C.-W. Reibel: Handbuch der Reichstagswahlen - H-Net

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Carl-Wilhelm Reibel. Handbuch der Reichstagswahlen 1890-1918: Bündnisse - Ergebnisse - Kandidaten. Düsseldorf: Droste Verlag, 2007. 2 Bde. + 60 u. 1715 S. ISBN 978-3-7700-5284-4.
Reviewed by Hartwin Spenkuch
Published on H-Soz-u-Kult (February, 2008)
C.-W. Reibel: Handbuch der Reichstagswahlen
wurden herangezogen, nicht jedoch die von Ernst Bassermann oder Carl Bachem. Die Quellennachweise werden (vielleicht zu) penibel aufgelistet, im Falle des Wahlkreises Wetzlar-Altenkirchen umfassen sie zwei Seiten.
Den wertvollsten Kern des Handbuches machen die darauf basierten Beschreibungen der Parteien-Bündnisse in
den 397 Wahlkreisen aus; auf jeweils zwei bis fünf Seiten werden die Haltungen der Parteien bei Haupt- und
Stichwahlen prägnant beschrieben. Schließlich erfasst
ein 150-seitiges Personenregister alle Reichstagskandidaten namentlich und nach Kandidaturen. Die solchermaßen gewonnene Darstellung von über 2500 Wahlvorgängen zwischen 1890 und 1918 ist deshalb mit hohem Lob
zu begrüßen. Es handelt es sich um eine große Arbeitsleistung und ein hilfreiches Nachschlagewerk, das alle
künftige Wahlforschung über Reichstagswahlen erleichtert, ja auf eine neue Grundlage stellt sowie nicht zuletzt
eine Datenbasis für die entstehende Habilschrift Reibels
bildet.
Seit mehr als drei Jahrzehnten darf Gerhard A. Ritter als spiritus rector der verdienstvollen HandbuchReihen der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien gelten. Zum stattlichen Stapel der Wahlkandidaten- und AbgeordnetenHandbücher gesellen sich nun zwei gewichtige Halbbände über die wilhelminischen Reichstagswahlen, die
am Frankfurter Lehrstuhl von Marie-Luise Recker durch
Carl-Wilhelm Reibel verantwortlich betreut wurden.
Vorarbeiten von Alfred Milatz, Jürgen Schmädeke und
Matthias Alexander sowie der Einsatz von Hilfskräften
erleichterten ihm die Mühe. Die Halbbände folgen in Aufbau und Daten-Auswahl der von Thomas Kühne in seinem Handbuch der Wahlen zum Preußischen Abgeord”
netenhaus 1867-1918“ (1994) entwickelten Form.
Die stimmbezirksweisen Daten zur Sozialstruktur
und den Ergebnissen der sechs regulären Reichstagswahlen 1890-1912 sowie der zwischenzeitigen Ersatzwahlen entstammen der zeitgenössischen Wahlstatistik
bzw. wurden in gut zwei Dutzend Bundes-, Landesund Staatsarchiven gesammelt; die Reihe reicht hier von
Düsseldorf bis Olsztyn und von Straßburg bis Schleswig. Leider konnten aus Budget- und Zeitmangel die
(durch Weltkrieg und Wasserschäden reduzierten) Bestände für Schlesien im polnischen Staatsarchiv Wroclaw
nicht berücksichtigt werden. Die Wahlbündnisse werden
vor allem anhand amtlicher Berichte und aufgrund von
Zeitungsartikeln (häufig gesammelt im ReichslandbuchPressearchiv) rekonstruiert. Sogar Nachlässe wahlpolitisch wichtiger Politiker wie Christoph von Tiedemann,
Kuno Graf Westarp, Luitpold Weilnböck und Karl Herold
Im Vorgriff auf diese künftige Analyse skizziert Reibel
in seiner Einleitung die langjährige Debatte um die Parlamentarisierung des Reiches, wichtige Ergebnisse der
Wahlforschung zum Kaiserreich, den praktischen Ablauf
der Wahlen und insbesondere die Wahlbündnisse, die
zutreffender Wahlabsprachen heißen sollten. Diese waren im wilhelminischen absoluten Mehrheitswahlrecht
schon im ersten Wahlgang gängig, insbesondere aber in
der Stichwahl, wo sich die zwei bestplatzierten Männer
– Frauen blieben bekanntlich ausgeschlossen – gegenüberstanden. Die Zahl der von einer Partei dominierten
Bezirke, etwa Meppen-Bentheim, Bonn-Rheinbach oder
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Kleve-Geldern, wo das Zentrum 70–99 Prozent der Stimmen erhielt, nahm ab. Schon 1890 soll es (S. 23) in gut
der Hälfte aller 397 Wahlkreise Parteienabsprachen gegeben haben und 1912 gar in Dreiviertel. Hierfür entwickelt Reibel gleich acht Typen, wo Thomas Kühne noch
mit vier ausgekommen war. Häufigster Typ war Reibel (S. 26) zufolge das Plattformbündnis“, bei dem Par”
tei A den Kandidaten von Partei B zu wählen empfahl,
nachdem diese spezifische Forderungen bezüglich dessen Person und/oder parlamentarischem Abstimmungsverhalten zu erfüllen versprochen hatte. Zweithäufigster
Typ scheint das wahlkreisübergreifende Aussparungs”
abkommen“ gewesen zu sein, bei dem Partei A in Wahlkreis X den Kandidaten von Partei B zu wählen empfahl
und kompensatorisch Partei B in Wahlkreis Y den Kandidaten von Partei A. Zu diesem Typ zählten BismarckKartell 1887 und Bülow-Block 1907. Gerade in Preußen,
wo Reichs- und Landtagswahlkreise teilidentisch waren, kamen häufiger diachrone Abkommen“ vor, bei de”
nen Partei A in einer Region den Reichstags-Kandidaten
von Partei B unterstützte und im Gegenzug für ihren
Landtags-Kandidaten Schützenhilfe von Partei B erhielt.
