Finanzpolitik - Bundesfinanzministerium

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Fachblick
Finanz- und Wirtschaftspolitik
Finanzpolitik im
Spannungsfeld des
Europäischen Stabilitätsund Wachstumspaktes
Zwischen
gesamtwirtschaftlichen
Erfordernissen und wirtschaftsund finanzpolitischem
Handlungsbedarf
Finanzpolitik im
Spannungsfeld des
Europäischen Stabilitätsund Wachstumspaktes
Zwischen
gesamtwirtschaftlichen Erfordernissen
und wirtschafts- und finanzpolitischem
Handlungsbedarf
Gutachten des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung
im Auftrag des Bundesministeriums der Finanzen
Bearbeiter:
Dr. Willi Leibfritz
Dr. Rolf H. Dumke
Dr. Albert Müller
Dr. Wolfgang Ochel
Dr. Michael Reuter
Dr. Frank Westermann
Inhaltsverzeichnis
Seite
Vorbemerkung
7
Kurzfassung
11
Gesamttext des Gutachtens
33
1. Einführung
33
2. Die Konjunkturreagibilität der Budgetdefizite in den Ländern
der EWU
36
2.1 Defizitreagibilität und die Rolle der automatischen
Stabilisatoren
2.2 Wirkung der automatischen Stabilisatoren auf die Konjunktur
2.3 Darstellung der nationalen Unterschiede und Erörterung
möglicher Gründe
2.4 Haushaltskonsolidierung und automatische Stabilisatoren
2.5 Nachfrageschocks versus Angebotsschocks
3. Haushaltsstrukturpolitik in den Ländern der EWU und den USA
3.1 Abbau struktureller Haushaltsdefizite
3.1.1 Ausmaß der Konsolidierung
3.1.2 Zeitpunkt der Konsolidierung
3.1.3 Art der Haushaltskonsolidierung
3.2 Die Ausgabenstrukturpolitik, insbesondere die Ausgaben
für öffentliche Investitionen
3.2.1 Die Struktur der Staatsausgaben in EWU-Ländern
und den USA
3.2.2 Effekte öffentlicher Investitionen
3.2.2.1 Die Wirkung öffentlicher Investitionen
in Theorie und Empirie
3.2.2.2 Effekte öffentlicher Investitionen in
Deutschland
36
41
41
45
48
53
53
53
55
55
63
63
68
70
73
4. Makropolitische und strukturpolitische Bedingungen für Wachstum
und Beschäftigung
76
4.1 Trade-Offs und Synergien zwischen den Politikbereichen
76
5
Seite
4.2 Haushaltskonsolidierung und Wachstum: keynesianische
Versus nicht-keynesianische makroökonomische Effekte
4.3 Makropolitisches und strukturpolitisches Policy Mix im
Internationalen Vergleich
5. Anforderungen an die Finanzpolitik und die übrigen Politikbereiche unter dem Regime des Stabilitäts- und Wachstumspakts
5.1 Bisherige Erfahrungen mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt in den Ländern der EWU
5.2 Zukünftige Anforderungen an die Makropolitik und die
Strukturpolitik
Anhang 1:
Anhang 2:
Anhang 3:
90
108
108
115
Die Wirkungen von Steuern und Staatsausgaben
auf das Bruttoinlandsprodukt
134
Makropolitik und Strukturreformen in ausgewählten
Ländern
153
Anreize zur Schaffung von Arbeitsplätzen für
wenig qualifizierte Arbeitnehmer – ein internationaler Vergleich
177
Literaturverzeichnis
6
88
202
Vorbemerkung:
Hintergrund der ifo-Studie und Ergebnisse eines darauf basierenden
Workshops im Bundesministerium der Finanzen
In einer zunehmend globalen Welt kann sich die Wirtschafts- und Finanzpolitik
nicht mehr ausschließlich an nationalen Gegebenheiten orientieren. Vor allem
die europäischen Staaten sind schon über den EU-Binnenmarkt eng
miteinander verbunden. In den Euro-Teilnehmerstaaten wird die gegenseitige
Abhängigkeit
der
nationalen
Volkswirtschaften
durch
die
gemeinsame
europäische Währung noch verstärkt. Hier können finanz- und strukturpolitische
Fehlentwicklung in einzelnen Staaten direkt auf die Entwicklung in anderen
Staaten durchschlagen. So kann beispielsweise eine unsolide Haushaltspolitik
in einzelnen Staaten dazu führen, das Preis- und Zinsniveau in der gesamten
Euro-Zone in die Höhe zu treiben – mit negativen Auswirkungen auf Wachstum
und Beschäftigung in allen beteiligten Staaten.
Um dies zu vermeiden, haben sich die EU-Mitgliedstaaten durch den Vertrag
von Maastricht und die Bestimmungen des Europäischen Stabilitäts- und
Wachstumspaktes schon seit längerer Zeit auf die Einhaltung bestimmter
Regeln und Verfahren verständigt. Diese Regeln und Verfahren der
Koordinierung sind darauf ausgerichtet, die Stabilität des Euro zu sichern,
Wachstum
und
Beschäftigung
zu
fördern
und
eventuell
negative
Rückwirkungen nationaler Politiken auf die Wirtschaftsentwicklung der EuroZone zu verhindern.
Nach den bisherigen Erfahrungen hat sich das bestehende Regelwerk bewährt.
Seit Beginn der neunziger Jahre konnten die Haushaltsdefizite in den EUMitgliedstaaten deutlich reduziert werden. Viele Mitgliedstaaten erzielen derzeit
bereits Überschüsse. Ungeachtet dessen sind die Herausforderungen an eine
stabilitätsorientierte und zugleich wachstums- und beschäftigungsfördernde
7
Finanzpolitik in den EU-Mitgliedstaaten nach wie vor Gegenstand einer
intensiven Diskussion auf EU-Ebene. Ziel dieser Diskussion ist es, die bisher
erzielten Erfolge langfristig zu sichern und das Zusammenspiel zwischen
Makro- und Strukturpolitik weiter zu verbessern. In diesem Zusammenhang
spielen die konjunkturellen Wirkungen der Finanzpolitik, das Verhältnis
zwischen
Finanz-
und
Geldpolitik
und
die
Herausforderungen
des
demographischen Wandels eine wichtige Rolle. Gleichzeitig geht es auch um
eine Verbesserung der Qualität der Finanzpolitik, vor allem mit Blick auf die
Wachstums- und Beschäftigungswirkungen des Steuer- und Transfersystems
und die Effizienz der öffentlichen Ausgaben.
Um sowohl für die Diskussion auf europäischer Ebene als auch für die
Fortsetzung nationaler Reformprozesse gut gerüstet zu sein, hat das
Bundesministerium der Finanzen das ifo-Institut beauftragt, die aktuellen und
künftigen Anforderungen an die Makro- und Strukturpolitik unter dem Regime
des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu untersuchen. Die Ergebnisse des ifoInstituts unterstreichen die Komplexität des Themas. Sie zeigen, dass
wirtschafts- und finanzpolitische Entscheidungen auf der Basis einer Vielzahl
von Unsicherheiten getroffen werden müssen. Dies gilt z.B. für die Annahmen
hinsichtlich
der
aktuellen
und
zukünftigen
Entwicklung
des
Produktionspotentials und seiner jeweiligen Auslastung, für die Wirkungen
finanzpolitischer
Maßnahmen
auf
die
Erwartungen
von
Bürgern
und
Unternehmen, für die Einschätzung der Schock-Anfälligkeit der einzelnen
Volkswirtschaften
und
für
die
Annahmen
über
die
zu
erwartenden
alterungsbedingten Belastungen.
Auf der Basis der ifo-Studie hat die Volkswirtschaftliche Abteilung des
Bundesministeriums der Finanzen einen Workshop veranstaltet. Im Rahmen
dieses Workshops haben die Autoren der ifo-Studie ihre Ergebnisse präsentiert
und
mit
den
Teilnehmern
aus
verschiedenen
Arbeitseinheiten
des
Finanzministeriums sowie anderer Ressorts und der Bundesbank diskutiert.
8
Das rege Interesse an der Veranstaltung und die lebhafte Diskussion haben die
Bedeutung des Themas noch einmal deutlich unterstrichen. Im Mittelpunkt der
Diskussion standen die Glaubwürdigkeit des Stabilitäts- und Wachstumspaktes
und die Bedeutung von Strukturreformen, vor allem im Bereich der
Transfersysteme.
Die Vertreter des ifo-Instituts unterstrichen, dass eine Einhaltung der Defizitziele
in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten für die Glaubwürdigkeit des Stabilitäts- und
Wachstumspaktes von zentraler Bedeutung sei. Dies gelte auch angesichts der
Tatsache, dass es ökonomisch für die Euro-Zone unproblematisch wäre, wenn
negative Entwicklungen in einzelnen Staaten durch positive Entwicklungen in
anderen Staaten ausgeglichen werden. Mittelfristig sollten die konjunkturell
bereinigten Defizite nahe Null liegen. Im Rahmen der Diskussion wurde
allerdings zugestanden, dass es bei der Berechnung konjunkturbereinigter
Größen grundlegende Schwierigkeiten gibt. Auch in den USA könnte die
positive Entwicklung des Haushaltssaldos in den vergangenen Jahren stärker
konjunkturell bedingt sein, als man bisher angenommen haben. Die Vertreter
des Finanzministeriums betonten, dass bei der Verwendung solcher Größen
grundsätzlich Vorsicht geboten sei.
Die Bedeutung von Strukturreformen zur Erhöhung der Flexibilität des
Arbeitsmarktes wurde von allen Teilnehmern unterstrichen – allerdings mit
unterschiedlichen Schwerpunkten und in unterschiedlich starker Ausprägung.
Während sich die ifo-Vertreter ausdrücklich für eine Absenkung der Sozialhilfe
und Kombilohnmodelle nach angelsächsischem Vorbild aussprachen, war das
Meinungsbild bei den übrigen Diskussionsteilnehmern differenzierter:
•
Zum einen wurde die politische Durchsetzbarkeit grundlegender Reformen
thematisiert. Die Vergangenheit habe gezeigt, dass insbesondere in
Ländern mit gravierenden wirtschaftlichen Problemen (z.B. Niederlande und
Großbritannien) grundlegende Strukturreformen erfolgreich durchgesetzt
9
worden sein. In dieser Hinsicht habe sich die deutsche Wirtschaft immer
noch zu gut entwickelt.
•
Zum anderen wurde darauf verwiesen, dass z.B. das amerikanische Modell
nicht in allen Ausprägungen Vorbildfunktion für die wirtschafts- und
gesellschaftspolitische Entwicklung in Deutschland und Europa haben kann.
Dies gelte vor allem mit Blick auf das starke Wohlstandsgefälle in den USA.
•
Auch Kombi-Lohnmodelle wurde von den Vertretern des Finanzministeriums
in Frage gestellt. Eine bessere Kontrolle der Sozialleistungen sowie
Abschläge von der Sozialhilfe bei Verweigerung einer Arbeitsaufnahme
seien hier vorzuziehen. Zudem müsse es darum gehen, die gering
Qualifizierten
bei
der
Globalisierungswirkungen
Anpassung
veränderten
an
die
aufgrund
Arbeitsmarktbedingungen
der
zu
unterstützen.
Als Ergebnis der Diskussion insgesamt lässt sich festhalten, dass die
Bestimmungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ein gutes Regelwerk für
die Finanzpolitik in den EU-Mitgliedstaaten vorgeben. Im Sinne einer
glaubwürdigen Finanzpolitik sollte dieses Regelwerk von allen Staaten
konsequent eingehalten werden. Allerdings lässt sich die Finanzpolitik nicht „am
Reißbrett planen“. Auf eine konjunkturelle Feinsteuerung sollte daher verzichtet
werden. Ein solcher Ansatz ist schon mit der Umsetzung grundlegender
Reformprojekte – wie beispielsweise mehrstufiger Steuerreformen – nicht
vereinbar. Hinzu kommt, dass die Erwartungen der Märkte sich eher an
längerfristigen Entwicklungen orientieren. Zugleich sollten die Volkswirtschaften
in der Europäischen Union keinen Zweifel an ihrer Reformfähigkeit aufkommen
lassen. Die deutsche Steuerreform stellt hier einen Schritt in die richtige
Richtung dar.
10
Finanzpolitik im Spannungsfeld des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes – Zwischen gesamtwirtschaftlichen Erfordernissen und wirtschafts- und finanzpolitischem Handlungsbedarf
Kurzfassung
Die Haushaltskonsolidierung hat seit geraumer Zeit eine hohe Priorität. Sie ist
auch als mittelfristiges Ziel im Stabilitäts- und Wachstumspakt fest verankert.
Neben dieser angebotspolitischen Ausrichtung der Finanzpolitik bleibt aber
auch die Verstetigung der Konjunktur eine wichtige Aufgabe. Bei konjunkturellen Schwankungen sollen die so genannten automatischen Stabilisatoren des
öffentlichen Finanzsystems wirksam sein. Dies bedeutet, dass im Abschwung
die konjunkturbedingte Erhöhung des staatlichen Budgetdefizits hingenommen
und nicht durch Abgabenerhöhungen oder Ausgabenkürzungen verhindert werden darf. Entsprechend darf im Aufschwung die konjunkturbedingte Verbesserung des Staatsbudgets nicht durch vermehrte Ausgaben oder Steuersenkungen zunichte gemacht werden. Würde dagegen die Finanzpolitik im Abschwung, um eine Erhöhung des Defizits zu verhindern, die Abgaben erhöhen
und/oder die Ausgaben senken, dann würde nach allgemeiner Auffassung die
Konjunkturkrise verschärft.
Dennoch sind viele europäische Länder in der Vergangenheit dieser Grundlinie
der staatlichen Stabilisierungspolitik, die Wirksamkeit der automatischen Stabilisatoren nicht einzuschränken, nicht immer gefolgt. Dies hatte mehrere Gründe:
Zum einen ist es in der jeweiligen Situation nicht immer einfach, zwischen den
konjunkturbedingten und den nicht konjunkturbedingten Einflüssen auf das
Staatsbudget zu unterscheiden. Diese Unsicherheit kommt auch bei den teilweise erheblichen Differenzen zwischen den verschiedenen Quantifizierungen
der konjunkturbedingten und der strukturellen Defizite zum Ausdruck. Zum anderen kann auch eine rein konjunkturbedingte Erhöhung des Budgetdefizits zu
Vertrauensverlusten und zu höheren Risikoprämien am Kapitalmarkt führen und
auch die Unsicherheit bei den Privaten vergrößern, so dass deren Ausgabenneigung abnimmt. Negative Vertrauenseffekte sind insbesondere dann zu erwarten, wenn das Budgetdefizit und die Staatsverschuldung bei Beginn des
Abschwungs schon sehr hoch sind. Der Spielraum für das Wirkenlassen der
automatischen Stabilisatoren kann schließlich auch durch die seit dem Vertrag
von Maastricht bestehenden Obergrenzen für das Budgetdefizit und die Schul-
11
denquote eingeengt werden, insbesondere dann, wenn im vorangegangenen
Aufschwung dieser Spielraum nicht entsprechend vergrößert worden ist.
Wirksamkeit der automatischen Stabilisatoren häufig durch Politikeingriffe geschmälert
In Kapitel 2 werden Höhe und Wirkungsweise der automatischen Stabilisatoren
in den Ländern der EU untersucht. Die konjunkturbedingte Komponente des
Finanzierungssaldos stellt den Nachfrageimpuls dar, der von den öffentlichen
Haushalten im Konjunkturverlauf automatisch ausgeht. Falls der Konjunkturzyklus annähernd symmetrisch ist, steigt die Staatsverschuldung durch das
Wirkenlassen der automatischen Stabilisatoren über den Zyklus hinweg nicht.
Je konjunkturreagibler der Budgetsaldo ist, d.h. je mehr sich der staatliche Budgetsaldo mit der Konjunktur automatisch verändert, um so größer ist die Stabilisierungswirkung des Finanzsystems. Bei einer Konjunkturschwäche kann dann
allerdings – falls das strukturelle Defizit nicht entsprechend niedrig ist – das
Budgetdefizit die im Vertrag von Maastricht für die EWU-Länder festgelegte
Obergrenze von 3% überschreiten. Das Land ist dann in der Zwangslage, entweder die automatische Stabilisierungswirkung des Finanzsystems durch diskretionäre kontraktive Maßnahmen zu konterkarieren, was den Konjunkturabschwung verschärft oder es muss die bei Überschreiten der Defizitobergrenze
vorgesehenen Sanktionen bezahlen. Vor allem Länder mit sehr konjunkturreagiblen Budgetsalden (also hohen automatischen Stabilisatoren) müssen daher
Sorge tragen, dass das strukturelle Budgetdefizit entsprechend niedrig ist.
Dies ist auch der Grund, warum in einer Resolution zum Stabilitätspakt der Europäische Rat empfiehlt, den Staatshaushalt mittelfristig auszugleichen oder
einen Überschuss zu erwirtschaften, um in den Abschwungsphasen zyklisch
bedingte Defizite hinnehmen zu können, ohne dass dadurch das Gesamtdefizit
die Obergrenze von 3% übersteigt.
Mitte der neunziger Jahre hatten die meisten EU-Länder noch relativ hohe
strukturelle Defizite; diese waren teilweise sogar deutlich höher als 3%, so dass
diese Obergrenze (die damals allerdings noch nicht verbindlich war) nur in einer
ausgeprägten Boomsituation mit hohen konjunkturbedingten Steuermehreinnahmen und Minderausgaben hätte erreicht werden können. Inzwischen haben
aber alle EU-Länder die strukturellen Defizite deutlich reduziert und einige Länder weisen sogar strukturelle Überschüsse auf. Damit wurde wieder Spielraum
12
geschaffen für das Wirkenlassen der automatischen Stabilisatoren in einer
künftigen Abschwungsphase; der kritische Wert der Produktionslücke, bei dem
die 3% Obergrenze erreicht wird, hat sich entsprechend erhöht.
Erhöht sich im Konjunkturabschwung die Produktionslücke um 1 Prozentpunkt,
dann steigt im Durchschnitt der EU-Länder (und auch in Deutschland) die staatliche Defizitquote um rund ½ Prozentpunkt.1 Die höchste Konjunkturreagibilität
weist Schweden auf (0,9), gefolgt von Dänemark (0,8), den Niederlanden und
Großbritannien (jeweils 0,7). Unterdurchschnittliche Konjunkturreagibilitäten
(jeweils 0,4) wurden für Irland, Österreich und Griechenland ermittelt.
Falls die automatischen Stabilisatoren voll wirksam sind, vermindern sie die
konjunkturellen Schwingungen im Durchschnitt der Industrieländer – Berechnungen der OECD zufolge – um etwa ein Viertel; für Deutschland wurde eine
automatische Stabilisierungswirkung von rund einem Drittel berechnet.
Allgemein gilt, dass die Konjunkturreagibilität des Budgetsaldos um so größer
ist, je größer die Staatsquote eines Landes ist, je progressiver das gesamte
Abgabensystem ist und je umfassender die Unterstützung der Arbeitslosen ist.
Dies erklärt die relativ hohe Konjunkturreagibilität in Schweden und Dänemark
einerseits – die primären d.h. um die Zinsausgaben bereinigten Staatsausgaben liegen bei 50% des Bruttoinlandsprodukts bzw. knapp darunter – und die
niedrige Konjunkturreagibilität von Irland andererseits; dort betragen die primären Staatsausgaben weniger als 30% des Bruttoinlandsprodukts.
In der letzten konjunkturellen Abschwungsphase mit dem Tiefpunkt in der ersten Hälfte der neunziger Jahre (zumeist im Jahr 1993) wurde der Anstieg der
konjunkturbedingten Defizite in der Hälfte der EU-Länder durch eine Senkung
der strukturellen Komponente teilweise oder ganz konterkariert, so dass die
automatischen Stabilisatoren nicht oder nur teilweise wirksam waren; dies war
in Deutschland, Italien, Belgien, Griechenland, Irland, Niederlande und Spanien
der Fall. Demgegenüber wurden in Österreich, Frankreich, Großbritannien, Dänemark, Finnland, Portugal und Schweden in dieser Konjunkturphase die
strukturellen Defizite nicht verändert und teilweise sogar deutlich erhöht (insbesondere in Schweden). Auch in den USA und in Japan wurde in dieser Abschwungsphase – in den USA erreichte diese im Jahr 1991 den Tiefpunkt – den
1
Die Spannbreite der Schätzungen liegt für den EU-Durchschnitt zwischen 0,4 und 0,6 Prozentpunkten.
13
automatischen Stabilisatoren durch die diskretionäre Finanzpolitik nicht entgegengewirkt.
Während der anschließenden Phase der konjunkturellen Erholung sank die
konjunkturbedingte Komponente des Budgetdefizits. In dieser Konjunkturphase
wirkten die automatischen Stabilisatoren zumeist in die gleiche Richtung wie die
diskretionäre Finanzpolitik; beide dämpften die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Dies war nicht nur in nahezu allen europäischen Ländern der Fall, sondern
auch in den USA. Dagegen blieb in Japan, wo das konjunkturbedingte Defizit
noch leicht stieg die diskretionäre Finanzpolitik stark expansiv; in der Folge
stieg dort die Staatsverschuldung sehr kräftig.
Betrachtet man die letzte Abschwungs- und Aufschwungsphase zusammen,
dann haben sich von den EU-Ländern Frankreich, Großbritannien, Dänemark,
Österreich, Finnland, Portugal und Schweden insoweit konjunkturgerecht verhalten, als sie über den Konjunkturzyklus hinweg die Wirksamkeit der automatischen Stabilisatoren nicht durch entgegen gerichtete Veränderungen des
strukturellen Defizits geschmälert haben. Auch in den USA ist ein derart konjunkturgerechtes Verhalten der Finanzpolitik festzustellen.
Bei der Kritik an den Ländern, welche während der Abschwungsphase die
strukturelle Komponente des Defizits reduziert und damit die Wirkung der automatischen Stabilisatoren verringert oder außer Kraft gesetzt haben, ist allerdings Folgendes zu bedenken. Die Budgetdefizite und die Schuldenquoten waren zuvor stark gestiegen (in Deutschland auch infolge der deutschen Vereinigung) und die finanzpolitische Position wurde vielfach als "unsustainable", also
als nicht nachhaltig gesichert und sehr prekär eingestuft. Bei einem weiteren –
selbst konjunkturbedingten – Anstieg von Defizitquote und Schuldenquote wäre
es möglicherweise zu Vertrauensverlusten am Kapitalmarkt und einem Anstieg
der teilweise ohnehin schon hohen Risikoprämien in den Zinssätzen gekommen. Auch hätten die Privaten bei einem weiteren ungebremsten Anstieg der
Staatsverschuldung möglicherweise Steuererhöhungen befürchtet und mit
Kaufzurückhaltung d.h. einem Anstieg ihrer Sparquote reagiert.
Dieser letztere „nicht-keynesianische“ Effekt zunehmender Staatsverschuldung
(auch Ricardo-Effekt oder Barro-Effekt genannt) hätte dann dem automatischen
Stabilisierungseffekt des konjunkturbedingten Defizitanstiegs, welcher nur die
keynesianischen Impulse widerspiegelt, entgegengewirkt und ihn möglicherweise kompensiert; die Länder hätten dann konjunkturell nichts gewonnen und am
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Ende eine höhere Staatsverschuldung gehabt. Insofern mussten sie zwischen
diesen verschiedenen Risiken abwägen. Tatsächlich ist es in einigen Ländern
gelungen, trotz (oder aufgrund?) der in der Abschwungsphase begonnenen
Haushaltskonsolidierung anschließend ein relativ hohes Wirtschaftswachstum
und eine deutliche Senkung der Arbeitslosigkeit zu erreichen. Dies war insbesondere in Irland der Fall, aber auch in den Niederlanden.
Haushaltskonsolidierung durch Einnahmeerhöhungen und Ausgabekürzungen
In Kapitel 3 wird insbesondere untersucht, auf welche Weise die Haushaltsdefizite in den Ländern bzw. Regionen reduziert worden sind. Was die Art der
Haushaltskonsolidierung betrifft, werden in der Literatur die Vorzüge der Kürzung von Staatsausgaben anstatt der Erhöhung der Einnahmen hervorgehoben. Wenn die Konsolidierung in der EWU in den neunziger Jahren vor allem
durch Einnahmeerhöhungen erreicht worden wäre, könnte dies als Zeichen gewertet werden, dass der politische Wille und die öffentliche Unterstützung für
den harten Kern der notwendigen Konsolidierung – die Kürzung von Ausgaben – nicht vorhanden ist. Tatsächlich haben aber im Euro-Raum Einschränkungen der Staatsausgaben bei der Konsolidierung eine große Rolle gespielt;
zur Senkung der Ausgaben hat zwar auch die Senkung der Zinsen beigetragen,
doch gingen in vielen Ländern, auch die übrigen Ausgaben (im Verhältnis zum
Bruttoinlandsprodukt) zurück; mehrere Länder haben aber zusätzlich auch die
Abgaben erhöht.
Gefährden rückläufige staatliche Investitionsquoten das Wirtschaftswachstum?
Im Zuge der Haushaltskonsolidierung wurden teilweise auch die öffentlichen
Investitionen eingeschränkt. Im Durchschnitt der EWU-Länder ging die staatliche Investitionsquote (in % des Bruttoinlandsprodukts) von 3,3% im Jahre 1991
auf 2,5% im Jahr 1999 zurück. Eine rückläufige Infrastrukturinvestitionsquote ist
in reifen Volkswirtschaften zwar nicht unbedingt besorgniserregend. Auch ist zu
berücksichtigen, dass es seit einiger Zeit die Tendenz gibt, ehemals öffentliche
Aufgaben (z.B. im Verkehrs- und Telekommunikationsbereich) zu privatisieren,
was die ausgewiesenen öffentlichen Investitionen senkt, ohne aber die angebotene Leistung grundsätzlich zu schmälern. Dennoch könnte die sinkende öffentliche Investitionsquote auch aus wachstumspolitischer Sicht problematisch
sein. Um die Bedeutung der öffentlichen Investitionen auf Produktivität und
15
Wachstum herauszufinden, wurde die entsprechende theoretische und empirische Literatur zu den Wirkungen der Infrastruktur ausgewertet. Demnach haben
öffentliche Ausgaben, die dazu dienen, im Produktionsprozess den privaten
Arbeits- und Kapitaleinsatz zu ergänzen, einen positiven Einfluss auf die gesamtwirtschaftlichen Investitionen und die gesamtwirtschaftliche Produktion. So
wird die Verlangsamung der Produktivitätsentwicklung in den meisten OECDStaaten in den siebziger und achtziger Jahren von manchen u.a. auf zu geringe
Infrastrukturinvestitionen zurückgeführt. Allerdings sind diese Forschungsergebnisse durch eine Reihe empirischer Studien – zumindest für die USA –
bestritten worden. Es gibt sogar Studien, die auf negative Produktivitätseffekte
öffentlicher Investitionen hinweisen. Welche Produktivitätseffekte letztlich auftreten, hängt offenbar von den jeweiligen Bedingungen in den Ländern und vor
allem die Art der Investition ab. Neuere empirische Ergebnisse für Deutschland
sind allerdings weniger kontrovers und weisen auf positive Produktivitätseffekte
der öffentlichen Infrastrukturinvestitionen hin.
