Plädoyer für eine Moderne Medizin mit Grenzen

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Textbeitrag von René Röspel zum Argumente-Heft der Jusos
„Plädoyer für eine Moderne Medizin mit Grenzen“
Mit dem Jahr 2001 ist das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)
ausgerufene „Jahr der Lebenswissenschaften“ (neudeutsch: life science!) zu Ende
gegangen. In der Tat ist die Debatte über die „rote“ Gentechnik (also die am Menschen
anwendbare) in der Bundesrepublik im Jahr 2001 so öffentlich geführt worden wie wohl
selten zuvor. Das lag weniger am ernsthaften und lobenswerten Bemühen des BMBF,
Schüler als künftige Studenten für diese Fächer zu interessieren, sondern an einer
rasanten Entwicklung im Bereich der Zell- und Molekularbiologie in den letzten 5 Jahren,
die Politik und Gesellschaft, aber auch weite Teile der Wissenschaft überrascht hat. Vor
wenigen Jahren noch für undenkbar gehaltene Technik ist oder scheint auf dem Sprung
zur Routineanwendung zu sein und erweckt das Interesse von Forschung und
Wirtschaft. Nachrichten über die Möglichkeit zur Heilung bisher unheilbarer Krankheiten
lassen Betroffene hoffnungsvoll aufhorchen und Börsenkurse in die Höhe schnellen.
Fragen nach der ethischen oder sozialen Verträglichkeit geraten vor dem Hintergrund
der potenziellen Heilungsmöglichkeiten und ökonomischen Aussichten zunehmend
unter Druck.
Höchstrangige Politiker wie Bundeskanzler Schröder (im Dezember 2000) und
Bundespräsident Rau boten mit eindrucksvollen Beiträgen, die Ministerinnen Ulla
Schmidt, Edelgard Bulmahn und Herta Däubler-Gmelin mit einer öffentlich geführten
Kontroverse über die Präimplantationsdiagnostik und Ministerpräsident Clement mit
seiner zeitgleich zur Bundestagsdebatte durchgeführten Reise zum „Stammzellparadies“
Israel den Stoff für eine Vielzahl von mehr oder weniger fachlich gut recherchierten
Feuilletonartikeln, Wissenschafts- und Talkshows.
Die Drohung mit abwandernden Wissenschaftlern, das Szenario eines in einer
„Schlüsseltechnologie“ zurückbleibenden Deutschlands und die nachvollziehbare
individuelle Hoffnung auf Gesundung oder wenigstens Verbesserung des Leidens bis
hin zur „Vermeidung von Leid“ erhöhen den Entscheidungsdruck in einer Frage, deren
Antwort gesellschaftlich hohe Bedeutung hat und eigentlich ruhige, abwägende und
besonnene Entscheidungsfindung verlangt: Welche Grenzen kann, welche Grenzen soll
und welche Grenzen muss man der Gentechnologie setzen?
Der Eindruck drängt sich mitunter auf, dass Antworten gegeben werden, damit keine
unbequemen Fragen gestellt werden, dass „(gen)technische Lösungen“ für Probleme
angeboten werden, deren Ursachenbekämpfung unbequemer und unpopulärer ist und
am ökonomischen System kratzt. Natürlich kann und muss man Krebs mit
gentechnischen Verfahren zu bekämpfen versuchen, aber wer Krebs bekämpfen will,
muss über Nikotin, Alkohol, Dieselruß und Chemiepolitik reden. Unfruchtbaren Paaren
kann man künstliche Befruchtung anbieten (Erfolgsquote bei etwa 15 %!), die Ursachen
zunehmender Fruchtbarkeitsstörungen (siehe Krebs) aber werden kaum thematisiert.
Die Fragen der fortschreitenden Ökonomisierung und Technisierung des
Gesundheitswesens und die Anforderungen an eine moderne Gesundheitspolitik sollen
aber an anderer Stelle in diesem Heft erörtert werden.
