mittels eines Komplementizers ona dem tatau-Verb angeschlossen. (Mosel & Hovdhaugen 1992: 614, U. Mosel, pers. Mitt.) 4.2.8 Yimas Obligation als mögliche Lesart eines „Wahrscheinlichkeitssuffixes+Imperativ/Hortative (Foley 1991) 4.2.9 Lao Obligation durch ein Aspectual-modal marker, der formidentisch ist mit dem Verb ‚berühren, in Kontakt kommen mit’ (Enfield 2007: 222-224). Negierte Obligation wird durch eine negierte Form eines anderen Verbs ausgedrückt, das eigentlich ‚geben’ bedeutet. 4.2.10 Jarawara Obligation oder Notwendigkeit kann als eine Lesart des „Intentionssuffixes“ am Verb zum Ausdruck gebracht werden. Im Zusammenhang mit einem Negationssuffix kommt die Bedeutung ‚sollen nicht’ zum Ausdruck (Dixon 2004: 211-212) -8- Haig: Handout Obligation, Bamberg, 04.07.2009 4.3 Die sechs wichtigsten Strategien Obligation wird mit recht unterschiedlichen lexikalischen und grammatischen Mitteln zum Ausdruck gebracht. Grob lassen sich folgende sechs Strategien erkennen: 4.3.1 MÜSSEN-Verb: - Obligationssemantik - Subjekt=Obligee - nicht defektiv 4.3.2 Defektives Auxiliarverb / Partikel bzw. satzexternes unpersönliches Verb (i) Partikel-ähnliche Ex-Verben mit Restriktionen bzgl. Tempus und (ii) Komplementierungsstrategie (‚es ist nötig / angebracht, dass’), z. B. Person, (pers. bāyad, engl. must, Valley Zap. r-quiìì’ny) Tamashek kvrvd̩-, Sam. tatau, frz. il faut, Dolakha Newara mal- DOLAKHA NEWARA ḍoli doli but nichi ̃ dālāŋ carrier ganzen.tag fast-PTZP cõ-i bleib-INF mal-a OBLIG-3S ‚Der Doli-Träger muss den ganzen Tag fasten.’ (Genetti 2007: 419) 4.3.3 (i) Grammatisches Morphem Affix am Verb KAYARDILD wakathe Schwester nguka-ntha Wasser-KASUS yalawu-jinj bring-HORT ‚Schwester soll Wasser holen’ (Evans 1995: 264) (ii) Partikel FON Bàyí Bayi ní ɖà OBL zubereiten wɔ́́ Teig ‚B. muss den Teig zubereiten’ (=(37), Nauze 2008) -9- Haig: Handout Obligation, Bamberg, 04.07.2009 4.3.4 Nicht-Verb mit Obligationssemantik (häufig entlehnt: ‚Pflicht’, ‚angemessen/angebracht’, ‚gut, richtig’ usw.) TÜRKISCH Ev-e git-me-m lazım Haus-DAT geh-NOM-POSS1S ‘Ich muss nach Hause (gehen)’ notwendig(COP3SG) 4.3.5 Kontextuelle Lesart eines anderen Modalausdrucks (etwa KÖNNEN, WOLLEN) Fon: Die „participant-internal modality“-Verben sìxú / sìgán ; Kayardild: Desiderative Yimas: Wahrscheinlichkeits-marker+Imperativ/Hortative vgl. ebenfalls Nunggubuyu: „Regular future or Past Potential verb form“ (Heath 1984:586) 4.3.6 Konstruktionelle Bedeutung: Die Interpretation „Obligation“ lässt sich nicht an einem einzigen Morphem festmachen, wie beispielsweise dtsch. HABEN+zu, oder: LATEIN, GERUNDIVUM-KONSTRUKTION porta Tor:FEM.NOM mihi 1SG.DAT claudenda schließen:GERUND.FEM.NOM ‚Ich muss das Tor schließen’ VALLEY ZAPOTEC Nàa KOP pahr zu ch-a’a=a’ IRR-geh=1S ‘Ich muss gehen’ (Munro 2006: 177) -10- est KOP.PRÄS.3S Haig: Handout Obligation, Bamberg, 04.07.2009 Zusammenfassung der Daten OBLIGATIONSSTRATEGIE SPRACHEN 1 DEUTSCH. + 2 3 4 5 + W-IRAN, AUSSER ZAZA. + 6 + + ZAZA. + ARAB. + TÜRK. +(?) FON + + + + + KOREANISCH + + V. ZAPOTEC +(?) SAMOANISCH +(?) TAMASHEK + DOLAKHA NEWAR + + + + KAYARDILD + + YIMAS + + LAO JARAWARA + + + + Tabelle 3: Überblick der Verteilung der Obligationsstrategien Zusammenfassung: Dem semantischen Konzept der Obligation steht keine nur annähernd einheitliche Morphosyntax gegenüber. In einigen Sprachen (Kayardild) ist Obligation scheinbar nirgends selbständig grammatikalisiert und auch nicht in einem prominenten Lexem verankert. Wo ein Verb mit primärer Obligationssemantik existiert, besteht eine starke Tendenz zur „Entverbung“: Entweder: (i) Verlust an Flexionspotenzial, Verlust