In Deutschland besteht nach wie vor eine Sondersituation wegen des Aufholprozesses in den neuen Bundesländern. Die starke Ausweitung der öffentlichen
Investitionen in den ersten Jahren nach der Vereinigung führte zu einer schnellen Erhöhung und Modernisierung der Infrastruktur in Ostdeutschland. Davon
gingen zweifellos positive Effekte auf die Produktivitätsentwicklung aus. Allerdings erreicht die Infrastrukturausstattung in wichtigen Bereichen, wie insbesondere dem Verkehrsbereich, noch nicht das Westniveau. Zwar geht der Infrastrukturaufbau weiter, aber es gibt auch Bremsklötze. So hat sich inzwischen
bei den Ländern und Kommunen in Ostdeutschland trotz der hohen Transfers
aus dem Westen eine hohe Schuldenlast angehäuft. Die relativ niedrige Steuerkraft der ostdeutschen Länder und Kommunen und die hohe Zinsbelastung
sowie die kräftigen Lohnsteigerungen im öffentlichen Dienst engen den finanziellen Spielraum für eigenfinanzierte Infrastrukturinvestitionen ein, was den
Aufholprozess bremst.
Makropolitische und strukturpolitische Bedingungen für Wachstum und
Beschäftigung
In Kapitel 4 werden die gegenseitigen Abhängigkeiten und Synergien zwischen
den verschiedenen wirtschaftspolitischen Bereichen untersucht. So gibt es zwischen den Bereichen der Makropolitik, also der Geldpolitik und der Finanzpolitik, aber auch der Lohnpolitik gegenseitige Einflüsse. Die gesamtwirtschaftliche
Stabilisierung wird wesentlich erleichtert, wenn sich diese Bereiche gegenseitig
16
unterstützen. Wirken sie einander entgegen, steigt die Gefahr von Konjunkturkrisen. Aber auch zwischen der Makropolitik einerseits und den strukturpolitischen Bedingungen andererseits gibt es eine gegenseitige Abhängigkeit. So ist
bei Strukturproblemen die Konjunkturstabilisierung schwieriger. Umgekehrt können aus Konjunkturkrisen Strukturprobleme entstehen. So kann sich eine ursprünglich konjunkturelle Arbeitslosigkeit bei einem inflexiblen Arbeitsmarkt und
einer relativ großzügigen Arbeitslosenunterstützung leicht zu einer strukturellen
Arbeitslosigkeit verfestigen; es kommt zum dem so genannten HysteresisEffekt. Bei günstigen strukturellen Rahmenbedingungen fällt es dagegen der
Makropolitik leichter, Konjunkturschwankungen zu verstetigen. Generell ist bei
günstigen strukturellen Rahmenbedingungen auch die mittelfristige Wachstumsund Beschäftigungsdynamik höher, was dann über entsprechend höhere
Staatseinnahmen und geringere Ausgaben für Arbeitslose auch positive Rückwirkungen auf die öffentlichen Haushalte hat.
Aus all dem folgt, dass es für Wachstum und Beschäftigung günstig ist, wenn
die Makropolitik so gestaltet wird, dass möglichst keine konjunkturelle Arbeitslosigkeit entsteht; dann kann es nämlich auch zu keiner Verfestigung in eine
strukturelle Arbeitslosigkeit kommen. Auch ist es günstig, die strukturellen
Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass von vorneherein die strukturelle
Arbeitslosigkeit gering ist. Bei günstigen strukturellen Rahmenbedingungen
treten auch keine Hysteresiseffekte auf, d.h. falls im Konjunkturabschwung Arbeitslosigkeit entsteht, wird sich diese im anschließenden Aufschwung wieder
zurückbilden und nicht in einer strukturellen Arbeitslosigkeit verfestigen.
Arbeitslosigkeit und Makropolitik
In Deutschland (und auch in anderen kontinentaleuropäischen Ländern) dürfte
bei der Entstehung der strukturellen Arbeitslosigkeit die Hysteresiseffekte eine
große Rolle gespielt haben, d.h. die Verfestigung der ursprünglich konjunkturellen Arbeitslosigkeit in strukturelle Arbeitslosigkeit. So stieg in Deutschland in
den bisherigen vier Rezessionen (1967, 1974/75, 1981/82, 1993) die Arbeitslosigkeit zunächst konjunkturbedingt an, aber mit Ausnahme der ersten Rezession 1967 ging sie im anschließenden Aufschwung nicht mehr auf das Niveau vor
der Rezession zurück. Die strukturelle Arbeitslosigkeit war damit nach Überwindung der Rezessionen jeweils höher als vor den Rezessionen. Zu der höheren
strukturellen Arbeitslosigkeit in Westdeutschland kam nach der deutschen Vereinigung die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern, die vorwiegend
17
strukturell ist, hinzu. Damit hat sich auch das Verhältnis zwischen der Arbeitslosigkeit und der Inflationsrate, wie es in der sogenannten Phillips-Kurve dargestellt ist, im Zeitablauf stark verändert.
Die Tatsache, dass in Deutschland anders als in den USA die Arbeitslosigkeit
nach den negativen Angebots- und Nachfrageschocks der letzten 25 Jahre
nicht wieder auf das frühere Niveau zurückging, sondern vielmehr treppenförmig stieg, deutet auf strukturelle Unterschiede zwischen beiden Ländern hin.
Allerdings war die Makropolitik in Deutschland bei der Entstehung der ursprünglich konjunkturellen Arbeitslosigkeit mit beteiligt, weil sie während der
letzten beiden Rezessionen prozyklisch wirkte. Dies trifft insbesondere für die
Finanzpolitik zu, welche in beiden Perioden versuchte, das zuvor stark gestiegene strukturelle Finanzierungsdefizit zu verringern.
Bei der Geldpolitik fällt die Beurteilung differenzierter aus. Die Bewertung ist vor
allem davon abhängig, welcher Indikator herangezogen wird. Trotz der Senkungen im Verlauf der Rezessionen 1981/82 und 1992/93, war der kurzfristige
Realzins aus rein konjunktureller Sicht damals „zu hoch“ und damit rezessionsverschärfend. Berücksichtigt man neben der Konjunktur aber auch die Preissteigerungen, wie dies bei der Berechnung des sogenannten Taylor-Zinses geschieht, dann kann der geldpolitische Kurs in diesen Konjunkturphasen nicht als
„zu restriktiv“, sondern als „angemessen“ bezeichnet werden. Dies zeigt, dass
es der Geldpolitik in diesen Abschwungsphasen offenbar schwer fiel, die Zinsen
schneller und stärker zu senken, weil die Preissteigerungen zunächst noch über
dem Preisziel der Bundesbank lagen. Da die Sicherung der Preisstabilität die
Hauptaufgabe der Geldpolitik ist, kann man ihr keinen Vorwurf machen, auch
wenn sie aus rein konjunktureller Sicht in der Anfangsphase des Abschwungs
zu restriktiv war.
Haushaltskonsolidierung und Wachstum: keynesianische versus nicht-keynesianische Effekte
Von einer Haushaltskonsolidierung, also einer Reduzierung des strukturellen
Budgetdefizits, werden entsprechend der keynesianischen Nachfragetheorie, im
allgemeinen dämpfende Wirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage,
die gesamtwirtschaftliche Produktion und die Beschäftigung erwartet. Häufig
wird aber auch auf sogenannte nicht-keynesianische Effekte, d.h. auf positive
Wirkungen der Haushaltskonsolidierung auf Konjunktur und Beschäftigung hingewiesen. Diese entstehen dann, wenn zum einen wegen der dann geringeren
Kapitalmarktbeanspruchung durch den Staat und einer geringeren Risikoprämie
18
die realen Zinsen sinken und wenn zum anderen das Vertrauen bei den Privaten wächst. Eine glaubhafte Konsolidierung kann diesen Vertrauenszuwachs
erzeugen, weil die Privaten dann in Zukunft wieder von „gesunden“ Staatsfinanzen ausgehen können und keine weiteren Steuererhöhungen befürchten
müssen. All dies führt zu einer größeren Investitions- und Verbrauchsdynamik
bei den Privaten; die private Sparquote sinkt. Je größer das Staatsdefizit ist, um
so mehr wird dies von der Bevölkerung als Krise der Staatsfinanzen empfunden, und umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich bei einem glaubhaften Konsolidierungskurs die positiven Vertrauenseffekte einstellen, insgesamt
also die nicht-keynesianischen Effekte überwiegen.
Tatsächlich gibt es einzelne Fälle, in denen nicht-keynesianischen Effekte der
Haushaltskonsolidierung dominierten, und zwar auch kurzfristig. Insgesamt gesehen ist die Literatur zur Bedeutung der nicht-keynesianischen Effekten allerdings widersprüchlich. Um dieser Frage weiter nach zu gehen, wurde im Rahmen des vorliegenden Gutachtens für Deutschland ein vektorautoregressives
Modell (VAR) entwickelt, um die Effekte von Veränderungen von Staatsausgaben und Steuern auf das reale Bruttoinlandsprodukt zu testen. Das VAR-Modell
hat den Vorteil, dass es „theoriefrei“ ist in dem Sinne, dass nicht wie bei anderen Modellsimulationen keynesianische oder neoklassische Modellannahmen
getroffen werden, welche das Ergebnis vorweg bestimmen. Vielmehr basiert es
lediglich auf den statistischen Zusammenhängen zwischen den staatlichen Einnahmen und Ausgaben einerseits und dem realen BIP andererseits, wie sie in
der Vergangenheit vorherrschten. Die Modellergebnisse für Deutschland wurden dann mit den Ergebnissen einer ähnlichen Studie für die USA verglichen.
Es zeigt sich, dass in beiden Ländern die keynesianischen Effekte vorherrschen, d.h. eine Erhöhung der Staatsausgaben erhöht kurzfristig das reale BIP,
während eine Steuererhöhung das reale BIP senkt. Die positiven Effekte der
Ausgabenerhöhung halten aber nicht an: eine Ausweitung der Staatstätigkeit,
d.h. eine Erhöhung der Staatsausgaben und Steuern im gleichen Umfang, hat
nach dieser Analyse tendenziell negative langfristige Folgen auf das BIP. Nach
diesem Modellansatz dominieren also langfristig die nicht-keynesianischen Effekte, was im Umkehrschluss bedeutet, dass die geplante Reduzierung der
Staatsquote in Deutschland längerfristig positive Wirkungen auf Wachstum und
Beschäftigung haben wird.
19
Makropolitisches und strukturpolitisches Policy Mix im internationalen Vergleich
Die makropolitischen und strukturpolitischen Bedingungen, wie sie im Durchschnitt der neunziger Jahre geherrscht hatten, wurden in einem internationalen
Vergleich näher untersucht. Anschließend wurden sie den wachstums- und beschäftigungspolitischen Erfolgen bzw. Misserfolgen der Länder gegenüber gestellt, um Anhaltspunkte zu finden, wie bedeutsam die Makropolitik und die
strukturpolitischen Bedingungen für Wachstum und Beschäftigung waren.
Es wurden makropolitische und strukturpolitische Indikatoren zusammengefasst, anhand derer sich eine – zumindest grobe – Bewertung des Zusammenspiels der verschiedenen Politikbereiche vornehmen lässt. Betrachtet werden
fünf Politikbereiche, nämlich die Finanzpolitik und die Geldpolitik als die beiden
Bereiche der Makropolitik und die Arbeitsmarktpolitik, die staatliche Abgabenpolitik und die Politik der Arbeitslosenunterstützung als die drei Bereiche der
Strukturpolitik. Der Beobachtungszeitraum sind die neunziger Jahre. Bei der
Finanzpolitik und der Geldpolitik erfolgte die Bewertung ausschließlich aus
konjunktureller Sicht: Bei einer konjunkturverstetigenden Wirkung fiel die Bewertung positiv aus und bei einer konjunkturverstärkenden Wirkung negativ.
Demnach hat Finanzpolitik von den betrachteten Ländern insbesondere in
Deutschland, Italien, Belgien und Spanien im Durchschnitt der neunziger Jahre
die konjunkturellen Schwankungen tendenziell verstärkt, was zu einer negativen
Bewertung führte. Der Hauptgrund war, dass sich diese Länder in konjunkturellen Schwächephasen angesichts zuvor hoher Budgetdefizite zu einem Defizitabbau gezwungen sahen.2 Dabei spielte auch die Vorbereitung auf die EWU
eine Rolle, denn ohne diesen Konsolidierungskurs hätten viele Länder vermutlich den Beitritt zur Europäischen Währungsunion nicht geschafft. Positiv fällt
die finanzpolitische Bewertung insbesondere für die USA aus. Dort wurde in
den neunziger Jahren die finanzpolitische Konsolidierung im Aufschwung vorangetrieben, während bei schwacher Konjunktur zu Beginn der neunziger Jahre die Finanzpolitik noch expansiv ausgerichtet war.
2
20
Im Falle Deutschlands hängt dies allerdings mit der Sondersituation durch die Deutsche Vereinigung Anfang der neunziger Jahre zusammen. Damals entstand wegen der einheitsbedingten Kosten zunächst ein hohes Staatsdefizit. Dieses fiel mit dem einheitsbedingten Konjunkturboom zusammen. In den Folgejahren sahen sich die öffentlichen Haushalte gezwungen, zu konsolidieren, und zwar auch während der konjunkturellen Schwächephasen.
Die Geldpolitik hat dagegen im Durchschnitt der neunziger Jahre in Deutschland und den meisten anderen hier betrachteten Ländern zur Konjunkturstabilisierung beigetragen.3
Die drei strukturpolitischen Bereiche wurden ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsanreize bzw. der möglichen Wirkungen auf die Beschäftigung untersucht. Die Arbeitsmarktflexibilität wurde gemessen an dem
Employment Protection Legislation Index der OECD, die Beschäftigungsanreize
des Abgabensystems an der Grenzabgabenquote des Faktors Arbeit und die
Beschäftigungsanreize bei der Arbeitslosenunterstützung am Verhältnis zwischen der Höhe der Arbeitslosentransfers und dem letzten Nettolohn (benefit
replacement rate). Es zeigt sich, dass von den betrachteten Ländern lediglich in
den USA, in Großbritannien, Neuseeland und Irland die Arbeitsmärkte im
Durchschnitt der neunziger Jahre als flexibel bezeichnet werden können, während in den meisten Ländern der EWU einschließlich Deutschland die Regulierungen größer sind. Auch bei der Grenzabgabenbelastung des Faktors Arbeit
schneiden die USA (zusammen mit Neuseeland) am günstigsten ab. Deutschland hat gegenwärtig von den betrachteten Ländern die zweithöchste Grenzbelastung. Auch wenn die neue Steuerreform in Deutschland die Grenzbelastung des Faktors Arbeit senken wird, bleibt diese dennoch, absolut gesehen
und im internationalen Vergleich, hoch. Was schließlich die relative Höhe der
Arbeitslosenunterstützung betrifft, so ist diese ebenfalls in den USA gering, aber
auch in Italien, Irland und Spanien. Am höchsten sind die Lohnersatzleistungen
in den Niederlanden, Finnland und Schweden, gefolgt von Deutschland, Belgien
und Großbritannien. Diese Länder erhalten zusammen mit Frankreich und Österreich eine negative Bewertung bezüglich der Arbeitsanreize im System der
Arbeitslosenunterstützung.
Fasst man die makropolitischen und die strukturpolitischen Einflussfaktoren zusammen, dann zeigt sich, dass diese in den neunziger Jahren insbesondere in
den USA sehr günstig waren. Insofern überrascht es nicht, dass die USA in den
letzten 10 Jahren eine sehr positive Wachstums- und Beschäftigungsbilanz
aufweisen. Das durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum lag im Zeit3
Während, wie oben erwähnt, die kurzfristigen Realzinsen in Deutschland für die Rezession
1993 aus rein konjunktureller Sicht „zu hoch“ bewertet wurden, fällt das Urteil hier für den
Durchschnitt der neunziger Jahre für Deutschland positiv aus. Dies liegt daran, dass die realen Geldmarktzinsen regelmäßig im Abschwung gesenkt und im Aufschwung erhöht wurden, wenn auch teilweise mit Verzögerung. Der hier für den internationalen Vergleich des
Verhaltens der Geldpolitik im Konjunkturverlauf verwendete Beurteilungsmaßstab ist also
relativ „grob“.
21
raum 1990 bis 1999 mit 3,1% deutlich über dem Durchschnitt in Deutschland
und im gesamten EWU-Raum (jeweils 1,8%). Die Zahl der Beschäftigten nahm
in den USA im letzten Jahrzehnt kräftig zu (um durchschnittlich 1,8%), während
sie in Deutschland zurückging (um durchschnittlich 0,2%) und im gesamten
EWU-Raum nur wenig stieg (um durchschnittlich 0,2%). Innerhalb der EWULänder verzeichnete Irland die höchste Wachstums- und Beschäftigungsdynamik; mit deutlichem Abstand folgen die Niederlande, Portugal, Spanien und
Österreich. Das geringste Wachstum wies Italien auf und den stärksten Rückgang bei der Beschäftigung erlebte Finnland; letzteres ist auf den Einbruch in
der ersten Hälfte der neunziger Jahre zurückzuführen. In der zweiten Hälfte der
neunziger Jahre stieg die Beschäftigung in Finnland wieder stark an.
Anforderungen an die Finanzpolitik und die übrigen Politikbereiche unter
dem Regime des Stabilitäts- und Wachstumspakts
In Kapitel 5 werden die Anforderungen an die Finanzpolitik und an die übrigen
Politikbereiche unter dem Regime des Stabilitäts- und Wachstumspakts zusammengefasst. Dabei wird zunächst auf die bisherigen Erfahrungen mit dem
Stabilitäts- und Wachstumspakt eingegangen. Abschließend werden dann im
Lichte der Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel die zukünftigen Anforderungen an die Makropolitik und die Strukturpolitik diskutiert.
Mit der Einführung des Euro ist die geldpolitische Kompetenz von den nationalen Zentralbanken auf die Europäische Zentralbank (EZB) übergegangen, während die Fiskalpolitik weiterhin in der dezentralen Verantwortung der Einzelstaaten liegt. Für die Fiskalpolitik haben sich die Euro-Länder jedoch im Rahmen des „Stabilitäts- und Wachstumspakts“ (Juni 1997) zu Einschränkungen
ihres Handlungsspielraums verpflichtet, die durch einen supranationalen Kontroll- und Interventionsmechanismus durchgesetzt werden sollen. Damit soll
erreicht werden, dass die Geldpolitik der EZB unterstützt oder jedenfalls nicht
konterkariert wird, und dass die Fiskalpolitik ihre durch hohe Staatsschulden
eingeschränkte Handlungsfähigkeit wiedergewinnt. Der vereinbarte Mechanismus ruht auf drei Säulen, nämlich einem mittelfristigen Frühwarnsystem (jährliche Vorlage eines „Stabilitätsprogramms“), einer Überwachung der Stabilitätsprogramme und einem Verfahren bei „übermäßigen Haushaltsdefiziten“. Für die
entsprechende Durchführung sind die Europäische Kommission, das Wirtschafts- und Finanzkomitee und der Rat der Wirtschafts- und Finanzminister
(ECOFIN-Rat) zuständig. Die Europäische Zentralbank spielt als unabhängige
22
kritische Instanz bei der Beurteilung der vorgelegten Stabilitätsprogramme und
der tatsächlichen Budgetentwicklungen ebenfalls eine wichtige Rolle.
Die bisherigen Erfahrungen mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt sind positiv. Die Budgetdefizite wurden nicht nur in den Planungen (sozusagen „auf dem
Papier“), sondern tatsächlich reduziert, und zwar in den meisten Fällen durchaus im beabsichtigten Maße. Auf der Basis dieser Fakten ist man geneigt, die
Wirksamkeit des Stabilitäts- und Wachstumspakts und seines Überwachungsmechanismus günstig zu beurteilen. Allerdings muss berücksichtigt werden,
dass die Haushaltskonsolidierung sich gegenwärtig in einer konjunkturell günstigen Phase der europäischen Wirtschaft vollzieht. Die öffentlichen Haushalte
profitieren ferner von den in letzter Zeit relativ niedrigen Kapitalmarktzinsen,
wobei die niedrigen Zinsen teilweise auch auf die geringeren staatlichen Budgetdefizite zurückzuführen sind.
Der Vergleich der staatlichen Finanzierungssalden in den verschiedenen Abgrenzungen bzw. Definitionen zeigt, dass es in den Ländern der EWU in den
letzten Jahren zu einer echten Haushaltskonsolidierung gekommen ist. Nicht
nur ging das tatsächliche Budgetdefizit deutlich zurück, sondern auch das
strukturelle Defizit und auch der primäre strukturelle Budgetsaldo (struktureller
Budgetsaldo abzüglich Zinsausgaben) verbesserte sich deutlich. In einigen
Ländern wie in Finnland, Irland und den Niederlanden ist die Haushaltskonsolidierung allerdings weit stärker vorangeschritten als in den anderen Ländern.
Damit war im Jahr 1999 in den meisten Ländern der EWU ein Spielraum für ein
Wirkenlassen der automatischen Stabilisatoren in einem zukünftigen Konjunkturabschwung wieder vorhanden. Dies ist ein wichtiger Unterschied zu der Situation vor Beginn der letzten Rezession 1993.
Zukünftige Anforderungen an die Makropolitik und die Strukturpolitik
Da für die Mitgliedsländer der Europäischen Währungsunion die nationale
Wechselkurspolitik und die nationale Geldpolitik nicht mehr zur Konjunkturstabilisierung zur Verfügung stehen, stellt sich die Frage, ob und wie in Zukunft eine
makroökonomische Stabilisierung zu erreichen ist, und welche Möglichkeiten
die EWU-Länder haben, die Arbeitslosigkeit zu senken.
Geldpolitik
Bei symmetrischen Schocks, also solchen, welche den gesamten EWU-Raum
treffen, kann nach wie vor die Konjunktur über die Geldpolitik stabilisiert werden. Da große Länder wie Deutschland die Konjunktur in der EWU stark beein-
23
flussen, ist bei ihnen die Wahrscheinlichkeit, dass die Konjunktur ähnlich verläuft wie im EWU-Durchschnitt – die auftretenden Schocks also symmetrisch
sind – und es deshalb zu einer entsprechenden Reaktion der Geldpolitik
kommt, relativ groß. Kleinere Mitgliedsländer der EWU sind zwar ebenfalls von
der Gesamtkonjunktur im EWU-Raum betroffen, doch beeinflussen sie den
Durchschnitt der EWU weniger. Deshalb ist bei diesen Ländern, die Wahrscheinlichkeit für asymmetrische Schocks größer.
Generell verfolgt die EZB eine Zwei-Säulen-Strategie, die sich erstens auf die
Geldmenge und zweitens auf ein Indikatorbündel zur Abschätzung der künftigen Inflation stützt. Bei der Festlegung des angestrebten Ausweitung der
Geldmenge sollte aber immer wieder geprüft werden, ob die bisherigen Annahmen über die Entwicklung der Bestimmungsgründe, nämlich Wachstum des
Produktionspotentials, Veränderung der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes
und Inflationsziel noch gültig sind. Wenn der jetzt in Gang gekommene Konjunkturaufschwung ohne inflationäre Spannungen verläuft und die Investitionsdynamik anhält sowie überdies Produktivitätsgewinne aufgrund der sogenannten New Economy (d.h. den positiven Effekten aufgrund der Aktivitäten im Zusammenhang mit Telekommunikation und Internet) erzielt werden, dann dürfte
das Potentialwachstum in der EWU in den nächsten Jahren höher liegen als in
den neunziger Jahren. Auch die in einigen Ländern durchgeführten oder in Angriff genommenen Steuerreformen könnten zu einem höheren Potentialwachstum beitragen. Um ein höheres Wirtschaftswachstum zu realisieren, muss dann
allerdings das Arbeitsangebot in den Ländern der EWU entsprechend flexibel
sein, so dass die zunehmende Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften
auch befriedigt werden kann.
Ferner könnte das Produktionspotential im EWU-Raum durch den Konvergenzprozess zwischen den Mitgliedsländern beeinflusst werden. So sind in einigen
Ländern, insbesondere in Irland, Spanien und Italien im Zuge der Vorbereitung
und Schaffung der EWU nicht nur die Nominalzinsen deutlich gesunken – dies
war angesichts der sinkenden Inflationserwartungen nicht ungewöhnlich – sondern auch die Realzinsen. Niedrigere Realzinsen erhöhen – für sich gesehen –
die Investitions- und Wachstumsdynamik. Unklar ist allerdings, ob dies das
mittelfristige Wachstum im Durchschnitt der EWU erhöht oder ob es lediglich zu
einer Verlagerung der Wachstumsdynamik zugunsten dieser Länder und zulasten anderer EWU-Länder führt; im letzteren Fall wäre Deutschland negativ
betroffen, weil sich die aufholenden Länder jetzt im Vergleich zu Deutschland
besser stellen als früher. Außerdem bewirkt der Konvergenzprozess in der
EWU allmählich eine Angleichung der regionalen Preisniveaus, was für die Ü-
24
bergangszeit in den aufholenden Ländern überdurchschnittliche Inflationsraten
impliziert. Bei handelbaren Gütern wird die Konvergenz der Preisniveaus durch
die größere Preistransparenz auf den Märkten in der EWU gefördert, bei nicht
handelbaren Dienstleistungen (z.B. Wohnungsvermietung) kann es ebenfalls zu
einer Angleichung der Preisniveaus kommen, und zwar dann, wenn die Dienstleistungspreise aufgrund von Lohnsteigerungen, die sich an den übrigen Sektoren orientieren, stärker steigen (Balassa-Samuelson-Effekt). Dadurch steigen
die Preise insgesamt in den aufholenden Ländern stärker als in den Ländern
mit höherem Lebensstandard; möglicherweise wird sich dies auch auf den
durchschnittlichen Preisanstieg auswirken, was dann zu tolerieren wäre. Nach
Auffassung der EZB kann dieser Effekt in der Europäischen Währungsunion
durchaus relevant sein, doch hat sie diesen Preiserhöhungseffekt bei der Festlegung des Inflationsziels und des Geldmengenwachstums bisher nicht explizit
berücksichtigt.
Unsicherheiten gibt es auch bei der Festlegung der trendmäßigen Abnahme der
Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes; diesen Wert setzt die EZB mit ½ bis 1%
an. Die Forschungsinstitute haben hier einen etwas höheren Wert von 1 bis
1 ½% errechnet.
Auch wenn sich alle diese Einflussfaktoren auf die Bestimmungsgründe des
Referenzwertes von M3 nur schwer abschätzen lassen, so deutet vieles darauf
hin, dass in Zukunft ein etwas höherer Referenzwert anzusetzen ist. Dies muss
dann allerdings von der EZB entsprechend begründet werden, um zu vermeiden, dass dies als Aufweichung des geldpolitischen Kurses interpretiert wird;
letzteres würde den Euro weiter schwächen.
Angesichts all dieser Unsicherheiten bei der Festlegung des Referenzwertes für
die Geldmenge und auch hinsichtlich der Stabilität des Zusammenhangs zwischen Geldmenge, Konjunktur und Inflation, ist der EZB zu empfehlen, auch
weiterhin an der Zwei-Säulen-Strategie festzuhalten. Richtgröße beim Inflationsziel sollte dabei der innerhalb der EWU entstehende Preisdruck sein. Temporäre Preisschocks von außen, wie der jüngste Ölpreisschock, sollten hingenommen werden, jedenfalls solange sie sich nicht in höheren Inflationserwartungen verfestigen. Würde die EZB auf diese Schocks oder auch auf die
Schwäche des Euro mit stärkeren Zinssteigerungen reagieren als dies mit Blick
auf das Inflationsziel gerechtfertigt ist, dann würde dies die Konjunktur unnötig
schwächen.
25
Finanzpolitik
Wirkungen auf die Konjunktur
Von der Finanzpolitik gehen zwar kurzfristig Wirkungen auf die Konjunktur aus,
doch spielt – anders als in den sechziger und siebziger Jahren – die „keynesianische Feinsteuerung“ in der Finanzpolitik praktisch keine Rolle mehr. Die Absage an eine finanzpolitische Feinsteuerung der Konjunktur hat gute Gründe.