Hier soll der Versuch gemacht werden, die derzeit heftig umstrittenen Fragen der
Zulassung der Präimplantationsdiagnostik und der Stammzellforschung aus der Sicht
1
eines nicht objektiven Naturwissenschaftlers zu beleuchten, ohne den Anspruch auf
absolute Gültigkeit und Richtigkeit der eigenen Sichtweise erheben zu wollen.1
Präimplantationsdiagnostik (PID) – Weg zum gesunden Kind oder Werkzeug der
Selektion?
Diese Methode ist vor einem Jahrzehnt entwickelt worden, um im Reagenzglas erzeugte
menschliche Embryonen gezielt auf bestimmte genetische Defekte hin untersuchen zu
können. Dazu wird dem erst aus etwa acht Zellen bestehenden Embryo für die
Untersuchung eine Zelle entnommen, die sozusagen „stellvertretend“ für den Embryo
auf einen bestimmten genetischen Defekt hin untersucht wird. Diese Zelle ist in diesem
Entwicklungsstadium als „totipotente“ Zelle noch in der Lage, sich zu einem kompletten
Menschen zu entwickeln und stellt daher einen eigenständigen Embryo dar (ähnlich wie
bei der natürlichen Zwillingsbildung durch Zerfall des ursprünglichen Embryos). Durch
die Untersuchung wird diese Zelle zerstört. Intention der Fortpflanzungsmediziner, die
sich für die Zulassung dieser bislang in Deutschland verbotenen Methode einsetzen, ist,
das Leid von (Ehe-) Paaren zu reduzieren, die Träger von Erbkrankheiten sind und
diese auf ihre Kinder übertragen können.
Beispielhaft sei der Fall eines Ehepaares aus dem Jahr 1995 genannt, bei dem beide
Partner das sog. "Mukoviszidose-Gen" (besser: Cystische Fibrose, CF) tragen. CF ist
eine schwere, vererbbare Stoffwechselerkrankung, bei der Organe und Lunge
verschleimen und Betroffene qualvoll sterben können. Das Paar hatte bereits ein Kind,
das an Mukoviszidose erkrankt war und zwei Schwangerschaftsabbrüche nach
Pränataldiagnostik2 wegen der Diagnose "CF" durchführen lassen. Eine PID könnte
ihnen die Möglichkeit geben, nur solche im Reagenzglas befruchteten Embryonen in die
Gebärmutter einzupflanzen, die nach genetischer Untersuchung mit hoher
Wahrscheinlichkeit den gesuchten Defekt "CF" nicht tragen, also auf CF bezogen
„gesund“ erscheinen. Das Paar beantragte deshalb bei einem Lübecker
Fortpflanzungsmediziner die Durchführung einer PID.
U.a. die Tatsache, dass die Embryonen, die den gesuchten Defekt aufweisen, nicht in
die Gebärmutter eingepflanzt, sondern verworfen werden, führt nach überwiegender
juristischer Auffassung dazu, dass nach dem Embryonenschutzgesetz diese Technik in
Deutschland nicht zulässig ist. Diese Tötung eines Embryos kann mit bis zu drei Jahren
Gefängnis bestraft werden. Der Verweis des Lübecker Mediziners, das Paar solle
wegen des in Deutschland gültigen Verbotes nach Belgien gehen, hat mittlerweile zu
einer Strafanzeige wegen Beihilfe zu einer Straftat geführt. In Belgien wie auch in neun
anderen europäischen Ländern (auch in den USA wird PID durchgeführt) ist die
genetische Untersuchung von Embryonen in vitro erlaubt. Seit Einführung der
Diagnostik wurden weltweit etwa 500 Kinder nach künstlicher Befruchtung und
anschließender PID geboren.
Warum sollten wir in Deutschland nicht zulassen, was im Ausland schon praktiziert
1
Der Autor ist der Auffassung, dass bei Fragen, die derart elementar ethische und moralische
Grundsätze berühren, eine objektive naturwissenschaftliche Betrachtung nicht mehr möglich
sein kann.
2
Als Pränataldiagnostik (PND) werden die vorgeburtlichen Untersuchungsmethoden bezeichnet,
bei der das Kind im Mutterleib untersucht wird (z. B. durch Blut- oder Fruchtwasserentnahme
und mit Ultraschall)
2
wird? Gegenfrage: Wenn es in einigen Ländern möglich ist, menschliche Klone
herzustellen oder wenn eine 62jährige Frau in den USA das Kind ihres Bruders
austragen kann, müssen wir das dann deshalb auch in D erlauben?
