Lexikon der Musiktherapie.

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Musik als Ressource im Alter
Musiktherapeutische Erfahrungen mit alten Menschen
Theoriearbeit zur Erlangung des Titels
Master of Advanced Studies in Klinischer Musiktherapie
Vorgelegt von: Renata Bodor
Mentorin: Sandra Lutz Hochreutener
Zürich, 22.10.2011
Zürcher Hochschule der Künste ZHdK
in Kooperation
mit der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik HfH
1
Abstract
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem Alter(n) im Gesamtzusammenhang des Lebens. Spezifische Themen, Befindlichkeiten, Bedürfnisse
und Ressourcen der Seniorinnen und Senioren werden beschrieben und es
wird der Frage nachgegangen, wie Musik und Musiktherapie alte Menschen unterstützen kann, damit die Veränderungsprozesse des Alterns besser gemeistert werden können.
Das therapeutische Musikverständnis, die therapeutische Beziehung und –
Haltung sowie die Ziele der psychodynamisch orientierten Musiktherapie
werden erläutert.
Verschiedene musiktherapeutische Methoden wie Stille, Improvisation,
Lied, Körper, komponierte Musik und Sprache sowie die Funktionen der
Musik, Musik als Aus- oder Eindruck oder Musik als Kommunikation,
werden beschrieben und mit Therapiebeispielen ergänzt.
Es hat sich gezeigt, dass Musik eine Ressource ist, und dass Musiktherapie
alte Menschen in vielfacher Weise mit ihren Ressourcen verbindet und die
Vitalität und Lebensfreude stärkt.
Schlüsselwörter:
Lebensspanne, alte Menschen, Befindlichkeiten, Bedürfnisse, Ressourcen,
Musiktherapie, musiktherapeutische Methoden, musiktherapeutische Funktionen der Musik
2
Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
Hermann Hesse
3
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
6
1 Das Alter(n) im Gesamtzusammenhang des Lebens
1.1 Die Lebensalter aus künstlerischer Sicht
1.2 Die Lebensalter aus entwicklungspsychologischer und
soziologischer Sicht
1.3 Die Lebensalter aus anthroposophischer Sicht
1.4 Die Lebensalter aus musikpsychologischer Sicht
1.5 Zusammenfassung
10
11
2 Leben im Alter
2.1 Verschiedene Alterstheorien
2.2 Vitalität und Gesundheit im Alter
2.3 Abbau und Krankheit im Alter
2.3.1 Demenz
2.3.2 Altersdepression
2.3.3 Alterswahn
2.4 Befindlichkeiten im Alter
2.5 Lebensthemen im Alter
2.6 Bedürfnisse und Ressourcen im Alter
2.7 Zusammenfassung
25
29
32
34
36
39
40
41
44
48
60
3 Psychosoziale Begleitung von alten Menschen mit Musik
3.1 Musikgeragogik
3.2 Musiktherapie
3.3 Musiktherapie und Musikgeragogik im Vergleich
63
64
65
80
4 Methodik der Musiktherapie mit alten Menschen
4.1 Musiktherapeutische Methoden
4.1.1 Stille
4.1.2 Improvisation
4.1.3 Lied
4.1.4 Körper
82
84
84
86
94
99
4
14
19
20
22
4.1.5 Komponierte instrumentale Musik
4.1.6 Sprache
4.2 Therapeutische Funktionen der Musik
4.2.1 Musik als Eindruck
4.2.2 Musik als Ausdruck
4.2.3 Musik als Kommunikation
103
104
108
108
116
126
5 Schlussgedanken
132
6 Dank
137
7 Anhang
139
8 Abbildungsverzeichnis
140
9 Literaturverzeichnis
141
10 Erklärung der Urheberschaft
150
5
Einleitung
„Musik ist die beste Medizin für mich, besser als alle Medikamente.“ Das sagt die neunundachtzig jährige Frau Huber. Bei
meiner musiktherapeutischen Arbeit mit alten Menschen höre ich
solche und ähnliche Aussagen immer wieder. Ich erfahre, dass
Musik und Musiktherapie alten Menschen Freude bereitet und ihre Lebenskräfte neu wecken kann.
Die These dieser Theoriearbeit lautet: Musik ist eine Ressource,
und Musiktherapie hilft alten Menschen Zugänge zu finden zu ihren Ressourcen.
Folgende Fragen interessieren mich besonders:
Welche Themen beschäftigen alte Menschen? Wie ist ihr Befinden? Welche Bedürfnisse und Ressourcenmöglichkeiten haben
sie?
Wie kann Musik und Musiktherapie zur Ressource werden und
Fähigkeiten des alten Menschen aktivieren?
Diesen Fragen gehe ich auf zweierlei Art nach:
• Fachspezifische Literatur zum Alter(n) und zu Ressourcen
im Alter wird ausgewertet.
• Beispiele aus dem Berufsalltag werden phänomenologisch
beschrieben und mit Hilfe einer Vorlage reflektiert.
6
Das Altern stellt in der technologisierten modernen Welt neue und
manchmal hohe Anforderungen an die Seniorinnen und Senioren.
Viele Lebensveränderungen sind zu verkraften, manches hat man
nicht mehr selber im Griff, erst recht nicht, wenn man auf fremde
Hilfe angewiesen ist. Anforderungen und Ressourcen stehen in
einem Spannungverhältnis.
Mit Hilfe des dialogischen Konzeptes können widersprüchliche
Aspekte beschrieben und in ein dynamisches Verhältnis zueinander gebracht werden.
Martin Buber (2009) eröffnete mit seinem Hauptwerk „Das dialogische Prinzip“ einen Weg, den Hermann Levin Goldschmidt
weiter ging und daraus die Methodik der Dialogik entwickelte.
Durch das Wahrnehmen und gelten lassen widersprüchlicher Aspekte wird es möglich, sie zueinander in Beziehung zu bringen.
Für Goldschmidt (1976) heisst Dialogik, widersprüchliche Standpunkte annehmen, sie schöpferisch in eine Ordnung bringen und
sie in ihrer Ebenbürtigkeit anerkennen. Den Widerspruch achtet er
als grundlegende und fruchtbare Spannung, die durch keine höhere Synthese aufzuheben sei.
Der Kern der Dialogik besagt, dass es zu einer bestimmten Sichtweise eine andere Sichtweise gibt, die zur ersteren im Widerspruch steht. Es geht nicht um Polarität, sondern darum, sich widersprechende Aspekte, die je für sich als Ganzheit stehen, dialogisch zueinander in Beziehung zu setzen.
7
Zwei Wirklichkeiten, die erst zusammen ein Ganzes ausmachen,
sind zum Beispiel: Körper-Geist; Schmerz-Lust; Geist-Materie.
Dialogik postuliert ein Miteinander von zwei gleichberechtigten
Wirklichkeiten, die sich gegenseitig ausschliessen und erst zusammen ein Ganzes ausmachen (vgl. Herzka 1999, S. 246ff.).
Im Folgenden werden in der Übersicht die Inhalte der vier Kapitel
beschrieben.
Im ersten Kapitel wird das Altern als Prozess im Gesamtzusammenhang des Menschenlebens beschrieben. Alt werden alle, aber
die unterschiedlichsten Erfahrungen in Jahrzehnten gemacht, bilden sehr individuelle Lebensgeschichten. Die Lebensspanne mit
ihren Stufen wird aus künstlerischer, soziologischer, psychologischer, anthroposophischer und musikpsychologischer Sicht betrachtet.
Im zweiten Kapitel wird das Leben alter Menschen ins Zentrum
gestellt. Verschiedene Alterstheorien und
Altersbilder werden
gezeigt. Bei den über achtzig jährigen Menschen steht das Thema
Gesundheit an erster Stelle (Heuft & Schneider, 2007). Aus diesem Grund wird der Vitalität und Gesundheit im Alter sowie dem
Thema Abbau und Krankheit im Alter ein je eigenes Unterkapitel
gewidmet. Im Weiteren werden spezifische Lebensthemen und
Befindlichkeiten von Seniorinnen und Senioren dialogisch beschrieben und mit der Darstellung der Bedürfnisse und Ressourcen im Alter, wird dieses Kapitel abgeschlossen.
8
Im dritten Kapitel „Psychosoziale Begleitung von alten Menschen mit Musik“ werden die verschiedenen Aspekte der Musiktherapie wie Musikverständnis, Instrumentarium, therapeutische
Beziehung und –Haltung, das therapeutische Handeln und die
Therapieziele ausführlich erläutert und die geragogische und therapeutische Vorgehensweise beschrieben und miteinander verglichen.
Im vierten Kapitel wird anhand von Beschreibungen der musiktherapeutischen Methoden und der therapeutischen Funktionen
der Musik gezeigt, wie Musik als Ressource im Alter wirken
kann. Anhand von Therapiebeispielen werden ihre Anwendungen
geschildert und reflektiert. Die Sitzungen wurden protokolliert
und auf Tonträger aufgenommen. Sie fanden zwischen Januar und
Mai 2011 statt. Die Sitzungsprotokolle wurden qualitativ ausgewertet. Manche Personen kommen in mehreren Beispielen vor.
Dadurch kann gezeigt werden, wie verschieden die Interventionen
mit ein und derselben Person sein können. Die Beispiele sind der
Übersichtlichkeit halber grau unterlegt und konnten dank der Erlaubnis der Seniorinnen und Senioren mit Fotos bereichert werden. Die Namen und einige weitere Details wurden zum Schutz
der Personen geändert.
Im fünften Kapitel folgen Schlussgedanken und eine Zusammenfassung der Erkenntnisse dieser Arbeit.
Um der Lesefreundlichkeit willen, wurde abwechslungsweise die
weibliche und die männliche Form verwendet.
9
„[...] Wir sollen heiter Raum um Raum
durchschreiten
an keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und
engen,
er will uns Stuf′ um Stufe weiten [...].“
Hermann Hesse 1941
1 Das Alter(n) im Gesamtzusammenhang des
Lebens
Für den kleinen Jungen der sagt: „ Ich bi scho vieri!“, bedeutet
sein Alter, dass er gross ist im Vergleich zu seiner Schwester, die
noch im Kinderwagen sitzt. Dem zehnjährigen Schulkind scheint
der Student, der im gleichen Haus wohnt, alt zu sein. „Sie sind no
jung!“, sagt die achtzigjährige Frau zur grauhaarigen Musiktherapeutin. Alt sein, ist ein relativer Begriff.
„So gehört ein Sechzigjähriger am Arbeitsplatz zu den Alten,
wechselt als Rentner in eine nachberufliche Phase und wird dann
zu einem „jungen Alten“, der zwanzig, vielleicht sogar dreissig
Jahre zu gestalten hat“ (Kuhlmey, Mollenkopf & Wahl, 2007, S.
266). Heute gibt es in den Industriestaaten immer mehr Menschen, die über achtzig Jahre zählen. Sie stellen den am schnellsten wachsenden Teil der Bevölkerung dar. Dieses Phänomen der
Hochaltrigkeit kann bedeuten, dass das Durchlaufen eines Dritten
10
und eines Vierten nachberuflichen Alters immer möglicher wird
(vgl. ebd.).
Jede Altersstufe eines Menschenlebens kann in einen erweiterten
Horizont und Blickwinkel gestellt werden. Wenn zur aktuellen
Lebensphase hinzu die vorangegangenen und nachfolgenden
Zeitabschnitte einbezogen werden, kann der Spielraum für die
Zukunft erweitert und neue Zusammenhänge in und mit der Vergangenheit ermöglicht werden.
Das Alter kann zum Beispiel nach dem kalendarischen Alter, das
heisst nach den tatsächlichen Lebensjahren, nach dem biologischen Alter, welches den Zustand der Lebensfunktionen berücksichtigt, nach dem entwicklungspsychologischen Alter, bei dem
die persönliche Entfaltung eine Rolle spielt oder dem soziologischen Alter betrachtet werden, bei dem die Gesellschaft bestimmt,
wann jemand erwachsen oder alt ist (vgl. Theune, 2009, S. 21,;
Heuft & Schneider, 2007).
In den folgenden Kapiteln werden die Altersstufen aus dem künstlerischen, entwicklungspsychologischen, soziologischen, anthroposophischen und musikalischen Blickwinkel betrachtet.
1.1 Die Lebensalter aus künstlerischer Sicht
Verschiedene Künstler versuchen auf ihre Weise das Leben und
seine Gesetzmässigkeiten zu erfassen. Im Gedicht ’Stufen’ beschreibt Hesse (1994, S. 157) wie jeder Lebensabschnitt eine eigene Weisheit und Tugend hat. Alles dauert nur eine Zeit lang.
11
Sogar die Todesstunde birgt in sich die Möglichkeit, dem Menschen neue Räume zu eröffnen.
Auf dem unten stehenden Bild teilt der Künstler die Lebensspanne in zehn Altersstufen ein. Auf der einen Seite tritt das Kind in
das Leben ein, auf der andern Seite ist der Hochbetagte auf dem
Weg sich wieder aus dem Leben heraus zu begeben. Jede Stufe
hat ihren eigenen Namen und dauert auf diesem Bild zehn Jahre.
Abbildung 1: Um 1845. Das Stufenalter des Menschen. Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum.
Mit dieser Stufendarstellung wird symbolisch der chronologische
Auf- und Abstieg des äusserlich sichtbaren, biologischen Aufund Abbaus eines Menschenlebens gezeigt. Das geflügelte Götterwesen, sitzend im Weltall, hat Sanduhr und Sense in seinen
12
Händen und zeigt damit, dass es die Dauer eines Menschenlebens
bestimmt.
Im Märchen ’Der alte Grossvater und sein Enkel’ (Grimm Gebrüder, 1979, S. 337f. Anhang) beobachtet das vierjährige Kind, wie
seine Eltern dem zittrigen Grossvater ein Holzschüsselchen als
Essgeschirr geben. Daraufhin bastelt das Kind ein Holztröglein
für seine Eltern, damit sie auch eines haben, wenn sie einmal alt
sind. In diesem Märchen zeigt sich sehr schön, wie schon das
kleine Kind den Lebensbogen bis zum Alter vorausdenkt.
Musik als Ganzes stellt ein symbolisches Abbild des Lebens dar
(vgl. Hegi, 2001, S. 143). Reinhold (vgl. 1996, S. 12f.) sagt,
schon eine Tonskala könne, analog zum Lebensbogen, den Stufenweg in Tönen hörbar machen und als absteigenden oder aufsteigenden, sich verbindenden und wieder lösenden Weg erfahren
werden, vergleichbar mit dem Weg eines Menschenlebens. Wie
kleine Kinder erst richtig auf der Erde ankommen und sich mit ihr
verbinden müssen, ein erwachsener, selbständiger Mensch mit
beiden Beinen auf dem Boden steht, und der alte Mensch wieder
Aufgaben abgeben und loslassen muss, geht die Lebensspanne
vom ersten bis zum letzten Atemzug, in einem schwingenden
Rhythmus.
13
1.2 Die Lebensalter aus entwicklungspsychologischer
und soziologischer Sicht
Die persönlichen Talente und Charaktereigenschaften eines Menschen und der äussere Einfluss von Gesellschaft, Kultur, Bildung
und Religion stehen in einer Wechselwirkung. Der Mensch orientiert sich an sich selber und am Bild, das andere sich von ihm machen. „So ungefähr wissen wir, wer wir nach einem bestimmten
Alter sind und wie wir uns verhalten sollen, und etwas sicherer
wissen wir, wer wir nicht mehr oder noch nicht sind. Und
manchmal spüren wir auch, dass wir das alles nicht allein entscheiden, sondern dass es eben soziale Bilder von Menschen […]
gibt, nach denen wir erkannt werden“ (Abels, Honig, Saake &
Weymann, 2008, S. 7). Soziologische- und psychologische Faktoren wirken zusammen und prägen die einmalige Identität des
Menschen.
Der Mensch entwickelt und verändert sich seelisch, geistig und
körperlich während seines ganzen Lebens. Es gibt verschiedene
Möglichkeiten diese Veränderungen im Laufe des Lebens (’lifespan’) zu beschreiben. Im unten abgebildeten Stufenmodell der
psychosozialen Entwicklung spannte der Psychoanalytiker Erik
Erikson 1950 den ganzen Bogen von der Kindheit bis zum hohen
Alter. Jede der acht Stufen stellt ein Gegensatzpaar dar, mit dem
sich das gesunde Individuum aktiv auseinandersetzt. Erikson zeigt
in diesem Diagramm wie die Entwicklung des gesunden Menschen im Spannungsfeld zwischen seinen persönlichen Bedürfnis14
sen und Wünschen und den Anforderungen der sozialen Umwelt
aussieht. Die Gegensätzlichkeit löse Konflikte und Krisen aus und
deren Bewältigung ermögliche Entwicklung. Dabei werde ein
Konflikt nie vollständig gelöst, sondern bleibe ein Leben lang aktuell. Er sei aber auch schon vor dem jeweiligen Stadium als
Problematik vorhanden. Für die Entwicklung sei es aber notwendig, dass er auf einer bestimmten Stufe ausreichend bearbeitet
werde, um die nächste Stufe erfolgreich bewältigen zu können
(vgl. Erikson, 1982, S. 264 ff.).
Abbildung 2: Diagramm Entwicklung des Menschen nach E.Erikson
IchIntegrität
gegen
Verzweiflung
VIII
Reife
VII
Erwachsenen Alter
Zeugende
Fähigkeit
gegen
Stagnation
VI
Frühes
Erwachsenen -Alter
Intimität
gegen
Isolierung
Identität
gegen
Rollenkonfusion
V
Pubertät
und Adoleszenz
Leistung
gegen
Minder –
wertigkeitsgefühl
IV
Latenz
III
Lokomotorischgenital
Initiative
gegen
Schuldgefühl
Autonomie
gegen
Scham
und Zweifel
II
Muskuläranal
I
OralSensorisc
Urvertrauen
gegen
Misstrauen
1
2
3
4
15
5
6
7
8
Heuft und Schneider (vgl. 2007, S. 149) machen darauf aufmerksam, dass die Eriksonsche Kategorisierung eine idealisierende
Beschreibung des Alterns sei. Zudem daure heute die Phase Alter
als Reife, inzwischen vom 60. bis 90. Lebensjahr, also etwa 30
Jahre lang. Das grundsätzlich Wertvolle einer solchen Konzeption
sei jedoch die Sensibilisierung für konflikthafte Prozesse, die
auch im Alter zu neuen Entwicklungsschritten führen können.
Dies sei insbesondere für Angehörige helfender Berufe bedeutungsvoll.
Neuere Modelle betonen die Mehrdimensionalität von Entwicklungsprozessen, die nicht nur stufenweise erfolgen. „Vier Konzepte stehen dabei im Vordergrund: Kontextualismus, Plastizität,
Multidirektionalität und Multifunktionalität. Zusammen generieren diese Konzepte ein Profil von Entwicklung, das dynamischer
und komplexer ist, als einfache Stufenmodelle nahe legen. Insbesondere Plastizität kann zur Reversibilität von Entwicklungsmisserfolgen beitragen […]“ (Freund & Baltes, 2005, S. 47).
Dem gegenüber steht das defizitäre Entwicklungsbild, für das die
Konzepte des veränderbaren Lebens nur bedingt gelten. Nach diesem Bild verschlechtert sich mit zunehmendem Alter der Allgemeinzustand auf der psychischen und körperlichen Ebene, parallel
zu den Einschränkungen des Bewegungsspielraumes und zum
geistigen Abbau.
Heuft & Schneider meinen (vgl. 2007, S. 145ff.), dass das Defizit- und Defekt-Modell, welches den Lebenslauf als Halbkreis-
16
modell begreift, bei dem nach dem Scheitelpunkt alles den Berg
hinunter geht, inzwischen überholt sei. Viele gerontologische
Studien zeigen die Lernfähigkeit und Kompetenz im Alter. Geeignete Förderansätze würden wesentlich zur Verbesserung oder
Stabilisierung grundlegender Fähigkeiten im Alter beitragen und
damit Alltagskompetenzen und Selbständigkeit erhalten helfen.
Die Erfahrungen mit Psychotherapien aus unterschiedlichen Richtungen hätten gezeigt, dass Verhaltensänderungen, eine Reduktion von Symptomen und Veränderungen in der Persönlichkeitsstruktur möglich seien.
In den letzten Jahrzehnten war eine gesellschaftliche Entwicklung
zu mehr Individualisierung, Differenzierung und Pluralisierung
der Lebensstile mit Multioptionalität zu verzeichnen. Heute sehen
die Soziologen, dass trotz oder durch den multioptionalen Lebensstil, die Menschen immer weniger Freiheiten haben, weil sie
ständig zu Entscheidungen gezwungen sind. „Der ursprüngliche
Sinn der Individualisierung, sich von äusseren Vorgaben unabhängig zu machen, hat sich regelrecht ins Gegenteil verkehrt“
(Ullrich & Wenger, 2008, S. 36). In einer Vision für die Zukunft
sehen die beiden Autoren, dass die Menschen wieder umso mehr
„nach innen horchen und darauf achten, was ihnen gut tut“ und
mit ihren Kräften haushalten müssen, je deutlicher die Grenzen
der Machbarkeit und je geringer der Nutzen der Steigerungslogik
werden. Im Alter erhöht sich die Chance im Hier und Jetzt zu
verweilen, weil das Eingebundensein in das funktionale Leben
17
geringer wird. „Statt immer unterwegs zu sein, von einem Ort
zum anderen und einer Gelegenheit zur nächsten, sehnen sich die
Menschen danach, anzukommen oder wenigstens zeitweise innehalten zu können. Das Naheliegende wird wichtiger als das Ferne,
das Bei-einer-Sache-Bleiben wichtiger, als in Gedanken immer
schon bei der nächsten Sache zu sein“ (ebd., S. 37). Diesbezüglich könnten die Jüngeren von Seniorinnen und Senioren lernen,
welche durch ihr naturgegebenes, langsameres und stilleres Leben
der Hektik des Berufsalltags etwas entgegensetzen.
Die neueren Betrachtungsweisen des ganzen Lebensbogens haben
Auswirkungen auf das Therapieverständnis. Sieper (vgl. 2007, S.
15) sagt, sich auf Petzold beziehend, dass Therapie sich weder nur
auf das Retrospektive noch auf das nur Aspektive, Gegenwärtige
konzentrieren soll, sondern auch auf das Zukunftgerichtete, Proaktive, das Leben gestaltende.
In der Therapie mit alten Menschen besteht die besondere Herausforderung darin, dass sich der Mensch im letzten Lebensabschnitt befindet und damit das unwiderrufliche Ende näher
kommt. Einerseits stellen sich die Fragen nach der Integration und
Sinngebung des bisherigen Lebens, dem Ordnen der Erinnerungen und dem Abschiednehmen von Unwiederbringlichem. Andererseits sind der Erhalt von Gesundheit und Fähigkeiten wichtig
sowie die vielfältigen Formen der Entwicklung und Wandlungen
bis zum Tod.
18
1.3 Die Lebensalter aus anthroposophischer Sicht
In der Anthroposophie, von Rudolf Steiner (1861-1925) begründet, wird das Leben als Erkenntnisweg gesehen. Der Mensch sieht
sich und alles sinnlich Wahrnehmbare der irdischen Welt im Zusammenhang mit der geistigen kosmischen Welt und ein vorgeburtliches und nachtodliches Leben wird in diese Betrachtungsweise einbezogen. Durch das bewusste Wahrnehmen der Phänomene und das bewusste Tätigsein auf dieser Erde, durch Meditation und das Studium der Geisteswissenschaften, versucht der
anthroposophisch orientierte Mensch dem Ideal, liebend zu erkennen und zu wirken, näher zu kommen.
Der Mensch wird als Individualität mit einem zeitlosen Ich gesehen. Er trägt nicht nur Verantwortung für seine persönliche Lebensführung sondern auch für seine Umwelt. Das Motto der Sozialethik lautet demnach: „Heilsam ist nur, wenn im Spiegel der
Menschenseele sich bildet die ganze Gemeinschaft; Und in der
Gemeinschaft lebet der Einzelseele Kraft“ (Steiner, 1969, S. 256).
Diese Aussage weist Gemeinsamkeiten mit modernen Identitätsvorstellungen auf, welche die Verschränkung des Individuellen
mit der soziologischen Dimension betonen (vgl. Pally, 1997, S.
39ff.).
Treichler (vgl. 2003, S. 148f.) fasst die Themen in den einzelnen
Lebensabschnitten wie folgt zusammen: Von der Kindheit bis und
mit Jugendalter geht es um Bildung und Entfaltung. Dann kommen das Erlebnisalter von 18-28, das Schaffensalter von 28-40
19
und das Gestaltungsalter von 40-50. In dieser Zeit geht es um
Streben, Entwicklung und Gestaltung. Im Reifungsalter ca. 50-60,
im Erfüllungsalter ca. 60-70 und im Alter der Erfüllung und
Vollendung ca. ab 70 geht es um Vollendung und Rückverwandlung.