So dauert es angesichts des politischen Entscheidungsprozesses relativ lange,
bis derartige Maßnahmen implementiert werden können. Es gibt auch eine
große Unsicherheit über die Höhe und die zeitliche Verteilung dieser Wirkungen, so dass die Maßnahmen evtl. erst wirken, wenn sich die Konjunktur schon
wieder verändert hat. Unterstellt man, dass die Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte nicht auf kurzfristigen Veränderungen, sondern auf einem längerfristigen Erwartungshorizont beruhen (nicht-keynesianische Effekte), dann
hätten temporäre finanzpolitische Maßnahmen ohnehin keine oder nur geringe
(oder evtl. sogar negative) Wirkungen auf die Gesamtnachfrage. Schließlich hat
die diskretionäre Finanzpolitik in der Vergangenheit häufig zu einem asymmetrischen Verhalten geführt: In Phasen schwacher Konjunktur wurden Ausgaben
und Defizite erhöht, aber dann bei günstigerer Konjunktur nicht wieder entsprechend reduziert, so dass die Staatsverschuldung längerfristig stark gestiegen
ist, insbesondere in Europa.
Besonderheiten in der EWU
Allerdings kann es Ausnahmesituationen geben, bei denen die Finanzpolitik
stabilisierend wirken kann. Wie erwähnt, kann in der EWU die Geldpolitik nur
noch auf die Entwicklung im Durchschnitt der Euro-Raums und nicht mehr auf
nationale Besonderheiten (asymmetrische Schocks) reagieren; auch sind die
Wechselkurse zwischen den EWU-Ländern fixiert. Ist also die Konjunktur in einem EWU-Land überdurchschnittlich kräftig und drohen übermäßige Preissteigerungen, dann sollte dort die Finanzpolitik eher restriktiv ausgerichtet werden,
um den für das Land (nicht aber für den Durchschnitt der EWU) zu expansiven
monetären Bedingungen entgegen zu wirken. Ist umgekehrt die Konjunktur in
einem Land deutlich schwächer als im Durchschnitt der EWU, dann wäre evtl.
in diesem Land eine expansivere Ausrichtung der Finanzpolitik angebracht, wobei allerdings die oben genannten Risiken einer derartigen Politik zu berücksichtigen sind.
Für ein relativ großes EWU-Mitgliedsland wie Deutschland, dessen Konjunktur
sich aber im allgemeinen ähnlich entwickelt wie der EWU-Durchschnitt wird bei
26
einem angemessenen Verhalten der EZB die Konjunktur über die Geldpolitik
stabilisiert. Eine zusätzliche diskretionäre Finanzpolitik zur Stabilisierung der
Konjunktur ist hier also nicht erforderlich; ihre Effizienz wäre angesichts der oben genannten Probleme ohnehin fraglich.
Stabilitätsprogramm und automatische Stabilisatoren
Wenn die Geldpolitik sich so verhält wie oben beschrieben, wirkt sie den konjunkturellen Schwankungen entgegen. Die Finanzpolitik kann sich dann in
Deutschland hinsichtlich der Konjunkturstabilisierung auf das Wirkenlassen der
automatischen Stabilisatoren beschränken. Die automatischen Stabilisatoren
können aber nur dann wirken, wenn sich die Finanzpolitik nicht sklavisch an
einem festgelegten Budgetsaldo ausrichtet, sondern – bei unerwarteten Veränderungen der Konjunktur – konjunkturbedingte Schwankungen des Budgetsaldos zulässt. So sollte auch bei der Durchführung der Stabilitätsprogramme, die
ja einen mittelfristigen Abbau der Defizite vorsehen, auf ein konjunkturgerechtes
Zusammenspiel von automatischen Stabilisatoren und diskretionärer Finanzpolitik geachtet werden. Falls die Konjunkturentwicklung in einzelnen Jahren stärker ist als im Stabilitätsprogramm unterstellt, sollte das Defizit aufgrund der
konjunkturbedingten Mehreinnahmen und Minderausgaben schneller als geplant zurückgeführt werden. Ist die Konjunkturentwicklung dagegen schwächer
oder gleitet die Wirtschaft sogar in eine Rezession ab, dann sollten die konjunkturbedingten Mindereinnahmen und Mehrausgaben hingenommen werden;
das Defizit wäre dann zwar vorübergehend größer als ursprünglich geplant,
doch würde der Konjunkturabschwung gedämpft.
Im Prinzip sollte sich also die Finanzpolitik an den zyklisch bereinigten, d.h. den
strukturellen Finanzierungssalden orientieren und rein konjunkturbedingte Abweichungen des tatsächlichen Defizits von den Planansätzen hinnehmen. Auf
diese Weise können die automatischen Stabilisatoren ihre konjunkturstabilisierende Wirkung entfalten. Allerdings ist eine derartige idealtypische Strategie
einer konjunkturgerechten Finanzpolitik in der Praxis nicht leicht durchführbar.
So gibt es bei der empirischen Abschätzung der konjunkturbedingten bzw. der
strukturellen Defizite erhebliche Risiken. Eine starre Regelbindung an ein
strukturellen Defizit kann daher problematisch sein. So fallen die von den verschiedenen Institutionen berechneten strukturellen Defizite teilweise sehr unterschiedlich aus. Da die Unterschiede bei den Veränderungen von Jahr zu Jahr
sich zwischen den verschiedenen Schätzungen aber im allgemeinen nur wenig
unterscheiden, könnte sich die Finanzpolitik an der folgenden pragmatischen
„Regel für konjunkturgerechtes Verhalten“ orientieren: Für jeden Prozentpunkt
27
Abweichung der Konjunktur von der beim Stabilitätsprogramm unterstellten
Entwicklung, sollte eine Abweichung bei der Defizitquote von etwa einem halben Prozentpunkt hingenommen werden.4 Wenn also die gesamtwirtschaftliche
Entwicklung in einem Jahr günstiger oder ungünstiger verläuft, als im Stabilitätsprogramm unterstellt, dann könnte auch für dieses Jahr eine im Vergleich
zum Stabilitätsprogramm entsprechend günstigere bzw. ungünstigere Defizitentwicklung toleriert werden. Bei einer derart flexiblen Durchführung des Stabilitätsprogramms blieben die automatischen Stabilisatoren wirksam. Das mittelfristige Budgetziel darf dabei aber nicht aus dem Auge verloren werden. Falls
die gesamtwirtschaftliche Entwicklung aber nicht nur in einzelnen Jahren, sondern dauerhaft günstiger oder ungünstiger ist, als im Stabilitätsprogramm unterstellt, dann bedeutet dies, dass der Wachstumstrend unterschätzt bzw. überschätzt worden ist. In diesem Fall muss bei seiner Fortschreibung das Stabilitätsprogramm entsprechend revidiert und auf den neuen Wachstumstrend abgestellt werden.
Sicherheitsabstand zur Defizitobergrenze
Die Hinnahme einer konjunkturbedingten Verschlechterung der Budgetposition
im Abschwung setzt voraus, dass das Defizit bei normaler Konjunkturlage (d.h.
das strukturelle Defizit) entsprechend niedrig ist, so dass das Defizit bei schwächerer Konjunktur die Obergrenze von 3% des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreitet. Schätzungen zufolge ist die Sicherheitsmarge für die konjunkturbedingten Defizite für die EWU-Länder insgesamt mit etwa 2% des Bruttoinlandsprodukts zu veranschlagen und die Marge für die übrigen Risiken mit ½
bis 1% des Bruttoinlandsprodukts. Dies bedeutet, dass der Abstand zur Defizitobergrenze von 3% etwa 2 ½ bis 3 Prozentpunkte betragen müsste. Bei einem
nahezu ausgeglichenen konjunkturbereinigten Haushalt wäre also ausreichend
Vorsorge getroffen, dass das tatsächliche Defizit auch bei zukünftigen (normalen) Konjunkturabschwüngen und unter Berücksichtigung zusätzlicher Budgetrisiken nicht über die 3%-Grenze steigt. Nach der Prognose der OECD vom Dezember 20005 werden die strukturellen Defizite im Jahr 2001 noch in einigen
Mitgliedsländern höher als 1% sein, nämlich in Deutschland (1.7%), in Frankreich (1.6%) und in Portugal (1.4%); in Deutschland ist dies auf die Mindereinnahmen aufgrund der Steuerreform zurück zu führen. Diese Länder müssen
4
Dieser Wert für die Konjunkturreagibilität des Budgetsaldos ergibt sich für Deutschland und
auch für eine Reihe anderer Länder. Die Spannbreite der geschätzten Konjunkturreagibilität
der Budgetsalden liegt für den EU-Durchschnitt zwischen 0,4 und 0,6 Prozentpunkten.
5
Vgl. OECD Economic Outlook, No. 68, December 2000.
28
demnach in den nächsten Jahren die Haushaltskonsolidierung fortsetzen, um
ihre mittelfristigen Budgetziele und auch den notwendigen Sicherheitsabstand
zu der Defizitobergrenze von 3% zu erreichen.
Zur Nachhaltigkeit der Haushaltskonsolidierung
In der Diskussion um das Ausmaß der notwendigen Haushaltskonsolidierung
wird auch auf die Belastungen der öffentlichen Haushalte aufgrund der erwarteten Alterung der Bevölkerungen verwiesen. Dies wird die öffentlichen Haushalte erheblich belasten. Betroffen sind insbesondere die gesetzliche Rentenversicherung, aber auch die gesetzliche Krankenversicherung, die Pflegeversicherung und die Versorgungssysteme für staatlich Bedienstete. In Vorbereitung
auf diese Lasten könnte – so wird argumentiert – der Staat Budgetüberschüsse
bilden und damit seinen Schuldenstand und seine Zinsausgaben senken. Damit
wäre ein Spielraum vorhanden, um die spätere Erhöhung der altersbedingten
Ausgaben besser zu verkraften; die Abgabenlast bliebe dann insgesamt niedriger. Es käme zu einem langfristigen „tax smoothing“.
Die Senkung der Staatsschuld und der staatlichen Zinsausgabenbelastung ist
allerdings nur eine von mehreren Optionen bei der Vorbereitung auf das Älterwerden der Bevölkerung. Eine andere – näher liegende – Option ist eine entsprechende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung. Dies wird auch in
Deutschland seit geraumer Zeit diskutiert und jetzt auch verstärkt angegangen.
Fest steht jedenfalls, dass die demographischen Veränderungen für die öffentlichen Haushalte große Risiken bergen. Stellt sich die Politik nicht oder zu spät
darauf ein, dann könnte es zu erheblichen Vertrauensverlusten in der Bevölkerung kommen. Die in der Literatur erwähnten Vorteile der Haushaltskonsolidierung würden sich dann nicht einstellen, bzw. würden wieder verspielt. Es würden stattdessen – im oben definierten Sinne – negativ wirkende nichtkeynesianische Effekte auftreten. Die Folge wäre weniger Wachstum und weniger Beschäftigung, was die Finanzierung der Alterslasten noch vergrößern würde.
Angesichts dieser demographischen Probleme ist bei der Diskussion um Ausmaß und Zeitraum der Haushaltskonsolidierung eine längerfristige Perspektive
notwendig. Um den Anpassungsbedarf für eine nachhaltige Haushaltskonsolidierung des Gesamtstaates (Gebietskörperschaften und Sozialversicherung)
transparenter zu machen, wird in der Literatur auch empfohlen, die traditionellen Finanzindikatoren wie Defizitquoten und Schuldenquoten durch Indikatoren
zu ergänzen, welche auch die künftigen Verpflichtungen des Staates (die sogenannte unsichtbare Staatsschuld bzw. contingent liabilities) erfassen; diese be-
29
steht insbesondere aus der beim derzeitigen Rentenrecht6 auftretenden Differenz zwischen den auf die Gegenwart abgezinsten zukünftigen Beitragseinnahmen und Rentenausgaben. Das Konzept der Generationenbilanzen und das
Konzept der langfristigen Projektionen des Staatshaushalts dienen diesem
Zweck.7 Da die langfristigen Projektionen des Staatshaushalts und die Generationenbilanzen im allgemeinen auf der Annahme einer status quo Finanzpolitik
und Rentenpolitik beruhen, handelt es sich bei diesen Konzepten allerdings
nicht um Projektionen im Sinne von Wahrscheinlichkeitsprognosen. Dennoch
ermöglichen es diese Methoden – bei allen Unsicherheiten bezüglich der verschiedenen Annahmen – zumindest der Größenordnung nach das Ausmaß der
für die langfristige Haushaltskonsolidierung notwendigen Reformen und die Bedeutung der unterschiedlichen Reformmaßnahmen zu illustrieren. Mit Hilfe von
Sensitivitätsanalysen kann dabei die Bedeutung der verschiedenen demographischen und ökonomischen Annahmen für das Gesamtergebnis aufgezeigt
werden, so dass sich die Unsicherheitsspanne besser beurteilen lässt.
Eine nachhaltige Konsolidierung der öffentlichen Haushalte erfordert demnach
sowohl eine möglichst schnelle Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
wie auch eine weitere Reduzierung des strukturellen Defizits bei den übrigen
öffentlichen Haushalten. Falls man die Strategie verfolgt, in den Jahren vor der
demographischen Verschlechterung die staatliche Schuldenquote und die Zinsbelastung zu senken, dann wäre in den nächsten 15 bis 20 Jahren nicht nur ein
– über den Konjunkturzyklus hinweg – ausgeglichener Haushalt erforderlich,
sondern es müssten sogar strukturelle Überschüsse erwirtschaftet werden. In
jedem Fall erfordert das Ziel der nachhaltigen Haushaltssicherung eine Fortsetzung des finanzpolitischen Konsolidierungskurses weit über den gegenwärtigen
Zeithorizont des Stabilitäts- und Wachstumspaktes hinaus.
Strukturpolitik
Bleibt auch bei normaler Konjunkturlage die Arbeitslosigkeit immer noch relativ
hoch, dann ist die Makropolitik überfordert, diese zu bekämpfen. In Deutschland
6
D.h. der relativen Rentenhöhe und dem Beitragssatz, wie sie sich nach der derzeitigen
Rechtslage ergeben.
7
Beide Konzepte erfordern allerdings entsprechende Annahmen über zentrale demographische
und gesamtwirtschaftliche Faktoren (insbesondere Bevölkerungsentwicklung einschließlich
der Netto-Zuwanderungen, Entwicklung der Erwerbsquote und der Arbeitsproduktivität).
Beim Konzept der Generationenbilanzen werden die zukünftigen Netto-Verbindlichkeiten auf
die Gegenwart abgezinst (Gegenwartswertberechnung), so dass hier zusätzlich Annahmen
über den Diskontierungssatz notwendig sind. Angesichts all dieser Annahmen ist die Unsicherheitsspanne dieser Berechnungen entsprechend groß.
30
und auch in anderen EWU-Ländern hat sich im Jahr 2000 die Konjunktur gegenüber dem Vorjahr deutlich verbessert. Damit dürfte der Anteil der Arbeitslosigkeit, der auf eine konjunkturelle Unterauslastung zurückzuführen ist und der
mit Hilfe der Makropolitik bekämpft werden könnte, bald eliminiert sein. Die Priorität der Wirtschaftspolitik muss jetzt bei der Bekämpfung der verbleibenden
strukturellen Arbeitslosigkeit liegen. Dafür gibt es eine Reihe von möglichen
Maßnahmen. So wurden in Deutschland und auch in anderen Ländern in
jüngster Zeit neue Steuerreformen beschlossen, die vor allem zum Ziel haben,
die Voraussetzungen für Wachstum und Beschäftigung mittelfristig zu verbessern. Dies sind Schritte in die richtige Richtung. Allerdings werden auch nach
diesen Steuerreformen in Deutschland und in den meisten EWU-Länder die
Grenzbelastungen des Faktors Arbeit relativ hoch bleiben. Überdies wird in den
nächsten Jahren die sogenannte kalte Progression bei der Einkommensteuer
aufgrund steigender Einkommen einen Teil der durch die Reformen bedingten
Senkungen wieder wett machen. Wenn die Steuerreformen aber begleitet werden von einer moderaten Lohnpolitik, einer größeren Lohndifferenzierung nach
Qualifikationen, Regionen und Unternehmen und wenn zusätzlich bei den
Transferzahlungen an Arbeitslose (Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe) die Anreize zur Aufnahme von Arbeit verstärkt werden, dann steigen die
Chancen für einen Abbau der strukturellen Arbeitslosigkeit. (In dem Gutachten
sind die unterschiedlichen Wege dargestellt, welche verschiedene Länder bei
der Schaffung von Arbeitsplätzen, insbesondere auch für weniger qualifizierte
Arbeitnehmer in den letzten Jahren gegangen sind.)
Generell gilt, dass die vom staatlichen Finanzsystem ausgehenden Arbeitsanreize – unter sonst gleichen Umständen – um so niedriger sind, je höher die
gesamte effektive Grenzbelastung des Faktors Arbeit (Steuern und Sozialabgaben) ist8 und je höher die staatliche Unterstützung der Arbeitsfähigen bei Nichtarbeit, d.h. die Lohnersatzleistungsquote (Replacement Rate) ist. Wie gezeigt
wurde, sind in Deutschland sowohl die effektiven Grenzbelastungen wie auch
die Lohnersatzleistungen an Arbeitslose relativ hoch. Beim System der Sozialhilfe ist die effektive Grenzbelastung für Arbeitnehmer in Deutschland sogar
extrem hoch. Da man die Sozialhilfe nur dann in voller Höhe erhält, wenn man
kein Arbeitseinkommen hat, und da sie in weiten Bereichen eins zu eins mit
8
Der negative Effekt der Abgabenbelastung auf die Beschäftigung ist dabei um so größer, je
mehr es den Arbeitnehmern gelingt, die Abgaben über entsprechend höhere Bruttolöhne auf
die Unternehmen zu überwälzen, weil dann die Lohnkosten entsprechend höher sind. Falls
die Arbeitnehmer dagegen bei hohen Abgaben einen entsprechend niedrigeren Reallohn akzeptieren, steigen die Lohnkosten nicht.
31
dem erzielten Arbeitseinkommen gekürzt wird, beträgt die effektive Grenzbelastung der Arbeit für die betroffenen Arbeitnehmer rund 100%. Über einen geringeren Kürzungssatz der Sozialhilfe bei zusätzlichen Erwerbseinkommen bzw.
über Lohnsubventionen an besonders Bedürftige, die einen Arbeitsplatz auch
bei geringem Lohn annehmen, ließe sich die effektive Grenzbelastung der Arbeit in diesem Bereich senken. Ein derartiges System der Sozialhilfe für Arbeitnehmer ist hinsichtlich der Arbeitsanreize dann besonders wirksam und bleibt
auch für den Staat finanzierbar, wenn gleichzeitig die Lohnspreizung relativ
hoch ist. Für gering Qualifizierte müssen die Löhne also – entsprechend ihrer
relativ geringen Produktivität – relativ niedrig sein, so dass von Seiten der Unternehmen die Nachfrage nach diesen Arbeitskräften hoch ist. Da der Staat die
Erwerbseinkommen über diese Art der Sozialhilfe aufstockt, ist auch ein entsprechendes Arbeitsangebot vorhanden. Eine derartige Reform der Sozialhilfe
könnte auch in Deutschland einen Beitrag zur Senkung der strukturellen Arbeitslosigkeit leisten. Die Arbeitnehmer würden damit insgesamt besser gestellt.
Die gering Qualifizierten erhielten zwar einen geringeren Lohn, doch würde das
Lohneinkommen – bei Bedürftigkeit – durch die Sozialhilfe aufgestockt, und es
entstünden mehr Arbeitsplätze. Da mehr Menschen arbeiten, wäre auch das
Bruttoinlandsprodukt höher.
32
Finanzpolitik im Spannungsfeld des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes – Zwischen gesamtwirtschaftlichen Erfordernissen und wirtschafts- und finanzpolitischem Handlungsbedarf
1. Einführung
Im Unterschied zu den sechziger und siebziger Jahren gibt es heute nur noch
wenige Finanzwissenschaftler und Finanzpolitiker, die einer antizyklischen Finanzpolitik im Sinne einer keynesianischen Nachfragepolitik, also Konjunkturprogrammen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, das Wort reden. Die Einsicht
herrscht vor, dass dort, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist, so auch in Deutschland,
dies vorwiegend strukturelle Gründe hat, welche sich nicht mit konjunkturstimulierenden Maßnahmen bekämpfen lassen, sondern vielmehr strukturelle Verbesserungen am Arbeitsmarkt, beim Lohnsystem und beim Steuer- und Sozialsystem erfordern. Im Vordergrund der Finanzpolitik steht die Haushaltskonsolidierung, also die Senkung der staatlichen Budgetdefizite.9 Davon werden
wachstumspolitisch positive Wirkungen erwartet, und zwar aus zweierlei Gründen: Zum einen kann bei einer geringeren Beanspruchung des Kapitalmarktes
durch den Staat der Realzins niedriger sein, was die Finanzierung privater Investitionen erleichtert. Zum anderen wird die Zinsbelastung der öffentlichen
Haushalte geringer. Dadurch entsteht Spielraum für Steuersenkungen, welche
dann ebenfalls die private Wirtschaftstätigkeit anregen können.
Auch wenn damit die Priorität der Finanzpolitik bei der Verbesserung der angebotspolitischen Rahmenbedingungen liegt, wird allgemein anerkannt, dass der
Finanzpolitik nach wie vor eine wichtige Aufgabe bei der Konjunkturstabilisierung verbleibt. So sollten bei konjunkturellen Schwankungen der Gesamtwirtschaft die so genannten automatischen Stabilisatoren des öffentlichen Finanzsystems wirksam sein. Dies bedeutet, dass im Abschwung die konjunkturbedingte Erhöhung des staatlichen Budgetdefizits hingenommen und nicht durch
Abgabenerhöhungen oder Ausgabenkürzungen verhindert werden darf. Entsprechend darf im Aufschwung die konjunkturbedingte Verbesserung des
Staatsbudgets nicht durch vermehrte Ausgaben oder Abgabensenkungen zunichte gemacht werden.
9
Innerhalb der Industrieländer bildet Japan hier allerdings eine Ausnahme. Dort wird seit einiger Zeit, wenn auch bisher nicht mit großem Erfolg, versucht, die Wirtschaftsschwäche mit
Hilfe einer stark expansiven Finanzpolitik zu überwinden.
33
Die Auffassung, dass im Konjunkturverlauf die Wirksamkeit der automatischen
Stabilisatoren nicht außer Kraft gesetzt werden darf, kann als "gemäßigter Keynesianismus" bezeichnet werden. Die stabilisierungspolitische Aufgabe der Finanzpolitik ist also auf das passive Hinnehmen von konjunkturbedingten Veränderungen im Budgetsaldo beschränkt, während früher der Finanzpolitik auch
eine aktive Rolle bei der Konjunkturpolitik zugesprochen wurde. Würde sich die
Finanzpolitik auch dieser "passiven Stabilisierungspolitik" verweigern, dann
würde sie in eine Parallelpolitik zurückfallen; sie würde im Abschwung, um eine
Erhöhung des Defizits zu verhindern, die Abgaben erhöhen und/oder die Ausgaben senken, was nach allgemeiner Auffassung die Konjunkturkrise verschärfen würde.
Dennoch sind viele europäische Länder in der Vergangenheit dieser Grundlinie
der staatlichen Stabilisierungspolitik, die Wirksamkeit der automatischen Stabilisatoren nicht einzuschränken, nicht immer gefolgt. Dies hatte mehrere Gründe:
Zum einen ist es in der jeweiligen Situation nicht immer einfach, zwischen den
konjunkturbedingten und den nicht konjunkturbedingten Einflüssen auf das
Staatsbudget zu unterscheiden. Diese Unsicherheit kommt auch bei den teilweise erheblichen Differenzen zwischen den verschiedenen Quantifizierungen
der konjunkturbedingten und der strukturellen Defizite zum Ausdruck. Zum anderen kann auch eine rein konjunkturbedingte Erhöhung des Budgetdefizits zu
Vertrauensverlusten und zu höheren Risikoprämien am Kapitalmarkt führen und
auch die Unsicherheit bei den Privaten vergrößern, so dass deren Ausgabenneigung abnimmt. Negative Vertrauenseffekte sind insbesondere dann zu erwarten, wenn das Budgetdefizit und die Staatsverschuldung bei Beginn des
Abschwungs schon sehr hoch sind. Der Spielraum für das Wirkenlassen der
automatischen Stabilisatoren kann schließlich auch durch die seit dem Vertrag
von Maastricht bestehenden Obergrenzen für das Budgetdefizit und die Schuldenquote eingeengt werden, insbesondere dann, wenn im vorangegangenen
Aufschwung dieser Spielraum nicht entsprechend vergrößert worden ist.
In Kapitel 2 werden Höhe und Wirkungsweise der automatischen Stabilisatoren
in den Ländern der EU untersucht. Dabei wird zunächst abgeschätzt, wie stark
sich die konjunkturellen Schwankungen auf die Staatshaushalte auswirken.
Auch wird untersucht, wie sich in den einzelnen Ländern die Spielräume für das
Wirkenlassen der automatischen Stabilisatoren durch die Defizitobergrenze und
die Höhe des strukturellen Defizits verändern. Ferner wird die Wirkung der automatischen Stabilisatoren auf die Konjunktur abgeschätzt. Schließlich wird
34
auch das Zusammenwirken der automatischen Stabilisatoren und der diskretionären Finanzpolitik in den Ländern während der letzten Abschwungsphase und
der Aufschwungsphase analysiert.
In Kapitel 3 wird die bisherige Finanzpolitik und die finanzpolitischen Optionen
einzelner EWU-Mitgliedsstaaten, in den Ländern der EWU insgesamt und im
Vergleich dazu auch in den USA diskutiert. Untersucht wird hier, auf welche Art
und Weise die Budgetdefizite reduziert wurden. Dabei wird auch auf mögliche
Auswirkungen von Kürzungen öffentlicher Investitionen eingegangen.
In Kapitel 4 wird die Koordinierung von Fiskal–, Geld-, Arbeitsmarkt-, und Sozialpolitik diskutiert. Dabei werden die Trade-Offs und die Synergien zwischen
den verschiedenen Politikbereichen bei der Konjunkturstabilisierung und bei der
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit herausgearbeitet. Da in der Finanzpolitik gegenwärtig die Haushaltskonsolidierung im Vordergrund steht, wird hier auch
untersucht, unter welchen Bedingungen davon dämpfende (keynesianische)
oder stimulierende (nicht-keynesianische) Wirkungen auf Wachstum und Beschäftigung zu erwarten sind. Schließlich wird in diesem Kapitel auch untersucht, welche makropolitische und strukturpolitische Bedingungen in den neunziger Jahren in verschiedenen europäischen und nicht europäischen Ländern
geherrscht haben. Dieser Vergleich soll Aufschluss darüber geben, ob Unterschiede in diesen Bedingungen die unterschiedliche Wachstums- und Beschäftigungsdynamik zwischen den Ländern, insbesondere zwischen den Ländern
der EWU einerseits und den USA andererseits, erklären können.
In Kapitel 5 werden die Anforderungen an die Finanzpolitik und an die übrigen
Politikbereiche unter dem Regime des Stabilitäts- und Wachstumspakt zusammengefasst. Dabei wird zunächst auf die bisherigen Erfahrungen mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt eingegangen. Abschließend werden dann im
Lichte der Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel die zukünftigen Anforderungen an die Makropolitik und die Strukturpolitik diskutiert.
35
2.