Wir sollten anderen Ländern nicht unsere Wertvorstellungen oder unsere „Ethik“
aufdrängen (wie das in anderen Bereichen häufig getan wird), aber wir müssen auch
nicht alles das tun, was andere machen. Die zu treffende Entscheidung kann sich nur an
den Wertvorstellungen unserer Gesellschaft orientieren, da ein Gesetz nur auf die
Bundesrepublik beschränkt werden kann. Das "Auslandsargument" ist sicher wie in
anderen Fällen ein häufig genanntes Argument für die Zulassung der PID, sollte aus den
genannten Gründen aber eine nachrangige Bedeutung haben, da es sehr schnell
missbraucht werden kann3.
Das eindringlichste Argument hingegen ist die Situation und der verständliche Wunsch
nach einem „genetisch eigenen“ Kind der (nach Schätzung pro Jahr in Deutschland)
etwa 100-150 betroffenen Paare, die die PID in Anspruch nehmen würden. Für das
Verlangen des "Lübecker Paares" kann man sicher nur Verständnis haben, und wer
verspürt nicht den Drang, hier helfen zu wollen? Und wer möchte einer Frau schon
zumuten, sich erst einen Embryo einpflanzen zu lassen, ihn dann mit Pränataldiagnostik
prüfen zu lassen und ihn schließlich abzutreiben, wenn der genetische "Defekt" dann
doch festgestellt wird? Dass dies auch nach einer PID noch der Fall sein kann, wird in
der Diskussion übrigens häufig verschwiegen. Die PID gilt immer noch als
experimentelles Verfahren, und die Mediziner empfehlen eine anschießende
Pränataldiagnostik, um das Ergebnis abzusichern. Ausserdem wird Frauen bei
Inanspruchnahme einer PID zugemutet, vorher eine künstliche Befruchtung durchführen
zu lassen, mit Hormonstimulation und Eizellentnahme.
Die Bundesärztekammer hat 2000 einen Richtlinienentwurf vorgestellt, in dem Kriterien
für eine begrenzte Zulassung der PID aufgestellt wurden. So soll die PID nur nach
Beratung bei Paaren zugelassen werden, "für deren Nachkommen ein hohes Risiko für
eine bekannte schwer wiegende, genetisch bedingte Erkrankung besteht". Nun könnten
sich viele mit einer solchen Lösung einverstanden erklären, gäbe es nicht eine bisher
unbeantwortete Frage: Was ist eine "schwer wiegende Krankheit"?
Das ist die Kernfrage. Von den Befürwortern der PID wird am häufigsten die
Mukoviszidose (CF) genannt – oder die Muskeldystrophie Duchenne.
Das ist aber nur eine Sicht der Dinge. In einer Anhörung der Bundestags-EnquêteKommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, zu der Vertreter von
Behindertenverbänden und Betroffene selbst eingeladen waren, wurde deutlich: Die
genannten Krankheiten wurden von den Anwesenden als "nicht schwer wiegend"
bezeichnet. Gerade die moderne Medizin erlaubt ein "lebenswertes" Leben mit diesen
Krankheiten. CF bleibt selbstverständlich keine "wünschenswerte" Krankheit und eine
Belastung für die Betroffenen. Allerdings: Noch im Jahr 1985 erreichten weniger als 30
% der Patienten das Erwachsenenalter, ein heute geborenes Kind mit CF wird dank des
3
Die Tatsache, dass es sogar in anderen europäischen Ländern niedrigere Löhne und
schlechtere Arbeits- und Sozialstandards als in der Bundesrepublik gibt, wäre für den Autor kein
hinreichendes Argument, die Standards in D zu verschlechtern.
3
medizinischen Fortschritts im Mittel 40 Jahre alt, fast alle werden erwachsen4.
Ausserdem darf nicht vergessen werden, dass mit der PID nur ein begrenzter Anteil von
Erkrankungen diagnostiziert werden kann, nämlich monogen5 verursachte und
Chromosomenabweichungen. Diese machen aber nur 3-5 % aller Erkrankungen aus.