In der Erziehung (Steiner, 1980) wird Wert darauf gelegt, dass
sich das Kind in den ersten sieben Lebensjahren unter dem Eindruck „Die Welt ist gut“ entwickeln kann. Das zweite Jahrsiebt
soll unter dem Motto „Die Welt ist schön“ begleitet werden, und
ab dem vierzehnten Lebensjahr soll der Jugendliche erleben: „Die
Welt ist wahr.“ Was in der Kindheit angelegt wird, hat Auswirkungen bin ins Alter. „Denn dasjenige, was im Kind ausgebildet
wird, verhält sich manchmal auf dem Seelengrund des Kindes so,
dass man es nicht bemerkt. Im späteren Lebensalter kommt es
heraus. [...] es gibt Menschen, die in einem bestimmten Lebensalter wohltätig wirken auf ihre Mitmenschen. Sie können - wenn ich
so sagen darf – segnen“ (Steiner, 1981, S. 20f.). Segnen könnte
bedeuten, das einmal Empfangene und als wertvoll Empfundene
weitergeben an die nächste Generation.
1.4 Die Lebensalter aus musikpsychologischer Sicht
Zum Lebenslauf und zur Biografie eines Menschen gehören die
Musikerfahrungen und das Erwerben eines Liedgutes. Dadurch
entwickelt er seine musikalische Identität. Musik ist Teil des Lebens in jeder Altersstufe. Tüpker (Tüpker & Schulte, 2006) meint,
20
Musik bewege sich inmitten der Grundprobleme menschlicher
Leiden und Freuden. Sie spiegle, und verdichte die Gefühle im
Umgang mit der Welt und mache sie hörbar.
Blanckenburg (2008, S. 100f.) macht darauf aufmerksam, dass die
Kenntnis der musikalischen Biografie eines älteren Menschen ermögliche, seine Bedürfnisse besser zu verstehen und gezieltere
Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Die Musik sei ein
Schlüssel zur Seele, wenn der richtige Zugang gefunden werde.
Die Entwicklungsstufen in der musikalischen Biografie zeigt
Muthesius (Muthesius, Sonntag, Warme & Falk, 2010, S. 54).
Sie ergänzte das Stufenmodell Eriksons mit der Spalte Musik und
macht folgende Zuordnung:
• Säuglingsalter: Mutterstimme, singend, summend, Wiegenlieder; Spieldosen
• Kleinkindalter: Kniereiter; Explorieren von Gegenständen auf
Geräusche und andere
Funktionen hin
• Spielalter: Spiellieder mit Lerneffekten, bewegungsorientiert,
rhythmisch; beginnende Mitgestaltung der familiären Musikkultur
• Schulalter: „Kulturgut“ vom Lehrer vermittelt; „Können“ oder
„Scheitern“ (Vorsingen, Bewertung erhalten); Gegenwelt der
„Strassenkinder-Musik“
• Adoleszenz: Bildung von Vorlieben oder Ablehnungen gewisser Lieder, Musikstücke, Instrumente, Klänge oder Rhythmen.
21
• Frühes Erwachsenenalter: Tanzmusik, „gemeinsames Lied“;
gemeinsam Musizieren
• Erwachsenenalter: Musik für den Nachwuchs; keine Zeit für
„eigene“ Musik
• Alter: Musik als Schatztruhe für Erinnerungen; Musik und
Transzendenz
Muthesius (ebd. S. 57) meint, dass ein „[…] Wissen über den gesamten Lebenslauf, also auch Wissen über Entwicklungskonzepte
zur Kindheit und Jugend“ besonders wichtig sei in der Arbeit mit
alten dementen Menschen. Denn mit Fortschreiten der Demenz
gehe in der Regel ein fortschreitendes Eintauchen in die Vergangenheit ein, und je stärker die Demenz, desto frühere Lebenserfahrungen werden aktiv.
Die heutigen alten Menschen haben nicht nur ihre ganz individuellen Erfahrungen mit Musik, sondern auch Gruppenerfahrungen,
die in ihrer Biografie verortet sind. In ihrer Jugend wurde das
Liedgut gepflegt. In den meisten Familien und in Organisationen
wie der ’Wandervögel’ oder ’Pfadfinder’ wurde gemeinsam gesungen.
Weil man heutzutage immer weniger singt, wird in 20 Jahren die
Anzahl allgemein bekannter Lieder wahrscheinlich kleiner sein.
Vielleicht sind es immer noch Volkslieder, aber vielleicht auch
Beatlessongs oder Lieder der Rolling Stones. In 40 Jahren müsste
die Musiktherapeutin einen Rapp singen und Heavy Metall spielen können und Hip Hop Dancing machen?
22
1.5 Zusammenfassung
Durch die persönliche Lebensgestaltung und den Kontext in dem
sich die Biografie eines Menschen abspielt, entsteht die persönliche Identität.
Das Leben eines Menschen kann zeitlich in verschiedene Lebensalter aufgeteilt werden. Jedes Lebensalter kann im Zusammenhang mit den vorhergegangenen und den nachfolgenden betrachtet werden. Ausser dem zeitlichen Blickwinkel gibt es verschiedene andere Betrachtungsmöglichkeiten der Lebensalter. In diesem Kapitel wurde der Blick, hinsichtlich der therapeutischen Arbeit mit alten Menschen und Musik, auf Folgendes gerichtet:
- Die künstlerische Sicht, mit den Beispielen: Hesses Gedicht,
das Stufenbild, die Tonskala und das Märchen
- Die entwicklungspsychologische Sicht in Eriksons Diagramm,
welches Konflikte als Entwicklungspotentiale betrachtet
- Das Defizitmodell, das Altern und Alter als steten Abbau sieht
- Aktuelle Betrachtungen der Entwicklungsmöglichkeiten in der
Lebensspanne, zusammengefasst von Freund & Baltes, welche
die Mehrdimensionalität von Entwicklungsprozessen betonen
- Die soziologische Sicht, die feststellt, dass das Individuum in
einer immer schnelllebigeren Zeit immer weniger Freiheit hat,
trotz Multioptionalität
23
- Die anthroposophische Anschauung des Menschenlebens, welche mit einem vorgeburtlichen Leben und einem Leben nach dem
Tod rechnet
- Die musikalische Sicht, die auf Musik- Erfahrungen und Tätigkeiten im Leben eines Menschen schaut.
In den folgenden Kapiteln wird die Aufmerksamkeit auf die Lebensstufen des alten und hochbetagten Menschen gerichtet. Altern
wird als kontinuierlicher Übergang von einer Lebensphase in die
andere verstanden. Die im Umgang mit alten Menschen erfahrene
Bewegungstherapeutin Theune sagt: „Altern ist ein langsamer
Prozess der Veränderung innerhalb eines Lebens. Der Übergang
von einem Lebensabschnitt in den anderen erfolgt allmählich“
(2009, S. 21). Das Alter wird mit dem Bewusstsein betrachtet,
dass es Teil einer gelebten und lebendigen Biographie ist. Die Identität wird weiter verfeinert und ausgebildet bis das Leben im
Tod vollendet.
24
„Letzten Endes ist das Altwerden
ein Aspekt der Vergänglichkeit
menschlichen Daseins,
aber diese Vergänglichkeit ist im Grunde
ein einziger grosser Ansporn zur Verantwortlichkeitzur Anerkennung des Verantwortlichseins
als Grund- und Wesenszug des menschlichen Daseins.“
Victor Frankl
2 Leben im Alter
Das ganze Leben besteht aus Werden und Vergehen und schon
bei der Geburt beginnt der Prozess des Aufbaus und des Abbaus.
Auf diesem Weg liegen immer wieder Steine, die Entwicklungsaufgaben stellen aber auch Entwicklungschancen bieten. Der alte
Mensch trägt viele Erfahrungen in sich, die er in den vergangenen
Lebensabschnitten, Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter gemacht hat. So formt das Altern die Persönlichkeit und die Persönlichkeit das Altern.
Wie jede Lebensstufe einmalige Möglichkeiten beinhaltet, birgt
auch dieser Lebensabschnitt unwiderrufliche Gelegenheiten in
sich, die es zu verantworten gilt (Frankl, 1995, S. 100).
Bei jedem Menschen verläuft der Alterungsprozess anders. Theune (2009, S. 24) betont, dass Älterwerden und Altsein viele Facetten hat. „Alter ist eine Schatzkiste an Wissen und Erfahrungen
25
vielfältigster Art. Wie sie gefüllt ist und aktuell wahrgenommen
wird, ist abhängig von früheren und aktuellen Lebensumständen
und den Lebensweisen, die gepflegt werden.“
Saake (vgl. 2008, S. 278) betont, dass es wichtig ist, das Alter
nicht in Rollenklischees zu beschreiben. Nicht immer sind alte
Menschen einfach nur alt. Es gibt auch Situationen, in denen sie
genau das tun, was junge Menschen oder gesunde Menschen oder
„gesellschaftlich integrierte“ Menschen auch tun. Manchmal erlaubt das Alter Freiheiten, die früher nicht möglich gewesen wären, so lange berufliche oder familiäre Verpflichtungen da waren.
Diese Lebensphase hat „wie jede andere Lebensphase auch, neben
allem Schwierigen und Schmerzhaften ihre Schönheit und Grösse.
Der Besitz von Weisheit, Lebenserfahrung, Geschichten, eines
immateriellen inneren Reichtums, der an die nächsten Generationen weitergegeben wird, ist das eine. Darüber hinaus kann der
Mensch angesichts des herannahenden Endes, wenn er es zulässt,
die tiefgreifendsten und intensivsten, die existentiellsten Erfahrungen seiner ganzen Lebenszeit machen“ (Timmermann, 2008,
S. 278).
Riedel (2007) meint zum Thema ’Kreativität des Alters’, dass alt
werden heissen kann, sich darüber klar zu werden, dass die eigene
Lebenszeit begrenzt und zum grössten Teil schon durchlebt ist.
Wie bei jedem guten Spiel sind vielleicht die letzten fünfzehn
Minuten entscheidend dafür, ob das Spiel – hier das Spiel des Lebens – als verloren oder gewonnen erlebt wird. Das Gefühl, dass
26
es jetzt um entscheidende Inhalte des Lebens geht, macht die späten Jahre kostbar. Jetzt kommt es darauf an, das Besondere des
ureigenen Lebens zu erkennen, welches in einem angelegt ist, es
auszuschöpfen und vielleicht alte Grenzen zu überschreiten.
Frankl (vgl. 1995, S. 101) findet nichts Arges am Altern. Für ihn
ist wichtig, dass er im gleichen Masse wie er altert, reifen kann.
Dass er das tue, sehe er beispielsweise daran, dass er mit einem
Manuskript, das er zwei Wochen vorher abgeschlossen habe, zwei
Wochen später nicht mehr zufrieden sei. Frankl meint weiter,
dass es kaum absehbar sei, wie weit Kompensationen einspringen
können zum Ausgleich der Abbauprozesse.
Die gesellschaftliche Meinung über das Altern variiert je nach Ideologie erheblich. In vielen Stammesgesellschaften geniessen
alte Menschen ein hohes Ansehen als weise Ratgeber. In individuell-, leistungs- und erfolgsorientierten Gesellschaften hingegen, kann das Altern als Niederlage und peinliche Erinnerung an
die Grenzen der Kontrollmöglichkeiten über die Natur aufgefasst
werden. Schwerkranke und Sterbende gelten aus dieser Sicht als
Verlierer (vgl. Timmermann, 2008, S. 278f).
Aktuelles Beispiel für dieses Denken ist der Suizid von Gunter
Sachs im Frühjahr 2011. In seinem Abschiedsbrief schrieb er,
dass er Alzheimer habe und den würdelosen Krankheitszustand
weder sich selber noch anderen zumuten wolle. Die Geriaterin
Bopp-Kistler (2011 b, S. 9) nimmt zu dieser Haltung Stellung: „
Ein Patient mit Demenz hat nicht nur Defizite, sondern auch Res-
27
sourcen. […] Oft zeigt er eine tiefe Emotionalität, vielleicht auch
in einem Masse, wie er sie zuvor nie zeigen konnte. […] In einer
Gesellschaft der ständigen Aktivität und des ständigen Konsums
kann uns der Demenzpatient auch Vorbild sein. Er führt uns vor,
dass das Leben eigentlich im Jetzt stattfindet.“
In den Industriestaaten werden die Menschen immer älter und
bleiben in der Regel gesund. Dennoch rückt man in dieser Lebensphase dem Tod unweigerlich näher. Theune (2009, S. 6) sagt,
dass es wichtig sei, dass man auch in dieser Lebensphase, so weit
und selbständig wie möglich für seine körperliche und geistige
Mobilität sorgen könne.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterteilt die grosse und
sehr heterogene Altersgruppe kalendarisch folgendermassen:
51-60 Jahre alternde Menschen
61-75 Jahre ältere Menschen
76-90 Jahre alte Menschen
91-100 Jahre sehr alte Menschen
In Anlehnung an diese Einteilung wird in der vorliegenden Arbeit
vom alten Menschen gesprochen, da es um eine Reflexion in der
therapeutischen Tätigkeit mit Menschen geht, die über 75 jährig
sind.
28
2.1 Verschiedene Alterstheorien
Mit den nachfolgenden Statements soll gezeigt werden, wie vielfältig das Leben im Alter theoretisch beschrieben werden kann
(vgl. Theune 2009, S. 22f.)
-Defizit-Theorie
Altern ist ein unumkehrbarer Abbauprozess von Kräften auf verschiedenen Ebenen.
-Verschleiss-Theorie
Was zuviel oder falsch gebraucht wird, nutzt sich ab und verursacht zunehmend Schmerzen.
-Disuse-Theorie
Was nicht genutzt wird, wird funktionsuntüchtig.
-Disengagement-Theorie
Der Rückzug aus gesellschaftlichen Verpflichtungen und sozialen
Kontakten wird sowohl von der Gesellschaft als auch selbstbestimmt gefordert.
-Kompetenz-Theorie
Alte Menschen sind dank ihres angesammelten Wissens, der erworbenen Fähigkeiten und Erfahrungen kompetent. Sie können
29
Ressourcen mobilisieren und sich den situativen Gegebenheiten
anpassen.
-Lebensgeschichte-Theorie
Je nachdem was einen Menschen geprägt hat, und wie er mit
Anforderungen in den jeweiligen Lebensphasen zurechtkam, löst
er im Alter die anstehenden Aufgaben.
- Ökologischer Ansatz
Reduzierte Umweltreize und eingeschränkte Bewegungs- und
Handlungsspielräume lassen alte Menschen schneller verkümmern.
-Aktivitäts-Theorie
Der alte Mensch will aktiv sein und strebt soziales Teilhaben an.
Neueste Theorien (vgl. Kolland & Rosenmayer, 2007, S. 203ff.)
unterscheiden zwischen selbst gewählter Beschäftigtheit und dem
von der Gesellschaft geforderten Handeln. Erfülltes Altern bedinge Tätigkeiten, für die entsprechende Voraussetzungen, Bereitschaft und Förderungsmöglichkeiten vorhanden seien.
Theorien können wertvolle Hinweise geben auf Bedürfnisse und
Ressourcen des alten Menschen, damit entsprechende Möglichkeiten zu deren Erfüllung geschaffen oder angemessene Hilfestellungen gegeben werden können.
30
Gleichfalls müssen die Hintergründe hinter einer Theoriebildung
beleuchtet werden. Je nach politischer
und gesellschaftlicher
Einbettung kommen mit den Theorien spezielle Werte und Ziele
zum Ausdruck. Rüegger (vgl. 2010, S. 4) warnt zum Beispiel vor
dem gesellschaftlichen Druck, der ein „sozialverträgliches Frühableben“ des alten und ’nutzlos’ gewordenen Menschen fordert.
Auch auf die Musiktherapie bezogen ergeben sich, je nach der
zugrunde liegenden Theorie, andere Ziele und Möglichkeiten. Die
beiden Extrempositionen könnten sein: Es braucht keine Musik,
der alte Mensch will Ruhe. Und als Gegenstück: Um emotional
und körperlich vital zu bleiben ist es unabdingbar, dass gesungen,
musiziert, getanzt und bewegt wird.
31
2.2 Vitalität und Gesundheit im Alter
Gesundes Alter(n) ist von vielen Faktoren abhängig. Wichtige
Einflussgrössen in Bezug auf Wohlbefinden und Gesundheit sind:
Aktivität, soziale Teilhabe, Sinnerfüllung, persönliches Gesundheitsverhalten und biographische Ereignisse.
Werden die Bereiche analysiert, in die der Mensch über die ganze
Lebensspanne investiert, so nimmt die Bedeutung des Bereichs
der Gesundheit mit zunehmendem Alter zu. Im sehr hohen Alter
steht Gesundheit sogar an oberster Stelle, während hingegen bei
kranken Menschen, andere Lebensinhalte wie mentale Gesundheit, Wohnen, Familie und Freunde, sowie eine bedeutsame Zeitverwendung und Religion an Bedeutung gewinnen (vgl. Kuhlmey, Mollenkopf & Wahl, 2007, S. 265ff.).
Das körperliche Wohlbefinden hat einen grossen Einfluss auf das
Lebensgefühl der Menschen. Der natürliche Prozess, dass Körperkräfte im hohen Alter abnehmen, bedeutet nicht zwangsläufig
Unwohlsein oder gar Krankheit für den alten Menschen. „Gesund
zu altern setzt die Unterstützung der jeweils vorhandenen Potenziale der alt werdenden Frauen und Männer voraus und sollte
nicht missverstanden werden als Versuch, einen Zustand x bis
zum Lebensende erhalten zu wollen“ (ebd. S. 270).
Die WHO beschreibt Gesundheit 1986 als [...] „ein dynamisches
Zusammenspiel von körperlichen, seelischen, geistigen und sozia-
32
len Faktoren, die zu einem Wohlbefinden führen“ (Theune, 2008,
S. 11).
Wie gesund oder krank sich der alte Mensch fühlt, hängt stark
von seiner Befindlichkeit und seiner Einstellung gegenüber seinen
Einschränkungen ab. Demnach ist Gesundheit relativ. Der zweiundachtzig jährige Mediziner Nager (vgl. 2006, S. 11f.) meint,
der Begriff Gesundheit sei ein Mythos, denn er bedeute je nach
Gesellschaft, Zeitepoche und Individuum Unterschiedliches. Er
weist darauf hin, dass Gesundheit etwas Ganzheitliches sei. Es sei
wichtig, gegensätzliche Kräfte zu versöhnen, so dass sie ein
fruchtbares Ganzes werden können, denn „Gesundheit ist Lebenskunst und Wandlungsfähigkeit; sie muss immer wieder neu
erkämpft und mühsam behauptet werden. Sie ist die Frucht einer
inneren Reifung und hat mit der Fähigkeit zu tun, trotz Leiden
und Anfechtung ein sinnvolles Leben zu führen“ (Nager, ebd., S.
65).
33
2.3 Abbau und Krankheit im Alter
Nicht alle Senioren sind gesunde vitale Menschen. Alte Menschen
haben zum Beispiel oft Schmerzen, werden krank oder sind auf
fremde Hilfe angewiesen. Sie erkranken auch häufiger als junge
Menschen an Depressionen. Manche schämen sich für ihre Hilflosigkeit und wollen niemandem zur Last fallen. Andere verlieren
durch Abbau und Krankheitsprozesse nach und nach ihre kognitiven Fähigkeiten.
Allgemein kann gesagt werden, dass die Fähigkeiten und Fertigkeiten im hohen Alter abnehmen. Der alte Mensch wird in allem
langsamer und seine kognitive und körperliche Beweglichkeit
wird geringer. Die Hände können zum Beispiel steif werden und
die Feinmotorik eingeschränkter. Das Aufstehen und Gehen wird
mühsamer. Die Ausdauer wird weniger und damit einher geht eine Auseinandersetzung mit dem Abnehmen der eigenen körperlichen Kräfte. Häufig macht sich auch eine Altersschwerhörigkeit
und/oder eine Sehschwäche bemerkbar. Aus all diesen Tatsachen
eröffnet sich das Thema des Abschiednehmens von Lebenskräften
und schliesslich die Perspektive des Sterbens.
Heuft & Schneider (vgl. 2007, S. 149f.) verstehen den körperlichen Alterungsprozess als „Organisator“ der Entwicklung in der
zweiten Hälfte des Erwachsenenlebens.
Gesundheit und Krankheit beschäftigen uns von der Geburt bis
zum Tod. Kleine Kinder und hochbetagte Menschen können sich
34
bei Krankheit meistens nicht selber versorgen und pflegen. Sie
sind auf Betreuung angewiesen und deshalb eine Herausforderung
an die Mitmenschen. Auf das Stufenbild bezogen, als lifespan betrachtet, könnte das bedeuten, dass der Mensch, sowohl beim Lebenseinstieg als auch beim Lebensabstieg, eine einfühlsame liebevolle mitmenschliche Begleitung oder Führung braucht. Treichler (vgl. 2003, S. 382), ein anthroposophisch orientierter Mediziner, unterscheidet zwei verschiedene Gruppen von Krankheiten:
Krankheiten, die in ihrem Erscheinen eine Aufforderung und
Aufgabe für den Kranken selbst darstellen, und eine andere Gruppe von Krankheiten, die weniger für den Erkrankten, sondern für
die Angehörigen, Mitbetroffenen, für die Helfer und die Gesellschaft eine Aufgabe und Aufforderung sind.
Abbildung 3: Sonja und Otto Meyer: Frau Meyer leidet an Alzheimer
35
Wie ein Riss durch die Paarbeziehung kann zum Beispiel eine
dementielle Krankheit oder ein Schlaganfall erlebt werden. Solch
einschneidende Krankheiten machen Angehörige in besonderem
Masse zu Mitbetroffenen. Sie sind meist selber älter oder alt, und
werden durch ein solches Schicksal sowohl psychisch wie physisch stark belastet. Auch die Umwelt ist bei diesen Krankheiten
vermehrt gefordert, um dem Patienten ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Durch den Verlust vieler ganz gewöhnlicher
Fähigkeiten, ist eine demenzkranke Person im Alltag immer mehr
auf Pflege und Betreuung angewiesen. Sie braucht beispielsweise
Hilfe bei der Körperpflege, beim Verlassen des Hauses, beim Anund Ausziehen und beim Essen. Ein Mensch mit einer Demenzerkrankung verändert nicht nur sich als Person, sondern auch das
ganze Familiensystem. Rollen werden neu verteilt (Geiger, 2011).
2.3.1 Demenz
Je älter ein Mensch wird, desto eher besteht die Wahrscheinlichkeit, dass er an Demenz erkranken wird. In der Schweiz leiden
13.5% aller über 75 jährigen Menschen an einer Demenzerkrankung, das sind beinahe 100 000 Personen.
„Von Demenz spricht man, wenn die Leistungsfähigkeit des Gehirns gegenüber früher deutlich abgenommen hat. Bei einer Demenzerkrankung sind meist mehrere Funktionen des Gehirns gestört: Das Gedächtnis, das logische Denken, die Sprache, das Er-
36
kennen von Dingen oder Personen, die Orientierung oder das Planen und Organisieren des Alltags. Die Demenz kann auch die
Gemütslage beeinflussen: Eine betroffene Person wird beispielsweise reizbar, traurig, zurückgezogen, ängstlich oder antriebslos“
(Schweizerische Alzheimervereinigung, 2007, S. 6).
Die Demenz ist ein medizinisch klar definiertes Krankheitsbild:
Eine Schädigung des Hirngewebes führt zu einer Beeinträchtigung der Hirnleistungsfähigkeit. Es gibt viele Arten dementieller
Erkrankungen. Nachfolgend werden die drei häufigsten Demenzformen beschrieben:
Alzheimer-Demenz (AD):
Die Alzheimer-Demenz ist die häufigste Form der Demenz. Bei
über der Hälfte der Demenzerkrankungen wird dieser Typ Krankheit festgestellt. Im Hirn wird vor allem der Mittelbereich von
fortschreitendem Zellabbau betroffen. Ganze Gruppen von Nervenzellen verlieren allmählich ihre Funktionstüchtigkeit und sterben durch die Plaquebildung schliesslich ab. Speziell betroffen
sind die Amygdala und der Hyppocampus. Gedächtnisstörungen
sind das hauptsächlichste Symptom (Beck, 2011).
Vaskuläre Demenz (VD):
In etwa 20% der Fälle wird eine vaskuläre Demenz festgestellt.
Sie entsteht durch Veränderung der Hirngefässe, was zu Durchblutungsstörungen im ganzen Hirn führt. Dies bewirkt ein Ab-
37
sterben kleinster Hirngebiete bei kleinen Infarkten (Streifungen)
oder ganzer Hirnareale bei grösseren Durchblutungsstörungen.
Aphasie, Apraxie, Lähmung und oder weitere Schlaganfälle sind
die Folge, nicht aber unbedingt Gedächtnisstörungen (Schweizer
Alzheimervereinigung, 2007).