tell oder die Gouvernementalisierung des Freisinns“ (Th.
”
Kühne) möchte der Rezensent den Stellenwert von Wahlbündnissen für Demokratisierung und Parlamentarisierung mit folgenden Argumenten relativieren. Es handelte
sich erstens häufig um die Auswahl des kleineren Übels“
”
(so S. 26 u.ö.). Wenn eine in einem Stimmkreis – etwa
aufgrund sozialstruktureller Gegebenheiten – chancenlose Partei zum Ankreuzen bei einer weniger missliebigen Partei ermutigte, ist das noch kein Bündnis. Eine parlamentarische Reformkoalition gar gründet nicht auf lokal unterschiedliche Wahlempfehlungen gegen gemeinsame Gegner, sondern auf geteilte politische Inhalte und
Projekte.
Zweitens gab es zwar von unten“ gewachsene
”
Bündnisse, etwa die gesamtliberale Kooperation, aber
Wahlbündnisse folgten häufig den Berliner politischen
Konstellationen. So unterstützten die parlamentarischen
Gegner von Bismarck-Kartell oder Bülow-Block – Sozialdemokraten, Zentrum und Linksliberale – logischerweise nicht Kandidaten von Kartell oder Block, sondern gaben Wahlempfehlungen untereinander (so genanntes Anti-Kartell). Fallweise sind in der Tat AuflockeDie übergreifende Frage für die ganze Thematik muss rungen zu erkennen, aber diese zielten nicht gleichläufig
lauten: Was trugen Wahlbündnisse zur Einübung in de- in Richtung einer klaren parlamentarischen Mehrheitsmokratische Willensbildungsprozesse und kompromiss- bildung. Die Nationalliberalen etwa trafen Absprachen
hafte politische Lösungen bei und wie beeinflussten sie sowohl mit konservativ-agrarischen wie mit linksliberadas Parteiensystem im Sinne von Parteien-Allianzen und len Gruppierungen, schwankten in Baden zwischen SPD
potentiellen Regierungskoalitionen? Oder simpel und und Zentrum und unterstützten in Industriegebieten fallkonkret: Ist die Genese der Weimarer Koalition zu be- weise das Zentrum gegen die SPD. Wären dem Handbuch
obachten? Eine umfassende Antwort hierzu findet sich wahlkreisweise Tabellen über die jeweiligen Mandatsin Reibels Einleitung nicht, jedoch erkennt er an, dass gewinner mit Angabe der zugrunde liegenden siegreies Grenzen der Bündnisbildung gab (S. 34f.). Beispiels- chen bzw. unterlegenen Parteienkonstellation beigegeweise nahmen, zumal in Preußen, Staatsbehörden Ein- ben worden, wären Berliner Rahmensetzung wie regiofluss, und auch Parteiführungen entschieden über Bünd- nale Eigenheiten besser erkennbar geworden und Nutzer
nisse lieber im kleinen Kreis denn unter voller Mitspra- hätten schnell eigene Auswertungen vornehmen können.
che der Anhängerschaft. Reibel konstatiert – leider zu
Drittens blieben zentrale, insbesondere soziokultukursorisch – dominierende reichsweite Phasen wie das
rell unterlegte Konfliktlinien großenteils bestehen, prikonservativ-nationalliberale (Bismarck-) Kartell, die gemär die Kluft zwischen Sozialdemokratie und bürgersamtliberale Zusammenarbeit oder den schwarz-blauen
Block. Nach 1898 hingegen gab es ihm zufolge eine viel- lichen Gruppierungen, die Segmentierung von kathofältigere Bündnislandschaft, beispielsweise auch Abspra- lischem Zentrum und nichtkatholischen Parteien, die
chen zwischen Nationalliberalen und Zentrum (gegen die scharfe Gegnerschaft von Linksliberalen und SPD zu den
SPD) oder Sozialdemokratie und Zentrum (gegen die Li- Deutschkonservativen sowie der Lager-Gegensatz von
deutschen und fremdnationalen Minderheiten-Parteien.
