Buchbesprechungen M a i e r, Hans, Revolution und Kirche. Studien zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie (1789-1901). 2., erweiterte Aufl., Freiburg i . Br., Rombach, 1965. (Freiburger Studien zu Politik und Soziologie). 8°, 332 S. - Ln. D M 29,-. Revolution und Maschine sind die neuen großen Tatsachen des 19. Jahrhunderts. Keine der alten gesellschaftlichen Mächte konnte sich ihrem Bannkreis entziehen. Hans Maier, seit 1962 Professor für Politische Wissenschaften in der Staatswirtschaftlichen Fakultät der Universität München, untersucht in seinen nun in zweiter, erweiterter Auflage vorgelegten Studien Revolution und Kirche, dargestellt am Beispiel Frankreich. Der leitende Gedanke der Arbeit ist, Herkunft und geistige Grundlagen der christlich-demokratischen Parteien Europas zu untersuchen. Diese Absicht führte mit innerer Notwendigkeit auf Frankreich. Hier hatte die Idee der »christlichen Demokratie« zum erstenmal politische Formen angenommen. Zu ihrem geschichtlichen Ursprung steht sie in einem eigenartigen Doppelverhältnis: sie versteht sich zugleich als Erfüllung und als Überwindung der Revolution von 1789. Dieser Gegensatz kommt theoretisch zum Ausdruck in der Spannung zwischen dem christlichen und dem revolutionären Naturrechtsgedanken, welche die Geschichte des christlichdemokratischen Denkens durchzieht. Er äußert sich praktisch im Wechsel der politischen Haltung, die bald zu den Ideen der Freiheit, bald zu denen der Gleichheit neigt. Die historischen Ausprägungen dieses Gegensatzes sind liberaler oder sozialistischer Katholizismus, Demokratie der Menschenrechte oder Demokratie der evangelischen Gleichheit. In der Entstehungsgeschichte der christlichen Demokratie, wie sie nach 1830 in Frankreich hervortritt und dann in der Zweiten Republik eine allzu kurze Glanzzeit erlebt, lassen sich zwei getrennte Linien verfolgen: die eine hat ihren Ursprung in der Revolution von 1789, die andere stammt aus dem katholischen Tradi- 307 tionalismus. Die erste Linie führt von Fauchet und Bonneville zu Buchez und seiner Schule, wobei das revolutionäre Illuminatentum und der Saint-Simonismus das verbindende Glied darstellt. Die zweite Linie geht von den Traditionalisten zum katholischen Liberalismus; hier bildet Lamennais, der in seiner Person den Wechsel vom monarchischen zum demokratischen Denken vollzieht, das verbindende Z w i schenglied. I n der Revolution von 1848, in der die Zweite Republik geboren wird, laufen beide Linien zusammen. Jetzt entwickelt sich zum erstenmal eine einheitliche Form des politischen Katholizismus in Frankreich. Liberaler Katholizismus und katholisierender Saint- Simonismus begegnen sich in Lacordaire und Buchez, in Maret und Feuguerreay. Es entsteht ein katholischer Sozialismus, dem Ozanam und Arnaud de l'Ariege republikanische Züge verleihen. I m Revolutionsjahr 1848 steht die ecole democratechretienne in ihren Abstufungen deutlich vor uns, eine Sonderform der Demokratie aus christlichem Denken heraus. Ihre wichtigsten Merkmale sind: der von Ozanam formulierte Primat des Sozialen vor dem Politischen; die Ergänzung der Menschenrechte durch Bürgerpflichten; Einschänkung der Staatssouveränität zugunsten individueller, aber auch körperschaftlicher Rechte; die Forderung nach subsidiärem Aufbau der Gesellschaft durch politische Dezentralisierung und berufständische Wirtschaftsgliederung. Die christlichen Demokraten der Zweiten Republik sind nicht durch ein unmittelbar auf die praktische Politik bezogenes, an der Forderung des Tages ausgerichtetes Aktionsprogramm verbunden. Ihr innerer Zusammenhang liegt vielmehr im Theoretischen, in einer neuen Auffassung des Staates und der Gesellschaft, die der aufklärerisch-jakobinischen schroff entgegengesetzt ist. Die utilitaristische Formulierung des Staatszweckes wird verworfen. An die Stelle des bürgerlichen Individualismus soll eine Sozialethik treten, die auf dem Gedanken des Allgemeinwohls aufgebaut ist. Dennoch ist die organische, durch das Prinzip der association gegliederte Demokratie Lacordaires und Ozanams kein Abbild der Ständegesellschaft des Mittelalters. Ihre christliche Demokratie ist nicht eine von der romantischen Staatslehre i n spirierte Korrektur an den Prinzipien von 1789, sondern eine Verlebendigung kirchlicher Gemeinschaftsformen innerhalb des politischen Bereichs. Diesen Vorgang hatte bereits Lamennais eingeleitet mit seiner Forderung: reconstituer la soci£t£ politique ä Paide de la socie'ti religieuse. Daß das katholische Selbstbewußtsein dabei neben der hierarchischen Struktur der Kirche auch wieder deren Gemeinschaftscharakter stärker hervorheben konnte, deutet auf Veränderungen innerhalb des Katholizismus hin, die auch durch die Französische Revolution verursacht oder doch beschleunigt wurden. Wie sehr 308 Buchbesprechungen ähnliche Gedanken auch die katholische Theologie Deutschlands damals bewegten, beweisen u. a. die Arbeiten Joseph Rupert Geiselmanns über Sailer und Möhler. Die Glanzzeit der christlichen Demokratie in Frankreich endete schon nach wenigen Jahren mit dem Ende der Zweiten Republik im Staatsstreich