Die Konjunkturreagibilität der Budgetdefizite in den Ländern der EWU
2.1 Defizitreagibilität und die Rolle der automatischen Stabilisatoren
Die konjunkturbedingte Komponente des Finanzierungssaldos stellt den Nachfrageimpuls dar, der von den öffentlichen Haushalten im Konjunkturverlauf au10
tomatisch ausgeht.
Wenn das öffentliche Finanzsystem seine automatische
Stabilisierungsfunktion voll entfalten soll, dann müssen im Aufschwung die
konjunkturbedingten (Netto-) Mehreinnahmen angespart werden, so dass die
gesamtwirtschaftliche Nachfrage gedämpft wird. Im Abschwung kann dann ein
konjunkturbedingt höheres Defizit (aufgrund konjunkturbedingter (Netto-) Mindereinnahmen) hingenommen werden, welches die Nachfrage stützt. Auf diese
Weise werden die konjunkturellen Schwingungen gedämpft. Falls der Konjunkturzyklus annähernd symmetrisch ist, steigt die Staatsverschuldung durch das
Wirkenlassen der automatischen Stabilisatoren über den Zyklus hinweg nicht.
Im folgenden wird untersucht, wie hoch die automatischen Stabilisatoren in den
Ländern der EU sind, d.h. wie stark sich die Budgetdefizite rein konjunkturbedingt verändern, bzw. in der Vergangenheit sich verändert haben. Je konjunkturreagibler der Budgetsaldo ist, d.h. je mehr sich der staatliche Budgetsaldo
bei einer gegebenen Veränderung der Konjunktur automatisch verändert, um so
mehr wirkt das Finanzsystem stabilisierend auf die Konjunktur. Bei einer Konjunkturschwäche kann dann allerdings – falls das strukturelle Defizit nicht entsprechend niedrig ist - das Budgetdefizit die im Vertrag von Maastricht für die
EWU-Länder festgelegte Obergrenze von 3% überschreiten. Das Land ist dann
in der Zwangslage, entweder die automatische Stabilisierungswirkung des Finanzsystems durch diskretionäre kontraktive Maßnahmen zu konterkarieren,
was den Konjunkturabschwung verschärft oder es muss die bei Überschreiten
der Defizitobergrenze vorgesehenen Sanktionen zu bezahlen. Je konjunkturreagibler das Budget ist und je höher das strukturelle Defizit ist, um so größer
ist also das Risiko, in diese Situation zu kommen. Vor allem Länder mit sehr
konjunkturreagiblen Budgetsalden (also hohen automatischen Stabilisatoren)
10
36
Unterschiedliche Multiplikatorwirkungen der verschiedenen Einnahme- und Ausgabearten
werden hier vernachlässigt. Es wird also lediglich auf die Konjunkturimpulse und nicht auf die
gesamte Konjunkturwirkung der automatischen Stabilisatoren abgestellt. Letztere lassen sich
ermitteln, indem die Konjunkturimpulse als Anstoßwirkung in ein gesamtwirtschaftliches ökonometrisches Modell eingegeben werden.
müssen daher Sorge tragen, dass das strukturelle Budgetdefizit entsprechend
niedrig ist oder evtl. ein struktureller Überschuss vorhanden ist.
Dies ist auch der Grund, warum in einer Resolution zum Stabilitätspakt der Europäische Rat empfiehlt, den Staatshaushalt mittelfristig auszugleichen oder
einen Überschuss zu erwirtschaften, um in den Abschwungsphasen zyklisch
bedingte Defizite hinnehmen zu können, ohne dass dadurch das Gesamtdefizit
die Obergrenze von 3% übersteigt. Die Abbildung 2.1 verdeutlicht diesen Zusammenhang. In oberen Teil der Abbildung wird eine Konjunkturreagibilität von
0,5 unterstellt; dies bedeutet, dass sich die Defizitquote um 0,5 Prozentpunkte
erhöht, wenn die Produktionslücke um einen Prozentpunkt steigt. Ferner wird
von einem strukturellen Defizit von Null ausgegangen, d.h. das Budget ist bei
Normalkonjunktur (d.h. einer Produktionslücke von Null) ausgeglichen. In diesem Fall wird die Defizitquote die Obergrenze von 3% dann erreichen, wenn die
Produktionslücke auf 6% steigt; bei noch höheren Produktionslücken, müssten
restriktive Maßnahmen ergriffen werden, um einen weiteren Anstieg des Defizits zu verhindern. Im mittleren Teil der Abbildung ist unterstellt, dass die Konjunkturreagibilität 1 beträgt; die Erhöhung der Produktionslücke um einen Prozentpunkt erhöht also auch die Defizitquote um 1 Prozentpunkt. In diesem Fall
wird die Defizitobergrenze von 3% schon bei einer Produktionslücke von 3%
erreicht. Der untere Teil der Abbildung geht wieder von einer Konjunkturreagibilität von 0,5 aus, unterstellt aber ein strukturelles Defizit von 1%; hier wird die
Defizitobergrenze von 3% bei einer Produktionslücke von 4% erreicht.
Mitte der neunziger Jahre hatten die meisten EU-Länder noch relativ hohe
strukturelle Defizite; diese waren teilweise sogar deutlich höher als 3%, so dass
diese Obergrenze (die damals allerdings noch nicht verbindlich war) nur in einer
ausgeprägten Boomsituation mit hohen konjunkturbedingten Steuermehreinnahmen und Minderausgaben hätte erreicht werden können. Inzwischen haben
aber alle EU-Länder die strukturellen Defizite deutlich reduziert, und einige
Länder weisen sogar strukturelle Überschüsse auf. Damit wurde wieder Spielraum geschaffen für das Wirkenlassen der automatischen Stabilisatoren in einer künftigen Abschwungsphase; der kritische Wert der Produktionslücke, bei
dem die 3% Obergrenze erreicht wird, hat sich entsprechend erhöht (vgl. Abbildungen 2.2 und 2.3). In einigen Ländern (insbesondere Österreich, Frankreich
Spanien Portugal und Niederlande) ist dieser Spielraum allerdings relativ gering; dies gilt jedenfalls, wenn man die für das Jahr 1999 von der OECD ermittelten Werten für die strukturellen Defizite zugrunde legt.
37
Allerdings gibt es bei der empirischen Ermittlung der strukturellen Budgetsalden
erhebliche Schätzrisiken. Deshalb gibt es auch zwischen den Berechnungen
der verschiedenen Institutionen (wie OECD, IWF und EU-Kommission) teilweise
erhebliche Unterschiede für die einzelnen Länder. Diese Unsicherheiten
betreffen zum einen die Schätzung der Konjunkturkomponente bei der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Produktionslücke oder Output Gap) und zum anderen die Schätzung der Einnahme- und Ausgabeelastizitäten bezüglich der
konjunkturellen Entwicklung. Dabei liegen die größeren Unsicherheiten bei der
Abschätzung der Produktionslücke. Diese wird von den verschiedenen Institutionen mit unterschiedlichen Ansätzen ermittelt. So berechnen u.a. die OECD
und der IWF die Produktionslücken als Differenz zwischen der mit Hilfe einer
Produktionsfunktion ermittelten Produktionspotential. Hierzu ist es notwendig,
das Angebot an den Produktionsfaktoren (Arbeit und Kapital) zu bestimmen
sowie ihren jeweiligen Beitrag zur gesamtwirtschaftlichen Produktion. Darüber
hinaus ist auch der Beitrag des technischen Fortschritts (Totale Faktorproduktivität) abzuschätzen. Die EU-Kommission berechnet dagegen die Produktionslücke als Differenz zwischen dem Trendwert und dem tatsächlichen Wert der
gesamtwirtschaftlichen Produktion. Bei diesem Ansatz geht es darum, die geeignete Methode für die Trendberechnung zu finden. Die EU-Kommission berechnet den Trendwert des BIP mit Hilfe des Hodrick-Prescott-Filters. Alle Methoden zur Schätzung der Produktionslücke weisen spezifische Schwächen und
Probleme auf, die bei der Interpretation der Ergebnisse große Vorsicht erfordern.11 Trotz dieser Schätzunsicherheiten kann die zyklische Bereinigung des
staatlichen Finanzierungssaldos eine sehr nützliche Information für die Finanzpolitik sein. Würde sich die Finanzpolitik nämlich nur an der Entwicklung der
tatsächlichen Budgetsalden orientieren, dann bestünde die Gefahr der „Parallelpolitik“. Im Aufschwung würden die konjunkturbedingten Einnahmen verausgabt und im Abschwung würden aufgrund konjunkturbedingter Mindereinnahmen die Ausgaben gekürzt. Damit würden die Konjunkturschwankungen verstärkt anstatt verstetigt.
11
38
Vgl. Leibfritz u.a. Finanzpolitik und Konjunktur: Die automatischen Stabilisatoren in Deutschland, in: ifo Schnelldienst 29/99; Aussagefähigkeit verschiedener Modelle zur zyklischen Bereinigung finanzwirtschaftlicher Daten, Forschungsprojekt des ifo Instituts (in Vorbereitung).
Abbildung 2.1 Konjunkturreagibilität des staatlichen Finanzierungssaldos
Annahmen: Konjunkturreagibilität 0,5, mittelfristiger Budgetausgleich, Defizitobergrenze 3%
Defizit in % des BIP
5
Gesamtdefizit
strukturelle Komponente
zyklische Komponente
4
3
2
Defizit
1
0
-1
5
6
7
Überschuß
-2
-3
Aufschwung
-4
Rezession
-5
-6
-5
-4
-3
-2
-1
0
1
2
3
4
8
Produktionslücke (in % des Trend BIP)
Annahmen: Konjunkturreagibilität 1,0 mittelfristiges De fizitziel 1%,
Defizitobergrenze 3%
5
Defizit in % des BIP
Gesamtdefizit
strukturelle Komponente
zyklische Komponente
4
3
1
0
Defizit
2
5
6
7
-1
Überschuß
-2
-3
Aufschwung
-4
Rezession
-5
-6
-5
-4
-3
-2
-1
0
1
2
3
4
8
Produktionslücke (in % des Trend BIP)
Annahmen: Konjunkturreagibilität 0,5, mittelfristiges Defizitziel 1%,
Defizitobergrenze 3%
5
Defizit in % des BIP
Gesamtdefizit
strukturelle Komponente
zyklische Komponente
4
3
Defizit
2
1
0
-1
5
6
7
Überschuß
-2
-3
Aufschwung
-4
Rezession
-5
-6
-5
-4
-3
-2
-1
0
1
2
3
4
Produktionslücke (in % des Trend BIP)
8
39
Abbildung 2.2
Kritisches Niveau der Produktionslücke, bei der
die Defizitobergrenze von 3% erreicht wird
- Strukturelles Defizit 1995 10
Strukturelles Defizit 1)
Griechenland
8
Italien
Schweden
Spanien
Großbritannien
Portugal Niederlande
Österreich
Frankreich
Deutschland
6
4
Belgien
Dänemark 2
Irland
Finnland 0
-15
-12.5
-10
-7.5
-5
-2.5
0
2.5
5
Kritisches Niveau der Produktionslücke
1) In % des Produktionspotentials laut Schätzung der OECD.
Abbildung 2.3
Kritisches Niveau der Produktionslücke, bei der
die Defizitobergrenze von 3% erreicht wird
- Strukturelles Defizit 1999 3
Österreich
Strukturelles Defizit 1)
2
Niederlande
Frankreich
Portugal
Griechenland
Italien
Spanien
1
Deutschland
0
Belgien
Großbritannien
-1
Irland
-2
Schweden
-3
0
2
4
6
Dänemark
8
10
12
14
Kritisches Niveau der Produktionslücke
1) In % des Produktionspotentials laut Schätzung der OECD.
40
Finnland
2.2 Wirkung der automatischen Stabilisatoren auf die Konjunktur
Die isolierte Wirkung der automatischen Stabilisatoren auf die Konjunktur lässt
sich mit Hilfe von Modellsimulationen ermitteln. Bei einer ersten Modellsimulation wird unterstellt, dass die automatischen Stabilisatoren im Verlauf des Konjunkturzyklusses voll wirksam sind, während bei der zweiten Modellsimulation
davon ausgegangen wird, dass die automatischen Stabilisatoren "ausgeschaltet
sind", dies wird dadurch erreicht, dass die gesamten staatlichen Einnahmenund Ausgabenbeträge im Konjunkturverlauf mit den entsprechenden strukturbedingten Beträgen gleichgesetzt werden. Dies bedeutet, dass im Aufschwung
die Steuersätze gesenkt und die Transfersätze erhöht werden und im Abschwung die Steuersätze erhöht und die Transfersätze gesenkt werden. Der
Konjunkturverlauf bei dieser hypothetischen "Parallelpolitik" wird dann mit dem
Konjunkturverlauf bei voller Wirksamkeit der automatischen Stabilisatoren verglichen.
Die OECD hat vor kurzem eine derartige Simulation mit Hilfe des INTERLINK
12
Modells durchgeführt.
Im Durchschnitt der OECD Länder ergab sich, dass die
automatischen Stabilisatoren, falls man sie in den neunziger Jahren hätte voll
Wirkenlassen, die konjunkturellen Schwingungen um etwa ein Viertel gedämpft
hätten. Dabei gibt es teilweise erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern.
So wären in Finnland und Dänemark ohne die automatische Stabilisierungswirkung die konjunkturellen Schwankungen doppelt so hoch ausgefallen wie bei
voller Wirksamkeit der Stabilisatoren. Für Deutschland wird eine automatische
Stabilisierungswirkung von rund einem Drittel berechnet, während andererseits
für Irland und Österreich die Stabilisierungswirkung ein Fünftel beträgt.
2.3 Darstellung der nationalen Unterschiede und Erörterung möglicher
Gründe
Vergleicht man die Konjunkturreagibilität der Budgetsalden zwischen den einzelnen Ländern, dann zeigen sich gewisse Unterschiede, wobei die verschiedenen Untersuchungen teilweise zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
Tabelle 2.1 zeigt für die einzelnen Länder den Mittelwert (arithmetisches Mittel)
12
Vgl. OECD, Economic Outlook 66, Dezember 1999.
41
42
0.5
0.5
0.5
0.6
0.6
0.7
0.6
0.4
0.5
0.8
0.5
0.5
0.9
0.6
0.6
Deutschland
Frankreich
Italien
Großbritannien
Belgien
Dänemark
Finnland
Griechenland
Irland
Niederlande
Österreich
Portugal
Schweden
Spanien
Durchschnitt
EU-Länder
(ungewichtet)
0.5
0.5
0.6
0.3
0.5
0.6
0.6
0.6
0.4
0.4
0.6
0.5
0.5
0.7
0.6
OECD
(vor 1999)
0,5
0.5
0.5
0.5
0.5
0.7
0.9
0.6
0.4
0.3
0.8
0.3
0.4
0.8
0.4
OECD
(1999)
0.6
0.5
0.6
0.4
0.6
0.6
0.8
0.6
0.4
0.5
0.7
0.6
0.4
1.1
0.7
IWF
0.5
0.4b)
0.5
0.4
0.9
0.3
0.7
0.7
0.2
0.1
0.4
0.4
0.3
0.9
0.4
Marin
(1999)
0.5
0.5
0.5
0.5
0.7
0.6
0.8
0.6
0.4
0.4
0.7
0.5
0.4
0.9
0.5
Mittelwert
0.4–0.6
0.4–0.5
0.5–0.6
0.3–0.5
0.5–0.9
0.3–0.7
0.6–0.9
0.6–0.7
0.2–0.4
0.1–0.5
0.4–0.8
0.3–0.6
0.3–0.5
0.7–1.1
0.4–0.7
Spannbreite
Veränderung der staatlichen Defizitquote in Prozentpunkten als Folge einer Veränderung der Produktionslücke um 1 Prozentpunkt, auf eine
b)
Dezimale gerundet.– Dieser Wert wird durch eine Untersuchung des ifo Instituts bestätigt. Vgl. W. Leibfritz unter Mitarbeit von B. Lehne,
W. Meister und E. Langmantel, Die automatischen Stabilisatoren in Deutschland, in: ifo Schnelldienst 29/1999, S. 14 ff.
a)
EUKommission
Land
Tabelle 2.1: Konjunkturreagibilität staatlicher Budgetdefizite in den Ländern der EUa)
der Konjunkturreagibilitäten, wie sie in vier verschiedenen Untersuchungen
(EU-Kommission, OECD 1999, IWF, Marin 1999) berechnet wurden.13 Die
höchste Konjunkturreagibilität weist Schweden auf (0,9), gefolgt von Dänemark
(0,8), den Niederlanden und Großbritannien (jeweils 0,7). Unterdurchschnittliche Konjunkturreagibilitäten (jeweils 0,4) wurden für Irland, Österreich und
Griechenland ermittelt.
Die Tatsache, dass es zwischen den verschiedenen Studien teilweise erhebliche Unterschiede zwischen den für die einzelnen Ländern geschätzten Konjunkturreagibilitäten gibt und auch die Rangordnung zwischen den Ländern
teilweise unterschiedlich ist, zeigt allerdings, dass es, wie oben erwähnt, bei der
Ermittlung der Konjunkturreagibiltäten erhebliche Schätzunsicherheiten gibt
(vgl. Tabelle 2.1 letzte Spalte).
Tabelle 2.2 zeigt, dass die Länder, deren Budgetsalden sehr konjunkturreagibel
sind, bei gegebenen strukturellen Defiziten bei Konjunkturabschwüngen sehr
viel schneller die Defizitobergrenze von 3% erreichen als die Länder mit weniger konjunkturreagiblen Budgetsalden. Allgemein gilt, dass die Konjunkturreagibilität des Budgetsaldos um so größer ist, je größer die Staatsquote eines
Landes ist, je progressiver das gesamte Abgabensystem ist und je umfassender die Unterstützung der Arbeitslosen ist. Dies erklärt die relativ hohe Konjunkturreagibilität in Schweden und Dänemark einerseits – die primären d.h. um
die Zinsausgaben bereinigten Staatsausgaben liegen bei 50% des Bruttoinlandsprodukts bzw. knapp darunter – und die niedrige Konjunktureagibilität von
Irland andererseits; dort betragen die primären Staatsausgaben weniger als
30% des Bruttoinlandsprodukts (vgl. Abbildung 2.4); die Regressionsgerade
wird allerdings sehr stark von den Extremwerten Schweden und Irland geprägt.
Da viele EU-Länder, darunter auch Deutschland eine Reduzierung der Staatsquote anstreben und auch eine Senkung der direkten Steuern, dürfte sich in
Zukunft die Konjunkturreagibilität des staatlichen Budgetsaldos leicht verringern.
13
Die Unterschiede bei den ermittelten Konjunkturreagibilitäten ergeben sich aus den unterschiedlichen Berechnungsmethoden.
43
Tabelle 2.2: Kritische Werte der Produktionslücke, bei denen die 3%Obergrenze der Defizitquote erreicht wird (in Abhängigkeit von der
Konjunkturreagibilität und dem strukturellen Defizit)
Strukturelles Defizit
(in % des BIP)
0
1
2
0,4
7,5
5,0
2,5
0,5
6,0
4,0
2,0
0,6
5,0
3,3
1,7
0,7
4,3
2,9
1,4
0,9
3,3
2,2
1,1
Konjunkturreagibilität
der Defizitquotea)
a)
Bei einer Veränderung der Produktionslücke um 1 Prozentpunkt verändert sich die Defizitquote um ... Prozentpunkte.
Wie stark die automatischen Stabilisatoren die Konjunktur jeweils stabilisieren,
hängt neben der Höhe des Stabilisators d.h. der Konjunkturreagibilität des Budgetsaldos auch von der Größe und Struktur der Volkswirtschaft ab. Je offener
eine Volkswirtschaft ist, um so mehr verpufft die staatliche Stabilisierungswirkung, weil die zusätzliche Nachfrage zu einem großen Teil über höhere Importe
befriedigt wird. Angesichts der weiter zunehmenden europäischen Integration
und der weltweiten Globalisierung dürften die europäischen Volkswirtschaften in
Zukunft noch offener werden, als sie es bisher schon sind; dies wird die Konjunkturwirkung der automatischen Stabilisatoren weiter verringern.
44
Abbildung 2.4
Konjunkturreagibilität der staatlichen Finanzierungssaldos
und der Größe des Staatssektors
1.0
Konjunkturreagibilität1)
Schweden
0.9
R2 = 0,2285296
0.8
Großbritannien
0.7
Niederlande
Belgien
Finnland
0.6
0.5
Spanien
0.4
Dänemark
Italien Deutschland Österreich Frankreich
Irland
Portugal
Griechenland
0.3
0.2
25
30
35
40
45
50
55
Staatsausgabenquote2)
1) Veränderung des Finanzierungssaldos in Relation zum Bruttoinlandsprodukt pro 1 Prozentpunkt
Veränderung der Produktionslücke.- 2) Staatliche Primärausgaben (Gesamtausgaben abzüglich
Netto-Zinsausgaben) in % des Bruttoinlandsprodukts (1998).
2.4 Haushaltskonsolidierung und automatische Stabilisatoren
Aus rein konjunkturpolitischer Sicht wäre es sinnvoll, die automatischen Stabilisatoren im Konjunkturverlauf voll wirken zu lassen, sie also nicht durch eine
entgegengesetzte diskretionäre Finanzpolitik zu konterkarieren. Wenn im Abschwung konjunkturbedingte Budgetdefizite entstehen, sollte also nicht versucht
werden, das strukturelle Defizit zu senken, um einen Anstieg des Gesamtdefizits zu verhindern. Entsprechend darf sich im Aufschwung, wenn sich das
Staatsbudget konjunkturbedingt verbessert, die strukturelle Komponente nicht
verschlechtern; ansonsten wird der automatische Stabilisierungseffekt verringert oder ganz zunichte gemacht.
Diesem idealtypischen Verhalten folgten in der Vergangenheit allerdings nur
wenige europäische Länder. Im Tiefpunkt der Konjunktur in den neunziger Jahren (zumeist im Jahr 1993) wurde der Anstieg der konjunkturbedingten Defizite
in der Hälfte der EU-Länder durch eine Senkung der strukturellen Komponente
teilweise oder ganz konterkariert; dies war in Deutschland, Italien, Belgien,
Griechenland, Irland, Niederlande, und Spanien der Fall. Demgegenüber wurden in Österreich, Frankreich, Großbritannien, Dänemark, Finnland, Portugal
und Schweden in dieser Konjunkturphase die strukturellen Defizite nicht verän-
45
dert und teilweise sogar deutlich erhöht (insbesondere in Schweden). Auch in
den USA und in Japan wurde im Abschwung Anfang der neunziger Jahre – in
den USA erreichte die Konjunktur im Jahr 1991 den Tiefpunkt – den automatischen Stabilisatoren durch die diskretionäre Finanzpolitik nicht entgegengewirkt
(vgl. Abbildung 2.5).
Während der anschließenden Phase der konjunkturellen Erholung sank die
konjunkturbedingte Komponente des Budgetdefizits.14 In dieser Konjunkturphase wirkten die automatischen Stabilisatoren zumeist in die gleiche Richtung wie
die diskretionäre Finanzpolitik; beide dämpften die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Dies war nicht nur in nahezu allen europäischen Ländern der Fall, sondern auch in den USA (vgl. Abbildung 2.6). Dagegen blieb in Japan, wo das
konjunkturbedingte Defizit noch leicht stieg die diskretionäre Finanzpolitik stark
expansiv; in der Folge stieg dort die Staatsverschuldung sehr kräftig; die BruttoSchuldenquote stieg von rund 60% Anfang der neunziger Jahre auf rund 105%
im Jahr 1999 und die Netto-Schuldenquote von rund 5% auf knapp 40%, und
die Tendenz bei diesen Quoten ist weiterhin stark steigend.
Betrachtet man die letzte Abschwungs- und Aufschwungsphase zusammen,
dann haben sich von den EU-Ländern Frankreich, Großbritannien, Dänemark,
Österreich, Finnland, Portugal und Schweden insoweit konjunkturgerecht verhalten, als sie über den Konjunkturzyklus hinweg die Wirksamkeit der automatischen Stabilisatoren nicht durch entgegen gerichtete Veränderungen des
strukturellen Defizits geschmälert haben. Auch in den USA ist ein derart konjunkturgerechtes Verhalten der Finanzpolitik festzustellen.
14
46
Deutschland bildet hier, jedenfalls nach der Untersuchung der OECD eine Ausnahme. Hier
war die Erholung nicht sehr ausgeprägt, so dass auch in dieser Phase das konjunkturbedingte Defizit noch leicht stieg.
47
Dänemark
Frankreich
Großbritannien
Portugal
Österreich
Deutschland
Italien
Portugal
USA
Japan
Deutschland
Spanien
Niederlande
Italien
USA
Japan
Quelle: OECD.
-10
-7.5
-5
Konjunkturbedingtes
Defizit in % des BIP
Primäres strukturelles
Defizit in % des BIP
-2.5
Quelle: OECD.
1) Von der jeweils letzten Rezession bis zum Jahr 1999.
-12.5
Spanien
Irland
%
-7.5
-5
-2.5
0
2.5
5
7.5
10
12.5
1) Phase der Konjunkturabschwächung, welche in den Ländern in die jeweils
letzte Rezession führte (in den meisten EU-Ländern im Jahre 1993, in den
USA im Jahre 1991).
Niederlande
Griechenland
Belgien
Österreich
Belgien
Großbritannien
Dänemark
Frankreich
Finnland
Finnland
Konjunkturbedingtes
Defizit in % des BIP
Primäres strukturelles
Defizit in % des BIP
Schweden
0
Veränderung der Defizitkomponenten
in % Punkten des BIP
2.5 %
Automatische Stabilisatoren und diskretionäre
Finanzpolitik während der Aufschwungsphase
in den neunziger Jahren1)
Abbildung 2.6
Schweden
Veränderung der Defizitkomponenten
in % Punkten des BIP
Automatische Stabilisatoren und diskretionäre
Finanzpolitik während der letzten
ausgeprägten Abschwungsphase1)
Abbildung 2. 5
5
Bei der Kritik an den Ländern, welche während der Abschwungsphase die
strukturelle Komponente des Defizits reduziert und damit die Wirkung der automatischen Stabilisatoren verringert oder außer Kraft gesetzt haben ist allerdings Folgendes zu bedenken. Die Budgetdefizite und die Schuldenquoten waren zuvor in mehreren dieser Länder stark gestiegen (in Deutschland auch infolge der deutschen Vereinigung) und die finanzpolitische Position wurde vielfach als "unsustainable", also als nicht nachhaltig gesichert und sehr prekär
eingestuft. Bei einem weiteren – selbst konjunkturbedingten – Anstieg von Defizitquote und Schuldenquote wäre es möglicherweise zu Vertrauensverlusten
am Kapitalmarkt und einem Anstieg der teilweise ohnehin schon hohen Risikoprämien in den Zinssätzen gekommen. Auch hätten die Privaten bei einem
weiteren ungebremsten Anstieg der Staatsverschuldung möglicherweise wegen
erwarteter zukünftiger Steuererhöhungen mit Kaufzurückhaltung d.h. einem Anstieg ihrer Sparquote reagiert.
Dieser letztere „nicht-keynesianische“ Effekt zunehmender Staatsverschuldung
(auch Ricardo-Effekt oder Barro-Effekt genannt) hätte dann dem automatischen
Stabilisierungseffekt des konjunkturbedingten Defizitanstiegs, welche nur die
keynesianischen Impulse widerspiegelt, entgegengewirkt und ihn möglicherweise kompensiert; die Länder hätten dann konjunkturell nichts gewonnen, hätten
am Ende aber eine höhere Staatsverschuldung gehabt. Insofern mussten die
Länder zwischen diesen verschiedenen Risiken abwägen. Tatsächlich ist es in
einigen dieser Länder gelungen, trotz (oder aufgrund?) der in der Abschwungsphase begonnenen Haushaltskonsolidierung anschließend ein relativ hohes
Wirtschaftswachstum und eine deutliche Senkung der Arbeitslosigkeit zu erreichen. Dies war insbesondere in Irland der Fall, aber auch in den Niederlanden
(vgl. dazu auch Kapitel 4).