Aus meiner Sicht wird es keinen vernünftig begründbaren und begrenzbaren
Indikationskatalog und keine Definition "schwer wiegender Krankheiten" geben können.
Wird Trisomie 21 (Down-Syndrom) die Grenze sein? Oder irgendwann Fettleibigkeit?
Embryonen mit welchem Befund würden zukünftig die Selektion überstehen (dürfen)?
Und wenn bei 150 Paaren mit genetischer Vorbelastung eine Untersuchung des
Embryos zugelassen wird, wie will man begründen, dass bei den etwa 60.000 jährlich in
der Bundesrepublik durchgeführten künstlichen Befruchtungen nicht auch diese Paare
die Möglichkeit bekommen, die Embryonen auf mögliche genetische Defekte vorab
untersuchen zu lassen? Zählt die Angst einer nicht „vorbelasteten“ (oder nicht genetisch
untersuchten) Frau vor einem behinderten Kind weniger als die einer „vorbelasteten“?
Es ist zu befürchten, dass PID zur Regeluntersuchung auch bei künstlichen
Befruchtungen wird, die eigentlich wegen der medizinischen Indikation "Unfruchtbarkeit"
durchgeführt werden. Beispiele aus dem Ausland belegen das inzwischen. Der USReproduktionsmediziner William E. Gibbons rechnet bereits vor, dass es „kosteneffizient
sei, 2.000-3.000 Dollar für eine PID zusätzlich zu den Kosten einer künstlichen
Befruchtung zu zahlen, wenn dadurch die Einpflanzung eines Embryos mit
Mukoviszidose vermieden werden kann, der später sehr hohe Pflegekosten verursachen
würde“6. Ein solcher Effizienzvorschlag bleibt hoffentlich Einzelmeinung. Keine
Einzelmeinung allerdings ist in den USA die Forderung, PID zur Geschlechtswahl
zuzulassen. Die Väter, die darunter „leiden“, „nur“ vier Töchter und keinen Sohn zu
haben, würde ich nicht zum Reproduktionsmediziner, sondern zum Psychologen
schicken.
Und in letzter Konsequenz: Wenn die Selektion von Embryonen wegen ihrer
genetischen Beschaffenheit zulässig ist, welcher Grund der Ablehnung kann noch
angeführt werden, wenn Menschen verlangen, dass "ihre" Embryonen genetisch
verändert werden sollen ("kranke" Gene "repariert" oder "normale" verändert werden)?
Damit aber wäre die letzte Hürde gefallen: Der Eingriff in die menschliche Keimbahn, die
gezielte genetische Veränderung (natürlich nur in der sog. „Eigenverantwortlichkeit“ der
Paare!). Gleichzeitig wäre dann auch die leidige Diskussion, ob man mit Embryonen
forschen darf, erledigt.
Stammzellforschung
Eingefleischte Börsianer wussten bis vor kurzem gerade einmal, was eine Stammaktie
4
Auf diesen Erfolg hat die medizinische Versorgung leider noch nicht reagiert, denn erwachsene
Erkrankte müssen häufig in Kinderkliniken versorgt werden, da es die nötigen Einrichtungen nur
dort gibt.
5
monogen = durch ein einziges defektes Gen verursachte Krankheit. Die absolute Mehrzahl
aller Krankheiten aber ist auf mehrere Gendefekte oder aber auf Ursachen zuruckzuführen, die
nicht auf vererbbaren Gendefekten beruhen.
6
taz,19.10.01
4
ist7. Mittlerweile gehört der Begriff "embryonale Stammzelle" schon fast zum
Sprachgebrauch.
Als Stammzelle werden solche Zellen bezeichnet, aus denen als Ursprungszelle eine
Vielzahl von Körperzellen gleichen Typs oder sogar viele verschiedene Typen
hervorgehen, vergleichbar dem Baumstamm/Stammbaum, von dem aus sich
verschiedene Äste abzweigen. Embryonale Stammzellen stammen aus Embryonen oder
haben gleiche Entwicklungsfähigkeit, während die sog. "adulten" Stammzellen aus dem
Körper erwachsener bzw. geborener Menschen gewonnen werden können.