Frontotemporale Demenz (FTD):
Morbus Pick oder frontale Demenz ist eine neurodegenerative Erkrankung, bei der eine Hirnatrophie vor allem im Stirn- und
Schläfenlappen beobachtet wird. Sie geht primär mit Verhaltensstörungen (Apathie oder Enthemmung) und dem Verlust sozialer
Kompetenzen einher. Anders als bei Alzheimer Demenz, bleibt
das Erinnerungsvermögen und der Orientierungssinn im Krankheitsverlauf lange erhalten. Die Häufigkeit dieser Demenzart liegt
bei etwa 10%.
Eine genaue Abklärung, ob es sich bei oben genannten Symptomen um eine dementielle Erkrankung handelt ist sehr wichtig, da
es auch andere Krankheiten gibt, die für eine Veränderung der
geistigen Leistung verantwortlich sind. Sie sehen einer Demenz
oft täuschend ähnlich. Auslöser für andere Hirnleistungsstörungen
können sein: Übermüdung oder Stresssituationen, Fehlernährung,
Infektionen, Hirnblutung nach einem Sturz, Störung der Zirkulation der Hirnflüssigkeit sowie Missbrauch von Alkohol und Medikamenten.
38
2.3.2 Altersdepression
Die Altersdepression ist eine relativ häufig anzutreffende Krankheit bei alten Menschen (Beck, 2011). Auch primär depressive
Erkrankungen führen zu frontalen
Stoffwechselveränderungen
und entsprechenden Hirnleistungsstörungen. Die Depression ist
deshalb nicht immer leicht von einer Frontotemporalen Demenz,
die ebenfalls Symptome von Apathie und sozialem Rückzug aufweisen kann, zu unterscheiden. „Hauptkennzeichen der Depression sind eine traurige Verstimmung oder das Gefühl innerer Leere,
Erschöpfung, Überforderung, Angstzustände, innere Unruhe,
Denk- und Schlafstörungen“ (Keck, S. 9). Ältere Patienten verschweigen depressive Symptome eher und klagen vermehrt über
andere körperliche Erkrankungen. Unklare Schmerzen bei alten
Menschen können daher Ausdruck einer zugrunde liegenden Depression sein. Mit einer geeigneten Behandlung kann die Depression wieder abklingen und der geistige Zustand stabilisiert oder
normalisiert werden (vgl. ebd. S. 16).
39
2.3.3 Alterswahn
Die Altersparanoia kann bei alten Menschen auftreten ohne dass
gleichzeitig eine schizophrene, depressive oder eine andere psychiatrische Erkrankung besteht. Das Typische an dieser Krankheit
ist, dass sie im Zusammenhang steht mit einem bestimmten Thema, z.B. mit der Angst vor Verlust. Daraus kann der Bestehlungsoder der Verarmungswahn entstehen. Darüber hinaus gibt es den
Krankheitswahn, Eifersuchtswahn, Untergangswahn, Todeswahn,
Vernichtungswahn und andere. Vor allem der Bestehlungs- und
der Verarmungswahn können mit den nachlassenden Lebenskräften und dem Abbauprozess im Alter in Zusammenhang gebracht
werden (vgl. Treichler, 2003, S. 385f.).
40
2.4 Befindlichkeiten im Alter
Im Zusammenhang mit dem Altwerden und dem näher rückenden
Lebensende gibt es typische Befindlichkeiten die vermehrt auftreten können. Die Befindlichkeit im Alter scheint fragiler zu werden. Alte Menschen können sich wegen Altersschwäche weniger
schützen. Sie sind daher verletzlicher und auf das Wohlwollen der
Mitmenschen angewiesen. Da ihr Bewegungsspielraum beschränkter wird, sind sie den Stimmungen und Einflüssen um sie
herum stärker ausgesetzt, was wiederum ihre Befindlichkeit beeinflussen kann.
Im Folgenden werden mit dialogischen Gegensatzpaaren körperliches Befinden und Stimmungen des alten Menschen beschrieben.
Schmerz und Lust
Schmerzen und Leiden bedrücken den Menschen, denn sie
schränken die Freiheit erheblich ein. Wenn zu den Schmerzen
auch noch Pflegebedürftigkeit hinzukommt, wird die Abhängigkeit gross. Man ist nicht mehr sein eigener Herr und Meister. Oft
folgt dem Kontrollverlust eine Identitätskrise oder gar ein Identitätsverlust.
Wenn alte Menschen trotzdem wieder Spontanität und Fantasie
zulassen, können neue Kraftquellen erschlossen werden. Diese
41
Kraft ermöglicht es, trotz Leiden, eine Freiheit zu gewinnen, die
Ausgelassenheit, Lust und Freude mit sich bringt.
Resignation und Erfüllung
Erkrankungen und körperlicher Abbau können zu Resignation
und Hoffnungslosigkeit führen. In der Folge zieht sich der betroffene Mensch immer mehr in sich selbst zurück. Er wird je nach
Temperament passiv oder traurig, manchmal schwermütig oder
ungeduldig und wütend. Manchmal braucht es dann professionelle Hilfe, damit das eigene Schicksal besser akzeptiert werden
kann.
Es gibt auch den alten Menschen der sich mit seinem Rückzug auf
sich selber, stille Momente schafft, um Einkehr zu halten. Er gibt
sich Raum für innere Beschaulichkeit und für das Ordnen seiner
Erinnerungen. Daraus kann ein tiefes Gefühl der Befriedigung
und Erfüllung erwachsen.
Sorge und Hoffnung
Die Suche nach Sinn, Zweck und Wert des Lebens kann für alte
Menschen von umfassender Bedeutung sein. Hoffnung begünstigt
eine lebensfrohe Grundhaltung. Sorgen belasten und beschweren
die Stimmung. Hoffnung nährt den Glauben, dass Leiden gemildert oder überwunden werden kann. Das hat eine positive Wirkung sowohl beim Patienten als auch bei den Betreuenden. Sorgen um die Gesundheit oder Ängste vor wirtschaftlicher Not kön-
42
nen bedrücken. Hoffnung hat eine Zukunftsgerichtetheit, ist eine
Vorwegnahme, ein Wunsch oder die Vorfreude auf etwas. Auch
Sorgen richten sich manchmal in die Zukunft. Sie können im positiven Sinn Anlass sein, Dinge zu regeln oder etwas in Ordnung
zu bringen.
Trauer und Freude
Trauer entsteht aus Verlusterlebnissen oder vorweggenommenem
Verlust durch das Bewusstsein der Endlichkeit. Im letzten Lebensabschnitt gehen Fähigkeiten und Fertigkeiten verloren, die
verabschiedet und betrauert werden müssen. Freude kann als Gegenkraft der Trauer wirken. Kleinere oder grössere Alltagsfreuden
mildern Verluste. Riemann & Kleespies (2005, S. 90f.) sagen,
dass alte Menschen, die vor allem ethisch ausgerichtet auf das
Lebensende zuleben, den Tod als Sieg und Erfüllung oder als Erlösung von der Not, im Sinne des „Es ist vollbracht“, sehen können. Bei solcher Auffassung könne man Freude über die Treue
gegenüber sich selbst und die Erfüllung der auferlegten Aufgaben
heraushören.
43
2.5 Lebensthemen im Alter
Aus der Tatsache der Vergänglichkeit der Lebenskräfte und des
Lebens, entstehen besondere Themen und Sinnfragen. Die Befindlichkeit scheint davon abzuhängen, ob der alte Mensch mit
seinen Anliegen zurecht kommt und Lösungen zu seinen Fragen
finden kann. Im Folgenden wird eine Auswahl an Themen und
Fragen vorgestellt, die alte Menschen in besonderem Masse beschäftigen. In der therapeutischen Arbeit geht es darum, der Situation und dem betroffenen Menschen angepasst, entsprechende
Themen zu erkennen und dafür hellhörig zu werden.
Freiheit und Abhängigkeit
Die Frage, wie trotz zunehmender Abhängigkeit ein selbst bestimmtes Leben möglich ist, beschäftigt alte Menschen sehr.
Kann ein geistig-seelisches Wachsen stattfinden? Kann dadurch
eine neue Freiheit gewonnen werden? Was ist, wenn nicht nur die
körperliche Gebrechlichkeit, sondern auch der kognitive Verfall
zunimmt?
Was bedeutet Freiheit für diesen Menschen, was Hilflosigkeit?
Was erlaubt ihm Hilfe anzunehmen, und was hilft ihm Freiheit zu
bewahren?
44
Einsamkeit und Gemeinschaft
Je älter ein Mensch wird, desto öfters verliert er geliebte und vertraute Personen der eigenen Altersgruppe durch den Tod. Auch
körperliche Gebrechen bringen oft eine soziale Einschränkung mit
sich. Bei Demenzpatienten sind zum Beispiel die Möglichkeiten,
verbal aktiv Kontakt mit der Aussenwelt aufzunehmen, verringert.
Andererseits kommt der alte Mensch unfreiwillig in Kontakt mit
anderen und fremden Menschen, wenn er durch Pflegebedürftigkeit auf sie angewiesen ist. Im Pflegeheim sitzen oder liegen
hochbetagte Menschen oft allein in ihrem Zimmer und kommen
nur zu den Essenszeiten regelmässig in Kontakt mit den andern
Heimbewohnern. Diese können sie sich als Tischnachbarn allerdings kaum auswählen. In der Stube, die für alle zugänglich ist,
herrscht nicht immer Gemütlichkeit, und manchmal läuft eine
Musik ab CD-Player, die nicht behagt.
Kann der alte Mensch gut allein sein und die Stille geniessen, oder macht ihn die Einsamkeit krank? Welchen Kontakt hat er oder
braucht er zu seinen Familienangehörigen? Pflegt er Freundschaften oder ist er darauf angewiesen, dass Freunde und Bekannte von
sich aus auf Besuch kommen?
Spiritualität und Materialismus
Im Spirituellen sucht der Mensch Fähigkeiten wie Liebe, Mitgefühl, Geduld, Toleranz, Vergebung und Verantwortungsgefühl zu
entwickeln. Diese Tugenden sind universelle Werte und finden
45
sich in ähnlicher Form in allen Religionen. Glaube kann die Überzeugung und die Zuversicht vermitteln, dass ein göttliches
Prinzip oder Wesen über den Menschen wacht und ihn leitet, oder
dass Gott im Menschen wohnt.
Hat der alte Mensch in seinem Leben eine geistige Heimat gefunden? Wie sieht die aus? Ist er in einer religiösen Gemeinschaft
eingebettet? Gibt diese Gemeinschaft, ihre Rituale und ihre Lehre
Halt und Geborgenheit, oder beengt sie den Menschen? Welche
Auswirkungen hat die spirituelle Haltung auf das praktische Leben?
Das Materielle ist die Basis des Lebens. Viele alte Menschen
kennen noch Zeiten des Mangels. Nur durch stetes Bemühen
konnten sie materielle Ressourcen sicher stellen. Im Alter können
sie das nicht mehr tun. Es kann Angst auftreten, dass es nicht bis
ans Lebensende reicht. Eine andere Sorge kann sein, was nach
dem Tod mit Hab und Gut geschieht und wie die Erben damit
umgehen. Möchte der alte Mensch noch etwas regeln oder in
Ordnung bringen?
Leben und Sterben
Schon in früheren Lebensphasen wurde der Mensch mit Fragen
und Tatsachen konfrontiert, bei denen er sich entscheiden musste
zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem, zwischen dem,
was dem Leben diente, und dem, was eventuell lebenshinderlich
war. Alles was er in diesen Situationen loslassen und verabschie-
46
den konnte, gab Platz für Neues. Diese Erfahrungen können im
Leben des hochbetagten Menschen helfen.
Mit dem Hintergrund seiner Biografie kann er sich jetzt den Sinnfragen stellen, die in Anbetracht des nahenden Todes zentral werden. Wie kann er seinem Leben angesichts des Todes Sinn geben?
Ist es möglich die eigene Endlichkeit zu akzeptieren? Was bedeutet sterben? Was ängstigt? Was freut? Was gibt Lebenswillen und
Mut? Wie entsteht der Wunsch, mit dem Leben abzuschliessen
und sterben zu können?
47
2.6 Bedürfnisse und Ressourcen im Alter
Der Mensch kommt als hilfloses, bedürftiges Wesen zur Welt.
Damit er überleben kann, ist er darauf angewiesen, dass seine Eltern oder Betreuungspersonen seine vitalen und seelischen Bedürfnisse befriedigen. Bereits der Säugling verfügt über die Möglichkeit, durch sein Schreien auf sein Unbehagen oder seinen
Hunger aufmerksam zu machen. Im Laufe des Lebens lernt der
Mensch seine Bedürfnisse selbständiger zu erfüllen. Im Alter
werden die Menschen durch die Abnahme der körperlichen Kräfte
oder durch Krankheit wieder zunehmend von der Hilfe und Unterstützung ihrer Mitmenschen, oft von ihren erwachsenen Kindern, abhängig.
Ob jung oder alt, alle Menschen haben Bedürfnisse und Ressourcen, die sie auf ihrem Lebensweg begleiten. Sowohl die Mobilisierung von Ressourcen, als auch das Befriedigen von Bedürfnissen, brauchen eigene persönliche und unterstützende fremde
Kraft.
Grawe-Gerber (2011) spricht von vier Grundbedürfnissen, die alle
Menschen haben:
• Orientierung und Kontrolle
Positive Kontrollerfahrung heisst, dass man mit dem eigenen
Verhalten erfolgreich Wirkungen im Sinne bestimmter
Ziele erreichen kann.
• Bindungsbedürfnis
48
Mit Bindungsbedürfnis ist der Wunsch nach Nähe zu einer
Bezugsperson gemeint. Je nach Erfahrungen mit der primären
Bezugspersonen (Verfügbarkeit, Einfühlungsvermögen,
Zuverlässigkeit, Zuwendung, Vertrauen), entwickelt ein
Mensch ein bestimmtes Bindungsverhalten.
• Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz
Selbstwerterhöhende und -schützende Erfahrungen macht ein
Mensch, wenn er sich als kompetent, fähig, geschätzt und
wertvoll erlebt.
• Lustgewinn / Unlustvermeidung
Der Mensch strebt danach, lustvolle Aktivitäten zu verstärken
und Unlust zu vermeiden.
Grawe-Gerber (ebd.) meint, wenn diese Grundbedürfnisse nicht
beachtet und erfüllt werden, könne es zu seelischen und körperlichen Störungen kommen.
Auch Kübler-Ross (2002, S. 278f.) kam zum Schluss, dass alle
menschlichen Wesen ähnliche Bedürfnisse, Wünsche und Sorgen
haben. Das grösste Bedürfnis sei aber bei allen nichts anderes als
Liebe. Wahre bedingungslose Liebe.
Der alte Mensch hat nebst den oben beschriebenen allgemeinen,
auch spezifische Bedürfnisse. Abhängig sind diese von seinem
körperlichen, seelischen und geistigen Zustand. Ein Bedürfnis
kann Antrieb sein, nach einer Quelle zu suchen, mit welcher er
dieses befriedigen kann. Das Bild der Quelle, wo erfrischendes,
49
belebendes Wasser aus dem Boden entspringt, kann ein Symbol
für Ressource sein.
Ressourcen der alten Menschen können aktiviert werden, wenn es
gelingt, neben den Bedürfnissen auch Fähigkeiten zu erkennen,
die zur Bedürfnisbefriedigung verhelfen.
Ressource wird aus dem Altfranzösischen resoudre, ’sich erholen,
sich erheben, aufstehen’, und aus dem Lateinischen resurgere,
’wieder aufstehen, sich wieder aufrichten’ abgeleitet (vgl. Hermann, 1982, S. 417). In der Psychologie werden Fähigkeiten,
Charaktereigenschaften oder eine geistige Haltung, in der Soziologie Bildung, Gesundheit, Beziehungen und Prestige als Ressource bezeichnet (vgl.http://de.wiktionary).
Durch die Abnahme der Körperkräfte und manchmal auch der
kognitiven Fähigkeiten, steht der alte Mensch vor der Herausforderung, sich auch in Bezug auf seine Ressourcen neu zu orientieren. Die natürlichen Themen des Alterns verlangen von ihm, Wege und Quellen zu entdecken, mit denen er seine Bedürfnisse befriedigen kann.
Positive Einstellungen, Wahrnehmungsfähigkeiten, helfende Gedanken, gute Erinnerungen, freudige Erwartungen und Hoffnung,
motivierende Ziele und Wünsche sowie alle Stärken und Fähigkeiten der betroffenen Person gelten bei Grawe-Gerber (2011) als
Ressourcen.
Dialogisch gesehen stehen Bedürfnis und Ressource in einer
Wechselwirkung. Je besser ein Mensch Bedürfnis und Ressource
50
miteinander in Einklang bringen kann, desto mehr erhöht sich die
Zufriedenheit und das Empfinden von Lebensqualität. Weil Bedürfnis und Ressource eng miteinander verknüpft sind, werden in
der nachfolgenden Darstellung die Themen des alten Menschen
von beiden Seiten betrachtet.
Gesundheit
Fragt man alte Menschen nach einem Wunsch, dann sagen sie
häufig, sie wollen gesund sein. Was kann man aber unter Gesundheit verstehen? Gesundheit ist mehr, als keine Beschwerden,
Schmerzen oder sonstigen körperlichen Beeinträchtigungen zu
haben. Wer gesund ist, kann sich frei bewegen und für sich selbst
sorgen. Beweglich bleiben ist ein wirksames gesundheitsförderliches Mittel, das dem allgemeinen Wohlbefinden dient. In diesem
Sinn ist Gesundheit „[…] ein ständiger Balanceakt zwischen Körper, Geist und Psyche in einem behindernden oder stützenden
Umfeld“ (Theune, 2009, S. 12).
Wie bereits vorne beschrieben, ist Gesundheit etwas Relatives.
Das Gefühl, in Balance zu sein mit den vorhandenen Möglichkeiten und Wünschen, vermittelt Wohlsein und Gesundheit. Wenn es
dem alten Menschen gelingt, in diesem Balanceakt immer wieder
ein neues Gleichgewicht zu finden, liegt darin eine Ressource.
51
Krankheit
Die Fragen nach der Ressource im Zusammenhang mit Altersgebrechen und Krankheit könnten lauten: Wo finden und woher
nehmen Menschen die Kraft mit ihren Gebrechen, Schmerzen oder schwerer Krankheit umgehen zu können und damit zu leben?
Wenn auf diese Weise gefragt wird, kann Krankheit als eine Herausforderung für den Betroffenen und für die Umwelt aufgefasst
werden, die vielleicht eine Auseinandersetzung mit Spiritualität
initiiert oder Tugenden wie Geduld, Hoffnung, Zuversicht oder
Glaube zu stärken oder zu entwickeln vermag. (vgl. Frankl, 2003,
S. 126f.; Nager, 2006; Treichler, 2003, S. 393f).
Zeit
Der alte Mensch, der nicht mehr im funktionalen Leben eingebunden ist, hat ein anderes Empfinden und Verhältnis für Zeit als
der Berufstätige. Für den einen Menschen bedeutet Zeit haben
Langeweile, für den anderen Musse, die als sinnvoll ausgefüllte
Zeit erlebt wird. Zeit kann als geschenkte Lebenszeit empfunden
werden, gerade aus dem Bewusstsein heraus, dass sie in diesem
Leben begrenzt ist (Muthesius, 2010; Theune, 2009).
Menschen möchten ihre Zeit sinnvoll verbringen, das gilt auch für
den alten Menschen. Wenn er zum Beispiel mit seinem kleinen
Enkel unterwegs ist, der sich ähnlich langsam bewegt wie er,
dann ist das Zeithaben eine Ressource für beide.
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Wenn der Mensch sich mit etwas beschäftigen kann, was ihn erfüllt oder erfreut, empfindet er die Zeit als sinnvoll genutzt. Für
den alten Menschen im Altersheim kann die Zeit, die er mit einem
anderen Menschen verbringt, eine Ressource bedeuten, wenn er
Anteilnahme und Interesse bekommt oder etwas Neues von ’Aussen’ erfährt.
Trauer
Es gibt verschiedene Gründe, die bei alten Menschen zur Traurigkeit führen können. Im Alter geht es um Abschiednehmen von
Wünschen, die nicht mehr realisierbar sind und um das Abschiednehmen von Mitmenschen durch Tod. Das sind traurige Momente, die vielleicht ähnlich wie Geburtswehen nötig sind, um auf den
eigenen Tod vorbereitet zu werden.
Manche alte Menschen haben das Gefühl nutzlos zu sein und von
der Gesellschaft nicht mehr gebraucht zu werden, nachdem sie
aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Sie in ihrer Trauer um
verlorene Fähigkeiten oder verlorenes Ansehen ernst zu nehmen
und sie so zu begleiten, dass sie sich angenommen fühlen, kann
hilfreich sein. Genau so hilfreich kann die gemeinsame Suche
nach den noch vorhandenen Kräften und die Unterstützung beim
Umsetzen dieser Kräfte erlebt werden. Dann „[...] kann jeder Tag
neue Zuversicht und Freude bringen und gleichzeitig das Lebensgefühl, sich selbst trotz aller Veränderungen und Einschränkungen zu mögen“ (Theune, 2009, S. 6).
53
Wichtig bei der Trauer ist die Grundhaltung, dass traurig sein eine
adäquate und passende Reaktion auf Verlusterlebnisse ist. Wenn
Menschen das Bedürfnis haben einen Verlust zu beklagen, und
Trauer zugelassen und bewusst verarbeitet wird, kann aus ihr eine
Kraft erwachsen, die befreit und löst.
Humor
„Der Humor darf nicht fehlen.“ Dieser Satz stammt von einer alten Frau, die im Rollstuhl in die Musiktherapie kommt. Diese
Frau sagt auch, dass sie manchmal wütend werde, wenn sie merke, was sie alles nicht mehr leisten könne.
Das Lachen, erst recht das gemeinsame Lachen, kann befreien,
sowohl körperlich als auch seelisch, denn es schafft Verbindung
zu sich selber und zum Mitmenschen.
Körperlich gesehen wird beim Lachen Endorphin, das so genannte Glückshormon ausgeschüttet. Ausserdem wird die Lunge beim
Lachen bis in die äussersten Lungenbläschen durchlüftet. Durch
das Lachen wird das Zwerchfell bewegt und diese Bewegung weitet sich aus auf weitere Organe. Humor ist wie ein Fenster durch
das frische Luft hereinströmt, wenn man es öffnet (Bopp-Kistler,
2011 a).
Koob (vgl. 1984, S. 164) meint, dass Humorlosigkeit hingegen
lähmend und kränkend wirken kann. Humor ist Ausdruck einer
geistigen Wachheit. Wer Humor hat, kann Dinge im Leben in un-
54
gewöhnliche Zusammenhänge bringen. Dadurch kann Humor helfen, auch in einem Leben mit Einschränkungen Sinn zu sehen.
„Humor ist, wenn man trotzdem lacht.“ Diese volkstümliche Charakterisierung trifft mit dem Wörtchen ’trotzdem’ den Kern. Es
geht um versöhnliche Heiterkeit in dieser Welt, trotz all ihrer Widersprüche und Unvollkommenheiten.
Lebenserfahrung
Ein alter Mensch hat einen reichen Schatz an Berufs- und Lebenserfahrungen. Diese Erinnerungen können sowohl für den alten Menschen belebende Ressourcen sein, als auch für jüngere,
die nachfragen. Wenn der alte Mensch durch das Erzählen seiner
Erlebnisse und Erfahrungen Wertschätzung und Anerkennung erfährt, weil die Zuhörer durch diese lebendige und persönliche
Zeitgeschichte Anregungen bekommen und neue Zusammenhänge erfahren, werden sowohl Erzähler wie Zuhörer bereichert.
Wenn sich der alte Mensch gefragt fühlt, stärkt das sein Selbstwertgefühl.
Traumatische Lebenserfahrungen sind grosse Verletzungen der
Grundbedürfnisse. Wenn frühe Traumatas nicht verarbeitet werden konnten, können sie im Alter oft weniger gut verdrängt oder
in Schach gehalten werden. Traumatas können die Empfindlichkeit des alten Menschen massiv beeinträchtigen. Es muss sorgfältig abgewogen werden, wann es sinnvoll ist diese Erlebnisse aktiv
zu bearbeiten und wann nicht. Die Entscheidung hängt unter an-
55
derem davon ab, ob der alte Mensch stabil genug ist, sich mit den
schlechten Erfahrungen zu konfrontieren oder nicht. Nicht immer
ist es bei alten Menschen sinnvoll, diese Erfahrung aufleben zu
lassen. Oft hilft es ihnen mehr, wenn man ihre Abwehr stärkt,
Auslösereize für das Trauma wenn möglich vermeidet und ihnen
positive Erlebnisse vermittelt (Riemann & Kleespies, 2005; Pally,
2011).
Sein im Hier und Jetzt
Alte Menschen haben oft ein anderes Zeitempfinden. Es gibt solche, welche reges Interesse zeigen am gegenwärtigen Geschehen
und daran Anteil nehmen. Andere leben mehr in der Vergangenheit und möchten ihr Leben ordnen. Demente Menschen, die kein
Zeitempfinden mehr haben, sind für ihre Mitmenschen eine Herausforderung, ungewohnte Wege zu gehen.
