Doppelbegabungen Leonardo da Vinci, Goethe, Hesse, Franz Kafka, Alfred Kubin, Armin Mueller-Stahl v o n B e r n d W e i s e Doppelbegabungen können nicht nur Gnade, sondern auch Fluch sein. Für was schlägt das Herz wirklich, kann man sich nicht entscheiden? Ist man Musiker? Oder Maler? Oder schreibt man? In früheren Kulturzeiten waren Doppelbegabungen eine Selbstverständlichkeit. Erst in jüngerer Zeit glaubt man skeptisch sein zu müssen und Bedenken zu hegen gegen die Glaubhaftigkeit künstlerischen Schaffens Mehrfachbegabter. Welches ist das von Kollegen und Rezipienten geachtete Hauptfach, in welchem dilettiert man? Noch in der Romantik wollte der mehrfachbegabte Künstler die Vereinigung aller Künste erreichen. Poesie und Musik, Malerei und Plastik galten der Kunst noch als unzertrennliche Bestandteile ganzheitlichen Seins. In jeder Epoche gibt es kulturelle Ausdrucksformen, die in ihren Stilmerkmalen miteinander korrespondieren und die einander wechselseitig fördern. Doch war in der Renaissance noch die universelle Künstlerpersönlichkeit vorherrschend, so verlor sich diese Einheit später durch die Trennung der Künste in Musik, Malerei, Dichtung und darstellende Kunst. Der Vorzeigekünstler der Renaissance Leonardo da Vinci war ein begnadeter Zeichner, Maler und Naturwissenschaftler. Gleichzeitig jedoch ging er als Bildhauer, Architekt, Anatom, Mechaniker und Ingenieur in die Geschichte der Weltkultur ein. Wie mit der Kunst beschäftigte er sich ebenso mit der Technik von Fluggeräten und er entwickelte technische Anlagen für den Bergbau. Der große Maler und Bildhauer Michelangelo schuf in dichterischer Doppelbegabung Sonette, die noch heute bekannt sind. Johann Wolfgang von Goethe war Dichter, Zeichner und gleichzeitig galt auch er als bedeutender Naturwissenschaftler seiner Zeit, dessen Arbeiten über Farbenlehre, Pflanzen und der „Abhandlung vom Zwischenkieferknochen“ (1784/1786) noch heute als gleichbedeutend zum „Faust” oder zur „Iphigenie” eingestuft werden. Herman Hesse, bekannt als Schriftsteller und verehrt von Generationen von Suchenden aquarellierte ansehnliche Tessinlandschaften. Auch Günter Grass zeichnet. Immer wieder begegnen uns in der Kunst mehr oder weniger interessante Doppelbegabungen. Viele davon begeistern, da sie in 48 - 2 9 . 1 1 . 2 0 1 0 der Lage sind, mediale Grenzen zu überschreiten. Immer wieder beweist es sich, dass Grenzüberschreitungen zwischen den darstellenden Künsten, den bildenden Künsten, der Musik und der Literatur häufig zu finden sind. Literarisch aktive Komponisten oder komponierende Schriftsteller waren bis ins frühe 20. Jahrhundert keine Seltenheit. August Strindberg hat Bilder mit dramatischen symbolgeladenen Landschaftsmotiven gemalt. Der Philosoph Friedrich Nietzsche komponierte, wobei er sich teilweise durch Lieder und Balladen von Adalbert von Chamisso anregen ließ. Der Komponist Arnold Schönberg übersetzte seine eigene expressive Musik in expressionistische Malerei. Auch Else Lasker-Schüler dichtete und malte zugleich. Heute sind Adalbert Stifter und Gottfried Keller fast ausschließlich als Dichter bekannt, zu Unrecht, was ihre Leistungen als Maler und Zeichner betrifft. Oder denken wir nur an die Erzählungen und literarischen Skizzen von Günter Kunert und seine parallel dazu entstandenen skurrilen surrealen Bilder. Vergleichbar sind diese Zeichnungen mit denen von Franz Kafka oder Alfred Kubin. Beide betrieben ihre Zeichenkunst als Verbildlichung von Traumdeutungen. Vergleichbar auch, ganz in jeglicher Nähe, die Gedichte des Chemnitzer Lyrikers Hans Brinkmann und seine bisher kaum bekannten und bislang unveröffentlichten Zeichnungen. Doch von einer Doppelbegabung spricht man nicht nur dann, wenn sich ein Künstler in mehr als einer Kunstart gleichzeitig betätigt. Es gibt auch Wissenschafter, oft Ärzte, die in ihrer Freizeit durchaus ernstzunehmende Musiker sind oder die auch als Maler bemerkenswerte Fähigkeiten besitzen, ohne damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Drei durchaus