an prosodischer Eigenständigkeit, evtl. Einverleibung in das Hauptverb (ii) oder: unpersönlicher Gebrauch (‚es ist nötig’), syntaktisch satzextern, keine Subjektsbeziehung zum Obligee Unter den untersuchten außereuropäischen Sprachenfindet sich kein Verb, dass alle drei Merkmale des deutschen MÜSSENs aufweist (zentrale Obligationssemantik, nicht defektiv, Obligee als kanonisches Subjekt) -11- Haig: Handout Obligation, Bamberg, 04.07.2009 Die Untersuchung weiterer, in Tab. 3 nicht aufgenommener außereuropäsicher Sprachen hat bislang den Befund bestätigt; weitere Hinweise werden gerne entgegengenommen. 5 Obligation sprachübergreifend: Andere Forschungsansätze 5.1 Sprachkontakt Matras (2007: 45): implikationelle Hierarchie der Entlehnbarkeit von Modalitätskategorien: (9) obligation > necessity > possibility > ability > desire Die hier erhobenen Befunde bestätigen die hohe Entlehnbarkeit von Obligationsmarker. 5.2 Grammatikalisierung: Bybee et al. (1994) Es wird wenig gesagt über die mit dem jeweiligen Obligationsmarker assozierte Morphosyntax. Das Interesse liegt auf den lexikalischen Wurzeln solcher Obligationsmarker: (10) Auxiliarverben, die in Obligationsausdrücken verwendet werden (Bybee et al. 1994, s. auch Kuteva & Heine 2002): BENÖTIGEN, WOLLEN, GUT SEIN, WERDEN, SEHEN, VERSTEHEN, FALLEN, SCHULDEN, HABEN, ANGEMESSEN SEIN, TUN, BEKOMMEN, SEIN Auch hier bestätigt sich der Eindruck des heterogenen Ursprungs von Obligations-markern, oder anders gesagt, das Fehlen eines einheitlichen semanto/lexikalischen Konzeptes, das hinter den unterschiedlichen Obligationsstrategien ausgemacht werden könnte. Obligation ist, wie eingangs erwähnt, ein gewissermassen parasitäres Konzept, das mittels Umdisponierung/Extension bereits vorhandener lexikalischer Einheiten, oder aber durch Entlehnung solcher zum Ausdruck gebracht wird, oder aber gar keiner lexikalischen Einheit zugeordnet wird, sondern durch rein grammatische/konstruktionelle Mittel zum Ausdruck kommt. Obligation steht damit in einer Reihe mit semantisch komplexen Beziehungen wie POSSESSION und CAUSE, deren Ausdrucksweisen sich ebenfalls auffällig häufig über Grammatik und Lexikon verteilen. -12- Haig: Handout Obligation, Bamberg, 04.07.2009 Cross-cultural semantics: Wierzbickas Semantic Primitives 5.3 Natural Semantic Metalanguage (NSM): Von Anna Wierzbicka und Mitarbeitern entwickeltes System zur sprachunabhängigen semantischen Beschreibung; setzt sich aus ca. 60 „semantic primitives“ zusammen. In der gesamten Liste der Primitive fehlt das Wort MUST. CAN und WANT hingegen sind vorhanden. 6. Abschließende Bemerkungen Angenommen, die Daten stellen keinen Zufallsbefund dar, sind MÜSSEN-Verben außerhalb Westeuropas zumindest auffällig selten. Obwohl das Konzept der externen Obligation zum Kernbereich traditioneller Modalitätstheorien gehört, stellt es aus sprachtypologischer Perspektive weder ein einheitliches noch ein sonderlich salientes Merkmal der Lexis oder der Morphosyntax natürlicher Sprachen dar. Literatur Axenov, Serge. 2006. The Baluchi language of Turkmenistan. A corpus-based grammatical description. Uppsala: Acta Universitatis Uppsaliensis. Bybee, J., Perkins, R., & Pagliuca, W. 1995. The evolution of grammar: tense, aspect and modality in the languages of the world. Chicago: University of Chicago Press. Diewald, Gabriele. 1999. Die Modalverben im Deutschen. Grammatikalisierung und Polyfunktionalität. Tübingen: Niemeyer. Dixon, R.M.W. 2004. The Jarawara language of Southern Amazonia. Oxford: Oxford University Press. Enfield, N. 2007. A grammar of Lao. 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