Damit die Kommunikation mit einem demenzkranken Menschen
gelingt, müssen
Betreuende einen völlig neuen Umgang des
Handelns in der Gegenwart lernen. Mimik, Stimmlage, die Art
und das Tempo des Sprechens und Berührungen werden oft bedeutsamer als das gesprochene Wort (vgl. Held, 2006, S. 13ff). Es
gilt ganz im Hier und Jetzt zu leben. Um den Augenblick zu erfassen braucht es Geistesgegenwart. Eine besonders herausfordernde Konstellation stellt die Beziehung zu den eigenen alt werdenden Eltern dar. Geiger (2011, S. 10f.) beschreibt wie er gelernt
hat, sich auf seinen dementen Vater einzustellen: „Am Anfang
56
waren diese Anpassungsmassnahmen schmerzhaft und kräftezehrend. Weil man als Kind seine Eltern für stark hält und glaubt,
dass sie den Zumutungen des Lebens standhaft entgegentreten
[…] Doch mittlerweile habe ich in die neue Rolle einigermassen
gut hineingefunden. Und ich habe auch gelernt, dass man für das
Leben eines an Demenz erkrankten Menschen neue Maßstäbe
braucht.“
Würde
Das Gefühl des eigenen Wertes wird dadurch gestärkt, wenn der
alte Mensch das tun kann, was er selber für sich als wertvoll erachtet. Wenn nicht mehr Wissen und Verstehen im Vordergrund
stehen, werden innere und allgemein menschliche Werte, wie die
Würde, wichtiger. Treichler (2003, S. 393) sagt: „Die Würde des
Menschen sitzt nicht im Kopf und nicht in den Händen. Sie liegt
in seinem Menschsein begründet. [...] und wir sind als Mitmenschen aufgerufen, diesem Menschsein, so behindert und beschränkt es uns auch erscheinen mag, mit der gleichen Achtung
vor seiner Würde entgegenzutreten.“ Für eine Umwelt, die intellektuelle Leistungsfähigkeit, Selbstbestimmung, Orientierungsvermögen und Durchsetzungskraft fördert und fordert, bedeutet
das Altwerden und insbesondere die Demenz eine Herausforderung an die Idealvorstellung der Selbständigkeit. Das Gefühl der
Würde wird dadurch gefördert, dass man dem alten Menschen
57
achtungsvoll begegnet, auch wenn zum Beispiel durch Inkontinenz peinliche Situationen entstehen.
Sinn
Das Leben erscheint am Lebensabend fast in seiner ganzen Länge. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass das lateinische Wort ’finis’ zwei Bedeutungen hat: Ende und Ziel. „Ein
Mensch der nicht das Ende einer (provisorischen) Daseinsform
abzusehen imstande ist, vermag auch nicht, auf ein Ziel hin zu leben“ (Frankl, 2003, S. 115).
In anderen Worten drückt dies eine neunundachtzig jährige Frau
in einer Lebensrückschau aus.
„ Es liegt schon Vieles an einem selber, wie man etwas macht oder wie man mit etwas umgeht. Aber man hat nicht alles im Griff.
Das Schicksal hat auch seine Finger im Spiel. Aber eigentlich hätte ich es, trotz dem Schweren, nicht anders haben wollen. So bin
ich ganz zufrieden.“ Auf die Frage, wie sie dem jetzigen Leben
Sinn gebe, antwortete sie: „Ich habe den Glauben und der gibt mir
Kraft. Ich glaube, dass ich nicht zufällig dieses Schicksal habe.“
Es gibt verschiedene Aspekte, die dazu führen, dass Menschen ihr
Leben als sinnvoll empfinden: Wenn sie Lebensziele haben, ihr
Leben von festen Wertevorstellungen geprägt wird, sie das Gefühl
58
haben, ihr Leben kontrollieren zu können, oder wenn sie sich
selbst als wertvoll und wichtig erleben (vgl. Theune, 2009, S. 7).
Sinnfragen rufen nach einer inneren Tätigkeit. Sinn findet man
nicht einfach, er muss erarbeitet werden. Eigeninitiative ist nötig,
damit Menschen in Krisenzeiten ihrem Leben Sinn abgewinnen,
und daraus Lebensenergie schöpfen können. Dadurch wird der
Selbstwert genährt, und die Möglichkeit an einem sozialen Netz
teilzuhaben, gestärkt. Menschen, die ihrem Leben einen Sinn geben können, finden sich im Alltag besser zurecht (vgl. Frankl,
2003, S. 124f.).
59
2.7 Zusammenfassung
Gesundheit, Vitalität und Kreativität gehören zum letzten Lebensabschnitt wie sie zu früheren Lebensabschnitten gehören. Demografisch gesehen gibt es mehr alte Menschen und dadurch gibt es
mehr alte kranke Menschen. Der Abbau von Kräften und Fertigkeiten ist im hohen Alter ein natürlicher Prozess. Wenn es dem
Menschen gelingt, den Alterungsprozess als Herausforderung anzunehmen und neue Strategien und Einstellungen zur Lebensbewältigung zu entwickeln, ist es möglich, nicht in einem allgegenwärtigen Gefühl des Defizits zu leben, sondern in hohem Mass
selbständig, offen und interessiert zu bleiben.
Es gibt aber auch alte Menschen, die krank werden und auf fremde Hilfe angewiesen sind. Typische Alterskrankheiten sind: Demenz, Altersdepression und Alterswahn. Das Leben mit schwer
erkrankten Menschen ist besonders für die nächsten Angehörigen
und die Umwelt eine Herausforderung.
Es gibt verschiedene Alterstheorien, die je nach ihrem Fokus, andere Interessen vertreten. Neben der persönlichen Einstellung gegenüber dem Altern, hat auch die gesellschaftliche Meinung einen
entscheidenden Einfluss auf das Wohlbefinden des alten Menschen.
Alte Menschen beschäftigen sich im Hinblick auf die Endlichkeit
des Lebens und die Abnahme ihrer Kräfte mit Themen, die speziell ihre Altersgruppe betreffen: Freiheit und Abhängigkeit, Ein60
samkeit und Gemeinschaft, Spiritualität und Materialismus, Leben und Sterben. Hinter diesen Themen steht vielfach die Frage
nach dem Sinn des Lebens.
Eng mit den jeweiligen Themen, die einen alten Menschen beschäftigen, scheint seine Befindlichkeit zusammenzuhängen. Besondere Befindlichkeiten mit denen sich Senioren auseinander
setzen müssen sind, Schmerz und Lust, Resignation und Erfüllung, Freude und Trauer, Hoffnung und Sorge.
Die Themen des alten Menschen, seine Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Ressourcenmöglichkeiten beeinflussen sein Lebensgefühl. Sie stehen in Wechselwirkungen zueinander und werden
gleichzeitig vom Zusammenspiel des alten Menschen mit seiner
Mit- und Umwelt beeinflusst.
Gesund sein, humorvoll sein, Zeit haben, Kontakt pflegen, Wertschätzung erleben, Sinn finden und vieles mehr, sind Grundbedürfnisse des Menschen. Bedürfnisse sind ein starker Motivator,
etwas in Bewegung zu bringen. Um Bedürfnisse befriedigen zu
können, müssen oft verschiedene Ressourcen gefunden und bereitgestellt werden. Für Betreuende, Pflegende und Therapeuten
kann es herausfordernd sein, herauszufinden welche Ressourcen
den Senioren und Seniorinnen zur Verfügung stehen, welche Talente und Fähigkeiten sie haben, und welche Interessen und Wünsche sie motivieren. Wenn sich Begleiter auf den alten Menschen
einlassen können, wird es auch für sie möglich, Quellen zu fin-
61
den, durch die sie bereichert werden und die ihre Kreativität fördern.
Der alte Mensch besitzt meist noch etliche Ressourcen. Auch im
hohen Alter bleibt der Mensch wandlungs- und entwicklungsfähig.
Im physischen Bereich besteht die Fähigkeit, sich von Schwächen
oder Krankheiten erholen zu können.
Im sozialen Bereich sind Lebenserfahrungen, Kenntnisse, Erinnerungen, Talente, Neigungen sowie Stärken und Schwächen des
alten Menschen Quellen, aus denen er Nutzen ziehen kann. Sie
können aber auch den begleitenden Mitmenschen helfen oder sogar bei ihnen Ressourcen zu Tage fördern.
62
3 Psychosoziale Begleitung von alten Menschen
mit Musik
Durch die gestiegene Lebenserwartung und die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen in Richtung Effizienz, gesteigertes
Tempo und elektronische Hilfsmittel für den Alltag, wird das
Altwerden, mit den dazugehörenden körperlichen Schwächen, zu
einem höchst anspruchsvollen Veränderungsprozess. Mit der steigenden Lebenserwartung wächst auch die Nachfrage älterer Menschen nach befriedigenden, erfüllenden Aktivitäten und sozialen
Kontakten.
Es gibt verschiedene psychosoziale Angebote, deren Anliegen es
ist, den alten Menschen auf seinem persönlichen Weg zu begleiten und ihm zu helfen mit den Anforderungen dieses Lebensabschnittes gut umzugehen. Seine eigenen Ressourcen geben dabei
die Richtung und die Dynamik an, wie dieser Weg gegangen werden kann.
Im Zusammenhang mit Musik können Senioren und Seniorinnen
zum Beispiel den Wunsch äussern, ein Instrument zu lernen oder
wiederaufzunehmen oder sie möchten sich vertieft mit Musikwerken auseinandersetzen, diese mit anderen hören und diskutieren
(vgl. Bennett, 2011, S. 25).
Die gegenwärtige Generation alter Menschen verfügt über ein
gemeinsam bekanntes Liedgut. Rhythmen, Klänge, Melodien und
Liedtexte haben sich ins Gedächtnis eingeprägt. Beim Hören ver63
trauter Musik oder beim Singen von Liedern tauchen Erinnerungen, innere Bilder und damit verbundene Gefühle auf. „Singen,
aktives Musizieren und assoziations- und erinnerunsstimulierendes Musikhören helfen, das Selbstvertrauen sowie die Kommunikations- und Kontaktfähigkeit zu stärken und damit einer Isolation und Vereinsamung entgegenzuwirken“ (Tüpker & Wickel,
2009, S. 9).
In diesem Sinn kann Musik im Rahmen der psychosozialen
Betreuung alter Menschen eine wichtige Rolle spielen. Sowohl
musikgeragogische als auch musiktherapeutische Angebote knüpfen hier an.
In den folgenden Kapiteln wird Musikgeragogik kurz skizziert
bevor Aspekte der Musiktherapie ausführlicher erläutert werden.
Abschliessend werden beide als benachbarte Fachdisziplinen einander gegenübergestellt.
3.1 Musikgeragogik
Musikgeraogik (vgl. Tüpker et al., 2009 a, S. 9) ist eine neue
Fachdisziplin im Schnittfeld von Musikpädagogik und Geragogik.
Sie beschäftigt sich mit musikbezogenen Vermittlungs- und Aneignungsprozessen sowie musikalischer Bildung im Alter. Mit
dem Begriff Geragogik soll deutlich werden, dass es einer eigenen geeigneten Unterrichtsmethode für eine musikalische Bildungsarbeit im Alter bedarf, und dass der lernende ältere Mensch
nicht wie ein verspätet zum Unterricht erscheinendes Kind be64
handelt werden soll. Betont wird in diesem Zusammenhang, vor
allem unter dem Einfluss der neueren Erkenntnisse der Gehirnforschung und der Neuropsychologie, die ganzheitliche gesundheitliche Förderung durch das Spielen eines Instruments, das Singen
von Liedern, das gemeinsame Hören von komponierter Musik mit
nachfolgendem Austausch. Sehr wichtig ist dabei das Erleben von
Freude und Selbstkompetenz.
3.2 Musiktherapie
Musiktherapie wirkt auf verschiedenen Ebenen. Sie wirkt auf den
Körper, sie bewegt geistig und emotional. Damit erreicht sie
Schichten im Menschen, die auf einer rein sprachlichen Ebene
nicht erfassbar sind. Frühkindliches vorverbales Geschehen, kognitiv nicht mehr fassbares Geschehen, beispielsweise traumatische
Erfahrungen, aber auch lange zurückliegende Erlebnisse können
mit Musik erreicht und symbolisch ausgedrückt und bearbeitet
werden.
Musiktherapie als Ressource verstanden, knüpft an vorhandene
Fähigkeiten eines Menschen an und aktiviert sie. Der Musiktherapeut orientiert sich an den aktuellen Bedürfnissen des Menschen,
nimmt ihn ernst, hilft und ermutigt und fördert den musikalischen
Ausdruck in einer geschützten Atmosphäre. Die Musik bereitet
oft Freude, kann jedoch auch an einen Schmerz heranführen und
einen erträglichen Umgang mit ihm vermitteln.
Die Therapieziele und das Was der therapeutischen Veränderung
65
werden eher unter der Problemperspektive bestimmt; für die Art
und Weise, wie die therapeutischen Veränderungen herbeigeführt
werden, ist der Ressourcenaspekt wichtiger als der Problemaspekt
(Grawe & Grawe-Gerber, 1999).
Die Musiktherapie bietet Möglichkeiten über die Kombination
von verbalen, nonverbalen und kreativen Handlungsansätzen, wie
beispielsweise die Improvisation, zu
neuen Problemlösungsstrategien und zu einer besseren Nutzung
von Ressourcen und Potentialen zu finden (vgl. Müller, 1998, S.
68.; Tüpker et al., 2009 a, S. 96f.). Der Therapeut unterstützt den
Klienten in diesem Prozess und er begleitet das musikalische Geschehen indem er zum Gegenüber auf der Beziehungsebene wird.
Musiktherapie mit alten Menschen kann verschiedene Aspekte
beinhalten: Ihnen Raum geben für Erinnerungen und den damit
verbundenen Emotionen, diese im Gespräch und im Nachsinnen
über ihr Leben wieder lebendig werden lassen und / oder aktuelle
Themen bearbeiten wie beispielsweise Erkundung von Neuem,
Erhaltung der Fähigkeiten, Verbesserung der Koordination, Verarbeitung von Emotionen, Förderung der Beweglichkeit und vieles mehr.
Eine Behandlung mit Musik ist besonders bei den Menschen angezeigt, die nur noch wenige sprachliche Fähigkeiten haben. Die
Musik eröffnet eine Kommunikationsebene jenseits von Denken
und verbalen Fähigkeiten. Musik kann alte Menschen erreichen,
die vor Einsamkeit, Krankheit oder Resignation verstummt sind.
66
In der Musiktherapie soll der alte Mensch durch ihm entsprechende Interventionen erfahren, dass er kompetent ist, sich orientieren
kann und etwas Kunstvolles zustande bringt (vgl. Muthesius,
2010, S. 45 ff.; Müller, 1998, S. 21ff.; Timmermann, 2008, S.
278f.; Tüpker & Keller, 2009, S. 341ff.).
Bei Demenzpatienten wird das seelische Erleben unter dem Einfluss des hirnorganischen Abbauprozesses gesehen und die daraus
entstandene Not, Verzweiflung und Verwirrung therapeutisch mit
Hilfe der Musik gelindert (vgl. Tüpker et al., 2009 a, S. 97).
Im hohen Alter ist bei Pflegebedürftigkeit manchmal ein Umzug
ins Pflegeheim notwendig. Musiktherapie kann bei einem solchen
Übergang dem Patienten helfen das Einleben in die neue Situation
zu erleichtern (vgl. Müller, ebd.).
Musiktherapie kann auch Vorbereitung auf das Sterben beinhalten
und in konkrete Sterbebegleitung übergehen (Munro, 1986).
In der Musiktherapie werden zwei verschiedene Settingsmöglichkeiten unterschieden. Es sind dies: Einzelmusiktherapie und Musiktherapie in der Gruppe. Ebenso gibt es in allen zwei verschiedene Vorgehensweisen. Es sind dies: Aktive Musiktherapie (singen, spielen, bewegen, improvisieren) und rezeptive Musiktherapie (Musik hören).
Nachfolgend werden grundlegende Aspekte der Musiktherapie
näher ausgeführt. Es sind dies: Musikverständnis, Instrumentarium, therapeutische Haltung und -Beziehung, therapeutisches
Handeln und Ziele der Musiktherapie.
67
Musikverständnis
Musik in der Musiktherapie wird in einem weit gefassten Sinn
verstanden. Es wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass Musik eine Artikulation menschlichen Erlebens ist und somit subjektive Bedeutung hat, unabhängig davon, ob aktiv Klänge produziert werden oder ob Musik rezeptiv aufgenommen wird. Musik
dient als Medium, welches den psychodynamischen Prozess, der
oft durch Worte schwierig fassbar ist, durch die klanglichen
Schwingungs-Übertragungen hörbar macht und eine Verbindung
zwischen Aussen und Innen, zwischen Ich und Du oder zwischen
mikrokosmischem
Organismus und makrokosmischer Umwelt
herzustellen vermag (vgl. Hegi-Portmann, Lutz Hochreutener &
Rüdisüli-Voerkel, 2006, S. 22f.).
Wenn die verbale Verständigung schwierig wird, z.B. bei schwerer Demenz, wird die nonverbale Kommunikation zunehmend
wichtiger. Die Musiktherapeutin achtet beispielsweise auf den
Atemrhythmus eines Patienten, nimmt ihn musikalisch auf, begleitet und unterstützt ihn mit Gesang oder einem Instrument. Dabei wird Musik als Diagnose, als Wirkkraft und als Ausdruck des
Verstehens eingesetzt. Die Verbindung stiftende Möglichkeit der
Musik auf nonverbaler Ebene spielt bei alten Menschen, die einen
Schlaganfall erlitten oder an einer Demenz erkrankt sind, eine
grosse Rolle für eine gelingende Therapie.
68
In der Geriatrie wird der besondere Nutzen von Musik insbesondere in der Anregung zur nonverbalen Kommunikation und zur
Kreativität gesehen (Tüpker et al., 2009 a).
Hegi (1997 unterscheidet fünf Komponenten der Musik. Es sind
dies: Klang, Rhythmus, Melodie, Dynamik und Form. Die Wirkungs-Komponenten sind für Hegi Analogien für die Art zu denken, zu fühlen und zu handeln. Musikalisch gesprochen kann ein
Mensch eher klangbezogen oder rhythmusorientiert sein, für einen anderen steht eher die Melodie oder die Dynamik im Vordergrund, wieder ein anderer wirkt beispielsweise im musikalischen
Ausdruck formlos oder erscheint formfixiert. Auf Grund des gespielten Ausdrucks lässt sich laut Hegi schliessen, welcher Wirkungsbereich zum Tragen kommt und welche Thematik im Vordergrund steht, wie ein Mensch bezüglich seiner individuellen,
sozialen und kulturellen Wirklichkeiten denkt, fühlt und handelt.
Im Therapieprozess kann der Umgang mit den musikalischen
Komponenten auf zweierlei Arten geschehen. Einerseits können
die Komponenten methodisch Aufschluss geben für die psychodynamische Diagnosestellung, andererseits können sie therapeutisch- entwicklungspsychologisch genutzt werden (Hegi, 1998).
Das Leben alter Menschen wird meist langsamer und stiller. In
der Musiktherapie mit alten Menschen kann Stille, methodisch
angewendet, ein Tor zur Spiritualität öffnen. So wie Emotionen
zeitlos sind, ist auch Kunst zeitlos. Die musikalische Kunst verbindet den Menschen mit dem zeitlos Ewigen und kann dadurch
69
ein Tor zur Spiritualität werden (vgl. Reinhold, 1996, S. 10f.; Bissegger, 2001, S. 357ff.). Lutz Hochreutener (2009, S. 143) meint:
„Stille und Musik sind eng miteinander verbunden. Musik wächst
aus der Stille, erhält ihre Spannkraft mit durch Stille und kann zu
innerer Stille hinführen“. Damit sich das Ureigene für Entwicklung und Wandlung Notwendige entfalten kann, braucht es Stille.
In der Musiktherapie ist die Musik das Dritte, das Verbindende,
zwischen dem Menschen und dem Therapeuten. Sie hat in sich
die Anlage den Menschen anzuregen und ihn emotional zu bewegen. Die Musik als Kunst ist überpersönlich. In dieser Funktion
(vgl. Lorz-Zitzmann, 2009, S. 67) lässt die Musik zu intensive
Nähe vermeiden, verhindert aber auch zu grosse Distanz.
Instrumentarium
Die Musikinstrumente stellen einen wesentlichen Aspekt des therapeutischen Settings dar. Die Vielfalt der Instrumente soll neugierig machen, Spielfreude wecken, und den Menschen ermöglichen, sich durch Rhythmen und Klänge auszudrücken (DeckerVoigt, 2008, S.47ff.). Für alte Menschen, die körperlich geschwächt sind, eignen sich leichte und handliche Instrumente. Für
Menschen mit schwerer Demenz, welche die Instrumente auch
mit dem Mund erkunden, sind Instrumente aus Plastik geeignet
oder solche, die leicht zu reinigen sind. Neben den Instrumenten
sind bei alten Menschen auch der Plattenspieler und der CDPlayer als Musikvermittler beliebt.
70
Therapeutische Beziehung und -Haltung
In der psychodynamisch orientierten Musiktherapie spielen die
therapeutische Beziehung auf der Basis von Empathie und Achtung und der wechselseitige Dialog eine zentrale Rolle. „Als Empathie wird jene Form des Eindenkens und Einfühlens in einen
anderen Partner bezeichnet, bei der sich der Empathische zugleich
seiner eigenen Identität als eine andere Person bewusst bleibt.
Empathie ist in der Psychotherapie eine der Voraussetzungen für
gegenseitiges Verstehen“ (Eschen, 2006, S. 122).
Die therapeutische Haltung basiert auf dem Menschenbild des
Therapeuten. Das hier verwendete Menschenbild betrachtet den
Menschen auch im hohen Alter als entwicklungsfähig bis zu seinem Tod. Obwohl oder gerade weil die Körperkräfte im Alter abnehmen, stehen das geistige- und spirituelle Wachstum im Zentrum. Erinnerungen und die eigene Geschichte wollen geordnet
und in einen Sinnzusammenhang gebracht werden. Erikson
(1982) bezeichnet den letzten Lebensabschnitt als Zeit der Reife,
in der die Ich-Integration gegen die Verzweiflung steht (siehe
Kap.1).
Warme meint, (vgl. 2007, S. 331) dass anders als bei Kindern, bei
denen es gelte die Beziehungsfähigkeit zu entwickeln, es bei alten
Menschen Aufgabe der Musiktherapie sei, die Beziehungsfähigkeit zu beleben und einen Abbau- Aufarbeitungsprozess zu begleiten.
71
Demente Menschen leben im unmittelbaren Sein ihrer Gefühle
und Impulse. Emotionale Impulse des Menschen sind zeitlos. Erinnerungen aus jungen Jahren werden im Alter oft lebendig und
bedeutsam.
In der musiktherapeutischen Begleitung von alten Menschen geht
es darum, offen zu sein für das Werdende in ihnen. In jedem Lebensalter, ob jung oder alt, geht das Lebendige Metamorphosen
ein. Es verwandelt sich immer neu. Das Leben besteht aus vielen
verschiedenen und sich widersprechenden Wirklichkeiten. Der
alte Mensch möchte zum Beispiel leben und gleichzeitig ist ihm
bewusst, dass der Tod näher rückt. Gegensätze erzeugen Spannung. Eine Therapie wird als hilfreich empfunden, wenn es gelingt das sich Widersprechende durch einen Dialog in eine gute
Ordnung zu bringen und die Spannungsenergie in konstruktive
Bahnen zu lenken. Wenn die verschiedenen Wirklichkeiten im
therapeutischen Prozess verbal oder musikalisch zueinander in
Beziehung gebracht werden können, dann verdeutlicht sich die
Unterschiedlichkeit, und das Widersprüchliche wird ausgedrückt
und bekommt eine Form. Dadurch kann aus der Widersprüchlichkeit der Horizont erweitert werden und eine grössere Vollständigkeit wachsen.
Es ist Aufgabe der Therapeutin herauszufinden, wie das Gegenüber angesprochen werden muss, damit es mitschwingen kann.
„Auf gleicher Wellenlänge zu sein bedeutet für mich eine grundlegende (das heisst: allem zugrunde liegende) nicht-stoffliche
72
„Herzensverbindung“ zueinander. Resonanz ist sozusagen eine
Grundschwingung von Verbundenheit, eine „energetische Ergriffenheit, die uns erfasst“ (Gindl, 2002, S. 68).
Therapeutisches Handeln
Die Behandlungsmethoden richten sich nach der emotionalen Befindlichkeit des Menschen im Hier und Jetzt des therapeutischen
Prozesses. Der Therapeut versucht mit musikalischen Mitteln diesen Prozess anzuregen und zu fördern um Persönlichkeitsentwicklung zu ermöglichen. Ihn interessiert die individuelle Psychodynamik des Geschehens und die Richtung des seelischen Prozesses.