erfolgreiche junge Maler, die in Berlin lebenden Gebrüder Torsten und Peter Rühle sowie ihr Malerkollege Daniel Maria Thurau schlossen ihr dem Künstlersein vorausgegangenes Jura-Studium sogar mit dem Staatsexamen ab und sind heute einzeln wie auch als Künstlergruppe „eiland“ erfolgreich. Es bleibt aber eine Seltenheit, dass jemand in mehreren Künsten wirklich Bedeutendes schafft und damit auch in mehreren Künsten gleichermaßen erfolgreich ist. Armin Mueller-Stahl gehört dazu. Mueller-Stahl ist studierter Musikwissenschaftler und (c) Armin Mueller-Stahl – „Blick über die Mauer“; Mischtechnik; 83,6x59cm. Courtesy Kunsthaus Lübeck 49 Violinist. In erster Linie begnadeter Schauspieler ist Mueller-Stahl gleichzeitig als Schriftsteller bekannt. Seit Jahrzehnten schreibt der Künstler auch Lieder und Gedichte. Unlängst hat er sogar mit dem Jazzpianisten Günter Fischer eine CD mit Liedern eingespielt, die den Charme später Leonard Cohen und Johnny Cash – Aufnahmen besitzt. Über Jahre hinweg war der 1930 in Tilsit geborene MuellerStahl einer der beliebtesten und meistbeschäftigsten Schauspieler der DDR, bis er wegen seines Protestes gegen die Wolf-BiermannAusbürgerung 1976 durch Berufsverbot geächtet wurde. 1980 übersiedelte er nach Westberlin, später nach Holstein. Als bereits in Deutschland bekannter Schauspieler kam er in den 90er Jahren, schon als über 60-Jähriger, in die USA und konnte dort weitere große Erfolge erleben. 1991 spielte er in „Night on Earth“ einen ostdeutschen Taxifahrer und früheren Zirkusclown, der in New York mühevoll sein Glück versucht. Für die Rolle des Vaters des Pianisten David Helfgott in „Shine – Der Weg ins Licht“ wurde er 1997 mit einer Oscar-Nominierung geehrt. Armin Mueller-Stahl schöpft seine künstlerische Kraft und die Anregungen für seine Arbeit aus der Wechselbeziehung von Literatur und Malerei. Er ist ebenso als Maler, Zeichner und Grafiker erfolgreich. Im Jahr 2001 wurden im Filmmuseum Potsdam erstmals Malereien und Zeichnungen des vielseitigen Künstlers gezeigt. Als gereifter Künstler muss sich Armin Mueller-Stahl nicht mehr zwischen dieser oder jener Art von Kunst entscheiden. Ein ganzheitliches, überragendes Spätwerk, so darf man die artifiziellen Grenzüberschreitungen dieses ehrwürdigen, nun 80-jährigen (c) Abb.: Armin Mueller-Stahl, „Im Gespräch“ 30 x 41 cm; Abb.: Kunsthaus Lübeck 50 Künstler bezeichnen. Armin Mueller-Stahl darf sich mit seinem gesamten Lebenswerk guten Gewissens allen traditionellen Formeln künstlerischer Bewertung entziehen. ausgezeichnet wurde. Filmfreunde dürfen sich auf ein Wiedersehen freuen: Heinrich Breloers „Die Buddenbrooks“ wird als zweiteiliger Fernsehfilm am Montag, dem 27. Dezember 2010 und am Dienstag, dem 28. Dezember 2010, jeweils 20.15 Uhr in der ARD gezeigt. Es gibt keinen Unterschied zwischen Armin Mueller-Stahl und seinem Bild in der Öffentlichkeit. „Bei anderen berühmten Menschen wandelt sich das Bild extrem, wenn man sie näher kennenlernt – meistens zum Negativen“, sagt Armin Mueller Stahls Lübecker Galerist Frank Gaulin. „Bei Armin Mueller-Stahl bleibt die Substanz dessen, was man sich vorgestellt hat.“ Zum 80. Geburtstag von Armin Mueller-Stahl zeigt das Ostholstein-Museum in Eutin bei Lübeck eine Ausstellung mit Aquarellen, Zeichnungen und Ölbildern des Künstlers. „Armin Mueller-Stahl. Malerei und Papierarbeiten“ heißt die Schau, die am 5. Dezember eröffnet wird und dort bis zum 30. Januar 2011 zu sehen ist. Zu den markantesten Rollen Armin Mueller-Stahls gehört der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann, den er in dem TV-Dreiteiler „Die Manns - Ein Jahrhundertroman“ verkörperte, für die er mit dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis Anschließend an diese Ausstellung, ab Mitte Februar, gibt es Bilder und Grafiken von Armin Mueller-Stahl exclusiv in Chemnitz. Wann und wo genau? Ein Blick auf die Webseite www.galerie-weise.de verrät es. (c) Abb.: Armin Mueller-Stahl, „Begegnung im Park“ 30 x 39,5 cm Abb.: Kunsthaus Lübeck 51