2.5 Nachfrageschocks versus Angebotsschocks
Bei der Analyse des Zusammenhangs von Wirtschaftswachstum und Budgetsaldo wurde bisher – wie dies in der Literatur üblich ist - auf kurzfristige Nachfrageschocks abgestellt. Tatsächlich kann die Reaktion des Budgetsaldos sehr
unterschiedliche sein, je nach dem, ob ein Wachstumseinbruch oder eine
Wachstumsbeschleunigung durch einen Nachfrageschock oder einen Angebotsschock ausgelöst wird. Zu einem Nachfrageschock kann es beispielsweise
dann kommen, wenn die private Sparneigung abrupt steigt und die Verbrauchsnachfrage zurückgeht, während die Investitionsnachfrage nicht entsprechend
48
steigt, so dass kurzfristig die gesamtwirtschaftliche Nachfrage sinkt; in der Folge sinken die Staatseinnahmen, die Staatsausgaben (für die Arbeitslosen) steigen, und das Budgetdefizit wird größer. Die Inflationsrate dürfte wegen der
Nachfrageabschwächung sinken und auch die nominalen und die realen Zinsen. Dies wirkt dem ursprünglichen Nachfragerückgang entgegen und senkt
auch die Zinsbelastung der öffentlichen Haushalte, so dass der Anstieg des
Budgetdefizits entsprechend kleiner ausfällt.
Bei Angebotsschocks sind der Transmissionsmechanismus und die Wirkungen
auf das Staatsbudget anders, wobei es auch zwischen den verschiedenen Angebotsschocks Unterschiede gibt. Steigen beispielsweise die Löhne wesentlich
schneller als die Arbeitsproduktivität, dann entsteht ein negativer Angebotsschock. Hier steigt in der ersten Phase möglicherweise zwar der private
Verbrauch (falls die Beschäftigung nicht sofort sinkt). Gleichzeitig beschleunigt
sich wegen der höheren Kosten der Preisanstieg. Der staatliche Budgetsaldo
verbessert sich evtl. kurzfristig. Die höhere Inflationsrate dürfte aber dazu führen, dass die Notenbank die Zinsen erhöht. Der Kostenschub und die Zinserhöhung führen dann in der zweiten Phase zu einer Abschwächung des Wachstums und einer Erhöhung des staatlichen Budgetdefizits.
Empirische Untersuchungen anhand eines ökonometrischen Weltmodells zeigen, dass sich in manchen, wenn auch nicht in allen der untersuchten Länder
deutliche Unterschiede bei der Wirkung von derartigen Angebots- und Nachfrageschocks auf die staatlichen Defizitquoten ergeben (vgl. Tabelle 2.3). Für
Deutschland wird dabei kein wesentlicher Unterschied zwischen der Wirkung
von Angebots- und Nachfrageschocks festgestellt (0,45 und 0,41). Anders ist
dies im Fall von Schweden und Dänemark. Dort haben die Nachfrageschocks
einen wesentlich größeren Effekt auf die staatlichen Budgetsalden als die Angebotsschocks; deren Effekte sind sogar leicht negativ, d.h. eine durch einen
Angebotsschock erzeugte Konjunkturabschwächung führt zu einer (allerdings
nur geringfügigen) Verbesserung des staatlichen Budgetsaldos. Ein Erklärung
dafür dürfte sein, dass in diesen Ländern in der Vergangenheit, welche in den
ökonometrischen Ländermodellen entsprechend abgebildet ist, Angebotsschocks nicht mit Zinssteigerungen, sondern mit Zinssenkungen beantwortet
wurden. Dadurch wurde dem kostenbedingten Anstieg der Arbeitslosigkeit entgegengewirkt und die Wirkung auf den staatlichen Finanzierungssaldo blieb
gering (vgl. Assarsson et al. a.a.O. S. 201).
49
Tabelle 2.3: Konjunkturwirkungen auf die staatlichen Budgetsalden
bei Angebots- und Nachfrageschocks
Land
Deutschland
Frankreich
Schweden
Dänemark
Finnland
Großbritannien
Italien
Spanien
USA
Japan
Angebotsschock
Nachfrageschock
0,45
0,21
–0,08
–0,18
0,46
0,27
0,34
0,16
0,18
0,89
0,41
0,32
0,89
0 56
0,53
0,49
0,54
0,29
0,49
0,51
Quelle: B. Assarsson, R. Gidehag und G. Zettergren, Fiscal Policy in Sweden –
An Analysis of the Budget over the Business Cycle, in: Indicators of
structural budget balances, Banca d’Italia 1999.
Zu negativen Angebotsschocks kann es auch aufgrund von Vertrauenseinbrüchen kommen, die dann zu höheren Risikoprämien bei den Zinsen führen. Vertrauenseinbrüche können ökonomische oder politische Gründe haben; auch
wenn Volkswirtschaften aus der Sicht der Finanzmärkte als „reformunfähig“ eingeschätzt werden, kann es zu derartigen negativen Angebotsschocks kommen.
Für die weitere Wirtschaftsentwicklung wird es beispielsweise sehr wichtig sein,
wie die Länder auf die zukünftigen demographischen Veränderungen reagieren,
insbesondere wie und wie schnell sie ihre sozialen Sicherungssysteme an diese
Entwicklung anpassen. Bekanntlich kommt es in den nächsten drei Jahrzehnten
in vielen Ländern, auch innerhalb der EWU, zu einem starken Anstieg der älteren Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung; die Relation zwischen den Erwerbspersonen und den Rentnern wird dramatisch steigen. Dadurch entsteht
ein großer Anpassungsdruck auf die umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme (Rentenversicherung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung).
Zwar können die Länder Maßnahmen ergreifen, die Sozialversicherungssysteme auch längerfristig funktionsfähig zu halten. Solange dies aber nicht der Fall
ist, kann der gesamte Staatshaushalt nicht als nachhaltig gesichert gelten, und
zwar trotz des mittelfristigen Abbaus der strukturellen Defizite. Die in den Umla-
50
15
gesystemen implizit enthaltenen Staatsschulden
sind teilweise ähnlich hoch
16
oder höher als die bisher aufgelaufenen Staatsschulden.
Falls an den inter-
nationalen Finanzmärkten der Eindruck entsteht, dass vor allem in den Ländern
der EWU die notwendigen Reformen nicht oder nicht schnell genug durchgeführt werden, kann es zu Vertrauensverlusten und einer Risikoprämie in den
Zinssätzen kommen. Das mittelfristige Wachstum und die Staatseinnahmen
wären dann geringer und – falls die Staatsausgaben nicht entsprechend eingeschränkt werden – die strukturellen Budgetdefizite entsprechend höher. Die Anpassungsprobleme würden dann noch größer.
Neuerdings wird aber auch auf positive Angebotsschocks aufgrund technologischer Verbesserungen (Telekommunikation, Internet) hingewiesen. Diese wirken effizienzsteigernd und preissenkend, was die Realeinkommen und das Realvermögen erhöht. Ein zusätzlicher positiver Effekt auf die Nachfrage entsteht
dann, wenn die aufgrund des Technologiesprungs für die Zukunft erwarteten
höheren Gewinne unmittelbar zu höheren Aktienkursen führen. Dies senkt die
Kapitalkosten der Unternehmen und erhöht das Vermögen der Aktienbesitzer.
In Ländern, in denen ein Großteil der Ersparnisse in Aktien angelegt ist, können
auf diese Weise technologische Neuerungen relativ schnell zu einer Erhöhung
der Inlandsnachfrage führen. Gegenwärtig werden derartige Effekte aufgrund
technologischer Neuerungen insbesondere mit Blick auf die USA diskutiert; dort
haben die privaten Haushalte einen relativ großen Teil ihrer Ersparnisse in Aktien angelegt, so dass die Vermögenseffekte bei den privaten Verbrauchsausgaben spürbar sind. Die höheren Einkommen und die höhere Inlandsnachfrage
wirken sich auch positiv auf die Staatseinnahmen aus. Falls die Staatsausgaben nicht entsprechend erhöht werden, sinkt das strukturelle Defizit. In den
meisten europäischen Ländern sind derartige Vermögenseffekte bisher allerdings relativ unbedeutend, so dass sich der Transmissionsweg zwischen einem
technologisch bedingten Angebotsschock und der Verbrauchsnachfrage auf
den Preiseffekt beschränkt. Der Anteil des Aktiensparens nimmt inzwischen
aber auch in Europa deutlich zu, so dass in Zukunft der Vermögenseffekt den
Verbrauch stärker beeinflussen dürfte als bisher; damit dürften sich technologi15
16
Dies sind die auf die Gegenwart abgezinsten zukünftigen Defizite, die sich bei dem geltenden Beitragssatz und der relativen Rentenhöhe ergeben.
Nach einer neueren Studie über Generationenbilanzen in den EU-Ländern beträgt die in den
öffentlichen Gesamthaushalten enthaltene unsichtbare Schuld in Deutschland rund 78% des
Bruttoinlandsprodukts, in Österreich über 140%, in Finnland rund 260% und in Frankreich
rund 46%. Vgl. Raffelhüschen (1999).
51
sche Neuerungen auch hierzulande schneller auf Inlandsnachfrage und Staatsbudgets niederschlagen. Allerdings wirken sich dann auch Börseneinbrüche
stärker negativ auf die reale Inlandsnachfrage und die öffentlichen Haushalte
aus als bisher.
Positive Angebotseffekte für die Volkswirtschaft können sich auch durch fundamentale Steuerreformen ergeben. Eine Senkung der Grenzsteuerbelastung
des Faktoreinsatzes erhöht tendenziell das Wirtschaftswachstum; dies wirkt
sich dann wieder positiv auf die öffentlichen Haushalte aus, so dass etwaige
Mindereinnahmen aufgrund der Steuersenkung teilweise wieder kompensiert
werden. Wie sich bei einer fundamentalen Steuerreform das strukturelle Budgetdefizit letztlich verändert, hängt von der Art und vom Ausmaß der Steuerreform und ihrer Wirkung auf Wachstum und Beschäftigung ab und nicht zuletzt
auch davon, ob die Steuersenkung von einer Senkung der Staatsausgabenquote begleitet wird (Zum Zusammenwirken von Angebots- und Nachfrageschocks vgl. auch Kapitel 4).
52
3.
Haushaltsstrukturpolitik in den Ländern der EWU und den USA
3.1 Abbau struktureller Haushaltsdefizite
3.1.1 Ausmaß der Konsolidierung
In den neunziger Jahren wurde der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte
ein hoher Stellenwert eingeräumt. Zuvor waren die Schuldenquoten stark gestiegen und die höheren Zinsausgaben engten den Ausgabespielraum zunehmend ein. Hinzu kam in vielen Ländern eine steigende Abgabenlast, welche
das Wirtschaftswachstum hemmte. Tabelle 3.1 zeigt die Entwicklung der
Staatsausgaben, der Staatseinnahmen und des staatlichen Finanzierungssaldos in % des Bruttoinlandsprodukts im Durchschnitt der Euro-Länder (und getrennt auch für Deutschland), in den USA und in Japan seit der zweiten Hälfte
der achtziger Jahre. Es zeigt sich, dass die Euro-Länder über den gesamten
Beobachtungszeitraum hinweg eine höhere Staatsausgabenquote aufwiesen
als die USA und Japan. Der Abstand zu den USA hat sich dabei vergrößert,
weil dort die Ausgabenquote in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zurückging, während sie in den Euro-Ländern nahezu gleich blieb; in Deutschland
stieg sie sogar an. Gegen Ende der neunziger Jahre zeichnete sich aber auch
im Durchschnitt der Euro-Länder und auch in Deutschland ein rückläufiger
Trend bei der Staatsausgabenquote ab. Demgegenüber ist in Japan, vor allem
aufgrund der verschiedenen Konjunkturprogramme die Staatsausgabenquote
stark gestiegen; sie ist inzwischen deutlich höher als in den USA.
Weil die Einnahmen hinter den Ausgaben zurückblieben, entstanden in den Euro-Ländern und in den USA in der zweiten Hälfte der achtziger und der ersten
Hälfte der neunziger Jahre Finanzierungsdefizite von durchschnittlich rund
4 ½%, wobei die strukturellen Defizite ähnlich hoch waren. Die Folge waren
steigende Schuldenquoten. In dieser Zeit erwirtschaftete Japan noch kleine Finanzierungsüberschüsse und konnte seine Schuldenquote senken. In der
zweiten Hälfte der neunziger Jahren kam es aber zu einer Trendumkehr, und
zwar mit umgekehrten Vorzeichen in den Euro-Ländern und den USA einerseits
und Japan andererseits. In den Euro-Ländern und in den USA wurden die Finanzierungsdefizite deutlich reduziert, wobei in den USA der Konsolidierungserfolg – gemessen an der Senkung des tatsächlichen und des strukturellen Defizits – am größten war. Inzwischen weist der amerikanische Staatshaushalt
tatsächliche und strukturelle Überschüsse auf.
53
Tabelle 3.1:
Staatsquoten im internationalen Vergleich
in % des nominalen Bruttoinlandsprodukts
Staatsausgaben
Euro-Länder
dar.: Deutschland
USA
Japan
Staatseinnahmen
Euro-Länder
dar.: Deutschland
USA
Japan
Finanzierungssaldo
Euro-Länder
dar.: Deutschland
USA
Japan
Struktureller Finanzierungssaldo1)
Euro-Länder
dar.: Deutschland
USA
Japan
Staatsschuld, brutto
Euro-Länder
dar.: Deutschland
USA
Japan
1)
1990–94
1995–99
47,0
44,9
33,5
31,5
48,4
45,0
34,0
32,4
48,0
46,2
31,5
36,2
42,7
43,6
29,2
32,0
43,6
42,4
29,2
33,1
45,0
43,8
30,5
31,6
–
–
–
+
4,3
1,2
4,3
0,6
–
–
–
+
4,8
2,6
4,8
0,7
– 3,0
– 2,4
– 1,0
– 4,6
–
–
–
+
4,1
0,8
4,5
0,8
–
–
–
+
4,8
3,0
4,7
1,5
–
–
–
–
55,9
41,5
63,1
65,5
in % des nominalen Produktionspotentials.
Quelle: OECD, Berechnungen des ifo Instituts
54
1985–89
64,5
44,7
72,6
62,2
2,3
1,7
1,1
4,3
75,9
62,1
70,7
88,8
3.1.2 Zeitpunkt der Konsolidierung
Die USA führten das staatliche Budgetdefizit während des lang anhaltenden
Konjunkturbooms zurück, während die Konjunktur im Euro-Raum während der
Konsolidierungsphase teilweise relativ schwach war; so sahen sich die EWULänder gezwungen auch während der Rezession im Jahr 1993 und der labilen
Konjunkturlage 1995 bis 1997 die Konsolidierung fortzusetzen, um den Anstieg
der Schuldenquoten zu bremsen und die Maastricht Kriterien zu erfüllen. Damit
stand die Konsolidierung im Konflikt mit dem Ziel der Konjunkturstabilisierung.
Darauf wird in Kapitel 4 näher eingegangen.
3.1.3 Haushaltskonsolidierung
Was die Art der Haushaltskonsolidierung betrifft, werden in der Literatur die
Vorzüge der Kürzung von Staatsausgaben anstatt die Erhöhung der Einnahmen
hervorgehoben.17 Wenn die Konsolidierung in der EWU in den neunziger Jahren vor allem durch Einnahmeerhöhungen erreicht worden wäre, könnte dies
als Zeichen gewertet werden, dass der politische Wille und die öffentliche Unterstützung für den harten Kern der notwendigen Konsolidierung – die Kürzung
von Ausgaben – nicht vorhanden ist. Tabelle 3.2 vergleicht die Art der Haushaltskonsolidierung des Euro-Raums 1993-98, mit denen in den USA 1992-98.
Sowohl in den USA wie auch in den Euro-Ländern wurde die Haushaltskonsolidierung sowohl über Einnahmeerhöhungen wie auch über Ausgabekürzungen
erreicht; das „Mischungsverhältnis“ ist dabei sehr unterschiedlich, je nachdem,
welche Beobachtungsperiode zugrunde gelegt wird (vgl. Tabellen 3.1 und 3.2).
17
Vgl. A. Alesina und R. Perotti (1996a), Budget Deficits and Budget Institutions, IMF Working
Paper Nr. 52;
Alesina/Perotti (1996b), Fiscal Disciplines and the Budget Process, American Economic Review
Papers and Proceedings, Bd. 86, S. 401-7;
Alesina/Perotti (1995), Fiscal Expansions and Adjustments in OECD Countries, Economic Policy, Bd. 21, S. 207-48;
C.J. McDermott und R.F. Wescott (1996), An Empirical Analysis of Fiscal Adjustments, IMF
Staff Papers Bd. 43, S. 725-53.
55
56
Die Tabellen 3.3 und 3.4 geben einen Überblick über den Konsolidierungsweg
einzelner EU-Staaten. Aus der letzten Spalte der Tabelle 3.3 ist ersichtlich,
dass die meisten EU-Staaten die strukturellen Primärüberschüsse bis Ende der
betrachteten Konsolidierungszeit (zumeist 1997) erhöht haben und dass dieser
Anstieg für alle Staaten, außer Deutschland und Frankreich, genügte, die
Staatsschulden zu stabilisieren. Gemessen an der Veränderung des konjunkturell bereinigten primären Defizits sind die Konsolidierungsanstrengungen besonders hoch in Griechenland (-13,7%), Italien (-10,2%), Schweden (-8,2%)
und Spanien (-5,8%). In den Jahren nach 1997, die in dieser Tabelle nicht mehr
berücksichtigt sind, hat die Konsolidierung weitere Fortschritte gemacht.
Die Tabellen 3.4 und 3.5 zeigen ein komplexes Bild von der Struktur der Haushaltskonsolidierung in den einzelnen EU-Mitgliedsländern. In drei Ländern –
Belgien, Irland und Portugal – konzentriert sich die Konsolidierung auf die Erhöhung der Einnahmen. Die skandinavischen Staaten (Dänemark, Finnland und
Schweden), die Niederlande und das Vereinigte Königreich führten dagegen
ihre Konsolidierungen durch bedeutende Kürzungen der Staatsausgaben durch.
Obgleich auch Investitionsausgaben gekürzt wurden, entfiel der wesentliche
Teil der Kürzungen auf Transfers an private Haushalte und auf Personalausgaben. Diese Maßnahmen tragen zur Dauerhaftigkeit der Haushaltskonsolidierung
bei (Alesina/Ardagna,1998, Alesina/Perotti und McDermott/Wescott).
Interessanterweise sind drei Staaten in der Gruppe von fünf Ländern, denen
nach dieser Betrachtung eine nachhaltige Konsolidierung bescheinigt wird, keine Mitglieder der Europäischen Währungsunion, nämlich Dänemark, Schweden
und Großbritannien. Die vier größten Länder im EWU-Raum - Deutschland,
Frankreich, Italien und Spanien - gehören zu der Gruppe von Ländern, die ihre
Konsolidierungsstrategie verändert haben. In der ersten Phase der Konsolidierung waren Einnahmeerhöhungen die wichtigste Konsolidierungsmaßnahme; in
einer zweiten Phase (meist ab 1994) wurden dagegen vor allem die Staatsausgaben in allen sechs Ländern gekürzt, insbesondere die Transfers an private
Haushalte und die Personalausgaben. Die zuletzt durchgeführte Form der Konsolidierung (McDermott/Wescott: "composition matters") ist somit in Einklang
mit den Forderungen der Literatur zur Haushaltskonsolidierung (vgl. u.a. Alesina und Ardagna,1998).
Tabelle 3.6 zeigt die Veränderung der öffentlichen Haushalte der EU-Länder in
konjunkturellen Schwächephasen (Zeiträumen mit negativen Produktionslücken
seit 1970). Es zeigt sich, dass sich das finanzpolitische Verhalten in den neunzi-
57
58
59
60
61
ger Jahren in mehrfacher Weise verändert hat. In den siebziger Jahren stieg
der Staatsdefizit um 3,1% im Durchschnitt; die Ausgabensteigerungen sind z.T.
durch Einnahmesteigerungen finanziert worden. In den achtziger und neunziger
Jahren wurden die Defizite in den konjunkturellen Schwächephasen reduziert.
Die Defizitreduzierung der achtziger Jahre wurde dabei vor allem durch erhöhte
Steuereinnahmen erreicht, die Reduzierung der Defizite in den neunziger Jahren kam indes vor allem durch eine Reduzierung der Ausgaben zustande. Buti
und Sapir (1998) meinen, dass vor diesem Hintergrund ein Rückfall zu "fiskalpolitischen Leichtsinn" ("reckless budgetary behaviour") in den EU-Ländern
nicht wahrscheinlich ist.
62
3.2
Die Ausgabenstrukturpolitik, insbesondere die Ausgaben für öffentliche Investitionen
In der politischen Diskussion um die Wirkung der Staatstätigkeit auf die Gesamtwirtschaft wird zumeist auf die Höhe und Entwicklung der Staatsausgaben
in Relation zum Bruttoinlandsprodukt, die sogenannte Staatsquote abgestellt.
Wichtig ist aber auch, welche Staatsausgaben getätigt werden. Aus wachstumspolitischer Sicht haben im allgemeinen die investiven Staatsausgaben einen
hohen Stellenwert, weil eine angemessene Infrastrukturausstattung eine Voraussetzung für eine günstige Wirtschaftsentwicklung ist. Um die nationalen
Ausgabenpolitiken beurteilen zu können, müssen also deren Strukturen und
gesamtwirtschaftliche Wirkungen untersucht werden.18
3.2.1 Die Struktur der Staatsausgaben in EWU-Ländern und den USA
Differenzierte und international vergleichende Analysen zur wirtschaftlichen
Entwicklung einzelner Staaten sind nur dann durchführbar, wenn ein gemeinsames Regelwerk einheitlich angewendet wird. Im internationalen Bereich ist
das das System of National Accounts 199319 (SNA 93).20 Seit der Einführung
des Europäischen Systems Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG
1995) in den EU-Mitgliedsstaaten im Jahr 1999 ist auch hier die generelle internationale Vergleichbarkeit hergestellt, da sich das ESVG 95 am SNA 93 konzeptionell anlehnt.21
Diese begrüßenswerte Normierung der wirtschaftsstatistischen Standards bringt
zunächst jedoch einige Anpassungsprobleme mit sich. So ist die Umstellung
nationaler Statistiken nicht in allen Staaten abgeschlossen und die Zeitreihen
sind teilweise noch nicht revidiert worden.22 Deshalb liegen für die Länder der
18
19
20
21
22
Vgl. D.A. Aschauer, Does public capital crowd out private capital, in: Journal of Monetary
Economics 24 (1989), S. 185 f.
Commission of the European Communities, International Monetary Fund, Organisation for
Economic Co-operation and Development, United Nations, World Bank, System of National
Accounts 1993, Brussels/Luxembourg, New York, Paris, Washington, D.C., 1993.
Der Vorteil dieser international angewandten Vorschrift zu den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen liegt in ihrer Konsistenz und Kompatibilität nationaler Daten über einen längeren
Zeitraum.
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Europäisches
System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen - ESVG 1995, Luxemburg 1996, S. 1.
Vgl. OECD, National Accounts of OECD countries, Main Aggregates, 1988-1998, Volume I,
Paris 2000, S. 4.
63
Europäischen Währungsunion (EWU)23 und den USA nicht immer miteinander
vergleichbare und aktuelle Daten zur Struktur der Staatsausgaben vor. Die Zeitreihen detaillierter Darstellungen basieren daher auf nicht mehr angewandten
Konzeptionen (SNA 64 und 68)24 und enden meist 1995.
Trotz dieser Einschränkungen ist es im Zeitvergleich ab 1980 möglich, Tendenzen für die wichtigsten aggregierten Bestandteile der Staatsausgaben zwischen
einzelnen EWU-Ländern und den USA aufzuzeigen. Die mit der Einführung
bzw. Anwendung verschiedener statistischer Konzeptionen verbundenen Unschärfen spielen dabei auf aggregierter Ebene insbesondere dann eine untergeordnete Rolle, wenn die Einschränkungen für alle untersuchten Länder in
tendenziell gleichem Maße zutreffen und der Systemwechsel einheitlich geschieht.
Im folgenden werden die Staatsausgaben nach den größten und gesamtwirtschaftlich bedeutsamsten Funktionen unterschieden in
− geleistete Einkommen aus unselbständiger Arbeit (staatliche Lohn- und
Gehaltszahlungen einschließlich Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung),
− geleistete laufende Übertragungen und Vermögensübertragungen (Subventionen und andere Transferzahlungen) sowie
− Bruttoinvestitionen (insbesondere Sachanlage- aber keine Finanzanlageinvestitionen).
Da nicht alle EWU-Länder und die USA ihre Staatsausgaben nach den oben
genannten Kriterien einheitlich gliedern und die Daten auch nicht immer als
durchgängige Zeitreihen verfügbar sind, muss sich die Analyse der Ausgabenstrukturpolitik ab 1980 auf
− Deutschland (bis 1990 nur Westdeutschland),
− Frankreich (ab 1983),
− Italien,
− Österreich,
− Portugal (ab 1986 und ohne Löhne, Gehälter etc.),
− Spanien (ab 1985 und ohne Löhne, Gehälter etc.) und die
− USA
23
24
64
EWU-Länder sind: Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg,
Niederlande, Österreich, Portugal und Spanien.
Vgl. OECD, National Accounts, Detailed Tables, 1984 - 1996, Volume II, Paris 1998, S. 4.
beschränken und endet in dieser Gliederung in der Ist-Datenanalyse meist
1995/96. Nur für den Staatsverbrauch sind kompatible Daten bis 1998 aber mit
zum Teil nur sehr kurzen Zeitreihen vorhanden.25 Planzahlen sind darüber hinaus verfügbar. Sie sind aber für die Untersuchung der tatsächlichen Ausgabenstrukturpolitik in den EWU-Staaten und den USA nur dann von Bedeutung,
wenn damit Entwicklungsmuster tendenziell abgeschätzt werden können. Detaillierte, international vergleichbare und lange Zeitreihen werden frühestens
2002 vorliegen, weil die EU-Staaten oftmals erst in diesem Jahr die Kapazitäten
für die Rückrechnungen nach dem ESVG 95 haben werden.26
Wie aus Abbildung 3.1 deutlich wird, sind in Deutschland die gesamten
Staatsausgaben preisbereinigt seit 1983 (Basisjahr im Untersuchungszeitraum)
zunächst langsamer, ab 1990 aber – insbesondere wegen der deutschen Vereinigung - deutlich schneller gestiegen als in den anderen betrachteten Ländern. Die erheblichen ökonomischen Lasten der Planwirtschaft der ehemaligen
DDR mussten und müssen überwunden und eine moderne öffentliche Infrastruktur erst geschaffen werden. Auch der einmalige Anstieg in der Entwicklung
der Staatsausgaben in Deutschland im Jahre 1995 ist auf die Folgelasten des
Transformationsprozesses zurückzuführen. Damals hat der Bund die Schulden
der Treuhandanstalt (210,4 Mrd. DM) und die der Wohnungswirtschaft der
ehemaligen DDR (29,1 Mrd. DM) übernommen.
25
26
Vgl. OECD, National Accounts of OECD countries, Main Aggregates, Paris 2000.
Vgl. W. Strohm, Revision der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen 1999 - Anlass, Konzeptänderungen und neue Begriffe, in: Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik
4/1999, Wiesbaden 1999, S. 260.