Er begleitet und unterstützt die Menschen in diesem Prozess. Anders ausgedrückt: „Der Therapeut achtet auf die emotionale Qualität des individuellen Erlebens bei seinem Patienten während des
Musikhörens oder der Improvisation. Er nimmt dies als Grundlage, um mit dem Patienten dessen Biographie zu verstehen und
krankmachende Erlebnisse zu bearbeiten“ (Nöcker-Ribaupierre
2002, S. 33).
Entscheidend für eine gelingende Therapie ist, dass der Klient bereit ist sich auf sein aktuelles Thema einzulassen und daran zu arbeiten. Dies kann im musikalischen Dialog, im Phantasiespiel, in
der Bewegung nach Musik oder im Gespräch geschehen, je nachdem, welche Intervention dem Patienten eine Bearbeitung am ehesten ermöglich.
73
Der Therapeut hat die Absicht seinen Klienten zu stärken, sei es
bei der Verarbeitung der Vergangenheit oder beim Erarbeiten von
Zukünftigem. Dabei ist die Musik das Medium, welches die Seele
bewegt und gleichzeitig aufzeigen kann, wie und in welche Richtung sie sich bewegt. Bereits durch das Spiel während der freien
Improvisation, kann durch den künstlerisch- musischen Prozess
Veränderung und Heilung in Gang kommen. In der psychodynamisch orientierten Musiktherapie gilt die musikalische Improvisation als ideales Medium, weil sie hilft Beziehung aufzunehmen,
Beziehung zu gestalten und sich persönlich auszudrücken (vgl.
Hegi, 1997; Lutz Hochreutener, 2009; Weymann, 2009, S.
190ff.). Dabei ermöglicht sie dem Therapeuten durch die freie
Gestaltbarkeit mit dem Patienten mitzuschwingen, und damit jenseits von Worten Kontakt anzubieten und Entwicklungsprozesse
anzuregen (vgl. Hegi-Portmann et al., 2006, S. 63).
In der Therapie mit alten Menschen geht es um das Anschauen,
Aussprechen und Anhören verschiedener Lebensbereiche, die ihnen wichtig sind. Mit dem Wissen, dass ein Leben nicht umso
besser ist, je weniger Probleme man hat, sondern je offener und
fantasievoller man mit Problemen umgeht, macht die Therapeutin
bei Bedarf auf Verdrängtes aufmerksam, spricht Schwierigkeiten
an und bietet ein Bearbeiten mit musikalischen und sprachlichen
Mitteln an.
Manchmal gibt es für den alten Menschen Unsagbares, sei es weil
er durch Aphasie nicht sprechen kann, weil er Gedächtnislücken
74
hat oder weil ihn das Aussprechen bestimmter Erinnerungen zu
sehr schmerzt. Wenn es der Therapeutin gelingt, das Gemeinte
oder Gefühlte treffend in Sprache, Musik oder wie im folgenden
Beispiel mit einem Bild aufzunehmen und auszudrücken, kann
sich der alte Mensch erleichtert und weniger allein fühlen.
Frau Giorno versuchte in mehreren vorangehenden Sitzungen das
Ave Maria zu erinnern und zu singen. Es gelang ihr jeweils nur
die erste Zeile: Ave Maria, dominus te... Dann wusste sie nicht
mehr weiter.
Frau Giorno wuchs als Bauerntochter in Italien auf und hatte eine
Zwillingsschwester, die sehr jung ins Kloster eintrat. Das Ave
Maria wurde in Frau Giornos Kindheit oft gesungen. Für die hier
beschriebene Therapiestunde bereitete ich verschiedene Kompositionen des Ave Maria vor und brachte das Bild „Die Verkündigung“ von Fra Angelico mit.
Zu Beginn der Stunde erzählte Frau Giorno, wie es dazu kam,
dass sie in Deutschland unfreiwillig als Hilfskraft im KZ Mauthausen interniert wurde. Als schulentlassenes Mädchen reiste sie
kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges nach Deutschland,
um Arbeit zu suchen. Dies wurde ihr zum Verhängnis, da sie, statt
Arbeit zu erhalten, als Hilfskraft im KZ interniert wurde.
Nachdem ich mit Frau Giorno das Bild betrachtete und die gleiche Haltung erprobte, wie die beiden Figuren auf dem Bild sie
einnehmen, die Arme verschränkt, ergab sich folgendes Gespräch.
75
T: Ich glaube, die Maria war ja einmal ganz jung; So jung, wie
Sie einmal waren.
Fr. G: Ja, ja. Die war schon jung.
T: Und dann sass sie ganz allein in ihrem Kämmerlein und dachte: „Was ist wohl mit mir? Bin ich wohl eine gute Frau, oder was
habe ich wohl für ein Schicksal?
Fr. G: Was ist ihr Glaube? Sie musste das herausfinden.
T: Genau.
Fr. G: Sie musste das herausfinden, weil sie vom andern gefragt
wurde. Sie musste antworten!
T: Richtig.
Fr. G: Wie und was. Sie musste viel wissen. Aber sie musste wissen, was sie als Person weiss. Nicht andere fragen. Sie selber
musste herausfinden, wie meint sie das, wie meint sie dies? Sie
musste antworten.
T: Jawohl.
Fr. G: Das ging natürlich schon ein bisschen lang. Das brauchte
schon ein wenig Zeit.
T: Ja, sie brauchte viel Zeit und viel Stille und Ruhe.
Fr. G: Ja, dass sie versteht und sich auf sich selber konzentrieren
kann.
T: Und dann, als sie die Ruhe, die Stille und die viele Zeit hatte,
konnte sie innerlich eine Antwort finden auf ihre Fragen.
Fr. G: Ja, dann kommen sie einem schon in den Sinn, wenn sie
einmal alleine sind. Dann können sie herausfinden, was soll ich
76
sagen; Wie soll ich das machen, mit den Personen mit denen ich
Kontakt habe? Wie soll ich das anstellen? So schnell kommt einem das nicht in den Sinn! Manchmal braucht es eine ganze
Nacht und einen ganzen Tag.
T: So lang.
Fr. G: Ja, aber alleine müssen sie sein; Sonst wären sie nicht fertig
geworden.
T: Nein, sie musste sie in sich selber finden.
Fr. G: Ja, ja. Herausfinden. Das ist schon schwierig.
T: Darum hält sie sich auch so, damit sie gut bei sich selber sein
kann.
Fr. G: Ja, konzentrieren, was mache ich jetzt, wie soll ich es sagen, wie soll ich weiter machen.
In diesem Beispiel geht es um die schwierige, innere Entscheidungsfindung von Frau Giorno. Zu vermuten ist, dass sich Frau
Giorno mit dem Bild der jungen Maria identifiziert und sich an
ihre eigene folgenschwere Entscheidung erinnert, die sie in ihrer
Jugend traf. Wahrscheinlich fällte sie damals die Entscheidung
aus Abenteuerlust oder weil sie zu Hause keine Entwicklungsmöglichkeiten sah. Ihre Familie war arm. Aus heutiger Sicht, und
durch ihre Lebenserfahrungen geprägt, betont Frau Giorno in der
beschriebenen Therapiestunde, dass es wichtig ist, sich für Entscheidungen genügend Zeit zu nehmen und sich auf sich selbst zu
konzentrieren.
77
Damit ein solcher Prozess in Gang kommen kann, muss die Therapeutin einen Raum schaffen, in dem die Menschen Vertrauen
haben können, in dem sie Gehör finden und sich angenommen
fühlen.
Mit kranken alten Menschen verläuft der Austausch von Sprechen
und Zuhören und das Geben und Nehmen nicht immer in einem
ausgewogenen Hin und Her. Manchmal sind alte Menschen gefangen in ihrer Depression, oder sie haben Ängste die sie einengen. Einige haben Schmerzen, andere erzählen immer wieder das
Gleiche oder sind verstummt. In der Therapie mit dementen Menschen, die sich kaum oder gar nicht mehr verbal äussern können,
kann das Übertragungsgeschehen weiterhelfen, welches die unbewussten Gefühle miteinbezieht und ihnen musikalisch oder
sprachlich zu einem Ausdruck verhilft.
Ziele
Die Ziele der Musiktherapie richten sich nach den Möglichkeiten
und Bedürfnissen des alten Menschen.
Auf der Körperebene kann Musiktherapie schmerzlindernd wirken, den Atem beruhigen, die Muskeln entspannen und die Lebens- und Willenskräfte stärken.
Auf der Seelenebene stärkt sie die Empfindungs- und Erlebnisfähigkeit und ermöglicht das Durchleben und Neuanschauen von
verdrängten und verborgenen Gefühlen. Auch die Hoffnung wird
gestärkt und die Kreativität gefördert.
78
Auf der Ebene der Persönlichkeit geht es um die Stärkung des
Selbstwertgefühls und des Selbstvertrauens, damit eine Auseinandersetzung mit Fragen gewagt werden kann. Wandlungsimpulse
sollen geweckt und Wandlungswege musikalisch erprobt werden.
Es kann auch darum gehen, ein besseres Selbstverständnis zu bekommen, neue Zusammenhänge zu entdecken und Ideen zu entwickeln. Oft besteht im Alter der Wunsch, das eigene Leben
rückblickend zu ordnen und zu runden. Die Therapeutin ermutigt
ihre Klientin genau hinzusehen. Sie hilft durch Nachfragen oder
mittels musikalischer Umsetzung, das Gesagte zu verdeutlichen.
In der Gruppe können sich die Mitglieder durch das musikalische
Tun selber erfahren was sie mit ihren Handlungen bewirken, wie
die anderen auf sie reagieren und wie das Zusammenspiel klingt.
Das
Ziel
der
psychodynamisch
orientierten
Gruppen-
Musiktherapie ist es, dass sich die Menschen, durch das Spiel mit
Klang, Rhythmus und Melodie, in einer Gemeinschaft aufgehoben fühlen. Die Therapeutin schafft Raum, damit sich der Einzelne im gemeinsamen Klang als schöpferisch erleben, und dadurch
auch im Sozialen beweglicher werden kann. Das Singen von altbekannten Liedern soll Erinnerungen wecken und ein Gefühl der
Verbundenheit schaffen. Durch das Gespräch können Erfahrungen ausgetauscht, bearbeitet, verstanden und wertvolle Erkenntnisse gewonnen werden.
79
3.3 Musiktherapie und Musikgeragogik im Vergleich
In der Therapie geht es darum, den alten Menschen in seinen Bedürfnissen zu unterstützen und seine Kräfte zu stärken. Die Musik
wird als Quelle genutzt, welche helfen kann zu sich selbst zu
kommen, sich als ganzer Mensch zu fühlen, sich innerlich aufzurichten, selber wieder zu klingen und zu schwingen.
In der Geragogik geht es eher darum, in der Musik etwas zu lernen, einzuüben und Freude zu erleben. Der alte Mensch lernt vielleicht ein Instrument zu spielen oder ein Lied zu singen. Vielleicht möchte er in einem Chor mitsingen oder komponierte Musik hören und sich danach über den Inhalt austauschen.
Therapeutisch wird vorgegangen, wenn eine innere Frage betrachtet und geklärt werden soll, die dem alten Menschen nicht immer
bewusst ist die ihn aber plagt und in der er weiterkommen will.
Um den verschiedenen Bedürfnissen alter Menschen entsprechen
zu können, ist es sinnvoll therapeutische und geragogische Ansätze miteinander zu kombinieren.
So können in einer Musiktherapiestunde übungszentrierte, erlebniszentrierte und konfliktzentrierte Modalitäten abwechseln und
zueinander hinführen und ineinander übergehen, das heisst, die
Schwerpunkte der Vorgehensweisen können sich im Verlauf des
Therapieprozesses hin und her verschieben. Wichtig ist, dass der
Therapeutin bewusst wird, wann und mit welchem Ziel sie in einer bestimmten Modalität arbeitet (vgl. Lutz Hochreutnerer, 2009,
S. 118f.).
80
Herr Peter, ein achtundachtzig jähriger Mann, umschreibt Musiktherapie folgendermassen:
Herr Peter ist seit über dreissig Jahren fast blind. Vier Jahre lang
kam er einmal wöchentlich in die Musiktherapie. Anfänglich
meinte er, dass er nicht improvisieren könne. Erst nach vielen
Stunden des Kennenlernens und Ausprobierens verschiedener Instrumente fand er ’sein’ Instrument, auf dem das freie Musikspiel
möglich wurde. Die folgende Frage wurde Herrn Peter im Rahmen dieser Arbeit in einem Interview gestellt, das fünfzehn Monate nach seiner letzten Therapiestunde stattfand.
T:
Wie
könnten
Sie
den
Unterschied
zwischen
Musiktherapie und Musikstunde formulieren?
Hr. P.
Ja, bei der Musiktherapie wird ein grosser Teil von
unbewusster Wirkung erreicht. Die Töne, die
beim Spielen herauskommen, würde ich mit einem
Spiegelbild vergleichen. Man ist erstaunt, wie gut
was herausgekommen ist. Das ist wohltuend. Das ist
für meinen Begriff der Sinn der Therapie. Das
einfach Musizieren, tut nicht so ähnlich gut wie
etwas zu schaffen, eine
Variation zu machen, oder
auf eine schwarze statt auf eine weisse Taste zu
drücken, um zu schauen was kommt.... und es hat
etwas Kreatives dabei.
81
4 Methodik der Musiktherapie mit alten
Menschen
In dieser Arbeit wird als Hypothese davon ausgegangen, dass
Musik und Musiktherapie − wie in der entsprechenden Fachliteraur beschrieben − Senioren und Seniorinnen helfen, die Veränderungsprozesse des Alterns besser zu bewältigen und Zugänge zu
eigenen Ressourcen offen zu halten, respektive (wieder) zu öffnen
(Muthesius, 2010; Müller, 1998; Timmermann, 2008; Tüpker &
Keller, 2009; Tüpker & Wickel, 2009). Als Abgrenzung zu anderen Therapieverfahren stellt sich in diesem Zusammenhang die
Frage, mit welchen spezifischen Methoden Musiktherapie dem
alten Menschen Zugang zu seinen Ressourcen eröffnen kann, und
welche Funktionen die Musik dabei übernimmt?
Eine differenzierte Aufschlüsselung der Wirkfaktoren ist − wie in
jeder Therapie − nicht einfach, da spezifische und unspezifische
Wirkfaktoren im dialogischen Sinn in einem lebendigen Wechselspiel miteinander stehen: Aspekte der therapeutischen Haltung
und Beziehung sowie des Settings sind gleichermassen bedeutsam
wie die Wahl der Vorgehensweisen und die Gestaltung der Musik. Im Bewusstsein dieser Tatsache wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit das Augenmerk speziell auf letztere Aspekte gerichtet.
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Um den oben gestellten Fragen nachzugehen, wurden während
fünf Monaten im phänomenologischen Sinn Musiktherapiesitzungen anhand von Audioaufnahmen (Pocketrak 2G Yamaha) nach
einer definierten Vorlage protokolliert und qualitativ ausgewertet.
Insgesamt wurden 53 Therapiesitzungen von 11 Personen untersucht. Mit 9 Personen wurde im Einzelsetting gearbeitet, 2 Personen wurden in einer Zweiergruppe therapiert. Die alten Menschen besuchten während der Forschungsphase ein- bis zwölfmal
die Musiktherapie. Die Therapiesitzungen fanden in einem Pflegezentrum, in der Pflegeabteilung einer Altersresidenz, in einem
Altersheim, in der Privatwohnung einer alten Frau sowie ambulant in der freien Praxis statt. Die Therapeutin war auch die Untersucherin. Es handelt sich bei der Forschungsmethodik demnach
um teilnehmende Beobachtung.
In den folgenden Kapiteln werden zuerst die verschiedenen spezifischen Methoden beschrieben, die in den Sitzungen zur Anwendung gekommen sind und als Zweites die therapeutischen Funktionen beleuchtet, welche die Musik im therapeutischen Prozess
übernehmen kann. Die Ausführungen werden anhand von Musiktherapieszenen mit alten Menschen veranschaulicht.
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4.1 Musiktherapeutische Methoden
Die in der Musiktherapie verwendeten Methoden können als
praktische Mittel bezeichnet werden oder als Gefässe in denen
Bewährtes gespeichert wird. Sie sind Wege, die je nach therapeutischer Notwendigkeit und Ziel Neues mit Bekanntem verbinden
oder ergänzen können. Die Auswahl und die Anwendung der Methoden verlangen von der Therapeutin Intuition, Flexibilität und
Hingabe an den Moment. „In jeder Methode kann dem therapeutischen Auftrag entsprechend in konflikt-, erlebnis- oder übungszentrierter Modalität gearbeitet werden“ (Hegi-Portmann et al.,
2006, S. 62). Nachfolgend werden folgende Methoden beschrieben: Stille, Improvisation, Lied, Spiel, Komponierte instrumentale
Musik, Sprache und Körper. Jede dieser Methoden kann nur auf
dem Boden einer lebendigen und echten Beziehung zum Patienten
wirksam werden (Lutz Hochreutener, 2009).
4.1.1 Stille
Viele alte Menschen haben das Bedürfnis ihr Leben rückblickend
zu ordnen. Manche brauchen dafür die Abgeschiedenheit und die
Stille. Anderen Menschen hilft es, durch das Erzählen aus ihrem
Leben, weiterzukommen. Dann kann die Therapeutin das Erinnern und Suchen durch stilles Anteilnehmen und Zuhören begleiten und unterstützen. Einerseits hört sie auf den Inhalt, sie achtet
aber auch darauf, wie der alte Mensch erzählt. Tönt seine Stimme
traurig, freudig, energievoll, mit welchen Gesten begleitet er seine
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Worte, wo stockt er in seiner Geschichte? In den Erzählpausen, in
der Stille entsteht ein Raum, in dem sie das Gehörte nachklingen
lassen kann. Aus diesem Stilleraum können Bilder aufsteigen,
mögliche Zusammenhänge ersichtlich werden oder weiterführende Fragen sich entwickeln. „Um der Resonanz den Raum zu bereiten, muss Stille möglich werden; eine Stille, die das Lauschen
als Hinwendung auf das Noch-Nicht ermöglicht. Tritt dieser Moment ein, kann etwas anklingen und hörbar werden, was bis jetzt
noch nicht hörbar wurde, etwas Neues“ (Gindl, 2002, S. 65).
Was für die Therapeutin gilt, passt auch für den alten Menschen.
Auch für ihn kann durch das Erzählen ein Nachklang, beziehungsweise ein Nachbild entstehen. Dadurch nimmt die Erinnerung Gestalt an und wird immer handhabbarer. Lutz Hochreutener
(vgl. 2009, S. 138) sagt, dass die Stille der Anfang und das Ende
allen Handelns sei. Aus der Stille könne immer wieder Neues
wachsen.
Im Musikspiel verklingt während der Pause der letzte Ton und der
Neue wird gebildet. Die Therapeutin kann in einer freien Improvisation die Pausen genau so nutzen, wie die Stillemomente im
Gespräch. Sie achtet auf die Qualität des Nachklangs: Wie breitet
er sich aus? Welche Stimmung oder Energie ist im Raum? Wie
wird der nächste Ton erklingen? Was will sich zeigen?
Die Stille in der Pause ermöglicht, auf das Gegenübertragungsgeschehen zu achten und danach die Interventionen auf den Spielpartner abzustimmen.
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4.1.2 Improvisation
Die freie Improvisation wird in der psychodynamisch orientierten
Musiktherapie oft als Königsweg gesehen. Beim Improvisieren
entstehen relativ unkontrollierbare Äusserungen, die auf das Authentische der Person verweisen (vgl. Hegi-Portmann et al., 2006,
S. 21). Wenn auf Instrumenten oder mit der Stimme improvisiert
wird, bekommen Gefühle und Gedanken einen persönlichen Ausdruck, der in diesem Augenblick stimmig ist. Die Stimmung wird
hörbar gemacht.
In der Musikimprovisation geht es um das Jetzt, darum, ganz gegenwärtig zu sein. Weymann, (2004, S. 17 ff.) vergleicht die Improvisation mit einem Spiel, welches in einer Art ’Sensibler
Schwebe’ oder ’Zwischenwelt’ stattfindet. Das Spielfeld bestehe
aus Unvereinbarem, aus Auseinandersetzung, aus Konflikt, aber
auch aus Vermittlung und Verbindung. Es ist der Bereich der
Kreativität. „Die Polaritäten – wir können etwa an die Polaritäten
von Sicherheit und Risiko, von Prägnanz und Unschärfe, von
Struktur und Fliessen denken – verdeutlichen sich erst dann, und
zwar als Spannung, wenn sie miteinander ’ins Spiel gebracht’
werden“ (Weymann, ebd., S. 18).
Wertvoll ist das Spiel für alte Menschen, wenn es ihnen gelingt,
dadurch innerlich wieder freier zu werden und sich mit der Aussenwelt zu verbinden und mit ihr in Kontakt zu kommen. Das
kann für alle und insbesondere auch für alte Menschen gelten. Für
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Winnicott (1985, S. 49) ist das gemeinsame Spiel eine der wichtigsten Methoden für das therapeutische Handeln. „Psychotherapie geschieht dort, wo zwei Bereiche des Spielens sich überschneiden: der des Patienten und der des Therapeuten. Psychotherapie hat mit zwei Menschen zu tun, die miteinander spielen.
Hieraus folgt, dass die Arbeit des Therapeuten dort, wo Spiel
nicht möglich ist, darauf ausgerichtet ist, den Patienten aus einem
Zustand, in dem er nicht spielen kann, in einen Zustand zu bringen, in dem er zu spielen imstande ist.“
Alle schöpferische und gestaltende Tätigkeit hat ihre Wurzel im
Spiel. Wer spielt, folgt seinem eigenen Bedürfnis. Er lebt aus sich
heraus. Dieses Aus-sich-heraus-Leben ist nur in einer sicheren
Umgebung möglich (vgl. Hetzer, 1972, S. 9). Die Therapeutin
schafft einen Raum, eine Atmosphäre, eine ’Sprache’, in welcher
sich der alte Mensch für das Spiel ermutigt fühlt und bringt sich
in das Spiel ein. Sie sitzt nicht [...] „am Rand des Spielplatzes
und schaut zu – sie steigt mit ein, bietet sich an als Spielfreundin
und als Versuchsobjekt in Hass- und Liebesausbrüchen, auch als
Verbindungsschaffende zwischen den Teil-Ich-Komplexen [...]“
(Loos, 2009 b, S. 470).
Viele alte Menschen haben ein Leben lang gearbeitet und sich mit
der Arbeit und der damit verbundenen Verantwortung und den
Verpflichtungen identifiziert. Solche Menschen können im Alter
nicht einfach spielen, auch wenn sie es vielleicht ganz gerne täten.
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Sie brauchen regelrecht eine Spielerlaubnis, die es ihnen gestattet,
ihre Zeit mit Spielen zu verbringen.
Andere Senioren und Seniorinnen werden von sich aus gelassener
und freier. Sie fühlen sich weniger an Konventionen gebunden
und wollen das Leben ’einfach noch ein wenig geniessen’. Mit
dieser Lebenshaltung sind sie offen für das Spiel. In der Musiktherapie probieren sie Instrumente lustvoll aus, hören interessiert
auf ihren Klang und haben Spass am Zusammenspiel. Improvisation würden sie diesem Spiel aber nicht sagen. Die Improvisation
brauche Begabung und Können, Improvisation sei eine Kunst,
meinen sie.
Der Mensch ent-deckt durch das Spiel seine Fähigkeiten aber
auch sein Unvermögen im Umgang mit den Gegebenheiten. Wie
spielerisch er mit Geglücktem oder Missglücktem umgeht, ist oft
ein Spiegelbild seines Selbstwertgefühls. Müller (vgl. 1998, S.
71f.) sagt, dass gerontopsychiatrische Patientinnen, ihr eigenes
Spiel oft mit soviel Abwertung hören, dass das Spielen zu einem
Misserfolgserlebnis werden könne, anstatt zu einer Erlebniserweiterung und zu einer Möglichkeit der Selbstbestätigung und Kompetenzerweiterung. Nur auf dem Boden des Vertrauens, und in
einer Atmosphäre der Wertschätzung und Ermunterung, könne
ein Klima entstehen, indem man sich dem andern zeigen kann.
Deshalb brauche es ein langsames Hinführen zum freien Improvisieren, über das Lauschen von Klängen einzelner Instrumente und
Klangkombinationen. Auch das Thema der Improvisation müsse
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den PatientInnen genau angepasst sein, damit es ihnen möglich
werde, freie Musik als ’Sprache’ zu verstehen.
Durch die Töne, Klänge und Rhythmen kann sich ein neuer Weg
der Zuwendung zu sich selber und zum Mitspieler anbahnen.
Ähnlich einem Spiegel in den man hineinschaut um sich wahrzunehmen, ist es möglich sich über das Ohr wahrzunehmen, wenn
man hinhört (siehe Beispiel Herr Peter S. 81).