Hinsichtlich ihrer Entwicklungsfähigkeit werden die "totipotenten" ("Alleskönner") von
den "pluripotenten" ("Viel-aber-nicht-alles-könner") Stammzellen unterschieden, aus
denen kein kompletter Organismus mehr entstehen kann8.
Embryonale Stammzellen - die neuen Superstars am Himmel moderner Medizin?
Mindestens wissenschaftlich gesehen sind embryonale Stammzellen (ES) von höchstem
Interesse. Im Tierversuch konnten Stammzellen, die aus Mäuse- bzw. Rattenembryonen
gewonnen wurden, unter Laborbedingungen vermehrt werden (mit menschlichen Zellen
gelang dies Thomson erstmalig 1998). Im Labor könnten unter definierter Zugabe
bestimmter Chemikalien die ES-Zellen so beeinflußt werden, dass sich aus der noch
unentwickelten Stammzelle eine der über 200 speziellen Zelltypen des Menschen
entwickelt. Für einige Zelltypen der Maus sind solche Versuche bereits veröffentlicht:
ES-Zellen konnten durch den Wachstumsfaktor IL-3 in weiße und mit Hilfe von IL-6 in
rote Blutkörperchen „umgewandelt“ werden; durch Zugabe eines Vitamin A-verwandten
Stoffes entwickelten sich - abhängig von der Konzentration - Gehirnzellen oder
Muskelzellen. Besondere Aufmerksamkeit haben in letzter Zeit die Versuche von Prof.
Brüstle aus Bonn erlangt: 1999 zeigte er, dass bei Ratten eine experimentell ausgelöste
der Multiplen Sklerose ähnelnde Mangelkrankheit durch die Einpflanzung von
bestimmten ES-Zellen beseitigt werden konnte9. Mittlerweile können (immer im
„Tiermodell“!) aus ES-Zellen Nervenzelltypen „hergestellt“ werden, die bei der
Parkinsonschen Krankheit eine Rolle spielen, und der Hannoveraner Mediziner Prof.
Haverich berichtet von im Labor aus ES-Zellen gezüchteten Herzmuskelzellen. Die
Reihe der ins Spiel gebrachten Krankheiten, für die die Hoffnung auf Heilung oder
7
Vermeldet ein BioTech-Unternehmen die neuesten Heilungsmöglichkeiten durch Stammzellen,
so geraten auch die Meister der Spekulation - die Börsianer - in Bewegung. Das zeigt die
ökonomische Bedeutung der geführten Diskussion: Therapeutischer Nutzen kann hier eindeutig
festgestellt werden (leider nur für die Gewinner). Der neue Branchenreport „European Life
Sciences 2001: Integration“ von Ernst & Young zählt für das Jahr 2000 in Europa 1.570
überwiegend kleine und mittlere Unternehmen mit 61.000 Beschäftigten (13 % Zuwachs
gegenüber 1999) und einem Gesamtumsatz von 8,7 Mrd. € (LifeScience 29.10.01). Der
Nettoverlust liegt danach bei 1,6 Mrd. €.
8
Streng genommen kann aus totipotenten Zellen der Embryo und der Mutterkuchen (Plazenta)
hervorgehen, während aus den pluripotenten Stammzellen "nur" noch der Embryo entstehen
kann, nicht aber mehr der Mutterkuchen (die spätere „Nachgeburt“). Gelingt es der
Wissenschaft, irgendwann den künstlichen Mutterkuchen zu "bauen", so wäre es theoretisch
möglich, auch aus bestimmten pluripotenten Zellen „komplette“ Embryonen zu entwickeln.
9
Infolge eines gezielten Gendefekts fehlten die Eiweißummantelungen, die für die
Signalübertragung bei Nervenzellen eine große Bedeutung haben.
5
Linderung durch embryonale Stammzellen postuliert wird, läßt sich weiter fortsetzen.10
Die Chancen für die Nutzbarkeit embryonaler Stammzellen werden mittlerweile – trotz
immer wieder in der Öffentlichkeit breit gefeierter Erfolgsmeldungen -- selbst von den
Befürwortern relativiert: Nachdem vor einiger Zeit noch von Organersatz und der
Möglichkeit, Organmangel zu beheben, gesprochen wurde, sind die Ziele nun
bescheidener geworden. Es gehe zunächst nur um Grundlagenforschung, so Prof.