65
Abbildung 3.1
Reale Entwicklung der Staatsausgaben in ausgewählten Staaten
- 1983 = 100 -
180
170
160
Deutschland
152,7
150
Italien
136,2
140
130
USA
139,3
131,4
Frankreich
120
110
100
90
1983
1984
1985
1986
Deutschland
1987
1988
1989
1990
Frankreich
1991
1992
1993
1994
Italien
1995
1996
1997
1998
USA
Quelle: OECD 1994 und 1998, Sachverständigenrat 1998, Statistisches Bundesamt 1998, Berechnungen des ifo Instituts.
Auch 1997 lagen die deutschen Staatsausgaben preisbereinigt noch um 52,7%
über ihrem Niveau von 1983. Um die Lage und Entwicklung jedoch etwas differenzierter beurteilen zu können, müssen weitere Untersuchungen angestellt
werden. Da ein bloßer Vergleich der Absolutwerte der Staatsausgaben nur etwas über die Entwicklung auszusagen vermag, werden für die Analyse zusätzliche Kennziffern gebildet.27
27
66
Bei der Interpretation dieser und weiterer Kennziffern ist grundsätzlich immer zu beachten,
dass durch sie nicht alle staatlichen Aktivitäten abgebildet werden können. Eine Vielzahl
staatlicher Engagements kann gar nicht oder nur unzulänglich durch die Staatsausgaben
erfasst werden. Zur erstgenannten Gruppe zählen vor allem staatliche Regulierungen und
die Dienstleistungen, die der Staat unentgeltlich (z.B. Räum- und Streupflichten von Hauseigentümern) oder nur gegen geringes Entgelt (z.B. Wehrpflicht) dem privaten Sektor abverlangt. Zu den staatlichen Aktivitäten, die sich nicht genau beziffern lassen, gehören beispielsweise Bürgschaften und Steuervergünstigungen im weitesten Sinne.
In Tabelle 3.7 sind die Staatsquoten insgesamt und nach ausgewählten Funktionen für sechs ausgewählte EWU-Länder (Deutschland, Frankreich Italien,
Österreich, Portugal und Spanien) und für die USA dargestellt. Es wird deutlich,
dass die USA eine vergleichsweise niedrige Staatsquote haben (rund 35%), die
im Beobachtungszeitraum nicht gestiegen ist. Demgegenüber liegen die
Staatsquoten in den betrachteten EWU-Ländern höher (meist etwas über 50%
oder knapp darunter); sie sind in den meisten dieser Länder seit den achtziger
Jahren tendenziell gestiegen. In Deutschland sank die Staatsquote in den Jahren vor der Vereinigung und sie geht, nach dem Anstieg in der ersten Hälfte der
neunziger Jahre, inzwischen ebenfalls wieder zurück.
Tabelle 3.7
Staatsquoten nach ausgewählten Funktionen und Ländern
- Staatsausgaben in % des BIP 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997
a)
Deutschland
48,9
48,4
47,9
47,3
47,7
47,2
45,8
46,0
48,9
49,5
50,5
50,1
57,6
50,3
49,0
11,0
24,4
2,4
10,7
24,1
2,3
10,6
23,8
2,2
10,6
23,4
2,4
10,6
23,8
2,3
10,3
23,8
2,3
10,0
23,2
2,3
9,7
24,1
2,2
10,4
24,4
2,6
10,6
24,8
2,8
10,8
26,0
2,7
10,5
26,3
2,6
10,4
27,1
2,4
10,3
2,2
10,0
2,0
52,3
52,9
53,2
52,4
52,0
51,2
50,2
51,1
52,1
54,1
56,6
-
-
-
-
14,3
28,4
3,0
14,4
29,1
2,9
14,2
29,5
3,1
14,1
29,1
3,0
13,7
28,8
3,0
13,3
28,0
3,3
13,0
27,5
3,3
12,9
27,8
3,3
13,1
28,7
3,4
13,5
30,0
3,5
14,0
31,7
3,4
-
-
-
-
50,0
50,3
51,4
51,3
50,7
50,8
51,9
53,6
54,1
56,1
57,9
54,6
52,7
-
-
12,1
28,5
3,7
12,0
28,7
3,6
11,8
28,9
3,7
11,7
29,7
3,5
11,9
28,8
3,5
12,1
28,9
3,4
11,9
30,3
3,3
12,7
31,0
3,3
12,7
31,9
3,3
12,7
34,0
3,0
12,5
35,3
2,7
12,0
33,6
2,3
11,4
32,9
2,3
-
-
51,2
51,0
51,9
52,6
52,9
51,2
50,0
49,6
50,6
51,1
53,8
52,5
52,7
52,4
-
12,7
26,3
3,8
12,6
26,6
3,6
12,7
27,3
3,6
12,9
27,8
3,7
12,9
28,6
3,4
12,5
27,7
3,2
12,3
27,1
3,3
12,1
27,1
3,2
12,3
27,8
3,3
12,5
28,1
3,3
12,9
29,8
3,2
12,7
28,9
3,1
12,7
29,4
2,9
12,5
29,6
2,8
-
49,2
42,5
45,3
45,3
43,9
42,8
41,9
45,0
48,0
49,1
51,5
49,5
49,9
-
-
21,2
3,8
20,5
2,8
20,9
2,7
25,1
3,1
24,7
3,2
23,0
3,4
21,4
3,3
23,5
3,3
24,6
3,3
25,0
3,8
26,7
4,0
26,1
3,6
26,0
3,7
-
-
Spanien
-
-
42,6
42,1
41,0
41,1
42,6
43,7
45,3
46,3
49,6
48,1
47,2
-
-
darunter:
- Lohnzahlungen einschl. Arbeitgeberbeiträge
- Subventionen und andere Transferzahlungen
- öffentliche Bruttoinvestitionen
-
-
21,9
3,5
21,5
3,5
20,7
3,3
20,8
3,7
21,0
4,4
21,6
4,9
22,7
4,8
23,6
4,0
26,0
4,1
25,6
3,9
24,8
3,6
-
-
darunter:
- Lohnzahlungen einschl. Arbeitgeberbeiträge
- Subventionen und andere Transferzahlungen
- öffentliche Bruttoinvestitionen
Frankreich
a)
darunter:
- Lohnzahlungen einschl. Arbeitgeberbeiträge
- Subventionen und andere Transferzahlungen
- öffentliche Bruttoinvestitionen
a)
Italien
darunter:
- Lohnzahlungen einschl. Arbeitgeberbeiträge
- Subventionen und andere Transferzahlungen
- öffentliche Bruttoinvestitionen
Österreich
a)
darunter:
- Lohnzahlungen einschl. Arbeitgeberbeiträge
- Subventionen und andere Transferzahlungen
- öffentliche Bruttoinvestitionen
Portugal
a)
darunter:
- Lohnzahlungen einschl. Arbeitgeberbeiträge
- Subventionen und andere Transferzahlungen
- öffentliche Bruttoinvestitionen
a)
USA
a)
darunter:
- Lohnzahlungen einschl. Arbeitgeberbeiträge
- Subventionen und andere Transferzahlungen
- öffentliche Bruttoinvestitionen
35,7
34,3
35,0
35,4
35,2
34,4
34,3
35,3
36,6
36,5
35,9
34,9
34,9
34,5
-
10,7
16,5
1,6
10,3
15,9
1,5
10,4
16,1
1,7
10,4
16,2
1,8
10,5
16,0
1,7
10,4
15,8
1,5
10,3
15,8
1,7
10,5
16,5
1,7
10,8
17,5
1,7
10,7
18,0
1,7
10,6
17,9
1,7
10,4
17,4
1,7
10,3
17,7
1,7
10,1
17,5
1,7
-
a) Die Daten basieren noch auf dem SNA 1968. Detaillierte, international vergleichbare und lange Datenreihen, die auf dem ESVG 95 beruhen, sind nicht vor 2002 verfügbar.
Quelle: OECD 1994 und 1998, IMF 1998, Statistisches Bundesamt 1998 sowie Berechnungen des ifo Instituts.
Nach Berechnungen der OECD liegen die Staatsausgaben in Deutschland (hier
die Summe aus laufenden Ausgaben und Nettokapitalausgaben) trotz dieser
zusätzlichen Anforderungen an den Staatshaushalt bis 1998 noch immer unter
67
dem EWU-Länder-Durchschnitt und haben wieder das Niveau Mitte der achtziger Jahr erreicht.28
Betrachtet man die einzelnen staatlichen Ausgabearten, dann zeigt sich, dass
die Personalausgaben in Deutschland gemessen am Bruttoinlandsprodukt ähnlich hoch sind wie in den USA und niedriger als in Frankreich, Italien und Österreich (für Portugal und Spanien liegen keine Angaben vor).
Ein wesentlicher Grund für die im Ländervergleich niedrigere Staatsquote in
den USA sind die niedrigeren Transferausgaben einschl. der Subventionen;
deren Anteil am Bruttoinlandsprodukt in den USA bei rund 18% liegt und im Beobachtungszeitraum nur wenig gestiegen ist. In den betrachteten EWU-Ländern
lag dieser Anteil in den letzten Jahren, für welche Informationen vorliegen, zwischen 25% und knapp 33% (Deutschland 27%). Diese Ausgaben sind in allen
betrachteten EWU-Ländern im Beobachtungszeitraum stärker gestiegen als das
Bruttoinlandsprodukt und sind somit ein wichtiger Grund für den tendenziellen
Anstieg der Staatsquote.
Auf die öffentlichen Investitionen29 entfallen unter den ausgewählten Staatsausgaben die mit Abstand geringsten Anteile. In allen betrachteten Ländern lag ihr
Anteil am Bruttoinlandsprodukt im Beobachtungszeitraum unter 5%. In den USA
ist dieser Anteil mit unter 2% geringer als in den betrachteten EWU- Ländern;
dort ist er in Spanien und Portugal mit knapp 4% am höchsten.
3.2.2 Effekte öffentlicher Investitionen
Obwohl in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion den öffentlichen
Investitionen wegen der erwarteten positiven Wachstumseffekte eine relativ
große Bedeutung beigemessen wird, waren sie (in der Abgrenzung des ESVG
95) in Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Durchschnitt aller EWU-Länder in
den neunziger Jahren tendenziell rückläufig. Ausgehend von 3,3% im Jahre
1991 sanken sie auf 2,5% in 1999.30 Eine rückläufige Infrastrukturinvestitionsquote ist in reifen Volkswirtschaften nicht unbedingt besorgniserregend. Auch
ist zu berücksichtigen, dass es seit einiger Zeit die Tendenz gibt, ehemals öf-
28
29
30
68
Vgl. OECD, Economic Outlook 66, Paris 1999, S. 246.
Die Begriffe öffentliche und staatliche Investitionen werden synonym gebraucht.
Vgl. Europäische Zentralbank, Monatsbericht Mai 2000, Frankfurt a.M. 2000, S. 42*.
fentliche Aufgaben (z.B. im Verkehrs- und Telekommunikationsbereich) zu privatisieren; dies senkt die ausgewiesenen öffentlichen Investitionen, ohne aber
die angebotene Leistung grundsätzlich zu schmälern. Dennoch könnte die sinkende öffentliche Investitionsquote auch ein Hinweis darauf sein, dass diese
Ausgabenart überproportional von Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung
betroffen war.31 Falls dies der Fall ist, könnte das mittel- und längerfristige Wirtschaftswachstum möglicherweise gedämpft werden.
In Abbildung 3.2 werden die öffentlichen Investitionen in Relation zum jeweiligen Bruttoinlandsprodukt für einige ausgewählte Länder in ihrer Entwicklung
dargestellt. Charakteristisch ist - mit der Ausnahme der USA - der tendenzielle
Rückgang der öffentlichen Investitionsquote. In den USA blieb die Quote über
die beobachteten eineinhalb Jahrzehnte auf einem relativ niedrigen aber
gleichbleibenden Niveau.
Abbildung 3.2
Öffentliche Investitionen in Relation zum BIP in ausgewählten Staaten
4,0
Italien
3,5
Frankreich
3,0
2,5
Deutschland
2,0
1,5
USA
1,0
1982
1983
1984
1985
Deutschland
1986
1987
1988
1989
1990
1991
Frankreich
1992
1993
1994
Italien
1995
1996
1997
1998
1999
USA
Quelle: OECD 1994 und 1998, Europäische Kommission 1998.
31
Vgl. J. Priewe, Makroökonomische Politik für mehr Beschäftigung - Eine Skizze für eine europäische Alternative, in: WSI Mitteilungen 3/1999, S. 147 sowie Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Öffentliche Investitionen im Rahmen der wirtschaftspolitischen Strategie, in: Mitteilungen der Kommission KOM (1998) 682 endg., Brüssel 1998, S. 2 f.
69
Im folgenden wird zuerst der Frage nachgegangen, welche theoretischen und
empirischen Effekte öffentlicher Investitionen die internationale Forschung bisher herausgearbeitet hat. Danach werden die Wirkungen der öffentlichen Investitionen in Deutschland untersucht.
3.2.2.1 Die Wirkung öffentlicher Investitionen in Theorie und Empirie
Der öffentlichen Kapitalbildung wird in der theoretischen und empirischen Forschung eine große Bedeutung für das Wirtschaftswachstum beigemessen32 Die
Forschungen sind zwar sehr umfangreich und vielfältig, zu abschließenden und
konsensfähigen Ergebnissen sind sie aber noch nicht gediehen: "Denn so sehr
immer wieder auf die Bedeutung öffentlicher Investitionen gepocht wird, so
spärlich und allemal entwicklungsfähig sind unser theoretisches Wissen und
unsere empirischen Kenntnisse über die Wirkungen öffentlicher Investitionen"33
Dieser Sachverhalt spiegelt sich in den nachfolgend diskutierten, unterschiedlichen Einschätzungen über die Wirkungen öffentlicher Investitionen wider.
Öffentliche Investitionen sind eine Voraussetzung für die Schaffung und Aufrechterhaltung öffentlicher Infrastruktur, die für die meisten Regionen und Sektoren ein wichtiger Bestandteil der ökonomischen Entwicklung ist. Aus neoklassischer Sicht können öffentliche Investitionen auch die Kapitalbildung des privaten Sektors erhöhen, indem sie die Grenzproduktivität des privaten Kapitals
steigern und somit wiederum private Investitionen stimulieren.34 Dies ist z.B. der
Fall, wenn öffentliche Investitionen den Einsatz privaten Kapitals ergänzen und
effizienter produziert werden kann.
32
33
34
70
Vgl. z.B. R. Kneller, The implications of the comprehensive spending review for the long-run
growth rate: a view from the literature, in: National Institute Economic Review No. 171, 2000,
S. 94 ff. D.A. Aschauer, Public Capital and Economic Growth: Issues of Quantity, Finance,
and Efficiency, in: Economic Development and Cultural Change, Vol. 2/48, Chicago 2000, S.
391 ff., K. Kellermann, C.-H. Schlag, Produktivitäts- und Finanzierungseffekte öffentlicher Infrastrukturinvestitionen, in: Kredit und Kapital 3/31, Berlin 1998, S. 341 ff. sowie W. Pfähler,
U. Hofmann, W. Bönte, Does extra public infrastructure capital matter?, in: Finanzarchiv,
Band 53, Tübingen 1996, S. 68 ff.
W. Kitterer, Langfristige Wirkungen öffentlicher Investitionen - Theoretische und empirische
Aspekte, in: Finanzwissenschaftliche Diskussionsbeiträge 1/98, Köln 1998, S. 3.
Vgl. D.A. Aschauer, Does public capital crowd out private capital?, in: Journal of Monetary
Economics, Vol. 24, North-Holland 1989, S. 171 ff.
In Simulationsrechungen wurde versucht, den Nettoeffekt35 öffentlicher auf private Investitionen zu ermitteln. Demnach haben öffentliche Ausgaben, die dazu
dienen, die privaten Faktorinputs zu komplettieren, einen positiven Einfluss auf
die gesamtwirtschaftlichen Investitionen und die Produktion.36 Die Ergebnisse
scheinen zu bestätigen, dass es bei der Beurteilung der staatlichen Ausgabenpolitik entscheidend auf die Struktur, d.h. insbesondere die öffentlichen Investitionen und den gewählten Zeithorizont ankommt. So wird die Verlangsamung
der Produktivitätsentwicklung in den meisten OECD-Staaten in den siebziger
und achtziger Jahren auch auf eine mangelnde Infrastruktur zurückgeführt.37
Allerdings sind diese Forschungsergebnisse durch eine Reihe empirischer Studien - zumindest für die USA - relativiert worden.38 So gelangen Pfähler, Hofmann und Bönte in einer Synopse zu den Wirkungen des öffentlichen Infrastrukturkapitals nach Auswertung von rund 70 Studien u.a. zu dem Ergebnis,
dass der oben beschriebene Produktivitätsrückgang nicht durch eine abnehmende Wachstumsrate des Infrastrukturkapitals erklärt werden kann: „These
estimates imply that, contrary to a popular belief, the productivity slowdown since the beginning of the 1970s cannot be explained by the declining growth rate
of infrastructure capital.“39
Darüber hinaus deuten von 43 Untersuchungen für die USA beinahe die Hälfte
sogar auf negative Grenzproduktivitätseffekte öffentlicher Infrastruktur hin oder
auf statistisch nicht nachweisbare Wirkungen und ähnlich viele auf positive
Grenzproduktivitäten (die restlichen Studien zeigen unplausible Ergebnisse)40
Ob die Grenzproduktivität der öffentlichen Infrastruktur positiv oder negativ ist,
hängt auch von der Art der jeweiligen Infrastrukturmaßnahme ab. Außerdem
35
36
37
38
39
40
Differenz aus der Veränderung der gesamtwirtschaftlichen Investitionen aufgrund eines möglichen crowding-out-Effekts zusätzlicher öffentlicher Investitionen mit der damit verbundenen
Störung privater Investitionskalküle und den positiven Wirkungen öffentlicher auf private Investitionen durch eine Steigerung der Grenzproduktivität des privaten Kapitals. Der Nettoeffekt kann auch als die Outputdifferenz aus einem negativen Finanzierungseffekt und einem
positiven Produktivitätseffekt zusätzlicher öffentlicher Investitionen definiert werden. Vgl. D.A.
Aschauer, Does public capital crowd out privat capital?, in: Journal of Monetary Economics,
Vol. 24, North-Holland 1989, , S. 171 ff. und 183 ff. sowie W. Kitterer, a.a.O., S. 22 ff.
Vgl. D.A. Aschauer, Does public capital crowd out private capital?, a.a.O. 1989, S. 171 f. und
185 f.
Vgl. für die USA D.A. Aschauer, Is public expenditure productive?, in: Journal of Monetary
Economics, Vol. 23, North-Holland 1989, S. 182 ff.
Vgl. R. Kneller, a.a.O., S. 104, W. Pfähler et al., a.a.O., S. 68 ff. sowie W. Kitterer, a.a.O., S.
3 ff.
Vgl. W. Pfähler et al., a.a.O., S. 104.
Vg. W. Pfähler et al., a.a.O., S. 94 f.
71
können öffentliche Investitionen die Faktornachfrage der Privatwirtschaft verändern. Aus neoklassischer Sicht veranlassen zusätzliche öffentliche Investitionen
die Unternehmen, ihre ursprüngliche optimale und intertemporale Ressourcenallokation anzupassen. Wenn dieser Effekt positiv ist, dann ergänzen zusätzliche öffentliche Investitionen den privaten Kapitalstock; ist er negativ, dann substituieren öffentlichen Anlagen die privaten.41 Insbesondere für traditionelle Infrastrukturmaßnahmen (z.B. Straßenbau) in den USA wurden keine positiven
Grenzproduktivitätseffekte gemessen: „These results imply that for a great part
of (traditional) public infrastructure only investment in repair can be justified.
Policy may be well-advised to direct new investment towards more modern
types of infrastructure facilities (data-highways, knowledge-network...)“42
Für andere Staaten liegen zu wenig empirische Studien vor oder deren Ergebnisse sind so mehrdeutig, dass keine definitiven politischen Schlussfolgerungen
gezogen werden können.43 Der Grund für diese insgesamt nicht eindeutigen
Aussagen wird in diversen Messproblemen gesehen:44 Ein Problem besteht
darin, dass der Einfluss öffentlicher Investitionen auf den gesamtwirtschaftlichen Wachstumsprozess nicht ohne weiteres als Produktivitäts- und Finanzierungseffekt erfasst werden kann. Aufgrund der bereits erwähnten produktionssteigernden Wirkung öffentlicher auf private Investitionen und der oftmals damit
verbundenen produktionsmindernden Finanzierungseffekte (insbesondere
durch Steuer- oder Kreditfinanzierung) der öffentlichen Investitionen, ist der
Nettoeffekt je nach Annahmen und Saldierungszeitpunkten aus theoretischer
und empirischer Sicht selten eindeutig. Fragen nach der effektiven Nutzung des
öffentlichen Kapitalstocks sowie seiner Finanzierung und den damit verbundenen Konsequenzen, sind bisher nicht abschließend geklärt. Da darüber hinaus
die staatlichen Investitionen nicht das einzige Instrument sind, um öffentliche
Infrastruktureinrichtungen (z.B. Schulen) zu schaffen oder zu erhalten, ist es
schwierig, für diese auch geeignete Daten zu finden. Öffentliche Infrastruktur
kann auch von privaten Einrichtungen (teil)finanziert werden.
Insgesamt gesehen sind die Untersuchungsergebnisse für die USA wegen der
unterschiedlichen Abgrenzungen nur in einem sehr eingeschränktem Maße mit
anderen Ländern vergleichbar. Die Forschungen der letzten Jahre belegen für
die USA jedoch, dass die Wirkungen öffentlicher Investitionen sehr unsicher
41
42
43
44
72
Vgl. ebenda., a.a.O., S. 72 ff.
Ebenda, a.a.O., S. 85 und 104.
Vgl. ebenda, a.a.O., S. 103.
Vgl. K. Kellermann, C.-H. Schlag, a.a.O., S. 316 und 338 f., W. Pfähler et al., a.a.O., S. 84,
D.A. Aschauer, a.a.O. 2000, S. 391 ff.
sind. Je nach Untersuchungsschwerpunkt (nach Wirtschaftsbereichen, Regionen, Infrastrukturbereichen) und Methodik (Schätzungen mit Produktions- oder
Kostenfunktionen) wurden negative, positive oder statistisch insignifikante Effekte öffentlicher Investitionen auf Produktivität, Produktionsniveau und Wirtschaftswachstum ermittelt, ohne dass die Ursachen für die unterschiedlichen
Ergebnisse jeweils klar sind. Pauschale wirtschaftspolitische Empfehlungen für
die staatliche Infrastrukturpolitik lassen sich aus diesen Studien also nicht ableiten.
3.2.2.2 Effekte öffentlicher Investitionen in Deutschland
Der Nettoeffekt zusätzlicher Infrastrukturausgaben des Staates hängt grundsätzlich auch davon ab, wie das Verhältnis von staatlichen zu privaten Investitionsquoten ist.45 Je höher der Anteil der staatlichen an den gesamtwirtschaftlichen Investitionen wird, desto geringer sind die positiven Wirkungen und bei
einer Überversorgung treten sogar negative Wirkungen auf. Daraus könnte geschlossen werden, dass öffentliche Investitionen nur dann ausgedehnt werden
sollten, wenn sie produktiver sind, als die möglicherweise über die Investitionsfinanzierung verdrängten privaten Investitionen.46
Die oben diskutierten internationalen Vergleiche sind möglicherweise auch wegen der unterschiedlichen Gewichte der öffentlichen und privaten Investitionen
in den einzelnen Volkswirtschaften nicht ohne weiteres übertragbar. Neuere
empirische Ergebnisse für Deutschland sind jedenfalls weniger kontrovers und
weisen – jedoch mit einigen Einschränkungen – auf positive Produktivitätseffekte öffentlicher Infrastruktur und öffentlicher Investitionen hin. Für Deutschland wurde geschätzt, dass eine einprozentige Erhöhung des öffentlichen Kapitalstocks (bzw. öffentlicher Investitionen) sowohl einen Zuwachs bei der Totalen Faktorproduktivität um 0,5% bis 8,4% (bzw. des Outputs um rund 0,2%)
bewirken, als auch statistisch insignifikant sind.47 In den Fällen, in denen an-
45
46
47
Vgl. W. Kitterer, a.a.O., S. 22 ff.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Aschauer - allerdings für Entwicklungs- und Schwellenländer. Er schätzt auf Basis von 46 Entwicklungs- und Schwellenländerdaten geringe - aber positive - Nettoeffekte des öffentlichen Kapitalstocks auf das Wirtschaftswachstum, wenn
mit zusätzlichen öffentlichen Investitionen zugleich die Effektivität (ein Index aus verschiedenen öffentlichen Aktivitäten) des öffentlichen Kapitalstocks ansteigt. Vgl. D.A. Aschauer,
a.a.O. 2000, S. 399 ff.
Vgl. die Zusammenfassung der Ergebnisse bei W. Kitterer, a.a.O., S. 8 ff. sowie W. Pfähler
et al., a.a.O., S. 95 ff.
73
stelle eines produktionstheoretischen Ansatzes ein Kostenansatz bei der
Schätzung verwandt wurde, sind die Ergebnisse ähnlich: Nach einprozentigen
Erhöhungen des öffentlichen Kapitalstocks konnten sowohl Kostensenkungseffekte in der Privatwirtschaft bis zu rund 0,3%, als auch keine Effekte (rund 0%
Kostensenkung) ermittelt werden. Auch wenn für Deutschland keine Einigkeit
darüber besteht, wie hoch die Produktivitätseffekte öffentlicher Investitionen
sind, so wurden aber bisher noch nicht, wie in den USA, negative Wirkungen
auf die Produktivität gemessen.48
Es ist durchaus möglich, dass öffentliche oder staatlich geförderte Investitionen
das Wirtschaftswachstum in Deutschland nicht nur vorübergehend, sondern
nachhaltig anregen.49 Die tatsächliche Stärke solcher Infrastrukturmaßnahmen
ist jedoch unsicher, zumal die indirekte Wirkung über induzierte Veränderungen
der privaten Faktornachfrage bzw. Produktionskosten eindeutig bestimmt werden müsste.50 Obwohl die Wirkung öffentlicher Investitionen über den unmittelbaren, keynesianischen Multiplikatoreffekt hinaus selbst Befürwortern einer zumindest vorübergehend kreditfinanzierten öffentlichen Investitionsaktivität ungewiss erscheint, wird gelegentlich gefordert, auf Kreditfinanzierung öffentlicher
Investitionen nur dann zu verzichten, wenn sog. inflationäre Überhitzungen,
Zinssteigerungen mit crowding-out-Effekten oder ein dauerhafter, unerwünschter Anstieg der Zinslasten zu erwarten sind.51
Kreditfinanzierte öffentliche Investitionen können in Rezessionsphasen die automatischen Stabilisatoren ergänzen; allerdings muss ein entsprechender Spielraum für die Ausweitung des Defizits vorhanden sein, so dass der Vertrag von
Maastricht bzw. der Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht verletzt wird.
Auch die Europäische Kommission gibt einer öffentlichen Haushaltsdisziplin
den Vorrang vor weiterer Staatsverschuldung. Zugleich fordert sie aber im
Rahmen der wirtschaftspolitischen Strategie für mehr Wirtschaftswachstum,
Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung eine Umschichtung der Staatsausgaben zugunsten öffentlicher Investitionen. Denn nur dann, wenn die privaten von
48
49
50
51
74
Vgl. Deutsche Bundesbank, Entwicklung und Finanzierungsaspekte der öffentlichen Investitionen, in: Monatsbericht April 1999, Frankfurt a.M., S. 35.