Mit alten Menschen werden, je nach Situation und Thematik, unterschiedliche Formen der Improvisation eingesetzt. Mit kognitiv
gesunden oder leicht dementen Menschen können neben der freien Improvisation auch spielregelgeleitete Improvisationen zum
Tragen kommen. Es sind verschiedene Settings möglich: Gruppenspiel, Partnerspiel Für-Spiel (siehe Beispiel in Kap. 4.2.1 Musik als Eindruck: Basale Stimulation), Solospiel (im nachfolgenden Beispiel).
Der sechsundsiebzig jährige Herr Kaiser war früher Ingenieur und
Lehrer für Physik, und forscht nun gerne experimentierend in der
Klangwelt. Das ist der hauptsächlichste Grund, warum er zu mir
in die Praxis kommt. Herr Kaiser wählt in dieser Stunde das
Hang. Dieses Instrument gefällt ihm, weil ihn sein Klang an die
Karibik erinnert. Herr Kaiser ist schwerhörig. Er spielt deshalb
mit zwei Schlägeln. Der Klang wird damit lauter und das Spielen
ist einfacher, als wenn er mit der Hand spielen würde.
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Abbildung 4: Hang
Nachdem Herr Kaiser alle Töne angeschlagen hat, versucht er zunächst eine Tonleiter zu spielen und dann eine Melodie, die ihm
beim Ausprobieren in den Sinn kommt. Da das Hang, mit Basston
G, nur sieben Töne hat, die nicht linear angeordnet und dazu dorisch gestimmt sind, gibt es viel zu entdecken. Die vorgestellte
Melodie kann nicht vollständig gespielt werden, weil einzelne
Töne fehlen. Immerhin findet Herr Kaiser nach einer Weile eine
kleine Melodie, die ihm gefällt und einigermassen zufriedenstellt.
Fast die ganze Stunde verbringt Herr Kaiser mit dem Erkunden
und Ausprobieren dieser ’fliegenden Untertasse’, wie er das Instrument nennt. Ich höre ihm dabei zu, und beantworte seine musiktheoretischen Fragen.
Für mich ist es spannend, Herrn Kaiser in seiner wissenschaftlichen Art den Klängen und ihrer Wirkung auf die Spur zu kommen, zu begleiten und zu unterstützen. Gleichzeitig merke ich,
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dass er hauptsächlich auf der kognitiven Ebene nach dem ’Passenden’ sucht und auf diese Weise, mit diesem Instrument, nicht
zu einer befriedigenden Lösung kommen kann. Deshalb mache
ich ihm zum Abschluss der Stunde einen Spielvorschlag:
„Sie spielen und versuchen gleichzeitig eine gute Mischung zu
machen, zwischen selber steuern und sich ein bisschen von den
Tönen steuern lassen; so dass sie zu einem guten befriedigenden
Abschlusston finden können. Ist das ein guter Vorschlag?“ Herr
Kaiser: „Ja, ich meine so ähnlich läuft es bei mir immer, wenn ich
experimentiere; In unserem Sinne jetzt. Experimentieren per Zufall, ja. Den Zufall Meister sein lassen. Und da drin etwas suchen,
was mir besonders gut gefällt, das ist dann kognitiv.“
Herr Kaiser beginnt frisch drauflos zu spielen. Er wirkt locker.
Die Töne werden, ohne dass er sie an einen Rhythmus bindet, angeschlagen. Gleichzeitig, während dem Spielen, hört Herr Kaiser
darauf, was für Klänge ihm entgegenkommen. Nach einer Weile
verlangsamt sich die Klangfolge und Herr Kaiser beendet sein
Spiel mit dem Basston G und dem Wort: Finito.
Herr Kaiser bettet sein Spiel in Worte ein. Das Verstehen und Begründen ist ihm wichtig. Typisch für kognitiv gesunde alte Menschen ist sein Suchen nach einer ihm bekannten Melodie. Viele
alte Menschen versuchen zuerst ein bekanntes Lied zu spielen. Es
scheint eine Erlaubnis und Übung zu brauchen, sich ausserhalb
des gewohnten, bekannten Bereichs einzufinden. Gelingt die
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’Grenzüberschreitung’, zum Beispiel durch eine Spielanleitung
oder durch animierendes Mitspiel, macht das Entdecken des Neulands ’Klangwelt’ oft Freude und hat eine befreiende Wirkung. In
dieser Improvisation wurde erlebniszentriert gearbeitet. Herr Kaiser wählte selbständig das Instrument. Sein Interesse an den
Klängen hat ihm die Ohren geöffnet. Trotz seiner Schwerhörigkeit haben ihn das Experimentieren auf dem Hang und die Suche
nach Tonzusammenstellungen belebt und angeregt.
Herr Kaiser sagte in der nachfolgenden Reflexion, dass es für ihn
ein abenteuerliches Erlebnis sei, aus der ’Oildrum’ diese Klänge
heraus zu holen. „So primitiv wie dieses Instrument ist, oder war,
als es ein Ölfass war, so interessant ist der Ton, der sich da machen lässt. Dieser Zusammenklang primitivster Technik, dieses
Instrument eine einfache Blechscheibe, und dann dieser Ton! Und
das zusammensetzen zu einer Melodie, oder zu passenden Tönen,
das wäre meine Wunsch.“
Dieser Schlusssatz von Herrn Kaiser könnte bedeuten, dass er
nach etwas Wiederholbarem oder Beständigem sucht. Das einmalige Erlebnis der unwiederbringlichen Improvisation ist für ihn
vermutlich zu wenig fassbar. Herr Kaiser möchte etwas formen,
etwas Ganzes machen, so wie er versucht, sein Leben zu ordnen
und seine Wünsche und Vorstellungen zusammen zu bringen. Zur
Zeit schaut Herr Kaiser verschiedene Altersheime an und überlegt
sich Kriterien für die Auswahl.
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In einer folgenden Stunde könnte diese Improvisation und sein
Wunsch nach einer Melodie aufgenommen werden. Es könnte der
Frage nachgegangen werden, wie seine Lebensmelodie klingen
sollte. Daraus kann ein Transfer gemacht werden zu seiner Frage
der Altersheimwahl.
Improvisation mit DemenzpatientInnen
Mit schwer dementen Patienten ist ein Improvisieren auf diese Art
nicht mehr möglich. Sie kennen keinen Plan, haben keine Absicht, suchen keinen Vorteil. Aber sie haben oft noch die Fähigkeit nachzuahmen. Sie können durch das Vormachen der Therapeutin zum Spielen animiert werden und sich daran freuen.
Wenn der alte Mensch auf der kognitiven Ebene nicht direkt ansprechbar ist, kann die Therapeutin im Wahrnehmen des Übertragungsgeschehens die Befindlichkeit, des Patienten aufnehmen
und es für ihn verbal oder musikalisch im Für-Spiel ausdrücken
(vgl. Dehm-Gauwerky, 2009, S. 14). Mit steigendem Demenzgrad
übernimmt der Therapeut die Funktion der musikalischen Formulierung. Wenn dem Therapeuten der Symbolbildungsprozess gelingt, dann führt das zu einer Entlastung der Ich-Funktion des Patienten. „Misslingt der Symbolbildungsprozess auf dieser basalen
Ebene, dann versuchen die altersdementen Menschen mit reagierenden Aktivitäten ihre subjektive Identität zu sichern. Sie stellen
zwangsläufig Chaos her, halten an Stereotypien fest oder bekommen somatische Beschwerden“ (ebd. 2009, S. 15).
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Gruppenimprovisation mit DemenzpatientInnen
Das Improvisieren in der Gruppe mit leicht bis mittelschwer an
Demenz erkrankten Patienten, ist eine spielerische Möglichkeit,
nonverbal miteinander Kontakt aufzunehmen. Mahnke-Heiden
(vgl. 2011, S. 44) meint, dass sich in der Regel eine Gruppengrösse von bis zu acht Teilnehmerinnen bewähre. Eine grössere Gruppe wirke sich hinderlich auf das Improvisieren aus.
Die meisten Patientinnen haben Freude an diesem musikalischen
Spiel und geniessen es, sich mit Instrumenten hörbar zu machen.
„Gegenüber ihrem oft fremdbestimmten Alltag können sich demente Menschen im Improvisieren musikalisch frei bewegen und
ausdrücken. Etwas Eigenes zu schaffen, selbstbestimmt zu sein,
Kontakt zu anderen Gruppenteilnehmern aufzubauen, diese zum
Mitspielen anzuregen und mit ihnen zu kommunizieren“ (ebd. S.
45), sind Möglichkeiten der freien Improvisation.
4.1.3 Lied
„Singen verbindet; Da muss man ja einstimmen; Singen kann
man nicht jederzeit und mit jedermann; Singen ist anders als den
Liedtext nur lesen; Beim Singen schaue ich ein bisschen herum,
wer da mitsingt....“ Das sind Aussagen von alten Menschen auf
die Frage, was Singen für sie bedeutet.
Beim Lied gehören Wort und Melodie zusammen und erklären
sich wechselseitig durch ihre Halt gebende Form und die wohltuende Eindeutigkeit ihrer Aussage (vgl. Hegi-Portmann et al.,
2006, S. 64).
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Alte Schlager ab Schallplatten sind oft ein Hit und erinnern an
frühere Zeiten. Sie animieren zum Mitsingen, wecken Emotionen
und können zu Erzählungen motivieren. "Das ist ein schöner
Text“, sagte eine alte Frau nach dem gemeinsamen Singen des
Liedes: ’Die Gedanken sind frei’. Sie schätzt sinnvolle Liedtexte,
die ihr auch inhaltlich etwas geben, und sie ist dankbar, wenn sie
den Text in grosser Schrift bekommt.
Alte Menschen mögen es, wenn ein Lied anfänglich etwas langsamer gesungen und dann vielleicht zwei- oder drei Mal wiederholt wird. Es wird ihnen nicht langweilig, denn sie entdecken
immer wieder eine schöne Textstelle, und die Begleitung oder das
schnellere Tempo sind genug Abwechslung. Die Wiederholung
gibt alten Menschen Halt und Sicherheit und sie ermöglicht eine
Vertiefung. Wenn am Schluss des Liedes genug Raum gegeben
wird für den Nachklang, können Erinnerungen aufsteigen oder es
kann über den Text sinniert werden. Sonst eher schweigsame
Menschen öffnen in solchen Momenten das Herz und machen
Bemerkungen, die zu einem Gespräch führen können.
Die neunundachtzig jährige Frau Huber lebt in einem Altersheim
auf der Pflegeabteilung. Ihre Beiständin wusste, dass sie gerne
Musik hat und veranlasste deshalb Musiktherapie mit dem Ziel,
Frau Huber etwas Gutes zu tun. Beim Heimeintritt war Frau Huber verwirrt und depressiv. Die Musiktherapie fand in ihrem
Zimmer statt. Ziel während dieser Zeit war es, Frau Huber bei
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dem Übergang aus der Selbständigkeit in die Pflegebedürftigkeit
emotional zu begleiten und moralisch zu unterstützen. Frau Huber
schätzte diesen regelmässigen Kontakt und die wachsende Beziehung. Da sie nur noch wenige Bekannte hat und die Musik ihr gut
tut, findet die wöchentliche Musiktherapie weiterhin statt.
Frau Huber fuhr in früheren Jahren mit ihrem Mann öfters nach
Griechenland in die Ferien und verbrachte dort sehr schöne Tage.
Das Lied ’Unter Eukalyptusblüten’ haben wir schon öfters gesungen. Ich bringe Frau Huber zwei kleine Glöcklein, mit denen sie
den Refrain begleiten kann. Frau Huber liebt den Klang dieser
Glöcklein. In früheren Stunden sagte sie immer wieder, wie sie
dieser Klang an Griechenland erinnere, und dass sie beim Spielen
die Schäfchen sehen könne. Frau Huber hat steife Finger und es
kostet sie einige Mühe, bis sie die Glöcklein richtig gut festhalten
kann. Als es endlich gelingt, hat sie Freude, und wir beginnen zu
singen. Ich merke nach einer Weile, dass Frau Huber nicht immer
mitsingt und verändere in der zweiten Strophe die Stimmlage.
Aber erst als ich den Capotaster einsetze, und wir das Lied nochmals von vorne beginnen, kann Frau Huber besser mitsingen. Wir
singen nun das ganze Lied bis am Schluss und Frau Huber begleitet immer mit den Glöcklein den Refrain. Noch beim Ausklang
sagt sie zufrieden: „ Es isch es härzigs Lied. Und mer gsehts.
Gäll?!“
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Das Lied, in welchem die griechische Landschaft und das Hirtenleben besungen wird, weckt in Frau Huber angenehme Erinnerungen. Der Klang der Glöcklein verstärkt die Bilder noch. Das
macht Frau Huber gute Laune.
Obwohl Frau Huber ein schwaches Kurzzeitgedächtnis hat, ist sie
ohne Mithilfe der Therapeutin fähig, den Refrain mit den Glöcklein zu begleiten, und mit dem Spielen aufzuhören, wenn die
Strophen gesungen werden. Sie ist bei diesem Lied ganz wach
dabei. Sogar das gleichzeitige Singen und Spielen gelingt ihr.
Zweimal setzt die Therapeutin den Sington neu an, bis die richtige
Tonlage gefunden wird. Im Alter wird die Stimme der Frauen
meistens tiefer. Je besser die Stimmlage des alten Menschen getroffen wird, desto leichter fällt es ihm, mitzusingen. Das gesungene Wort hat eine andere Wirkung als das gesprochene, es ist
beseelter. Frau Huber drückt dies mit dem Satz aus: „Es isch es
härzigs Lied.“ In härzig steckt das Wort Herz drin.
Auf der emotionalen Ebene weckt das Lied bei Frau Huber Freude am Klang, an der stimmlichen Betätigung und am Inhalt. Die
Wiederbelebung von schönen und angenehmen Gefühlszuständen
und Erinnerungen an die Ferien mit ihrem Mann, lenken zeitweise
ab von Sorgen und von der Alltagsmonotonie.
Mit der Glöckleinbegleitung fördert Frau Huber auf der mentalen
Ebene ihre Aufmerksamkeit, die Konzentration und die Reaktion
auf den zeitlichen Einsatz und auf die melodisch-rhythmische
Struktur.
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Durch das Singen trainiert Frau Huber die Atmung und die
Stimmorgane. Dadurch wird die Sauerstoffversorgung gesamtkörperlich angeregt.
Singen ist ein Weg, die Selbstwirksamkeit zu erleben, denn: Ich
bin da, wenn ich Töne mache. Ich höre mich. Ich töne, also bin
ich. Sich selber hören heisst, sich seiner gewahr werden. Der
Mensch möchte erfahren wer er ist, und er erfährt sich, indem er
sich singen hört. Durch das Atemsystem ist beim Singen der ganze Körper des Menschen erfasst. Singen durchlüftet. Singen tut
gut. Aber nur ein gesunder Körper ermöglicht eine kräftige klare
Stimme, nur ein freier Atem ermöglicht eine freie Stimme und nur
eine freie Stimme schafft einen freien Ausdruck.
„Der Gebrauch der Stimme gilt immer als etwas besonders Nahes,
Persönliches“ (Müller, 1998, S. 73). Der Klang der Stimme verrät
einerseits die körperliche Befindlichkeit und andererseits die
Stimmung. Zum Beispiel (vgl. Schmutte, 2009, S. 37) werden im
Alter die Schleimhäute im Kehlkopf weniger durchblutet und befeuchtet. Dadurch wird die Stimme weniger tragfähig und stumpfer. Ist der Mensch traurig, kann es ihm regelrecht die Stimme
verschlagen.
Unbewusst spüren das alte Menschen und manchmal lehnen sie
das Singen ab. Sie entschuldigen sich dann für ihre schlechte
Stimme und sagen, dass sie nicht mehr singen könnten. Die eigene brüchige, nicht mehr kräftige Stimme konfrontiert sie mit dem
Altwerden und dem Verlust von Fähigkeiten (vgl. ebd.).
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Die im Alter oft geschwächte oder raue Stimme könnte als Anzeichen gesehen werden, dass der Mensch langsam sein Instrument
verliert. Damit verblassen seine irdischen Ausdrucksmöglichkeiten, bis hin zum Verstummen im Tod.
4.1.4 Körper
Es gibt keine Musik ohne Einbezug des Körpers. Nur durch, mit
und aus dem Körper kommt Musik zum Klingen. „Der Körper ist,
wie Musik auch, wie Leben überhaupt: Schwingung, Bewegung,
Rhythmus, Herzschlag, Klang, Atem, kosmisches Eingebundensein“ (Loos, 2009 a, S. 242).
Musikalisches Spiel entsteht durch eine körperliche Aktivität.
Musikalische Rezeption entsteht ebenfalls durch Bewegung, denn
das Trommelfell leitet über die Hörknöchelchen die Schwingungen weiter. Bei alten Menschen wird in der Musiktherapie besonders darauf geachtet, dass die musikalischen Aktivitäten und das
Musikhören den körperlichen Möglichkeiten angepasst werden.
Der alte Mensch muss durch den natürlichen Abbau seine Körperlichkeit immer mehr hingeben. Ein Instrument braucht einen
Klangkörper, damit es klingen kann. Wie ein Geiger Liebe für
sein Instrument empfindet, so hat nun der Mitmensch die Möglichkeit, liebevoll mit dem alten Körper umzugehen und ihn zu
pflegen.
Der Mensch ist feinfühlig dafür, wie er von jemandem berührt
wird. Er hat sogar die Erwartung, dass er mit einer Berührung
gemeint ist, und dass die Berührung ihn nicht stören oder gar
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schädigen soll. Gerade alte Menschen, die uns in ihren körperlichen Kräften unterlegen sind, brauchen umso grösseres Taktgefühl für jede Art des körperlichen Kontakts, sei es bei der Begrüssung mit der Hand, im Vorbeigehen mit einer leichten Berührung
an der Schulter oder am Rücken oder bei einer Geste, die unser
mitfühlendes Wort unterstreichen soll.
Berührung ist die erste Lebenserfahrung, die wir als Menschen
machen und wir bedürfen ihrer lebenslänglich. Über Berührung
können wir uns der Umgebung mitteilen, aber auch etwas von ihr
empfangen. In diesem Sinn ist sie ein Teil der nonverbalen Kommunikation. Wie die verbale Kommunikation, kann auch die Berührung zu Missverständnissen führen, und wie in der verbalen
Kommunikation, können die Missverständnisse geklärt werden.
Frau Müller ist 97 jährig. Sie hat eine Alzheimerdemenz. Dank
der Unterstützung von der Spitex im Alltag und von ihrer
Beiständin, die alle finanziellen Belange organisiert, kann sie alleine in ihrer Einzimmerwohnung leben. Die Beiständin hat die
Musiktherapie organisiert, weil Frau Müller kaum Kontakt zur
Aussenwelt hat und nie aus dem Haus geht. Die Beiständin, selber
eine Musikliebhaberin, wusste, dass Frau Müller früher Klavier
spielte und immer noch gerne Musik hat.
Frau Müller ist eine zierliche alte Frau. Als ich ihr einmal über
den Arm streichen wollte, um meine Zuneigung zu ihr zu unterstreichen, zog sie ihren Arm fast erschrocken zurück und gab
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mir zu merken, dass sie das nicht ’nötig’ habe. Daraufhin zügelte
ich meine Spontanität. Auf wundersame Weise wurde ich dafür
’belohnt’. Als wir zusammen ein Lied sangen, in dem es in einer
Strophe heisst: Ein zarter Blick, ein leises Du, dass dir die Liebe
schenkt... schaute mich Frau Müller zärtlich an, und ich konnte
nickend erwidern. Seither ist diese Strophe immer mit einem liebevollen Blickaustausch verbunden.
Frau Müller ist ein Bewegungsnaturell. Zärtliche Berührung
scheint ihr zu nahe zu gehen. Deshalb versuche ich sie an einem
Tag, an dem sie besonders gut in Form ist, zum Tanz einzuladen.
„Hätten Sie Lust auf einen Tanz? Darf ich bitten?“ Frau Müller
nimmt die Aufforderung an, steht sogar auf, und wir tanzen zusammen zu griechischer Volksmusik. Dabei achte ich darauf, dass
sie ihre Hände in meine legen und das Tempo der Bewegungen
selber bestimmen kann. Mit Freude und Erstaunen bemerke ich,
wie sie sich von der Musik leiten lässt und sie in kreative Bewegungen verwandelt. Nach diesem Paartanz gebe ich ihr und mir
farbige Bänder, und wir tanzen mit dem Band frei in der Stube
herum. Immer wieder lächeln wir uns dabei zu und freuen uns an
den tänzerischen Bewegungen.
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Abbildung 5: Tanzende Frau Müller
Dieses Tanzen wird möglich, weil die Körperreaktion auf die
Armberührung achtsam wahrgenommen und die Abwehr respektiert wird. Der Umgang mit dem Nähe- und Distanzbedürfnis wird
reflektiert und der richtige Moment für den gemeinsamen Tanz
abgewartet. Nicht die Therapeutin führt beim Tanz, sondern sie
lässt sich einschwingen durch das Gegenüber und nimmt seinen
Rhythmus auf. Dadurch kann Frau Müller ihre Urheberschaft erfahren. Das Tanzen mit dem Band hat etwas Spielerisches und
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macht die Bewegungen sichtbar. Frau Müller erlebt dadurch, wie
sie etwas in ihrem Raum in Bewegung bringen kann.
Über die Musik kann die Therapeutin mit dem Patienten auch ohne körperliche Berührung engen Kontakt haben, wenn sie zum
Beispiel den schlafenden Menschen in seinem Atemrhythmus begleitet (siehe in Kap. 4.2.1 Musik als Eindruck: Haltefunktion)
oder wie mit Frau Müller beim Singen einen liebevollen Blickaustausch pflegt.
Die Therapeutin kann den alten Menschen aber auch ermuntern,
zum Beispiel nach dem gemeinsamen Musikhören, nach innen zu
spüren und auf sein Körpergefühl zu achten, denn „Es zeigt sich,
dass sich bei wohlwollendem und erwartungsfreiem Eingehen auf
das besagte Körpergefühl (Felt sense) Bedeutung und Zusammenhänge, die mit der erlebten Situation zu tun haben, wie von
selbst entfalten und zum Ausdruck kommen können“ (Seidl,
2005, S. 31). Im nachfolgenden Gespräch kann die körperliche
Erfahrung verbalisiert und dadurch vertieft werden.
4.1.5 Komponierte instrumentale Musik
Komponierte instrumentale Musik wird in der Musiktherapie mit
alten Menschen in verschiedenen Situationen und mit unterschiedlicher Absicht eingesetzt.
In der ersten Zeit der Einzeltherapie, wenn sich der alte Mensch
und die Therapeutin erst kennen lernen, kann zum Beispiel das
konzertante Spiel auf der Gitarre am Anfang der Stunden dem alten Menschen helfen, Vertrauen zu fassen. Er kann beim Zuhören
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die Therapeutin beobachten und sich an sie gewöhnen. Er erlebt,
dass er durch die Musik etwas bekommt, und dass er nicht überfordert wird.
Musik bewegt. Rassige Musik ab CD geht bei alten Menschen
genau so in die Beine oder Fußspitzen, wie bei jüngeren. Wenn
sie sich nicht mehr so schnell bewegen können, so ist es doch
möglich, dass sie rhythmisch mitschwingend tanzen. Für viele
Rollstuhlfahrer macht es Spass, mit ihrem Gefährt zu tanzen oder
die Arme im Takt der Musik zu bewegen.
Viele alte Menschen waren früher rege Konzertgänger. Diejenigen, denen es kaum mehr möglich ist ein Lifekonzert zu geniessen, sind dankbar, wenn sie in der Musiktherapie gemeinsam mit
der Therapeutin wieder einmal ein Stück ihres Lieblingskomponisten hören können.
Auch im Krankenbett wird das Hören von instrumentaler Musik,
ob live von der Therapeutin gespielt oder ab CD, oft geschätzt. Es
ist wichtig darauf zu achten, dass die Musikwahl und die Lautstärke dem Patienten entspricht.
4.1.6 Sprache
Durch das gemeinsame Singen, Musikspiel oder tänzerische Bewegungen kann eine Verbindung und Offenheit entstehen, die
sehr persönliche Gespräche ermöglichen. Für alte Menschen, die
oft viele Stunden am Tag allein sind, ist die wöchentliche Musiktherapiestunde eine Zeit des Kontakts, des Austauschs und der
Beziehungsgestaltung.
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Frau Müller (siehe auch Beispiel S. 100) weiss manchmal zu Beginn der Musiktherapiestunde nicht mehr, wer ich bin.
In der 34igsten Therapiestunde sitzt Frau Müller bei meinem Eintreffen am Frühstückstisch. Ich setze mich zu ihr und frage sie
nach einer Weile, ob es recht sei, dass ich für sie ’Tafelmusik’
mache. Sie begrüsst meine Idee. Darauf spiele ich auf der Laute
und singe Frühlingslieder. Währenddessen isst Frau Müller und
lächelt mich ab und zu freundlich an. Nach dem Essen singen wir
noch gemeinsam ein paar Lieder.