Napoleons (III.). Die democratie chretienne löste sich auf, und später räumte auch der liberale Katholizismus den Syllabus-Katholiken das Feld. Wieder drängt sich der Vergleich mit der Entwicklung in Deutschland auf, am deutlichsten faßbar in Person und Werk Döllingers, der zeit seines Lebens auch politisch engagiert war, vom Ende der dreißiger Jahre über den Frankfurter Parlamentskatholizismus und die immer deutlicher werdende Scheidung der Geister in den fünfziger und sechziger Jahren. In Frankreich gingen, wie anderswo, Kirche und Demokratie nach dem Syllabus von 1864 getrennte Wege. Die Arbeiterschaft zog sich fast völlig aus der christlichen Gesellschaft zurück. Die katholische Sozialbewegung war konservativ, der politische Katholizismus bürgerlich. Frankreich schuf zwar - in Lamennais - eine christlich-demokratische Theorie, konnte diese aber in der politischen Praxis nicht durchsetzen. Den christlich-demokratischen Parteien Europas der folgenden Zeit hat nicht die französische democratie chretienne den Weg gewiesen, sondern der politische Katholizismus Belgiens, der Niederlande und Deutschlands. I n diesen letzteren Ländern mußte der Katholizismus das ganze 19. Jahrhundert hindurch und noch ins 20. Jahrhundert herein einen teilweise recht harten Kampf um die volle Eingliederung in den nationalen Staat führen. Er nahm deshalb notgedrungen vorübergehend die Form einer politischen Partei an. I n Frankreich aber ging es nicht um die Mitarbeit der Katholiken innerhalb eines bereits vorgegebenen politischen Rahmens, sondern um ein grundsätzliches Ja oder Nein zu den Prinzipien der Revolution. Der »heiligen Monarchie« Bonaids entsprach die »heilige Demokratie« bei Fauchet und Buchez. Die Kirche griff in diesen Streit nicht unmittelbar ein. Sie beschränkte sich darauf, den religiös-politischen Totalitätsanspruch, der in jeder Verabsolutierung politischer Formen liegt zurückzuweisen. Nach vorübergehender Stagnation, bedingt durch das Syllabus-Klima, setzte unter Leo X I I I . in der Kirche erneut eine lebhafte Beschäftigung mit den Fragen der modernen Demokratie ein. Sie war in Frankreich verursacht durch die kirchenfeindliche Politik der Dritten Republik (seit dem Abgang Napoleons I I I . 1870) und durch die Spaltungen im politischen Katholizismus des Landes. L e o X I I L , besonders sein Staatssekretär Rampolla, zeigten zudem eine betonte Hinneigung zu Frankreich. Der Papst versuchte, die französischen Katholiken in letzter Stunde mit der Republik zu versöhnen. Dies war der Inhalt seiner Ralliement-Politik. Dieser Versuch ließ die Gedanken des liberalen Katholizismus, die seit 1864 kirchenamtlich abgetan schienen, mit einem Schlag zu neuem Leben erwachen. Jetzt begann eine umfassende Rehabilitierung der christlich-demokratischen Bewegung und der suspekt gewordenen Bemühungen von Männern wie Lamennais und Montalembert auch innerhalb der Kirche. Von der Sicht der päpstlichen Ralliement-Politik her erschienen liberaler Katholizismus und christliche Demokratie nicht mehr nur als häretische Abweichungen, sondern als ein ernster Beitrag zur Geschichte des lebensnotwendigen Kompromisses von Revolution und Kirche. Dieser Kompromiß beschäftigte die Kirche im 20. Jahrhundert erneut mit aller Leidenschaft: nach dem politikfremden, hier mehr an Pius I X . anschließenden Pontiflkat Pius* X . besonders unter Pius X L , Pius X I I . und Johannes X X I I I . Ein neues Verhältnis und Verständnis zeichnete sich deutlich ab im Pontiflkat Johannes' X X I I I . , im größeren Rahmen einer neuen Begegnung von Kirche und Welt. Doch damit ist der selbstgesteckte zeitliche Rahmen der Arbeit bereits überschritten. Sie endet mit dem neuen Aufbruch unter Leo X I I I . an der Schwelle unseres Jahrhunderts. Die Kirche als Gemeinschaft (Ozanam) öffnet sich der Demokratie in der Stunde, da die Demokratie ihrerseits den Gedanken der association in sich aufnimmt. Vollendung und Uberwindung der Revolution können sich nunmehr in der Kirche selbst vollziehen. Damit wird möglich, was Lamennais und Buchez als Ziel der »christlichen Demokratie« formuliert haben: baptiser la democratie. Angesichts dieser Möglichkeiten im französischen Katholizismus an der Schwelle des 20. Jahrhunderts wird um so schmerzlicher bewußt, wie verheerend sich der politische Unverstand Pius* X . für die Kirche Frankreichs ausgewirkt hat. Der Verfasser vereinigt in seiner durch drei Exkurse bereicherten Arbeit in äußerst glücklicher Weise den politischen, historisch geschulten Weitblick seines Lehrers Arnold Bergstraesser mit der strengen historischen Methode der Schule Gerd Teilenbachs. So entstand ein in seiner A r t vorbildliches Werk, dessen Lektüre obendrein durch Sauberkeit und Schönheit der Sprache erfreut. An diesem Beispiel wird von neuem deutlich, daß jedes Verständnis der gegenwärtigen Probleme in Kirche und Welt vordergründig bleibt, ja letztlich überhaupt nicht möglich ist ohne gründliche Kenntnis der geistigen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, und dieses 19. Jahrhunderts beginnt als historische Epoche im Jahr 1789. München Georg S c h w a i g e r