Vgl. J. Priewe, a.a.O., S. 152.
So werden bei den meisten der bisherigen ökonometrischen Untersuchungen zu den Produktivitätswirkungen öffentlicher Infrastruktur in Deutschland die Finanzierungseffekte vernachlässigt. Vgl. W. Kitterer, a.a.O., S. 29 sowie K. Kellermann, C.-H. Schlag, a.a.O., S. 338.
Vgl. J. Priewe, a.a.O., S. 151 ff.
öffentlichen Investitionen begleitet würden, könnten sie ihre volle Wirkung in
Form von mehr Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum entfalten.52
In Deutschland besteht nach wie vor eine Sondersituation wegen des Aufholprozesses in den neuen Bundesländern. Die starke Ausweitung der öffentlichen
Investitionen in den ersten Jahren nach der Vereinigung führte zu einer schnellen Erhöhung und Modernisierung der Infrastruktur in Ostdeutschland. Davon
gingen zweifellos positive Effekte auf die Produktivitätsentwicklung aus. Allerdings erreicht die Infrastrukturausstattung in wichtigen Bereichen wie insbesondere dem Verkehrsbereich noch nicht das Westniveau. Zwar geht der Infrastrukturaufbau weiter, aber es gibt auch Bremsklötze. So hat sich inzwischen
bei den Ländern und Kommunen in Ostdeutschland trotz der hohen Transfers
aus dem Westen eine hohe Schuldenlast angehäuft. Die relativ niedrige Steuerkraft der ostdeutschen Länder und Kommunen und die hohe Zinsbelastung
sowie die kräftigen Lohnsteigerungen im öffentlichen Dienst engen den finanziellen Spielraum für eigenfinanzierte Infrastrukturinvestitionen ein, was den
Aufholprozess bremst.
52
Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Öffentliche Investitionen im Rahmen
der wirtschaftspolitischen Strategie, in: Mitteilungen der Kommission KOM (1998) 682 endg.,
Brüssel 1998, S. 2.
75
4.
Makropolitische und strukturpolitische Bedingungen für Wachstum
und Beschäftigung
4.1 Trade-Offs und Synergien zwischen den Politikbereichen
Zwischen den einzelnen Bereichen der Makropolitik, also der Geldpolitik und
der Finanzpolitik, aber auch der Lohnpolitik gibt es gegenseitige Abhängigkeiten
und Synergien Die gesamtwirtschaftliche Stabilisierung wird wesentlich erleichtert, wenn sich diese Bereiche gegenseitig unterstützen. Wirken sie einander entgegen, steigt die Gefahr von Konjunkturkrisen. Bei einer konjunkturellen
Abschwächung fällt es der Geldpolitik leichter mit Zinssenkungen zu reagieren,
wenn gleichzeitig der Preis- und Lohnanstieg moderat ist. Halten dagegen die
Lohn- und Preissteigerungen trotz der Konjunkturabschwächung an, dann wird
die Notenbank, die ja dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet ist, die Zinsen nicht
oder nur verzögert senken. Aber auch zwischen der Makropolitik einerseits und
den strukturpolitischen Bedingungen andererseits gibt es eine gegenseitige Abhängigkeit. So ist bei Strukturproblemen die Konjunkturstabilisierung schwieriger. Strukturprobleme führen nämlich häufig (über staatliche Mindereinnahmen
und Mehrausgaben) zu strukturell hohen Finanzierungsdefiziten der öffentlichen
Haushalte. Wenn dann in einem Konjunkturabschwung zusätzliche Mindereinnahmen und Mehrausgaben entstehen, sehen sich die öffentlichen Haushalte
gezwungen, restriktive Maßnahmen zu ergreifen, um ein noch höheres Defizit
zu vermeiden. Dieses Verhalten war jedenfalls für viele europäische Länder
typisch; die Länder mit überdurchschnittlich hohen strukturellen Defiziten haben
in den vergangenen Rezessionen (gemessen an der Veränderung des primären
strukturellen Finanzierungssaldos) einen restriktiven Kurs gefahren, während
die Länder mit unterdurchschnittlichen Defiziten in den Rezessionen ihre Finanzpolitik leicht expansiv ausrichteten und damit die Konjunktur verstetigten
(Artis and Buti, 2000).
Umgekehrt können aus Konjunkturkrisen Strukturprobleme entstehen. So kann
sich eine ursprünglich konjunkturelle Arbeitslosigkeit zu einer strukturellen Arbeitslosigkeit verfestigen; es kommt zu dem so genannten Hysteresis-Effekt.
Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Arbeitsmarkt wenig flexibel bzw.
das Sozialsystem relativ großzügig ist.
76
Bei günstigen strukturellen Rahmenbedingungen fällt es dagegen der Makropolitik leichter, Konjunkturschwankungen zu verstetigen. Generell ist bei günstigen
strukturellen Rahmenbedingungen auch die mittelfristige Wachstums- und Beschäftigungsdynamik höher, was dann über entsprechend höhere Staatseinnahmen und geringere Ausgaben für Arbeitslose auch positive Rückwirkungen
auf die öffentlichen Haushalte hat.
Das Zusammenwirken von Makropolitik und Strukturpolitik lässt sich etwas
systematischer mit Hilfe der sogenannten Phillipskurve verdeutlichen.
Die Phillipskurve
Die Phillipskurve ist die graphische Darstellung des Zusammenhangs zwischen
der Inflationsrate einerseits und der Arbeitslosenrate andererseits. Bei der Arbeitslosigkeit wird in der Literatur zwischen der konjunkturellen (d.h. kurzfristigen) und der strukturellen (längerfristigen bzw. „natürlichen“) Arbeitslosigkeit
unterschieden.53 Nach herrschender Meinung lässt sich die strukturelle Arbeitslosigkeit nicht durch eine expansive Geld- und/oder Finanzpolitik senken,
wohl aber die konjunkturelle Arbeitslosigkeit. Dies bedeutet, dass zwischen
zwei Phillipskurven zu unterscheiden ist, nämlich einer langfristige Phillipskurve,
welche vertikal verläuft und die horizontale Achse in der Höhe der strukturellen
Arbeitslosigkeit schneidet und einer kurzfristigen Phillipskurve, welche negativ
geneigt ist; letztere zeigt den umgekehrten Zusammenhang zwischen der Höhe
der Arbeitslosigkeit und der Höhe der Inflationsrate. Im Aufschwung nimmt typischerweise die Arbeitslosenrate ab, während die Inflationsrate steigt, während
im Abschwung im allgemeinen die Arbeitslosigkeit zunimmt und die Inflationsrate sinkt. Da die Makropolitik die Konjunkturentwicklung beeinflusst, kann sie
auch den Punkt auf der kurzfristigen Phillipskurve „wählen“; sie hat die Wahl
(Trade-off) zwischen einer niedrigeren Arbeitslosigkeit bei höherer Inflationsrate
oder einer höheren Arbeitslosigkeit bei niedrigerer Inflationsrate. Dies gilt allerdings nur kurzfristig, denn auf Dauer kehrt die Arbeitslosigkeit wieder auf das
strukturelle Niveau zurück, wie es durch die langfristige Phillipskurve angezeigt
wird.
In der Abbildung 4.1 bezeichnet die vertikale Linie LP die langfristige Phillipskurve, welche die strukturelle Arbeitslosigkeit U* anzeigt. Die von links nach
rechts fallenden Kurven SP sind zwei kurzfristige Phillipskurven (Spo und SP1)
53
In der Literatur werden hier, je nach dem, an welchen Indikatoren diese Art von Arbeitslosigkeit abgelesen wird, die Bezeichnungen natürliche Arbeitslosigkeit (natural rate of unemployment), NAIRU (Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment) oder NAWRU
(Non-Accelerating Wage Rate of Unemployment) verwendet.
77
und die ansteigenden Kurven DG (Dgo und DG1) sind zwei Nachfragekurven.
Im Ausgangspunkt ist eine normale Auslastung der Gesamtwirtschaft unterstellt, d.h. die Arbeitslosigkeit ist ausschließlich struktureller Natur.
Im oberen Teil der Abbildung ist die Wirkung einer expansiven der Makropolitik
dargestellt. Diese verschiebt die Nachfragekurve nach oben; es kommt – weil
zuvor Normalauslastung herrschte – zu einer Überauslastung der gesamtwirtschaftlichen Kapazitäten, d.h. das tatsächliche reale Bruttoinlandsprodukt steigt
über das Produktionspotential bei Normalauslastung. Die tatsächliche Arbeitslosigkeit sinkt unter die strukturelle Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig steigt die Inflationsrate. Falls durch die höhere tatsächliche Inflationsrate auch die mittelfristigen Inflationserwartungen steigen – nach der Theorie der adaptiven Erwartungen ist dies der Fall – verschiebt sich die kurzfristige Phillipskurve SP nach
oben. Dies erhöht die tatsächliche Inflationsrate erneut, was die SP Kurve weiter nach oben schiebt (diese weitere Verschiebung der SP Kurve ist in der Abbildung nicht mehr eingezeichnet). Im Endergebnis kommt es zu einem neuen
Gleichgewicht im Schnittpunkt auf der langfristigen Phillipskurve; die Arbeitslosigkeit ist auf das frühere höhere Niveau zurückgekehrt und die Preissteigerung
bleibt – wegen der adaptiven Preiserwartungen - höher als vor der Nachfrageausweitung.
Im unteren Teil von Abbildung 4.1 sind die Wirkungen von Angebotsschocks
dargestellt. Bei einem negativen Angebotsschock, z.B. einer starken Ölpreiserhöhung, verschiebt sich die SP Kurve nach oben; dadurch steigen sowohl die
Arbeitslosigkeit, wie auch die Inflationsrate. Nach Auslaufen des negativen Angebotsschocks wird die höhere Arbeitslosigkeit den inflationären Druck verringern, so dass das alte Gleichgewicht mit der niedrigeren Inflationsrate und der
niedrigeren Arbeitslosenrate wieder erreicht wird (in Punkt E). Evtl. kommt es
aber über adaptive Erwartungen zu einem neuen Gleichgewicht mit höheren
Preissteigerungen. Versucht nun die Wirtschaftspolitik, die wegen des negativen Angebotsschocks gestiegene Arbeitslosigkeit mit einer expansiven Nachfragepolitik zu bekämpfen, dann verschiebt sich DG-Kurve nach oben und es
kommt zu einem neuen Gleichgewicht (in Punkt N) mit der früheren niedrigeren
Arbeitslosigkeit und einer höheren Preissteigerungsrate. Reagiert dagegen die
Wirtschaftspolitik auf den negativen Angebotsschock (wegen der höheren Inflationsrate) mit einem restriktiven Kurs, dann steigt kurzfristig die Arbeitslosigkeit
stärker, während die Inflationsrate weniger steigt als bei neutraler bzw. expansiver Politik. Nach Auslaufen des Angebotsschocks sinkt die SP-Kurve wieder
auf das frühere Niveau und falls die Politik wieder auf einen neutralen Kurs zu-
78
rückkehrt, wird der Ausgangspunkt mit niedrigerer Arbeitslosigkeit und niedrigerer Inflationsrate wieder erreicht. Wird der negative Angebotsschock einer Ölpreiserhöhung also von einer restriktiven Geld- oder Finanzpolitik begleitet,
dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass aus den direkten Preiseffekten über adaptive Preiserwartungen eine permanent höhere Inflationsrate wird, geringer.
Die Kosten dafür sind allerdings kurzfristig mehr Arbeitslose.
79
All dies zeigt, dass es auch bei negativen Angebotsschocks für die Wirtschaftspolitik kurzfristig einen Trade-off zwischen höherer Inflationsrate und höherer
Arbeitslosigkeit gibt. Versucht die Wirtschaftspolitik diesen Trade-off auszunützen und mit einer expansiveren Politik die Erhöhung der Arbeitslosigkeit zu verhindern, dann besteht das Risiko, dass aus den einmaligen angebotsbedingten
Preisschocks über adaptive Erwartungen dauerhaft höhere Inflationsraten entstehen. Dies ist der Grund, warum in der Vergangenheit die Geldpolitik bei Angebotsschocks - wie den abrupten Ölpreiserhöhungen, welche die Verbraucherpreise einmalig erhöhten und gleichzeitig die Konjunktur dämpften - zunächst restriktiv blieb; der restriktive Kurs wurde meist erst dann gelockert, als
die Befürchtungen über die Sekundäreffekte aufgrund adaptiver Preiserwartungen nachließen bzw. als die Konjunktur extrem schwach wurde.
Bei Vorliegen von Hysteresiseffekten sind allerdings diese Aussagen zum Trade-off zwischen Arbeitslosigkeit und Inflationsrate zu modifizieren.54 Ähnlich wie
aus einer kurzfristig höheren Inflationsrate über adaptive Preiserwartungen eine
dauerhaft höhere Inflationsrate werden kann, so kann über Hysteresiseffekte
sich eine kurzfristig höhere Arbeitslosigkeit zu einer dauerhaft höheren Arbeitslosigkeit verfestigen. Wenn dann bei negativen Angebots- oder Nachfrageschocks die kurzfristige (konjunkturelle) Arbeitslosigkeit steigt, verschiebt sich
die langfristige Phillipskurve nach rechts und wenn bei positiven Schocks die
kurzfristige Arbeitslosigkeit sinkt, verschiebt sie sich nach links. Dies bedeutet,
dass bei Vorherrschen sowohl von adaptiven Preiserwartungen wie auch von
Hysteresiseffekten ein Trade-off zwischen höherer Arbeitslosigkeit und höherer
Inflationsrate nicht nur kurzfristig, sondern auch längerfristig existieren kann.
Bei positiven Angebotsschocks kommt es zu einer Senkung der SP-Kurve („Sp
beneficial“). Kurzfristig sinken die Inflationsrate und die Arbeitslosigkeit. Falls
die Inflationsrate unter die Zielinflationsrate sinkt, kann jetzt eine expansivere
Wirtschaftspolitik gefahren werden, so dass die Arbeitslosigkeit noch stärker
sinkt, ohne dass das Preisziel verletzt wird. Nach Auslaufen des positiven Angebotsschocks muss die Nachfrage aber wieder auf das frühere Niveau sinken,
sonst würde die Inflationsrate über die Zielrate ansteigen. Gelingt es mit strukturpolitischen Maßnahmen (z.B. einer Steuersenkung und/oder einer größeren
Arbeitsmarktflexibilität), die strukturelle Arbeitslosigkeit zu senken, dann verschiebt sich die langfristige Phillipskurve nach links. In diesem Fall kann die
Nachfragekurve höher (d.h. die Makropolitik expansiver) sein, ohne dass die
54
80
Für einen Überblick über Forschungsarbeiten zu Hysteresiseffekten vgl. Franz (1990).
Inflationsrate über die Zielrate steigt. Im neuen Gleichgewicht ist dann die Arbeitslosigkeit niedriger und die Inflationsrate ebenso hoch wie vor der Strukturreform. In Deutschland ist dieser Fall derzeit durchaus relevant. So bewirkt die
neue Steuerreform zum einen eine Verbesserung der Angebotsbedingungen
(d.h. einen positiven Angebotsschock). Da die Steuermindereinnahmen nicht
voll gegenfinanziert werden, steigt gleichzeitig das staatliche Finanzierungsdefizit, so dass es zu einem expansiven Nachfrageeffekt kommt. Je nach dem, wie
groß die beiden Effekte sind, werden sie sich auf die Inflationsrate und die
kurzfristige (die konjunkturelle) und die langfristige (die strukturelle) Arbeitslosigkeit auswirken. Da derzeit gleichzeitig die Lohnpolitik relativ moderat verläuft,
wird trotz des expansiven Nachfrageeffekts der Steuersenkung die Inflationsrate in Deutschland den Prognosen zufolge nicht über die Zielinflationsrate steigen.55 Vor diesem Hintergrund stellt der expansive Nachfrageeffekt der Steuerreform für das Ziel der Preisstabilität kein Problem dar. Vielmehr sinkt die konjunkturelle Arbeitslosigkeit. Die strukturelle Arbeitslosigkeit sinkt durch die Steuerreform ebenfalls, doch vermutlich nicht sehr stark (vgl. unten).
Neben den positiven Angebotswirkungen von Steuerreformen wird – wie oben
schon erwähnt - in den USA und zunehmend auch in Europa auf positive Angebotsschocks aufgrund technologischen Neuerungen wie das Internet (New Economy) und aufgrund von Liberalisierungen der Waren- und Dienstleistungsmärkte hingewiesen. Auch diese verschieben die SP Kurven in Abbildung 4.1
nach unten. Die Inflationsrate sinkt kurzfristig und es kann evtl. in Verbindung
mit adaptiven Preiserwartungen sogar zu einer dauerhaften Senkung der Inflationsrate kommen. Ob dies tatsächlich der Fall sein wird, bleibt allerdings abzuwarten. Wäre dies der Fall, dann könnte der geldpolitische Kurs in Zukunft
etwas expansiver sein, ohne dass die Inflationsrate über die Zielrate steigt.
Aus all dem folgt erstens, dass es für Wachstum und Beschäftigung günstig ist,
wenn die Makropolitik so gestaltet wird, dass möglichst keine konjunkturelle
Arbeitslosigkeit entsteht; dann kann es nämlich auch zu keiner Verfestigung in
eine strukturelle Arbeitslosigkeit kommen. Zweitens ist es günstig, die strukturellen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass von vorneherein die strukturelle Arbeitslosigkeit gering ist. Bei günstigen strukturellen Rahmenbedingungen
treten keine oder nur geringe Hysteresiseffekte auf, d.h. falls im Konjunkturabschwung Arbeitslosigkeit entsteht, wird sich diese im anschließenden Aufschwung wieder zurückbilden und nicht in einer strukturellen Arbeitslosigkeit
verfestigen.
55
Vgl. Prognose 2000/2001: Aufschwung setzt sich fort, in ifo Wirtschaftskonjunktur 7/2000.
81
In Deutschland (und auch in anderen kontinentaleuropäischen Ländern) dürfte
bei der Entstehung der strukturellen Arbeitslosigkeit die Hysteresiseffekte eine
große Rolle gespielt haben, d.h. die Verfestigung der ursprünglich konjunkturellen Arbeitslosigkeit in strukturelle Arbeitslosigkeit. So stieg in Deutschland in
den bisherigen vier Rezessionen (1967, 1974/75, 1981/82, 1993) die Arbeitslosigkeit zunächst konjunkturbedingt an, aber mit Ausnahme der ersten Rezession 1967 ging sie im anschließenden Aufschwung nicht mehr auf das Niveau vor
der Rezession zurück. Die strukturelle Arbeitslosigkeit war damit nach Überwindung der Rezessionen jeweils höher als vor den Rezessionen. Zu der höheren
strukturellen Arbeitslosigkeit in Westdeutschland kam nach der deutschen Vereinigung die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern, die vorwiegend
strukturell ist hinzu (vgl. Abbildung 4.2).
Abbildung 4.2
Entwicklung der Arbeitslosigkeit 1960 - 2002
Millionen Personen
5.0
4.5
Deutschland
4.0
3.5
3.0
2.5
Westdeutschland
2.0
1.5
1.0
0.5
0.0
60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 00 02
1) 2001 und 2002; Prognose des ifo Instituts.
Quelle: Bundesanstalt für Arbeit.
Damit hat sich auch das Verhältnis zwischen der Arbeitslosigkeit und der Inflationsrate, wie es in der Phillips-Kurve dargestellt ist, im Zeitablauf stark verändert
(Vgl. Abbildung 4.3). Während in den sechziger Jahren und zu Beginn der siebziger Jahre – entsprechend der kurzfristigen Phillips-Kurve – eine niedrigere
Arbeitslosigkeit einherging mit einer höheren Inflationsrate, stiegen während der
beiden Ölpreiskrisen 1974/75 und 1981/82, welche negative Angebotsschocks
82
darstellten, sowohl die Arbeitslosigkeit wie auch die Inflationsrate. Die Inflationsrate ging nach diesen Schocks wieder deutlich zurück, die Arbeitslosigkeit aber
nur wenig. Die langfristige Phillipskurve verschob sich nach rechts.
In den USA kam es während der beiden Ölpreiskrisen ebenfalls zu einer Erhöhung der Inflationsrate und der Arbeitslosigkeit. Nach der zweiten Ölpreiskrise
ging aber die Arbeitslosigkeit wieder deutlich zurück. Sie stieg zwar während
der kurzen Rezession Anfang der neunziger Jahre, nahm dann aber wieder
deutlich ab, und zwar ohne, dass sich die Inflationsrate nennenswert erhöhte.
Die Tatsache, dass in Deutschland anders als in den USA die Arbeitslosigkeit
nach den negativen Angebots- und Nachfrageschocks nicht wieder auf das frühere Niveau zurückging, deutet auf strukturelle Unterschiede zwischen beiden
Ländern hin.
Da die Hysteresiseffekte, d.h. die Verfestigung der ursprünglich konjunkturellen
Arbeitslosigkeit in strukturelle Arbeitslosigkeit, in Deutschland offenbar bedeutsam sind, ist es interessant, die Makropolitik in diesen Konjunkturphasen zu
untersuchen. Tatsächlich hat in Deutschland die Makropolitik während der
Konjunkturschwäche nach 1981, aber auch während der Konjunkturschwäche
1993 restriktiv gewirkt. Dies trifft insbesondere für die Finanzpolitik zu, welche in
beiden Perioden versuchte, das zuvor stark gestiegene strukturelle Finanzierungsdefizit zu verringern.56
Bei der Geldpolitik fällt die Beurteilung differenzierter aus. Die Bewertung ist vor
allem davon abhängig, welcher Indikator herangezogen wird. Abbildung 4.4
zeigt die Entwicklung von drei monetären Indikatoren (kurzfristiger Realzins,
Taylor-Zins und Monetary Condition Index) in Deutschland in den letzten 20
Jahren im Vergleich zur Konjunkturentwicklung (dargestellt durch den Verlauf
der Beurteilung der aktuellen Geschäftslage nach dem ifo Konjunkturtest). Trotz
der Senkungen im Verlauf dieser Rezessionen kann man den kurzfristige Realzins aus rein konjunktureller Sicht als „zu hoch“ und hat damit als rezessionsverschärfend bezeichnen. Das Urteil über die Geldpolitik fällt allerdings anders
aus, wenn man den zweiten Indikator, nämlich den sogenannten Taylor-Zins als
Beurteilungsmaßstab heranzieht. Der Taylor-Zins wird berechnet auf der
Grundlage des Gleichgewichtszinses und unter der Annahme, dass die Geldpolitik die jeweilige Konjunktursituation (gemessen als Abweichung des tatsächlichen Bruttoinlandsprodukts vom Bruttoinlandsprodukt bei Normalbeschäftigung
56
Vgl. dazu u.a. W. Leibfritz unter Mitarbeit von B. Lehne, W. Meister und E. Langmantel, Finanzpolitik und Konjunktur: Die automatischen Stabilisatoren in Deutschland, in: ifo Schnelldienst 29/99.
83
bzw. vom Trend-Bruttoinlandsprodukt) berücksichtigt, aber auch die jeweilige
Preisentwicklung (als Abweichung der tatsächlichen Inflationsrate vom Preisziel
der Geldpolitik) (vgl. dazu den Kasten 1). Es zeigt sich, dass in den konjunkturellen Abschwungsphasen Anfang der achtziger Jahre und auch 1992/93 der
tatsächliche Kurzfristzins sich ähnlich entwickelte wie der (von uns berechnete)
Taylor-Zins; teilweise lag der tatsächliche Zinssatz sogar etwas unter dem
Taylor-Zins. Berücksicht man neben der Konjunktur also auch die Preissteigerungen, wie dies bei der Berechnung des Taylor-Zinses geschieht, dann kann
der geldpolitische Kurs in diesen Konjunkturphasen nicht als „zu restriktiv“, sondern als „angemessen“ bezeichnet werden. Als dritter Indikator werden die monetären Bedingungen, der sogenannte Monetary Conditions Index (MCI) verwendet. Dieser Indikator ist ein gewogenes Mittel aus dem kurzfristigen Realzins und dem realen Außenwert der Währung.57 Auch dieser Indikator lag, ähnlich wie der kurzfristige Realzins (der ja Bestandteil dieses Indikators ist) in den
genannten Abschwungsphasen relativ hoch, so dass die monetären Bedingungen insgesamt rezessionsverschärfend gewirkt haben. Fasst man diese Ergebnisse zusammen, dann zeigt sich, dass es der Geldpolitik in diesen Abschwungsphasen offenbar schwer fiel, die Zinsen schneller und stärker zu senken, weil die Preissteigerungen zunächst noch über dem Preisziel der Bundesbank lagen. Da die Sicherung der Preisstabilität die Hauptaufgabe der Geldpolitik ist, kann man ihr deshalb auch keinen Vorwurf machen; gemessen am Taylor-Zins, der neben der Konjunkturstabilisierung auch die Aufgabe der Inflationsbekämpfung bei der Festsetzung der Kurzfristzinsen berücksichtigt, war die
Geldpolitik in beiden Phasen nicht zu restriktiv, auch wenn sie dies aus rein
konjunktureller Sicht war.
57
84
Im Monetary Conditions Index (MCI) werden die Veränderung der monetären Rahmenbedingungen – gemessen an der gewichteten Summe aus Zins- und Wechselkursbewegung gegenüber einer Basisperiode 0 – zusammengefasst. Die Gewichte spiegeln die Wirkungen der
jeweiligen Komponenten auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage wider. Der hier verwendete
R
R
R
R
Monetary Conditions Index wird aus der Gleichung MCI = gw (w - w 0) + gi (i - i 0) abgeleiR
R
tet. Dabei bedeuten w gewogener realer Außenwert der D-Mark und i kurzfristiger Realzins
(Zins für Tagesgeld abzüglich aktueller Inflationsrate). Die Koeffizienten gw und gi stellen die
Gewichte dar, mit denen Außenwert und Realzins in den Index eingehen. Folgt man der
Quantifizierung der Deutschen Bundesbank, so gilt für Deutschland gw = ¼ und gi = ¾. Vgl.
Deutsche Bundesbank, Taylor-Zins und Monetary Conditions Index, in: Monatsberichte der
Deutschen Bundesbank, 4/1999, S. 54 ff.
85
Abbildung 4.4
Entwicklung der monetären Bedingungen
in Deutschland
Realzins
9.6
1)
und ifo Geschäftslage
2)
%
%
4
ifo Geschäftslage 2)
7.6
(rechte Skala)
2
5.6
0
3.6
1.6
-2
kurzfristiger Realzins 1)
-0.4
(linke Skala)
-2.4
-4
80 81 82 83 84
85 86
87 88 89 90
91 92 93 94 95
Taylor-Zins und Tagesgeldsatz
14
96 97
98 99 00 01
3)
%
%
14
12
12
10
10
8
8
Taylor-Zins
6
6
4
4
Tagesgeld
2
3)
2
0
0
80 81 82 83
84 85 86 87
88 89
90 91 92 93 94 95
96 97 98 99 00 01
%
Monetary Conditions Index (MCI)
6
4)
und ifo Geschäftslage
1. Quartal 1990=0
2)
%
4
4
ifo Geschäftslage 2)
2
(rechte Skala)
2
0
0
-2
MCI-Index
-4
-2
4)
(linke Skala)
-6
-4
80
81 82 83 84 85 86 87
88 89 90 91 92 93 94 95
96 97
98 99 00 01
1) Dreimonatsgeld minus Veränderungsrate des BIP- Deflators.- 2) Beurteilung der Geschäftslage in der gewerblichen Wirtschaft (ifo Konjunkturtest); standardisierte Salden.3) Geldmarktsatz für Tagesgeld am Frankfurter Bankplatz.- 4) Gewogenes Mittel aus
kurzfristigem Realzins und realem Außenwert der DM.