In den letzten zehn Minuten vor dem Abschied spricht Frau Müller aus, wie wichtig ihr diese Beziehung ist. Der Abschied, mit
dem Bewusstsein, dass sie nun wieder allein sein wird, fällt ihr
schwer.
Die letzten zwei Minuten dieses Gesprächs sind hier wiedergegeben.
Fr.M: Dann ist das halt so. Die Hauptsache ist, dass wir diese Beziehung haben.
T: Wir zwei?
Fr. M: Ja. Lacht
T: Lacht mit: Ja, stimmt! Das hat auch wieder mit dem ’Geben
und Nehmen’ zu tun, oder?
Fr. M: Ja, ja.
T: Ja, das ist ein Glück und wir können den Dank weiter leiten.
Fr. M: Ja.
T: Sind Sie einverstanden?
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Fr. M: Ja.
T: Schön.
Fr. M: Und froh sein, dass wir das Schöne und Innige dieser Beziehung haben.
T: Ja.
Fr. M: Und dass wir das behalten können.
Ob ein persönliches Gespräch möglich wird, hängt stark von der
Art der Kontaktaufnahme am Anfang der Therapiestunde ab. Es
ist wichtig, dass die Therapeutin sich mental und emotional auf
die Begegnung mit dem alten Menschen vorbereitet. Sie versucht
sich in die Person einzufühlen und passt zum Beispiel ihr Tempo
und ihre Lautstärke entsprechend dem alten Menschen an. Wenn
sie auf die aktuelle Situation und die Befindlichkeit des alten
Menschen eingeht, ist das ein Zeichen ihres Respekts und der
Achtung ihm gegenüber.
In diesem Beispiel wählt die Therapeutin am Anfang das FürSpiel, damit Frau Müller in ihrem Tagesrythmus nicht unterbrochen wird. So kann sie ruhig weiter essen, und sich durch die
Tischgesellschaft langsam an die Therapeutin gewöhnen. Das Ziel
dieses erlebniszentrierten Vorgehens ist, dass sich Frau Müller
durch das lustbetonte, rezeptive Musikerlebnis für die Begegnung
im Hier und Jetzt öffnen kann. Vermutlich wecken die Lautenklänge und die Singstimme Vertrautheit und Erinnerungen an frü-
106
here Musikstunden. Auf diesem tragenden Boden kann sich dann
ein Gespräch entwickeln.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie desorientierte Menschen
ganz klar denken und sprechen können, wenn ihnen auf Augenhöhe begegnet wird. Es scheint, als spürten sie, wenn sie in ihrer
inneren Unversehrtheit, in ihrem innersten Kern, gemeint sind.
Lutz Hochreutener (vgl. 2009, S. 217ff.) erklärt, wie nah verwandt Musik und Sprache sind: „Empfindungen, Gefühle, Gedanken, welche im Musikspiel aufgetaucht sind, werden gemeinsam reflektiert. Dies ermöglicht ein Überprüfen der eigenen
Wahrnehmung, Einsicht in den Sinnzusammenhang von Handlungs- und Erlebensweisen […]“ (ebd. S. 220). In diesem Sinne
ist zu vermuten, dass das Gespräch Frau Müller half zu verstehen,
dass der Abschied sein muss. Mit den Worten wollte sie sich vergewissern, dass die Beziehung innerlich bleiben kann.
107
4.2 Therapeutische Funktionen der Musik
Die therapeutisch eingesetzte Musik oder das therapeutische Musikspiel kann je nach Therapieziel in drei Wirkrichtungen eingeteilt werden: Die Musik kann von aussen nach innen wirken als
Eindruck, von innen nach aussen als Ausdruck oder sie wirkt
wechselseitig als Kommunikation (vgl. Lutz Hochreutener, 2009,
S. 35ff.).
Innerhalb der genannten Wirkrichtungen kommen verschiedene
Funktionen der Musik zum Tragen. Sie werden in den nachfolgenden Beispielen, aus der Praxis mit alten Menschen, vorgestellt
und reflektiert.
4.2.1 Musik als Eindruck
In Reinform wirkt Musik von aussen nach innen dann, wenn Musik gehört wird. Musik wirkt aber auch als Eindruck durch das
Spielen auf Instrumenten oder wenn für sich selbst gesungen
wird. Sie entfaltet ihre Wirkung auf der physischen, psychischen,
kognitiven, sozialen und spirituellen Ebene (vgl. Lutz Hochreutener, 2009, S. 36).
Basale Stimulation
„Musik wirkt psychophysiologisch und vermag als Stimulus basale sensorische Erfahrungen zu vermitteln und damit neue neurobiologische Verknüpfungen zu bahnen“ (Lutz Hochreutener,
2009, S. 36). Alte Menschen, die körperlich durch Arthrose oder
108
Lähmung weniger beweglich sind oder ein eingeschränktes Sehoder Hörvermögen haben, können durch die Musik bewegt und
belebt werden. Dabei können die Eindrücke durch aktives Handeln im Sinne von ’ich höre, was ich singe oder spiele’, oder
durch rezeptives Handeln im Sinne von ’ich spüre in mir, was ich
höre’, aufgenommen werden.
Die einundneunzig jährige Frau Sutter lebt auf einer Pflegeabteilung und kann nicht mehr selber gehen. Sie sitzt im Rollstuhl und
wird von mir für die Musiktherapie abgeholt. Frau Sutter hat einen zierlichen Körperbau der zu ihren markanten Gesichtszügen
und der kräftigen Stimme als starker Kontrast auffällt. Auf einem
Auge ist Frau Sutter blind, und mit dem anderen kann sie noch
hell-dunkel unterscheiden. Frau Sutter hat eine Alzheimerdemenz
in fortgeschrittenem Stadium. Sie hat eine positive Lebenseinstellung, die oft in ausgesprochener Dankbarkeit und Wertschätzung
zum Ausdruck kommt. Frau Sutter liebt Musik und singt gern.
Die nachfolgend beschriebene Sequenz ist Teil der fünfzehnten
Therapiestunde.
Frau Sutter scheint etwas verwirrt zu sein. Sie spricht undeutlich,
sagt aber, dass sie sich gut fühle. Sie sagt, dass sie ein Tierchen
oder etwas zum ’Chräbele’ möchte. Ich nehme diesen Wunsch auf
und frage sie, wie es wäre, wenn sie ein Musikinstrument ’chräbele’ könnte. Frau Sutter meint, dass das dann halt ’Chräbelimusik’
wäre. Ich stelle die Djembe mit dem haarigen Trommelfell vor sie
109
hin. Weil Frau Sutter fast nichts mehr sieht, führe ich ihre Hand,
lege sie auf das Fell und ermuntere sie, hier einmal zu spüren und
zu ’chräbele’. Frau Sutter kann nicht recht verstehen was gemeint
ist und erwidert mit zum Teil undeutlich gesprochenen Worten.
Ich gehe nicht darauf ein, sondern lenke Frau Sutters Aufmerksamkeit erneut auf das Wahrnehmen der feinen Härchen der
Trommel, indem ich mit ihrer Hand über das Fell streiche. Können Sie spüren wie verschieden es sich anfühlt, je nachdem in
welche Richtung man mit der Hand darüber fährt? Frau Sutter
kann keinen Unterschied ausmachen. Was könnte das sein? Frau
Sutter meint, dass man das auch wieder vergesse. Zusammen wird
gerätselt von welchem Tier das Fell sein könnte. Nachdem ich
nochmals zum ’Chräbele’ ermuntere und Frau Sutter sagt, dass sie
das jetzt nicht könne, biete ich ihr an, es selber zu tun. Frau Sutter
ist einverstanden und sagt, dass es sie interessiert. Ich streiche mit
den Fingernägeln über das Fell, dass es kratzend tönt, ich fahre
mit der ganzen Handfläche darüber und beginne mit der Zeit leise
zu klopfen, zuerst unrhythmisch, dann regelmässig. Frau Sutter
entspannt sich und fängt an tief zu atmen.
Frau Sutter möchte chräbele. Die Therapeutin nimmt diesen
Wunsch auf und bietet dafür die Djembe an. Frau Sutter wird jedoch nicht selber aktiv und auch die geführte, sinnliche Stimulation auf dem Trommelfell bringt keine Verbesserung der Präsenz.
Darauf wird die Aktivität, die von der Patientin nicht erbracht
110
werden kann, von der Therapeutin übernommen. Die Töne interessieren Frau Sutter. Da das therapeutische Handeln ganz auf die
Patientin im Hier und Jetzt abgestimmt wird, ist dies eine Intervention aus der psychodynamisch orientierten Musiktherapie.
In diesem Beispiel zeigt sich, dass nicht das äusserliche Chräbele,
sondern die Musik als ein die Zeit strukturierender, auditiver Stimulus im Sinne von „Ich höre, was ich innerlich spüre“ dienen
kann. Die Desorientiertheit und die Verlorenheit im inneren Chaos werden musikalisch hörbar gemacht und langsam in einen
Rhythmus verwandelt. Die Funktion der Musik wandelt sich fast
unmerklich von der basalen Stimulation zur Haltefunktion.
Haltefunktion
Wenn der alte Mensch selber nicht spielen möchte oder nicht
spielen kann, weil er zum Beispiel auf Grund seiner Demenz geistig abwesend ist oder ihn eine Depression lähmt, kann die Musik
in dieser Funktion ein Gefühl der Sicherheit, des Haltes und der
’unbedingten Akzeptanz’ geben, oder wie Lutz Hochreutener
(2006, S. 38) es auf die Arbeit mit Kindern bezogen ausdrückt,
„atmosphärisch ein Gefühl des Aufgehoben- und Getragenseins
vermitteln“.
Während ich rhythmisch und leise auf der Djembe spiele, atmet
Frau Sutter (siehe auch Beispiel S. 109) hörbar tief und ruhig.
Nach einer Weile summe ich dazu und etwas später singe ich
einfache Silben: hejo, heja... Frau Sutter sitzt still neben mir, hat
111
fache Silben: hejo, heja... Frau Sutter sitzt still neben mir, hat jetzt
die Augen geschlossen und atmet weiterhin hörbar tief und regelmässig. Nach einer gewissen Zeit beginne ich zu demselben
Rhythmus das Lied zu singen ’Gang rüef de Brune, gang rüef de
Gäle, si söled allsam in Stall iecho’. Schon nach dem Wort ’Gäle’
regt sich Frau Sutter, atmet tief ein, und stimmt dann singend mit
ein. Ich merke, dass Frau Sutter beim Refrain andere Worte, und
zum Teil auch eine leicht andere Melodie singt als ich es gewohnt
bin; ich passe mich ihr an. Nach dem gemeinsam gesungenen Refrain setzt Frau Sutter mit dem Singen aus, und ich singe alleine
die zweite Strophe. Beim folgenden Refrain stimmt Frau Sutter
von sich aus wieder ein. Ebenso wird die dritte Strophe nur von
mir und der letzte Refrain gemeinsam gesungen.
Mit dem musikalisch unterstützenden und ruhigen Begleiten des
Atemrhythmus bringt die Therapeutin zum Ausdruck, dass sie
Frau Sutter in ihrem So-Sein bejaht und keine Erwartungen an sie
hat. Mit dem Für-Spiel schafft sie einen tragenden Boden auf dem
sich Frau Sutter vertrauensvoll hingeben kann. Diese Vorgehensweise ist therapeutisch.
Während dem leisen Spiel erinnert sich die Therapeutin, dass
Frau Sutter als Kind auf einem Bauernhof lebte und in ihrem
Heimet glücklich war. Da kommt ihr das Lied ’Gang rüef de Brune’ in den Sinn und die Idee, dass Frau Sutter dieses Lied kennen
und ihr ein Heimatgefühl vermitteln könnte. Frau Sutters Mitsin-
112
gen wird als Bestätigung dieser Annahme aufgefasst und als Botschaft, dass sie in sich wieder etwas Vertrautes finden und daher
einstimmen konnte. Diese Wahrnehmung für das Prozessgeschehen kommt aus der psychodynamisch orientierten Musiktherapie.
Assoziation
Klänge, Rhythmen, Melodien und Geräusche können durch amodale Verknüpfung spontane innere Bilder hervorrufen (vgl. Lutz
Hochreutener, 2006, S. 39). Es kann sich um direkte Analogien
handeln, z.B. führt das Hören der Oceandrum zur Assoziation des
Meeresrauschen. Die Musik kann auch Gefühle auslösen, die nun
ihrerseits innere Bilder entstehen lassen. „Die Musik wird dementsprechend zur Cotherapeutin mit der wichtigen Aufgabe, den
Bilderfluss in Gang zu setzen“ (ebd. S. 262). Die Musik kann
nicht nur Erinnerungen und Vorstellungen induzieren sondern sie
auch in Fluss halten.
Nach der Begrüssung frage ich Frau Huber (siehe auch Beispiel S.
95) nach ihrem heutigen Bedürfnis, was sie machen möchte, was
sie wünsche. „Musik!“, ist ihre spontane Antwort. „Musik hören,
spielen, singen?“ frage ich darauf. „Spielen? Nein. Hören gern,“
erwidert Frau Huber. Nun kann ich Frau Huber meine Überraschung zeigen. Es ist eine CD mit speziell für sie ausgesuchter
Musik. Sie will sie gerne hören. Sie ist neugierig. Nach dem Lesen des Titels ruft sie: „Ei, griechisch!“ Kaum werden die ersten
113
Töne (Zorbas the Greek) hörbar, schliesst Frau Huber die Augen
und gibt sich der Musik hin. Ich frage Frau Huber ob die Lautstärke angenehm für sie sei, und sie meint, es könne sogar noch
ein wenig leiser sein. Gegen Schluss der Musik mache ich ein
paar Tanzschritte nach griechischer Volkstanzmanier. Frau Huber
lacht und spricht noch während den letzten Tönen:
Fr. H.: Das (Tanzen) machen die ja gerne, ja, und dann kommt
noch das Feuer hinzu. Ich glaube, die haben mit dieser Musik den
Vorteil, dass man immer an das schöne Land denkt. Das macht
nämlich schon was aus.
T: Ja, das macht sehr viel aus.
Fr. H.: Ja, man sieht sie dann, wenn man sie gesehen...
T: und erlebt hat.
Fr. H.: Ja, das sind dann so lebendige Erinnerungen.
T: Genau.
Fr. H.: Und natürlich fröhliche Erinnerungen.
T: Ja.
Fr. H.: Man hat an die Ferien sowieso immer schöne Erinnerungen und frohe.
T: Meistens, wenn es einem gut geht.
Fr. H. lacht und bestätigt.
114
Abbildung 6: Musik hörende und Erinnerungen mitteilende Frau Huber
Beim Musikhören mit alten Menschen ist es wichtig, nach der für
sie richtigen Lautstärke zu fragen, damit diese entsprechend reguliert werden kann.
Mit der griechischen Musik werden bei Frau Huber Erinnerungen
geweckt, die mit angenehmen Gefühlen verbunden sind. Die Musik ermöglicht es, sofort in eine ’andere Welt’ einzutauchen. Frau
Huber verbrachte in Griechenland öfters Ferien, mit ihrem nun
verstorbenen Mann. Sie hatte dort schöne Erlebnisse mit ihm,
weil der im Alltag eher ernste Mann in diesem Land fröhlicher
war. Beide haben es genossen, am Abend zusammen mit Einheimischen in einer Taverne zu sitzen, in dem griechische Musik gespielt wurde. Das Musikstück ’Zorbas the Greek’ vermochte diese
angenehmen Erinnerungen zu evozieren.
Mit diesem rezeptiven Musikerlebnis kann Frau Huber eine lustbetonte Erfahrung im Alltag des Pflegeheims machen. Weil ihr
Wunsch nach Musikhören aufgenommen wird und die Musik ihrem Seelenbedürfnis entspricht, wirkt das gemeinsame Musikhören therapeutisch. Die Vorgehensweise war eher geragogisch.
115
4.2.2 Musik als Ausdruck
Durch Musik können Gefühle, Stimmungen, innere Bilder und
Gedanken ausgedrückt werden. Der persönlichste musikalische
Ausdruck ist die menschliche Stimme. Dort wo die Stimme in der
Tonhöhe nicht mehr hinkommt, bieten Instrumente Möglichkeiten, Höhen und Tiefen zu erreichen. Der Mensch drückt sich nicht
nur aus durch Musik, er erlebt sich durch das musikalische Tun
und erfährt eine Resonanz, die er beim Therapeuten und bei den
anderen Mitbeteiligten auslöst. Mit seinem musikalischen Ausdruck beeinflusst er das Beziehungsgeschehen (vgl. Oberegelsbacher, 2008, S. 18).
Containerfunktion
Nach Lutz Hochreutener (2009, S. 39f.) öffnen die Musik und das
Musikspiel den Raum für den ureigenen Ausdruck und sind
gleichzeitig Halt gebendes Gefäss, in das Gefühle einfliessen
können.
Im folgenden Beispiel wirkt die Musik durch das Flötenspiel
gleichzeitig Raum- und Halt gebend. Einerseits hat Frau Giorno
die Flöte im Griff, andererseits gibt ihr die Flöte Halt.
116
Abbildung 7: Spiel auf der Obertonflöte
Frau Giorno (siehe auch Beispiel S. 75) musste sechs Jahre im
Spital des Konzentrationslagers Mauthausen arbeiten. Sie musste
die Häftlinge pflegen und alles machen, was man ihr befahl. Es
wurde absoluter Gehorsam gefordert. Bei Widersetzung wurde
man in eine dunkle Kammer gesperrt. Kein Mensch sprach Italienisch. Frau Giorno hatte Heimweh.
Frau Giorno würde am liebsten singen, aber sie fühlt eine Enge
im Hals und sagt, singen könne sie nicht. Sie erklärt, dass ihr der
Arzt gesagt habe, dass sie so geboren wurde, und man nichts machen könne. Ich sage, dass dieser Arzt vermutlich die Obertonflöte nicht kenne. Frau Giorno lacht und bestätigt diese Vermutung.
Nachdem Frau Giorno in der letzten Therapiestunde zum ersten
Mal die Obertonflöte ausprobierte, biete ich ihr die Flöte heute
zum zweiten Mal an. Auf dieser Flöte kann Frau Giorno allein auf
117
Grund von mehr oder weniger Atemstärke verschiedene Töne erzeugen. Nach einer Weile setze ich mit einer etwas höher gestimmten Obertonflöte ein und begleite sie. Es entsteht eine kurze
zweistimmige Musik, deren Rhythmus und Länge Frau Giorno
bestimmt und von mir empathisch beantwortet und gespiegelt
wird. Mit einem hellen Seufzer, in den ich einstimme, beendet sie.
Das Blasen ist für Frau Giorno anstrengend. Sie möchte gerne
längere Töne spielen können. Ich ermutige sie zu erneutem Probieren. Nach einem zweiten Versuch sagt Frau Giorno, dass sie
gerne einmal Musik lernen wollte. Beim dritten Spiel begleite ich
sie mit Singen. Diesmal endet Frau Giorno mit einem Seufzer, der
in Lachen endet. Sie hat die Idee, dass man mit dieser Flöte viel
üben sollte.
Abbildung 8: „ Das Flötenspiel muss man üben.“
118
Mehrere Versuche mit Frau Giorno zu singen, endeten mit den
Worten: „Ich cha ned singe. Ich ha kei Stimm! Ich bi eng.“
Damit Frau Giorno dennoch zum ’Singen’ kommt, wird die Obertonflöte als ’erweiterte’ Luftröhre eingesetzt, durch die sie sich
musikalisch äussern kann. Mit dem Instrument kann sie ’sich Luft
machen’ und die Enge, die sie erlebt und die sie am Singen hindert, bekommt durch das Flötenrohr einen hörbaren Ausdruck.
Auf einer zweiten Flöte wird Frau Giorno unterstützt. Lutz Hochreutener (vgl. 2009, S. 40) meint, dass musikalisch tragende Gestalten, wie Rhythmus oder Harmoniefolgen, einen sicheren Boden
ermöglichen, auf dem Neues gewagt und Schwieriges ausgedrückt werden könne.
Das Mitspiel gibt Frau Giorno soviel Halt, dass die Therapeutin
nach einiger Zeit die Flöte durch die Singstimme ersetzen kann.
Nach Bauer (2006, S. 44f.) können Körperempfindungen im Gegenüber gespiegelt werden. Das heisst auf das Beispiel bezogen,
dass Frau Giorno innerlich physisch mitsingen kann, wenn sie
sich mit der Therapeutin in Resonanz fühlt.
Frau Giorno wird immer wieder von Gedanken und Vorstellungen
geplagt, die Angst auslösen, vor allem beim Einschlafen. Angst
beengt. Angststörungen haben in der Regel einen lebensgeschichtlichen Hintergrund. Die Patientin bringt ihre Geschichte,
ihre Vergangenheit, Bedürfnisse und Wünsche mit hinein in den
Raum. Bedürfnisverletzende Lebenserfahrungen, wie Frau Giorno
sie im Konzentrationslager machte, sind traumatisierend und be-
119
wirken eine unkontrollierbare Inkongruenz. Daraus ergibt sich eine erhöhte Verletzlichkeit.
In diesem Beispiel wird Frau Giornos Bedürfnis nach Singen
ernst genommen. Dadurch wird ihr Selbstwert gestärkt. Ein Weg
zu diesem Ziel ist das Flötenspiel. Die Therapeutin unterstützt den
Prozess durch Mitspiel und Gesang. Durch das Blasen erzeugt
Frau Giorno verschiedene Töne und erfährt unmittelbar ihre
Selbstwirksamkeit. Gleichzeit führt diese Art körperlicher Aktivität, von Luft holen und Luft ausblasen, zu einer psychischen Entlastung (Frau Giorno lacht am Schluss). Da das Zusammenspiel
gut harmoniert, macht es auch Freude.
Das therapeutische Handeln ist prozessorientiert. Es wird ein
intrapsychischer Konflikt bearbeitet. Die Therapeutin ermuntert
beim Flötenspiel immer wieder zu einem neuen Versuch. Diese
Intervention ist übungszentriert und entspricht der geragogischen
Vorgehensweise.
Vehikelfunktion
Musik kann ähnlich einem Fahrzeug Gefühle, Stimmungen, Unaussprechliches und Unerhörtes transportieren und dadurch zum
Ausdruck verhelfen. Musik hilft in der Vehikelfunktion „[...] in
einen Spielfluss zu kommen und dran zu bleiben, auch wenn es
stockt, Verwirrungen gibt oder schmerzhaft wird“ (Lutz Hochreutener, 2009, S. 4).
Bei Aphasikern ist der Redefluss erheblich gestört. Das folgende
120
Beispiel aus der sechsten Therapiesitzung mit Frau Ammann und
Herr Bundi zeigt, wie in der Kleingruppe mit Hilfe von Singen
die Ausdrucksfähigkeit und der Sprachfluss gefördert werden
können, indem das ’Vehikel’ Lied benutzt wird.
Beide Patienten haben einen Schlaganfall erlitten und sind Langzeitpatienten in einem Pflegezentrum. Trotz der Bewegungsbehinderungen kommen beide selbständig im Rollstuhl in die Musiktherapie.
Frau Ammann ist 82 jährig und hat eine Broca – Aphasie mit relativ gutem Sprachverständnis. Die Spontansprache und das Nachsprechen sind verlangsamt. Sie spricht stockend und das Formulieren macht ihr Mühe. Frau Ammann realisiert, dass ihr das
Sprechen zunehmend schwerer fällt. Sie wünscht sich Musiktherapie weil sie hofft, dass sie durch das Singen lockerer wird.
Herr Bundi ist 76 Jahre alt, kann seit dem Schlaganfall den rechten Arm nicht mehr bewegen und hat eine globale Aphasie. Er
kann weder lesen noch sprechen. Er wiederholt oft Laute wie: ’da,
da, da!’ oder ’natürli!’. Herr Bundi ist verheiratet und seine Frau
hofft, dass sich in der Musiktherapie durch das Singen die Aphasie verbessert.
Wie in jeder Stunde, gehen wir nach einem gemeinsam abgemachten Ablauf vor: Nach der Einstimmung mit einem Für-Spiel,
singen wir das Lied: ’Auf der Erde steh ich gern’. Ich setze mich
121
mit der Gitarre vis à vis der beiden. Frau Ammann bekommt den
Text des Liedes, Herr Bundi das Blatt mit den Abbildungen der
Mundstellungen zu den Lauten A, O, U, E, I, welche er aus der
Logopädie kennt. Frau Ammann und Herr Bundi werden von mir
animiert, so viel wie möglich mitzusingen. Beim Ausklang der
einzelnen Strophen, mit den verschiedenen Lauten, schaut mir
Herr Bundi auf den Mund und ich helfe ich ihm, indem ich sehr
genau artikuliere. Wenn nötig, zeige ich mit dem Finger auf den
entsprechenden Laut auf seinem Papier. Gemeinsam singen wir
das Lied, während ich mit der Gitarre begleite.
Auf der Erde steh ich gern, fest mit beiden Beinen,
kräftig schreit`ich hin und lern von den festen Steinen.
A______________A________________
Und im Wasser schwimm ich gern in den Silberwellen,
dass ich von den Fischlein lern: auf- und abzuschnellen.