Brüstle in einer Anhörung der Enquête-Kommission, die Umsetzung zu therapeutischer
Anwendung könne vielleicht in 10 Jahren angegangen werden11. Nach Auffassung der
Enquête-Kommission wird es eher Jahrzehnte dauern, wenn überhaupt eine
Verwendung von ES-Zellen möglich ist.
Wesentliche medizinisch-technische Probleme sind nicht ansatzweise gelöst. Dabei
zeigt sich, dass die großen Vorteile embryonaler Stammzellen gleichzeitig die größten
Nachteile darstellen: die (theoretisch) unbegrenzte Vermehrungsfähigkeit und die
Möglichkeit zur Differenzierung in verschiedene Zelltypen. Wird die Fähigkeit der Zellen
zur ständigen Vermehrung nicht vor der Transplantation endgültig gestoppt, können
Tumoren entstehen. Im Tierversuch ist das bereits beobachtet worden. Ebenso muss
sicher gestellt sein, dass der Differenzierungsprozess definiert ist. Eine einzige
Muskelzelle, die sich zwischen Nervenzellen vermehrt, die ins Gehirn eingepflanzt
werden sollen, könnte z.B. verheerende Auswirkung haben.
Einen weiteren großen Nachteil teilen embryonale Stammzellen mit Organen, die heute
schon von Dritten verwendet werden: ES-Zellen stellen für den Patienten immer
körperfremdes Material dar und provozieren automatisch die Abstoßungsreaktion.
Ethisch gesehen bleibt immer das Dilemma, dass für die Herstellung von ES-Zellen
Embryonen vernichtet werden müssen. Die Frage, ob die (theoretische und spekulative!)
Möglichkeit der Heilung ein ausreichend hohes Gut ist, das mit dem Lebensrecht des
Embryo abgewogen werden kann, ist in der Gesellschaft umstritten.
Adulte Stammzellen als ethisch unproblematische Alternative
Gewebespezifische/“adulte“ Stammzellen (AS) sind dadurch gekennzeichnet, dass auch
sie die Fähigkeit sowohl zur Selbsterneuerung als auch zur Entwicklung in spezialisierte
Zelltypen besitzen. Vielen Menschen ist bekannt, dass aus Knochenmarkzellen
Blutzellen „hergestellt“ werden können, um Leukämie zu therapieren, oder dass
Hautzellen vermehrt werden können. Mittlerweile ist es sogar möglich, aus
Knochenmark- Knorpelzellen herzustellen. In über 20 Geweben des Menschen sind
solche Zellen gefunden worden, und der Erkenntnisfortschritt ist ähnlich rasant wie bei
den embryonalen Stammzellen. Allerdings ist die therapeutische Nutzung in großem Stil
10
Eine annähernd vergleichbare Euphorie hat es allenfalls - wenn auch mit erheblich weniger
Öffentlichkeit - vor einem Jahrzehnt gegeben, als die somatische Gentherapie, also die
„Reparatur“ genetisch defekter Körperzellen, zur Hoffnung vieler Kranker wurde. Diese Euphorie
ist mittlerweile der Ernüchterung gewichen, Fortschritte werden durch Misserfolge mit
Todesfällen gebremst.
11
Auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG, www.dfg.de) begründet die Notwendigkeit
der Forschung an ES-Zellen im wesentlichen damit, die dabei gewonnenen Erkenntnisse auf die
adulten Stammzellen übertragen zu können.
6
noch sehr weit entfernt. AS sind, weil sie nur in geringer Zahl in den Geweben zu finden
sind, sehr schwer zu isolieren. Darüber hinaus gibt es noch keine Möglichkeit, sie unter
Laborbedingungen in ausreichender Zahl zu vermehren. Aber sie besitzen den
unschlagbaren Vorteil, körpereigenes Material zu sein, also keine Abstoßungsreaktion
hervorzurufen. Und ihre Gewinnung wäre ethisch unproblematisch, da Dritte nicht zu
Schaden kommen.