beralen im Bülow-Block). Profiteure der Absprachen waAuch die Stadt-Land und die Produzenten-Konsumenten
ren in absteigender Rangfolge Reichspartei, Nationalliberale, Deutschkonservative und Freisinn, während Zen- Differenzen nahmen nach 1900 eher zu. Vgl. den krititrum und SPD durch viele Hochburgen weniger von Ab- schen Literaturbericht von Kühne, Thomas, Demokratisierung und Parlamentarisierung. Neue Forschungen
sprachen abhingen.
zur politischen Entwicklungsfähigkeit Deutschlands vor
Bei aller Anerkennung der Bedeutung von Wahl- dem Ersten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft
bündnissen z.B. für das konservativ-nationalliberale Kar- 31,2 (2005), S. 293–316.
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Ferner wirkten bekannte Grundtatsachen des konstitutionellen Regimes auf die Wahlabsprachen zurück: die
Trennung von Exekutive und Legislative gemäß Verfassungstext und der eine unitarische Regierung erschwerende Föderalismus, die Initiativrolle der prestigereichen
Bürokratie und die Fernhaltung der Parteien von Regierungsposten, was politische Verantwortungslosigkeit
und individuelles Bargaining mit der Reichsleitung begünstigte. Dass einzelstaatliche Wahlrechte korporatistische Traditionen konservierten, im politischen Denken
Ablehnung des parlamentarischen Systems dominierte,
und zeitig autoritär-völkische politische Systeme herbeigedacht wurden, kam noch hinzu.
listen Details in einem monumentalen Daten-Gebirge bemäkeln zu wollen, seien abschließend um der Sache und
Genauigkeit willen doch einige Monita genannt. Die Hinweise auf wahlhistorisch relevante Literatur zu Regionen/Wahlkreisen fallen partiell spärlich aus, allerdings
entschuldigt durch Arbeitsökonomie und dünne Literaturlage zum Gutteil Ostelbiens. Angesichts der heute
zur Verfügung stehenden Handbücher und der onlineRecherche hätten im Kandidatenregister vollständigere
biographische Angaben zu Vornamen, Lebensdaten und
Berufen eruiert werden können, zumal darauf laut Klappentext besonderer Wert gelegt wurde. Bei Dutzenden
von Kandidaten wie z.B. (Richard) Freund, (Bernhard)
Irmer, (Hanns) Jencke, (August) Nebe Pflugstädt, (RiInsgesamt erkennt der Rezensent ein Dreieck ohne chard) Remy, (Heinrich) Suchsland oder (Johannes) Tews
eindeutige Resultante: Zunehmende, aber nicht gleich- sind solche Fakten leicht zu eruieren. Andererseits wirkt
läufige Demokratisierung im Sinne von politischer Mo- die unsystematisch gehandhabte Angabe aller (drei bis
bilisierung an der Basis, weiterbestehende sozialkul- sechs) Taufnamen bei bekannten Personen, z.B. Franz
turelle Segmentierung in Gesellschaft wie FührungsBallestrem, überflüssig. Bei der Identifizierung von Kangruppen und die Abwehr von Parlamentarisierung im
didaten geht das Register mehrfach zu vorsichtig vor; z.B.
Reichstag durch eine Regierung, die aufgrund der per- sind die je dreimal aufgeführten Karl Baumbach, Hugo
sonellen und sachlichen Dominanz Preußens nicht ge- Kindler und Karl Sattler jeweils eine Person. Umgekehrt
gen die Konservativen regieren wollte bzw. konnte. Die werden Vater und Sohn Ratibor verquickt. Inkorrekt sind
Weimarer Koalition bildete nicht den einzig denkbaren die Auflösung von Rep. als Repertorium statt Repositur
Fluchtpunkt der Entwicklung und bedurfte des Welt(S. 51), die Verkennung des theologischen Doktortitels
kriegs zur Entstehung. In der gesellschaftlich-politischD.“ als Vornamen Friedrich Naumanns (S. 1655) und der
parlamentarischen Gesamtkonstellation waren Wahlab- ”Halbsatz (S. 1101), Würzburger Sozialdemokraten hätten
sprachen nur ein Faktor unter mehreren. Diese Feststel- in der Stichwahl den Zentrumskandidaten unterstützt,
lung entwertet nicht ihre Untersuchung, aber rückt sie in weil dieser gegen das bestehende Wahlrecht eintrat. All
Perspektive.
diese Petitessen beiseite: Das Werk stellt beste historische
Ohne mit der Besserwisserei des regionalen Spezia- Grundlagenforschung dar.
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Citation: Hartwin Spenkuch. Review of Reibel, Carl-Wilhelm, Handbuch der Reichstagswahlen 1890-1918: Bündnisse
- Ergebnisse - Kandidaten. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. February, 2008.
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