E______________E_________________
122
Lustig spring`ich in die Luft, hätte gerne Flügel,
Flöge wie die Vöglein leicht bis zum fernsten Hügel.
Ü______________Ü________________
Auf zur Sonne schau ich gern, schenkt sie lichte Strahlen,
die mit Farben duftig hell bunte Blumen malen.
A______________A________________
In mein Herzlein leg`ich froh eure Gaben nieder,
Erde, Wasser, Luft und Licht, seid ja meine Brüder!
Ü______________Ü________________
Frau Ammann singt laut und kräftig alles mit. Die Tonhöhe trifft
sie meist nicht ganz. Ihre Stimme tönt brüchig und das Formulieren der Laute strengt sie an. Trotzdem hält sie den letzten Ton oft
so lange aus, bis sie keinen Atem mehr hat.
Herr Bundi schaut mir auf den Mund und versucht nachahmend
die Laute mitzusingen. Die Lautfolge im Text der Strophen geht
ihm meist zu schnell; dann singt er in der richtigen Tonlage auf
lala mit. Die letzten vier Takte jeder Strophe werden auf einem
einzigen Laut gesungen. In diesem Teil des Liedes gelingt es
Herrn Bundi meistens, den richtigen Laut zu singen. Dann zeigt er
stolz auf den entsprechenden Buchstaben.
123
In diesem Beispiel geht es um Sprachanbahnung. Durch das gemeinsame Singen werden die PatientInnen sprachlich aktiv, üben ihre
Ausdrucksfähigkeit und kommen mit dem Vehikel Lied wieder in
einen Sprachfluss. Das Lied ist auf der sozialen Ebene das verbindende Element. Es hält die Teilnehmenden zusammen, egal wie gut
der Einzelne mitmachen kann. Schmutte (vgl. 2009, S. 34) meint,
dass die musikalisch-rhythmische Fähigkeit, deren Zentrum sich in
der rechten Gehirnhälfte befindet, bei einer Aphasie meist erhalten
bleibe. Durch die musikalisch-rhytmische
Stimulation würden
Assoziationsbahnen genutzt, um verknüpfte Regionen in der linken
(gestörten) Hirnhälfte zu reaktivieren oder zu deblockieren. „Hierbei
hofft man, dass sich auf der emotionalen Ebene ein Gefühl von
Geborgenheit und Sicherheit einstellt“.
Das im Beispiel verwendete Lied wurde aus folgenden Gründen
gewählt:
• Melodie und Rhythmus helfen auditive Wahrnehmung und
motorische Ausführung zu verbinden.
• Der Melodieverlauf folgt der gesprochenen Sprache.
• Es ist ein einfaches Kinderlied, das emotional anspricht. Der
Inhalt des Liedes ist leicht verständlich, und der Text handelt
von Lebensfreude.
• Die letzten vier Takte jeder Strophe folgen melismatisch dem
Atemstrom und werden auf einem Vokal gesungen.
124
Konrad (2006, S. 48) sagt: „[...] es bestehen sehr enge Assoziationen zwischen der Wahrnehmung der Bewegungsmuster beim
Sprechen und dem auditiven Eindruck. Wahrnehmung und Produktion von Sprache sind in der vorsprachlichen Phase Teil eines
einzigen Systems.“
Auch auf diesem Wissen über die Sprachentwicklung gründet die
Wahl des einfachen Kinderliedes.
Beim Singen wird auf deutliches Vormachen der Mundbewegungen geachtet, denn „Bei anderen wahrgenommene Handlungen
rufen unweigerlich die Spiegelneurone des Beobachters auf den
Plan. Sie aktivieren in seinem Gehirn ein eigenes motorisches
Schema, und zwar genau dasselbe, welches zuständig wäre, wenn
er die beobachtete Handlung selbst ausgeführt hätte “ (Bauer,
2006, S. 26). Es kann somit angenommen werden, dass Herr
Bundi, auch wenn er nicht spricht, durch das genaue Hinschauen
profitiert.
In diesem Beispiel wird geragogisch vorgegangen. Es wird übungszentriert und bewusstseinsnah gearbeitet mit dem Ziel, musikalisch die sprachlichen Kompetenzen zu fördern.
Sensomotorische Auseinandersetzung
In der Musiktherapie sollen die Instrumente zum Experimentieren
und Erforschen anregen (vgl. Decker-Voigt, 2008, S. 47ff.; Lutz
Hochreutener, 2009, S. 40f.). Der Reiz des Unbekannten lässt einen manchmal über den eigenen Schatten springen. Wie tönt die-
125
ses Instrument, was kann ich damit machen, wie töne ich? Das
Ausprobieren kann für alte Menschen sehr lustvoll sein. Dazu
wird noch die Feinmotorik geübt und die Koordination verbessert.
Auch mit der eigenen Stimme, mit der Sprache und ihren Lauten
zu spielen, kann Spass machen und vertieft den Atem.
Abbildung 9: Zusammenspiel mit Rasseln
4.2.3 Musik als Kommunikation
Wenn Menschen miteinander in Kontakt kommen und sich daraus
ein Gespräch entwickelt, setzt das verbale Verstehen kognitive
Fähigkeiten voraus.
Das ’musikalische Gespräch’ kommt ohne Worte aus. Es beinhaltet, im Gegensatz zum verbalen Gespräch, die Möglichkeit, dass
126
die beiden Spielenden gleichzeitig tönend sich ’verstehen’ können. Musik im therapeutischen Sinn ist unabhängig von Intellekt
und kognitiven Voraussetzungen und dient als Kommunikation in
erster Linie dem gegenseitigen Ausdruck und Austausch von Gefühlen.
Musikalisch mit alten Menschen in Kontakt kommen, mit ihnen
spielen, Botschaften aufnehmen und geben, ihnen zuhören oder
gleichzeitig tönen, heisst Eindruck und Ausdruck im lebendigen
Zusammenspiel verbinden. Dabei spielt die Improvisation „sowohl im musikalischen wie im übergeordneten Sinne eine wesentliche Rolle: Sie ermöglicht es, dem Patienten in seiner Realität zu
begegnen und Verstehen durch musikalische Anknüpfung, Einfühlung und Spiegelung zu finden“ (Tüpker et al., 2009 b, S.
343).
Kontakt und Beziehungsgestaltung
Wenn Menschen sich sprachlich nicht ausdrücken können, werden sie von ihren Kommunikationspartnern oftmals als dumm
eingeschätzt. Ein Schlaganfall, der zu einer Aphasie führt, hat in
der Regel keine geistige Einschränkung zur Folge. Inhaltsleere
Ausdrücke wie ’da, da, da!’ werden meist automatisch vorgebracht und dienen der Aufrechterhaltung des zwischenmenschlichen Kontakts. Sprache hat nicht nur die Funktion Informationen
zu vermitteln, sondern sie dient zur Stärkung sozialer Bindungen.
127
Musiktherapie bei Aphasie kann sich sowohl auf das Verbessern
der sprachlichen Fähigkeiten als auch auf die sekundären Folgen
wie Traumaverarbeitung, emotionelle Probleme oder soziale Vereinsamung richten (vgl. Muthesius, 2010, S. 94ff.).
Die folgende Szene zeigt, wie Frau Ammann und Herr Bundi mit
Sprachelementen frei singend improvisieren und dabei eine spielerische Lust entwickeln.
Wenn sich Frau Ammann und Herr Bundi (siehe Beispiel S. 121)
im Musikraum begegnen, lächeln sie einander zu und bewegen
ihren Rollstuhl zueinander hin, um sich mit der funktionsfähigen
Hand begrüssen zu können. Nach dem gemeinsamen Singen eines
Liedes gibt es eine freie Stimmimprovisation nur mit Vokalen.
Dann übe ich mit Frau Ammann und Herrn Bundi einzeln, zuerst
vor den Vokalen, dann nach den Vokalen einzelne Konsonanten
zu sprechen und in einem Echogesang nachzusingen. Zuletzt animiere ich zu einer freien Improvisation mit Konsonanten und Vokalen und schlage vor, das Ganze rhythmisch zu gestalten. Dabei
unterstütze ich mit Gitarrenbegleitung. Beide Teilnehmer stimmen schnell in das singende ’Kauderwelsch’ ein und überraschen
sich selbst und mich mit ihren Kreationen. Es wird geschmunzelt
und mit Lust weiter gesungen. Am Schluss lachen wir alle, und
ich sage, dass wir drei einander wirklich verstehen können. Frau
Ammann meint: „Es isch ned schlächt.“ Auf die Frage, wie es ihr
jetzt gehe, sagt sie: „Gelöst.“
128
Die beiden Patienten können über das musikalische Sprachspiel
mit Vokalen und Konsonanten, gegenseitig in Kontakt treten und
sich mit der Welt verbinden. Dabei erhalten und fördern sie ihre
geschädigten, sprachlichen Fertigkeiten oder erlernen sie wieder.
Resonanz
Treffende, das heisst entsprechende Musik, ermöglicht eine Resonanz im Gegenüber. Re - sonare bedeutet: wieder klingen oder
zurück tönen. „D.h. indem wir im Rahmen der Musiktherapie mit
frei improvisierter Musik und mit dem freien und elementaren
Gebrauch unserer Stimme und unseres Körpers (in Halt, Berührung, Blick, Geste usw.) arbeiten, haben wir die Möglichkeit, auf
diesem Wege diese Resonanzprozesse sinnlich und unmittelbar
erfahrbar werden zu lassen“ (Gindl, 2002, S. 226.).
Die Pflegerin bittet mich heute zu Frau Sutter (siehe auch Beispiele S. 109 u. 111) ins Zimmer zu kommen, da es ihr nicht so
gut gehe. Frau Sutter teilt das Zimmer mit zwei anderen Frauen.
Bei meinem Kommen liegt sie im Bett und schläft. Zurzeit ist niemand anderes da. Ich nehme einen Stuhl und setze mich zu ihr.
Ich habe die Kalimba und die Gitarre mitgebracht. Vom Gang her
dringen Geräusche in den Raum.
Ich schaue Frau Sutter an. Sie liegt auf dem Rücken und hat die
Augen geschlossen. Ihr Mund ist offen. Frau Sutter hat eine markante Nase und zart glänzende Haut. Ich höre auf ihren Atem-
129
rhythmus und summe zu ihrem Ein und Aus, mich selber auf der
Kalimba begleitend, ein improvisiertes ’Wiegenlied’. Die Atemzüge werden tiefer. Mit der Zeit singe ich die Worte: „Schlaf,
schlaf schön, und heb gueti Träum. Schlaf, schlaf schön, ja, und
heb gueti Träum.“ Dann summe ich wieder, immer leiser werdend, und gestalte so einen Abschluss.
Gindl (vgl. 2002, S. 36) meint, dass in Resonanz zu sein oder in
Resonanz zu kommen immer eine Frage und ein Suchen nach
dem rechten (Zeit-) Mass sei „[...] eine Suche nach den das Lebendige bestimmenden Eigenzeiten.“
Mit dem Für-Spiel auf der hell und zart tönenden Kalimba wird
musikalisch eine friedliche Atmosphäre geschaffen, die zuerst
einmal der Therapeutin hilft zur Ruhe zu kommen und sich dieser
friedlichen Situation hinzugeben. Das Lauschen auf den Atem
der Patientin ermöglicht ein rhythmisch abgestimmtes Summen
und das Singen der einfachen Worte, soll wohltuende Mütterlichkeit und Geborgenheit vermitteln. Ziel ist es, Frau Sutters Schlaf
musikalisch zu unterstützten und zu schützen.
Beim Betrachten von Frau Sutters Gesicht werden Erinnerungen
wach. Öfters erwähnte sie, dass sie viel zu tun habe. Sie müsse
kochen für den Mann, sie müsse jetzt heim. Jetzt schläft sie und
die Ruhe darf ihr gegönnt werden. Das warme Bett kann verglichen werden mit dem Uterus, einem geschützten warmen wohli-
130
gen Raum. Im rhythmischen Gleichklang soll die Verbundenheit
mit ihr zum Ausdruck kommen.
Wenn sich der Patient verstanden und gehalten fühlt, erlebt er
sich, auch unbewusst, geborgen. Durch Klang und Rhythmus
kann eine frühe, vielleicht sogar vorgeburtliche Atmosphäre aufleuchten (Loos, 2009 b; Dehm-Gauwerky, 2009; Renz, 1996;
Renz, 2000). Eine Woche nach dieser Therapiestunde ist Frau
Sutter für immer friedlich eingeschlafen.
Abbildung 10: Ausklang auf der Kalimba
131
5 Schlussgedanken
Das Älterwerden wird im Rahmen dieser Arbeit im Zusammenhang der ganzen Lebensspanne beschrieben. Das Älterwerden bedeutet nicht Stagnation, sondern Transformation. Dazu ist die Erweiterung und Entwicklung von Fertigkeiten und Fähigkeiten gefragt; Stufe um Stufe müssen neue Anforderungen bewältigt werden.
Nach der Lebensmitte, wenn die eigene Endlichkeit immer deutlicher wird, beansprucht das Altern den Menschen noch einmal
neu. Es geht nicht mehr um Expansion und um Aufbau wie in
jüngeren Jahren, sondern um eine gegenläufige Bewegung. Der
äussere Einfluss schwindet, und der alte Mensch muss sich mit
dem auseinandersetzen, was er im Leben erschaffen hat.
Im Alter hat man wieder mehr Zeit, über die man frei verfügen
kann. Das Leben von Moment zu Moment zu gestalten und dem
Hier und Jetzt Sinn geben können ist für Seniorinnen und Senioren Chance und Herausforderung zugleich. Sie können sich vermehrt mit ihren Fragen und Themen beschäftigen und ihre Bedürfnisse wahrnehmen.
In dieser Arbeit wurde davon ausgegangen, dass die dem individuellen Bedürfnis des alten Menschen entsprechende Musik die
Lebensqualität erhöht.
Es hat sich gezeigt, dass viele Menschen mit bestimmten Liedern,
132
Musikstücken oder Instrumenten positive Erinnerungen verbinden, und das Singen dieser Lieder, Spielen oder Hören von Musik
zu einer Verbesserung der Stimmung beitragen kann. In Pflegeheimen zum Beispiel, ermöglicht Musik die Befriedigung sozialer- und emotionaler Bedürfnisse bei sonst überwiegend körperlicher Betreuung.
In diesem Sinne ist die Musik selber eine Ressource. Musik kann
aber durch ihre emotionale Zugangsmöglichkeit auch verschiedene Ressourcen wecken.
Musik fördert das Lebendige im Menschen. Wenn Menschen immobil oder pflegebedürftig sind, sie immer abhängiger werden
und ihre äussere Freiheit dadurch eingeschränkt wird, können sie
durch Musik innere Freiheit erleben. Musik bewegt innerlich,
schafft Raum, weckt Bilder und Imaginationen. Innere Bewegung
kommt zustande, wenn sich ein Mensch von der Musik persönlich
angesprochen fühlt.
Zeit und Raum werden durch die Musik relativiert. Vergangenes,
Gegenwärtiges und Zukünftiges können zusammenfliessen. Dadurch können Grenzen überschritten oder Fähigkeiten, die nicht
mehr oder noch nicht vorhanden sind, erlebt werden. Das setzt
Energien frei und bereitet den Weg zu persönlichen Veränderungen.
Lieder, die dem alten Menschen vertraut sind und gemeinsam gesungen werden, können Erinnerungen hervorrufen und Sicherheit
geben. Bei vertrauten Liedern kennen sich alte Menschen melodi-
133
ös und inhaltlich aus. Das gibt ihnen Halt und löst positive Emotionen aus. Lieder mit sinnvollem Text können Anregungen zu
erfüllenden Gedanken geben. Oft bedeuten gesungene religiöse
Inhalte in schwieriger Lebenslage eine Kraft, die zu trösten vermag oder die helfen kann, in dieser Situation einen Sinn zu finden.
Musik ist ein Tor zu Erinnerungen. Die Vergangenheit kann aufleuchten, und Bilder der Kindheit, der Jugend oder des Erwachsenseins können durch die Musik in das Hier und Jetzt transformiert werden.
Die freie Musikimprovisation ermöglicht ein emotionales Hin und
Her bei dem sich die Mitspielerinnen ermutigt, lebendig und kreativ erleben. Es gibt viele Formen der Gestaltung und Verwirklichung des Spiels, der Musik und des Musikspiels. Im gelingenden
Spiel können sich die Beteiligten sowohl körperlich wie auch seelisch geistig erfüllt und bewegt fühlen. Mit an Demenz erkrankten
alten Menschen liegt das Potential der Improvisation vor allem in
der Entwicklungsmöglichkeit eines Zusammengehörigkeitsgefühls. Das Musikspiel ist für alle Menschen wertvoll und passend.
Für alte Menschen ist es sogar speziell geeignet. Durch die Altersfreiheit, dass nicht mehr Ziele erreicht werden müssen, entsteht
die Chance einer grossen Offenheit für den Moment. Das Lebendige im Unmittelbaren wird spürbar: In der therapeutischen Beziehung und in der entstehenden Musik.
134
Es hat sich gezeigt, dass die musiktherapeutische Begleitung der
alten Menschen ein mehrdimensionales Geschehen ist. Wenn es
gelingt, dem Menschen in seinem So-sein zu begegnen und seine
Bedürfnisse wahrzunehmen, findet ein lebendiges Spiel statt und
Ressourcen werden aktiviert. In der Musiktherapie ist die Musik
das Dritte in der Du-Du-Beziehung. Sie ist das verbindende Element zwischen Therapeut und Klient, sie motiviert und bewegt.
Themen können dank ihr auftauchen und mit musikalischen Mitteln bearbeitet werden. Aus den Beispielen wird ersichtlich, dass
Musik und Musiktherapie wertvolle Wegbegleiter und Unterstützer sind, wenn sie den Bedürfnissen und den Möglichkeiten des
alten Menschen entsprechend gestaltet und angewendet werden.
Manchmal ist es die Schönheit einer komponierten Musik, die
durch ihre Kunst Harmonie erleben lässt, manchmal werden durch
das spielerische Tun mit Instrumenten Kräfte freigesetzt und der
Fantasie Raum gegeben, manchmal befreit das gemeinsame Singen, weil man sich in der Gemeinschaft getragen fühlt und
manchmal ist es möglich an einem musikalischen Phänomen eine
höhere Gesetzmässigkeit zu erkennen, die hilft sich im Leben zurechtzufinden. Weil Musik Lebensthemen hörbar machen kann,
liegt in ihr die Möglichkeit zu trösten und Keime der Hoffnung zu
wecken. Musik kann beruhigen und sie kann aufmuntern. In einem gelingenden Spiel fühlen sich alte Menschen lebendig, kreativ und jung. Die musikalische Handlung schafft Kompetenzgefühle. Sie bewegt sowohl körperlich wie auch seelisch geistig.
135
Besonders wertvoll ist die Erfahrung, dass Musik einen leichten
Zugang zu Demenzpatienten ermöglicht. Sonst kaum ansprechbare Menschen werden mittels Musik wach und kontaktfreudig,
wenn ihnen auf Augenhöhe begegnet wird. Eine grosse Herzlichkeit und Wärme kann entstehen und die innere Unversehrtheit
wird erlebbar.
Eine weitere Erkenntnis dieser Theoriearbeit ist die besondere
Bedeutung des Wirkfaktors Zeit in der Musiktherapie mit alten
Menschen. Viele alte Menschen haben ein verändertes Zeitempfinden. Die Bewegungen werden langsamer, die Zeit bleibt
manchmal scheinbar stehen und doch wird die Restlebenszeit
immer kürzer. Musik ist hörbar gestaltete Zeit. Sie wird, ist und
vergeht. Zeit haben, still sein und zuhören können sind Voraussetzungen dafür, dass die Musik als solche wahrgenommen werden kann. Die Musik entsteht von Ton zu Ton, von Moment zu
Moment. In der Musik kann das Leben voller Gegensätze, Klänge
und Rhythmen, im ständigen Sein und Werden bis zum Tod, erklingen. Musik berührt alte Menschen emotional und vermittelt
ihnen dadurch Gegenwärtigkeit. Das kann Lebensfreude wecken
und Kraft geben.
136
6 Dank
Eine grosse Hilfe bei der Entstehung dieser Arbeit war die geduldige Anteilnahme und sorgfältige Begleitung und Unterstützung
meiner Mentorin, Sandra Lutz Hochreutener. Sie setzte immer
wieder richtungweisende Wegmarken.
Christoph Pally, mein Mann, war der Erstleser und konstruktive
Kritiker. Er hat mich mit seinem psychologischen Fachwissen unterstützt und immer wieder für mein leibliches Wohl gesorgt.
Doris Mäder, meine Lernpartnerin, stand mir als Musiktherapiekollegin mit ihrer freundlichen Hilfsbereitschaft bei. Sie machte
es mir leicht, sie immer wieder zu bitten, die entstehende Arbeit
zu lesen und zu korrigieren.
Maja Rüdisüli-Voerkel hat als Zweitgutachterin und Expertin mit
konstruktiven Anmerkungen weitergeholfen.
Meine Familienangehörigen, meine Freundinnen und Freunde haben mich unterstützt, indem sie mich zu dieser Arbeit ermutigten
und über ein Jahr lang frei liessen, damit ich in Ruhe arbeiten
konnte.
Martin Frei ermöglicht im Altersheim Birkenrain den Musikclub.
137
An die leitende Ärztin des Pflegezentrums, Regula Stengel, und
die Beiständin Ursula Keller, geht ein besonderer Dank für die
Erlaubnis, dass unter Wahrung des Datenschutzes, Fotos, Audioaufnahmen und Beispiele von PatientInnen für diese Arbeit verwendet werden durften. Beide betätigen sich aktiv musikalisch
und beide fördern durch ihre Unterstützung die Musiktherapie für
alte Menschen.
Mein grösster Dank gilt allen meinen alten Frauen und Männern,
die ich als Musiktherapeutin begleiten durfte und darf, und die
mich immer wieder mit ihrem Vertrauen beschenken. Ohne sie
hätte ich diese Arbeit überhaupt nicht schreiben können. Mit ihrer
grosszügigen Erlaubnis konnte ausserdem das geschriebene Wort
mit Fotos bereichert werden.
138
7 Anhang
Der alte Grossvater und der Enkel
Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb
geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm. Wenn er
nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete
er Suppe auf das Tischtuch, und es floß ihm auch etwas wieder
aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor,
und deswegen mußte sich der alte Großvater endlich hinter den
Ofen in die Ecke setzen, und sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen und noch dazu nicht einmal satt; da sah er betrübt nach dem Tisch und die Augen wurden ihm naß. Einmal
auch konnten seine zittrigen Hände das Schüsselchen nicht festhalten, es fiel zur Erde und zerbrach. Die junge Frau schalt, er
sagte aber nichts und seufzte nur. Da kaufte sie ihm ein hölzernes
Schüsselchen für ein paar Heller, daraus mußte er nun essen. Wie
sie da so sitzen, so trägt der kleine Enkel von vier Jahren auf der
Erde kleine Brettlein zusammen. „Was machst du da?“, fragte der
Vater. „Ich mache ein Tröglein“, antwortete das Kind, „daraus
sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin.“ Da sahen sich
Mann und Frau eine Weile an, fingen endlich an zu weinen, holten alsofort den alten Großvater an den Tisch und ließen ihn von
nun an immer mitessen, sagten auch nichts, wenn er ein wenig
verschüttete.
ENDE
139
8 Abbildungsverzeichnis
Titelbild: Bodor, R. (2008). Foto. Zusammenspiel auf der Obertonflöte und Gitarre.
Abbildung 1: Um 1845. Das Stufenalter des Menschen.
Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum.
Abbildung 2: Diagramm
E.Erikson
Entwicklung des Menschen nach
Abbildung 3: Otto und Sonja Meyer. Frau Meyer leidet an Alzheimer. (2011/ Heft1). Nur die Liebe zählt. In: sprechstunde doktor stutz. Effretikon: Printmedia GmbH. S.114f.
Abbildung 4: Bodor, R. (2011). Foto. Hang.
Abbildung 5: Bodor, R. (2011). Foto. Tanzende Frau Müller.
Abbildung 6: Bodor, R. (2011). Foto. Musik hörende und Erinnerungen mitteilende Frau Huber.
Abbildung 7: Bodor,R. (2011). Foto. Spiel auf der Obertonflöte.
Abbildung 8: Bodor, R. (2011). Foto. „Das Flötenspiel muss man
üben.“
Abbildung 9: Bodor, R. (2011). Foto. Zusammenspiel mit Rasseln.
Abbildung 10: Bodor, R. (2011). Foto. Ausklang auf der Kalimba.
140
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10 Erklärung der Urheberschaft
Ich erkläre hiermit,
dass ich vorliegende Arbeit ohne fremde Hilfe und ohne Benützung anderer als der angegebenen Hilfsmittel verfasst habe.
Zürich, 22.10. 2011
Renata Gabriela Bodor
Kontaktadresse:
http://www.musikraumrebo.ch
[email protected]
150
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