Relativ unbemerkt von der Öffentlichkeit gibt es eine weitere Möglichkeit, ethisch
unbedenklich körpereigene Zellen zu gewinnen. Auch in Nabelschnurblut finden sich
noch Stammzellen, die bei der Geburt aus einigen Millilitern Blut aus der Nabelschnur
gewonnen werden können. Hier steht die Forschung aber noch am Anfang.12
Wird Deutschland ohne den Import von Stammzellen international zurückfallen?
Im Januar 2002 wird der Deutsche Bundestag eine Empfehlung beschliessen, ob
pluripotente embryonale Stammzellen des Menschen zu Forschungszwecken importiert
werden sollen (was rechtlich bereits heute möglich ist). Zuvor hatten sich die EnquêteKommission mit 26:12 Stimmen gegen und der Nationale Ethikrat beim Bundeskanzler
mit 15:10 für den Import ausgesprochen13. Forscher um den Bonner Neuropathologen
Prof. Brüstle wollen israelische Zelllinien importieren, um an Mäusezellen durchgeführte
Versuche an menschlichen Zellen (erstmals in D) zu wiederholen. Diese pluripotenten
(embryonalen) Stammzellen wurden in Israel aus einem Embryo im Achtzellstadium
gewonnen, der sieben Jahre tiefgefroren aufbewahrt wurde und dann mit Einverständnis
des betroffenen Paares nicht mehr zur künstlichen Befruchtung, sondern zur Herstellung
sog. pluripotenter Stammzelllinien verwendet wurde. Ohne diese Verwendung wäre er
„verworfen“ worden.
Die Befürworter des Importes sehen die Möglichkeit, über einen beschränkten Import die
weitere Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken zu verhindern. Die
Bereitstellung von Zelllinien, die es heute schon gibt, und für die keine zusätzlichen
Embryonen mehr getötet werden müssen, stellt für viele von ihnen einen hinnehmbaren
Kompromiss dar, um den Forschern die Möglichkeit zu geben, Grundlagenforschung
betreiben oder sogar neue Therapien entwickeln zu können. Damit soll der vorhandene
Bedarf an Zellen befriedigt werden. Allenfalls sollten noch sog. „überzählige“
Embryonen14 zu Forschungszwecken verwendet werden können.
Die Gegner eines Importes halten die Verwendung von menschlichen Embryonen zu
Forschungszwecken für ethisch nicht vertretbar, unabhängig davon, ob dies im Ausland
geschieht oder sogar schon geschehen ist. Darüber hinaus sehen sie die Gefahr, dass
eine Beschränkung auf den Import bereits existierender Zelllinien nicht lange aufrecht zu
erhalten ist.
Sollte der Import zugelassen werden, wird es aus meiner Sicht über kurz oder lang dazu
kommen, dass auch in Deutschland als nächster Schritt sog. „überzählige“ Embryonen
aus künstlichen Befruchtungen zu Forschungszwecken benutzt werden, wie dies u.a.
12
Auch für Nabelschnurblut- und adulte Stammzellen gilt das Problem der Abstoßungsreaktion,
wenn sie für Dritte verwendet werden.
13
www.bundestag.de/gremien/enquete...; www.nationalerethikrat.de
14
Als „überzählige“ oder „verwaiste“ Embryonen werden solche bezeichnet, die nach einer
künstlichen Befruchtung nicht mehr gebraucht werden, weil es z. B. durch Krankheit oder Tod
der Frau/des Paares nicht mehr zu einer Einpflanzung in die Gebärmutter der Frau kommt.
7
auch schon von der DFG und der Bundesforschungsministerin postuliert wird.15 Weil es
nur etwa 15 solcher eingefrorener Embryonen in D gibt, wird es nicht lange dauern, bis
auch extra zu Forschungszwecken Embryonen hergestellt werden. Denn wer wird dann
noch der Forderung von Forschern entgegentreten können, die sagen: „Wir brauchen
noch 10 oder 20 Embryonen bis zum Durchbruch!“ (der dann doch wieder nicht kommt).
Damit wären die Türen weit geöffnet und die letzten Grenzen niedergerissen.
In Großbritannien sind bis zum heutigen Tage 50.000 Embryonen zu
Forschungszwecken „vernutzt“ worden, ohne einen größeren therapeutisch nutzbaren
Erkenntnisgewinn zu erzielen (ausgenommen die Methode der künstlichen
Befruchtung). Interessanterweise wird von den Befürwortern nicht deutlich gemacht,
warum die Forschung an „überzähligen“ Embryonen zwar zulässig, die Herstellung zu
gleichen Zwecken aber verboten sein soll. Sind diese Embryonen wirklich
unterscheidbar im Umfang ihres Würde- und/oder Lebensschutzes? Oder reicht das
Argument, der „überzählige“ sei ja sowieso dem Tode geweiht? Dieses Schicksal weist
der extra hergestellte, der für die Wissenschaft viel interessanter, weil definierbarer ist,
auch auf.
Auch das immer wieder benutzte Argument, man würde Heilungschancen verspielen,
wenn man keine Forschung an embryonalen menschlichen Stammzellen betriebe, trägt
nicht16, denn dies wird in einer globalisierten Gesellschaft niemals der Fall sein. Wenn
solche Forschung im Ausland tatsächlich in 20 oder 30 Jahren zu
Therapiemöglichkeiten führen würde, so wäre eine Anwendung auch in D kaum zu
verhindern. Einzig möglicher Effekt wäre dann, dass diese Forschung nicht auf
deutschem Boden erfolgt wäre.
Die anstehende Entscheidung ist deshalb nicht die, ob man Heilungschancen verspielt
oder nicht, sondern ob man zum jetzigen Zeitpunkt bereit ist, Embryonen – also
menschliches Leben – der Forschung zur Verfügung zu stellen.
Nach meiner Einschätzung werden embryonale Stammzellen aber wegen ihrer
medizinischen Probleme (Abstoßungsreaktion, Vermehrungs- und
Differenzierungspotenzial, s.o.) in den nächsten Jahrzehnten nicht zu einem
therapeutischen Erfolg führen (vielleicht sogar nie).
Die erwünschten Erkenntnisse über die Mechanismen, die zur Differenzierung
embryonaler Zellen in spezialisierte Gewebezellen führen, können auch an dem
Menschen nahe verwandten Spezies durchgeführt werden, bevor man auf menschliche
Embryonen zurückgreift. Hier gibt es noch gewaltigen Nachholbedarf.
Und der nach den ethischen Bedenken entscheidende Grund, die Forschung an
menschlichen embryonalen Stammzellen nicht zuzulassen:
Realistische Heilungschancen und Therapiemöglichkeiten versprechen nur die adulten
Stammzellen, vor allem wegen der Gewebeverträglichkeit bei „Eigenspende“. Die
Forschung an ihnen ist aber noch lange nicht ausgereizt.
Der Druck, Stammzellen zu importieren, resultiert nicht unbedingt aus der Angst, D
könne zur therapeutischen Wüste werden. Tatsächlich geht es auch um die Möglichkeit,
15
Edelgard Bulmahn im vorwärts 1/2002
Dies gipfelt leider auch in höchst euphorisch-bedrohlich Aussagen: „Jeder muss sich ehrlich
fragen: Wäre ich bereit für mich, für meine Kinder...auf solche Therapien zu verzichten?“
(Edelgard Bulmahn, vorwärts 1/2002)
16
8
Patente zu sichern. Das ist ein legitimer Grund. Er reicht aber für mich nicht aus, um
moralische Grenzen zu überschreiten und vorschnelle Fakten zu schaffen, deren
gesellschaftliche Konsequenzen wir nicht übersehen können.
Wir werden nicht ins Hintertreffen geraten, wenn wir vorsichtig agieren. Im Gegenteil:
Wir haben die Chance, im Bereich der adulten Stammzellen die größten Erfolge zu
erzielen, wenn wir unsere Forschung (weiterhin) auf diesen ethisch unproblematischen
Bereich konzentrieren und verstärken.
Warum sollten wir ethische Grenzen niederreissen, wenn die Alternativen noch nicht
ausgereizt sind? Sie werden für die Therapie langfristig sogar die bessere Lösung sein.
9
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