Quelle: Deutsche Bundesbank, Statistisches Bundesamt, ifo Konjunkturtest; Berechnungen
des ifo Instituts.
86
Kasten 1: Zur Beurteilung der Zinsen
Die von Taylor im Jahr 1993 entwickelte Regel für ein angemessenes Zinsniveau (Taylor-Zins) in Abhängigkeit von der aktuellen Konjunktur- bzw. Inflationstendenz lautet:1
iT = iRGL + πe + gPL • PL + gID • ID
Dabei ist iT der gesuchte Taylor-Zins, iRGL der reale Gleichgewichtszins, bei dem
keine Maßnahmen der Geldpolitik nötig sind und πe die erwartete Preissteigerungsrate. PL bezeichnet die Produktionslücke (Output gap), die als prozentuale Abweichung des tatsächlichen realen Bruttoinlandsprodukts von dem realen
Bruttoinlandsprodukt bei Normalauslastung gemessen wird; je höher der Auslastungsgrad der Volkswirtschaft ist, umso höher muss demnach der TaylorZins sein. Die Inflationsdifferenz ID gibt die Abweichung der aktuellen Preissteigerung von der mittelfristig von der Zentralbank angestrebten Preissteigerung
an; je höher die tatsächliche Preissteigerung im Vergleich zur angestrebten
Preissteigerung ist, umso höher sollte der Taylor-Zins sein. Mittels der Koeffizienten gPL und gID gehen Produktionslücke und Inflationsdifferenz in die TaylorZins-Formel ein. Sind z.B. Produktionslücke und Inflationsdifferenz Null, so entspricht der Taylor-Zins iT dem nominalen Gleichgewichtszins iRGL + πe. Bei einem Überschießen (Unterschreiten) der tatsächlichen Produktion bzw. der tatsächlichen Preissteigerung ist hingegen das angemessene Taylor-Zinsniveau
höher (niedriger) als der nominale Gleichgewichtszinssatz.
Für Deutschland wird der reale Gleichgewichtszins auf 3 ½% geschätzt.2 Bei
der mittelfristigen Preisnorm wurden die jeweiligen Preisziele der Bundesbank
verwendet. Das Output gap wurde vom ifo Institut als Abweichung des tatsächlichen BIP vom Trend-BIP berechnet. Ferner wurden die von Taylor vorgeschlagenen Koeffizienten von jeweils 0,5 für die Produktionslücke und die Abweichung der tatsächlichen Preissteigerung von der Zielinflationsrate verwendet.
1)
Vgl. J.B. Taylor, Macroeconomic Policy in a World Economy, New York, 1993.
Nach Berechnungen der Deutschen Bundesbank lag in Westdeutschland der gleichgewichtige Realzinssatz - gemessen an den realen Tagesgeldsätzen - im Zeitraum
1972 bis 1998 bei 2,6%, im Zeitraum 1979 bis 1998 bei 3,4%. Vgl. Deutsche Bundesbank, Taylor-Zins und Monetary Conditions Index, in: Monatsberichte der Deutschen
Bundesbank, 4/1999, S. 52. Das ifo Institut setzt den höheren der beiden Werte an.
2)
87
4.2 Haushaltskonsolidierung und Wachstum: keynesianische versus
nicht-keynesianische makroökonomische Effekte
Von einer Haushaltskonsolidierung, also einer Reduzierung des strukturellen
Budgetdefizits werden, entsprechend der keynesianischen Nachfragetheorie, im
allgemeinen dämpfende Wirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage,
die gesamtwirtschaftliche Produktion und die Beschäftigung erwartet. Häufig
wird aber auch auf sogenannte nicht-keynesianische Effekte, d.h. auf positive
Wirkungen der Haushaltskonsolidierung auf Wachstum und Beschäftigung hingewiesen. Diese entstehen, wenn zum einen wegen der dann geringeren Kapitalmarktbeanspruchung durch den Staat und einer geringeren Risikoprämie
die realen Zinsen sinken und wenn zum anderen das Vertrauen bei den Privaten wächst. Eine glaubhafte Konsolidierung kann diesen Vertrauenszuwachs
erzeugen, weil die Privaten dann in Zukunft wieder von „ gesunden“ Staatsfinanzen ausgehen können und keine weiteren Steuererhöhungen befürchten
müssen. All dies führt zu einer größeren Investitions- und Verbrauchsdynamik
bei den Privaten; die private Sparquote sinkt. Da diese nicht-keynesianischen
Effekte einer Defizitreduzierung den keynesianischen Effekten entgegenlaufen,
ist es für die Gesamtwirkung der Konsolidierung entscheidend, wie groß beide
Effekte jeweils sind. Dies hängt von der konkreten Situation ab: Je größer das
Staatsdefizit ist, um so mehr wird dies von der Bevölkerung als „Krise“ empfunden, und umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich bei einem glaubhaften Konsolidierungskurs die positiven Vertrauenseffekte einstellen, insgesamt
also die nicht-keynesianischen Effekte überwiegen (Sutherland, 1997).
In diesem Zusammenhang wird in der Literatur immer wieder auf zwei Fälle
verwiesen, in denen die nicht-keynesianischen Effekte einer Haushaltskonsolidierung besonders ausgeprägt waren, nämlich die Haushaltskonsolidierung in
Dänemark und Irland in den achtziger Jahren (vgl. Giavazzi and Pagano, 1990).
Im Jahr 1982 befand sich Dänemark in einer Wirtschafts- und Finanzkrise. Der
langfristige Kapitalmarktzins betrug über 20% und die Inflationsrate rund 10%.
Die staatliche Schuldenquote hatte sich innerhalb von drei Jahren nahezu verdoppelt (von 27% im Jahr 1979 auf 53% im Jahr 1982). Nachdem die Regierung ein drakonisches Sparprogramm einschließlich Steuererhöhungen beschlossen hatte, ging das strukturelle Staatsdefizit (in % des Bruttoinlandsprodukt) innerhalb von vier Jahren um beinahe 10 Prozentpunkte zurück. Die
Haushaltskonsolidierung wurde begleitet von einer Wechselkursstabilisierung
88
und einer Abschaffung der Indexierung der Löhne. In den Folgejahren beschleunigte sich das Wirtschaftswachstum; die Inflationsrate sank, die Kapitalmarktzinsen gingen zurück und die Investitionsdynamik nahm zu. Das Wirtschaftswachstum beschleunigte sich bis Mitte der achtziger Jahre auf rund
4 ½%; anschließend ging die Wachstumsrate aber wieder zurück.
Irland ging im Jahr 1981 durch eine ähnliche Krise. Das Budgetdefizit stieg auf
über 12% des Bruttoinlandsprodukts und die Schuldenquote auf 77%. Das
Leistungsbilanzdefizit lag bei 10% des Bruttoinlandsprodukts. Die Regierung
beschloss ein ähnliches Sparprogramm wie in Dänemark, aber positive Vertrauenseffekte stellten sich nicht ein; der private Verbrauch ging sogar stark
zurück. Ein zweiter Versuch der Regierung im Jahr 1987 war erfolgreicher. Das
strukturelle Staatsdefizit sank von über 8% im Jahr 1986 auf reichlich 2% im
Jahr 1989 und die Schuldenquote begann zu sinken. Das Wirtschaftswachstum
und die Investitionen erhöhten sich, und die Inflationsrate und die Zinsen gingen
zurück. Ein Unterschied zu der früheren nicht erfolgreichen Konsolidierungsphase war, dass jetzt weniger auf Steuererhöhungen und mehr auf Ausgabekürzungen gesetzt wurde. Wichtig war vor allem auch, dass zuvor die Währung
stark abgewertet worden war, was die Exporte anregte.
Die Literatur zur Bedeutung der nicht-keynesianischen Effekten ist allerdings
widersprüchlich. In einer Panel-Regressionsanalyse über 20 OECD-Länder
wurde ermittelt, dass unter normalen Umständen die keynesianischen Effekte
überwiegen, während in Situationen mit stark angespannten öffentlichen Finanzen die nicht-keynesianischen Effekte größer sind (Perotti, 1999). Eine andere
Studie ermittelte für die EU-Länder größere keynesianische Effekte in Ländern
mit geringen Budgetdefiziten als in Ländern mit hohen Defiziten, was die Ergebnisse der ersten Studie stütze; diese Unterschiede zwischen den Ländern
mit unterschiedlich hohen Budgetdefiziten ließen sich für die OECD-Länder insgesamt aber nicht nachweisen (Areza et al. 1998). Auch andere Studien fanden
keinen Beleg dafür, dass generell bei hohen oder steigenden staatlichen Schuldenquoten die nicht-keynesianischen Effekte größer sind als die keynesianischen Effekte (Alesina and Ardagna, 1998; Giavazzi et al., 1998).
Um dieser Frage weiter nach zu gehen, wurde im Rahmen des vorliegenden
Gutachtens für Deutschland ein vektorautoregressives Modells (VAR) entwickelt um die Effekte von Veränderungen von Staatsausgaben und Steuern auf
das reale Bruttoinlandsprodukt zu testen. Das VAR-Modell hat den Vorteil hat,
dass es „theoriefrei“ ist in dem Sinne, dass nicht wie bei anderen Modellsimulationen keynesianische oder neoklassische Modellannahmen getroffen werden,
89
welche die Ergebnisse vorweg bestimmen. Vielmehr basiert das Modell lediglich auf den statistischen Zusammenhängen zwischen den staatlichen Einnahmen und Ausgaben einerseits und dem realen BIP andererseits, wie sie in der
Vergangenheit vorherrschten. Die Modellergebnisse für Deutschland wurden
dann mit den Ergebnissen einer ähnlichen Studie für die USA verglichen. Es
zeigt sich, dass in beiden Ländern die keynesianischen Effekte vorherrschen,
d.h. eine Erhöhung der Staatsausgaben erhöht kurzfristig das reale BIP, während eine Steuererhöhung das reale BIP senkt. Die positiven Effekte der Ausgabenerhöhung halten aber nicht an: Eine Ausweitung der Staatstätigkeit, d.h.
eine Erhöhung der Staatsausgaben und Steuern im gleichen Umfang, hat nach
dieser Analyse tendenziell negative langfristigen Folgen auf das BIP. Nach diesem Modellansatz dominieren also langfristig die nicht-keynesianischen Effekte,
was im Umkehrschluss bedeutet, dass eine Reduzierung der Staatsquote längerfristig positive Wirkungen auf Wachstum und Beschäftigung hat. Das Modell
und die ausführlichen Ergebnisse sind in Anhang 1 dargestellt.
4.3 Makropolitisches und strukturpolitisches Policy Mix im internationalen Vergleich
Im folgenden werden die makropolitischen und strukturpolitischen Bedingungen
im internationalen Vergleich näher untersucht. Diese werden den wachstumsund beschäftigungspolitischen Erfolgen bzw. Misserfolgen der Länder gegenüber gestellt, um Anhaltspunkte zu finden, wie bedeutsam die Makropolitik und
die strukturpolitischen Bedingungen für Wachstum und Beschäftigung sind.
In Tabelle 4.1 sind makropolitische und strukturpolitische Indikatoren zusammengefasst, anhand derer sich eine – zumindest grobe – Bewertung des Zusammenspiels der verschiedenen Politikbereiche vornehmen lässt. Betrachtet
werden fünf Politikbereiche, nämlich die Finanzpolitik und die Geldpolitik als die
beiden Bereiche der Makropolitik und die Arbeitsmarktpolitik, die staatliche Abgabenpolitik und die Politik der Arbeitslosenunterstützung als die drei Bereiche
der Strukturpolitik. Der Beobachtungszeitraum sind die neunziger Jahre. Die
Bewertungen der einzelnen Politikbereiche werden anhand folgender Indikatoren vorgenommen:
Finanzpolitik: Grundlage für die Bewertung ist das Verhalten der Finanzpolitik
im Konjunkturverlauf, und zwar anhand des Zusammenhangs zwischen dem
konjunkturbereinigten primären staatlichen Budgetsaldo einerseits und der Kon-
90
Tabelle 4.1: Makropolitische und strukturpolitische Bedingungen für Wachstum
und Beschäftigung in den neunziger Jahren im internationalen Vergleich
Makropolitische
Bedingungen
Strukturpolitische Bedingungen
Beschäftigungsanreize
Arbeitsmarktim Abgaben- im TransferFlexibilität1)
system1)
system1)
Finanzpolitik1)
GeldPolitik1)
EWU-Länder
Deutschland
Frankreich
Italien
Niederlande
Österreich
Belgien
Spanien
Irland
Finnland
–
+
–
+/–
+/–
–
–
+/–
+
+
+
+/–
+
+
+
+
+/–
–
2,7 (–)
2,7 (–)
3,6 (–)
2,4 (–)
2,6 (–)
2.8 (–)
3,1 (–)
1,3 (+)
2,1 (–)
68 (–)
62 (–)
66 (–)
64 (–)
64 (–)
72 (–)
52 (+)
66 (+)
68 (–)
74 (–)
65 (–)
26 (+)
84 (–)
64 (–)
73 (–)
57 (+)
55 (+)
81 (–)
Sonstige Länder
Großbritannien
Schweden
USA
Neuseeland
+
+
+
+/–
+
–
+
+/–
1,3 (+)
3,0 (–)
1,1 (+)
0,8 (+)
48 (+)
61 (–)
39 (+)
40 (+)
72 (–)
81 (–)
42 (+)
•
1)
Zu den Bewertungen vgl. Text.
junktur (gemessen an der Produktionslücke, d.h. dem Output Gap) andererseits. Wenn tendenziell (gemessen an der Neigung der Regressionsgeraden in
Abbildung 4.5) sich dieser Budgetsaldo mit günstigerer Konjunktur verbessert,
d.h. der Überschuss steigt oder das Defizit geringer wird und umgekehrt mit
ungünstigerer Konjunktur der Staat eine Verschlechterung seiner Budgetsituation hinnimmt, dann ist die Regressionsgerade positiv geneigt und die Bewertung
der Finanzpolitik fällt positiv aus. In diesem Fall trägt der Staat zur Verstetigung
der Konjunktur bei. Wenn dagegen im Abschwung der Staat sein (strukturelles
primäres) Defizit zurückführt und im Aufschwung ausweitet, dann verstärkt er
die Konjunkturschwankungen. In diesem Fall ist die Regressionsgerade negativ
geneigt und die Bewertung der Finanzpolitik fällt negativ aus.58 Dies ist für die
neunziger Jahre in Deutschland der Fall, ebenso wie für Italien, Belgien und
58
Eventuelle positive Vertrauenseffekte der Haushaltskonsolidierung (nicht-keynesianische
Effekte) sind bei dieser Bewertung nicht berücksichtigt.
91
Abbildung 4.5a
Finanzpolitik und Konjunktur (1)
Zusammenhang zwischen dem strukturellen primären Budgetsaldo (SPB)
und der Produktionslücke
1990 - 1999
Deutschland
USA
3
4
1999
1999
1998
3
2
1998
1997
1997
1
SPB (%)
SPB (%)
2
1996 1994
0
1995
1993
1996
1
1995
0
1992
1994
-1
1993
1990
-1
1991
1990
1991
-2
1992
-2
-2
-1
0
1
2
3
-2
-1
0
Produktionslücke (%)
Frankreich
3
2
Österreich
2
2
1999
1997
1997
1999
1998
1
1998
1
1996
0
1990
-1
1994
1992
1991
SPB (%)
SPB (%)
1
Produktionslücke (%)
0
1991
1993
1992
1995
1990
1996
-1
-2
1993
1995
-3
1994
-2
-3
-2
-1
0
1
2
-1
0
1
Produktionslücke (%)
Niederlande
4
3
Italien
4
8
1999
1996
1997
1997
1998
1999
6
1998
2
1996
1993
1995
4
SPB (%)
SPB (%)
2
Produktionslücke (%)
1994
0
1991
1992
1995
1993
1994
2
1992
0
1991
-2
-2
1990
-4
1990
-4
-2
-1
0
1
2
-4
-3
Produktionslücke (%)
Quelle: Statistisches Bundesamt, OECD; Berechnungen des ifo Institut.
92
-2
-1
0
Produktionslücke (%)
1
2
Abbildung 4.5b
Finanzpolitik und Konjunktur (1)
Zusammenhang zwischen dem strukturellen primären Budgetsaldo (SPB)
und der Produktionslücke
1990 - 1999
Belgien
Großbritannien
8
4
1999
1998
1997
1996
6
1998
2
1999
1995
1997
SPB (%)
SPB (%)
1994
1993
4
0
1991
-2
1992
1990
1995
2
-4
1991
1992
0
1990
1996
1994
1993
-6
-4
-3
-2
-1
0
1
2
3
4
-4
-2
0
Produktionslücke (%)
2
Produktionslücke (%)
Spanien
Irland
4
5
1999
1997
4
1998
1996
SPB (%)
SPB (%)
2
0
1995
-2
1998
1994
1996
1999
1992
1994
1997
1993
3
1995
1992
1991
2
1993
1990
1990
1991
-4
1
-4
-2
0
2
4
6
-4
-2
Produktionslücke (%)
0
2
4
Produktionslücke (%)
Finnland
Schweden
6
10
1998
1999
1999
4
5
1998
2
1994
1995
1993
1996
SPB (%)
SPB (%)
1997
1990
1997
199
1991
1995
1991
0
1996
0
-5
1994
1993
1992
1992
-2
-10
-12
-10
-8
-6
-4
-2
0
2
Produktionslücke (%)
4
-8
-6
-4
-2
0
2
Produktionslücke (%)
Quelle: OECD; Berechnungen des ifo Institut.
93
Spanien.59 Die Finanzpolitik hat in diesen Ländern im Durchschnitt der neunziger Jahre die konjunkturellen Schwankungen tendenziell verstärkt. Der Hauptgrund war, dass sich diese Länder in konjunkturellen Schwächephasen angesichts zuvor hoher Budgetdefizite zu einem Defizitabbau gezwungen sahen.60
Dabei spielte auch die Vorbereitung auf die EWU eine Rolle, denn ohne diesen
Konsolidierungskurs hätten die Länder vermutlich den Beitritt zur Europäischen
Währungsunion nicht geschafft. Positiv fällt die finanzpolitische Bewertung dagegen für die USA, Großbritannien, Schweden und Finnland aus. Diese Länder
wiesen zu Beginn der neunziger Jahre bei schwacher Konjunktur relativ hohe
strukturelle Budgetdefizite auf und bauten diese im Verlauf der neunziger Jahre
bei günstigerer Konjunktur wieder ab. Dies muss aber nicht bedeuten, dass in
diesen Ländern eine bewusste Konjunktur-Stabilisierungspolitik im Sinne einer
diskretionären Feinsteuerung betrieben wurde. Die wichtigste Ursache für den
Konsolidierungskurs waren die zuvor stark gestiegenen Defizite. Die Haushaltskonsolidierung wäre vermutlich auch bei einer schwächeren Konjunkturentwicklung voran getrieben worden. In den USA ergaben sich überdies Mehreinnahmen aufgrund einer Verschiebung der Einkommensverteilung zugunsten
höherer Einkommensbezieher mit überdurchschnittlicher Steuerbelastung. Der
dadurch bedingte Verbesserung der Budgetposition kann ebenfalls nicht als
diskretionäre Finanzpolitik interpretiert werden, auch wenn dadurch – für sich
59
60
94
Im Falle Deutschlands hängt dies allerdings mit der Sondersituation durch die Deutsche Vereinigung Anfang der neunziger Jahre zusammen. Damals entstand wegen der einheitsbedingten Kosten zunächst ein hohes Staatsdefizit. Dieses fiel mit dem einheitsbedingten Konjunkturboom zusammen. In den Folgejahren sahen sich die öffentlichen Haushalte gezwungen, zu konsolidieren, und zwar auch während der konjunkturellen Schwächephasen.
Generell waren in der Vergangenheit Länder mit relativ niedrigen Schulden und ausgeglichenen strukturellen Budgetsalden eher geneigt, in Rezessionen konjunkturbedingte Defizite hin
zunehmen und teilweise auch expansive Maßnahmen zur Konjunkturstabilisierung zu ergreifen. In denjenigen Länder, welche ihre Finanzpolitik dagegen prozyklisch ausrichteten,
kam es zu starken Schwankungen der Steuersätze und zu Effizienzverlusten. Vgl. Marco
Buti, Daniele Franco und Hedwig Ongena (1998), Fiscal discipline and flexibility in EMU: The
implications of the Stability and Growth Pact; in: Oxford Review of Economic Policy, Vol. 14,
No. 3, Autumn; S. 81-97; Marco Buti, Daniele Franco, Hedwig Ongena (1997), Budgetary
Policies during Recessions. Retrospective Application of the "Stability and Growth Pact" to
the Post-War Period, in: Recherches Economiques de Louvain 63 (4), S. 321-366.
gesehen – die Finanzpolitik „konjunkturgerechter“ wurde, in dem sie die Nachfrage dämpfte.61
Eine Zwischenstellung nehmen bei der Beurteilung der Finanzpolitik aus konjunkturpolitischer Sicht von den in Abbildung 4.5 betrachteten Ländern die Niederlande, Österreich, Irland und Neuseeland ein. In diesen Ländern gibt es weder einen klar negativen noch klar positiven Zusammenhang zwischen dem
konjunkturbereinigten primären Budgetsaldo und dem Output Gap.
Die Abbildungen 4.5.c und 4.5.d zeigen ebenfalls das Verhalten der Finanzpolitik im Konjunkturverlauf. Der Indikator für die Konjunktur ist hier allerdings nicht
die Produktionslücke (Output Gap), sondern die Wachstumsrate des realen
Bruttoinlandsprodukts und der Indikator für die Finanzpolitik ist nicht der primäre
strukturelle Budgetsaldo, sondern der gesamte Budgetsaldo (in % des BIP).
Diese Indikatoren lassen sich unmittelbar aus der Statistik entnehmen, im Gegensatz zur Produktionslücke und zum strukturellen Budgetsaldo, deren empirische Ermittlung eine Reihe von Problemen aufwirft und ihre Schätzungen mit
Unsicherheiten behaftet sind. Es zeigt sich, dass in allen Ländern mit Ausnahme von Großbritannien, die Regressionsgerade, von links unten nach rechts
oben ansteigen, d.h. je höher das Wirtschaftswachstum ist, umso geringer ist
das Finanzierungsdefizit des Staates. Der Zusammenhang ist allerdings teilweise nur schwach ausgeprägt, wie sich aus der Streuung der Einzelwerte um die
Regressionsgerade zeigt. Auch ist der Anstiegswinkel der Regressionsgeraden
bei den meisten Ländern (u.a. auch in Deutschland) relativ gering. Das Wirtschaftswachstum musste sich in diesen Ländern in den neunziger Jahren also
relativ stark beschleunigen, um eine Verbesserung der Budgetposition zu erreichen. Der Grund war, dass die zyklische Verbesserung des Budgetsaldos zu
einem erheblichen Teil durch nicht zyklische, d.h. strukturelle Verschlechterungen, kompensiert wurde. Insofern bestätigen diese Ergebnisse die oben vorge-
61
Vgl. J.B. Taylor, Reassessing Discretionary Fiscal Policy, in Journal of Economic Perspectives, Vol. 14, Number 3, Summer 2000, S.21-36 (insbesondere S.34f). Taylor kommt für die
Finanzpolitik der USA zum Schluss, dass in den Jahren, in denen auf den ersten Blick die
diskretionären Veränderungen die Konjunktur verstetigten, dies eher zufällig war. So wurde
beispielsweise der Plan zur Steuersenkung Anfang der achtziger Jahre vor und während des
Wahlkampfes von Reagan entwickelt. Die Steuersenkung fiel dann mit der zweiten Ölpreiskrise zusammen und stabilisierte die Konjunktur, auch wenn diese Steuersenkung nicht als
Programm zur Nachfragestimulierung beabsichtigt war. Über den gesamten Zeitraum der
letzten 40 Jahre findet Taylor keinen Zusammenhang zwischen dem strukturellen Finanzierungssaldo des Bundes und der Konjunktur (gemessen am Output Gap). Eine größere Bedeutung für die Konjunkturstabilisierung in den USA hatten dagegen lt. Taylor die automatischen Stabilisatoren.
95
nommenen Bewertungen der Finanzpolitik, auch wenn angesichts der Schätzrisiken der dabei verwendeten Indikatoren eine gewisse Vorsicht angebracht ist.
96
Abbildung 4.5c
Finanzpolitik und Konjunktur (2)
Zusammenhang zwischen dem Budgetsaldo
und dem Wirtschaftswachstum
1990 - 1999
Deutschland
USA
0
2
1999
1
Budgetsaldo (%)
Budgetsaldo (%)
1998
0
-1
1999
1990
1998
-2
1994
1997
1992
-3
1991
1993
1997
-1
1996
-2
1995
-3
1994
-4
-5
1995
1996
1990
1991
-4
1992
-7
-2
-1
0
1
2
3
4
5
6
-1
0
1
Wirtschaftswachstum (%)
2
3
4
5
Wirtschaftswachstum (%)
Frankreich
Österreich
0
0
1999
1991
-1
1990
Budgetsaldo (%)
-2
Budgetsaldo (%)
1993
-6
1998
1997
1996
-4
1992
1995
1994
-6
1999
1997
-2
1992
1990
1998
-3
1991
1996
-4
1993
1993
-5
-8
1994
1995
-6
-1
0
1
2
3
4
0
1
Wirtschaftswachstum (%)
2
3
4
Wirtschaftswachstum (%)
Niederlande
Italien
1
0
1999
1999
0
-2
-1
1997
1996
-2
-3
1991
1993
1995
-4
1997
1998
Budgetsaldo (%)
Budgetsaldo (%)
1998
-4
-6
1996
1995
-8
1994
1994
1992
1993
1992
1991
-10
-5
1990
1990
-6
-12
0
1
2
3
4
5
-1
0
Wirtschaftswachstum (%)
1
2
3
4
Wirtschaftswachstum (%)
Quelle: Statistisches Bundesamt, OECD; Berechnungen des ifo Institut.
97
Abbildung 4.5d
Finanzpolitik und Konjunktur (2)
Zusammenhang zwischen dem Budgetsaldo
und dem Wirtschaftswachstum
1990 - 1999
Belgien
Großbritannien
0
2
1999
1999
1998
1997
1996
1995
1994
-6
1991
1990
Budgetsaldo (%)
Budgetsaldo (%)
-2
-4
1998
0
1990
-2
-4
1996
1995
-6
1992
1992
-8
1994
1993
1993
-8
-10
-10
-2
-1
0
1
2
3
-2
4
-1
0
1
Spanien
4
3
1998
1999
-2
2
1998
Budgetsaldo (%)
Budgetsaldo (%)
3
Irland
0
1997
1992
1991
-4
1990
1996
-6
1994
1993
1999
1
1997
1996
0
-1
1994
-2
1995
1993
1995
1991
-3
-8
1990
1992
-4
-2
-1
0
1
2
3
4
5
-2
0
2
Wirtschaftswachstum (%)
4
6
8
10
Wirtschaftswachstum (%)
Finnland
Schweden
4
6
1990
1999
1999
2
2
Budgetsaldo (%)
1998
Budgetsaldo (%)
2
Wirtschaftswachstum (%)
Wirtschaftswachstum (%)
0
1991
1997
-2
1996
1995
-4
1990
1994
1992
-6
1998
1991
1997
-2
1996
-6
1992
1995
-10
1994
1993
1993
-8
-14
-8
-6
-4
-2
0
2
4
6
Wirtschaftswachstum (%)
Quelle: OECD; Berechnungen des ifo Institut.
98
1997
1991
8
-4
-2
0
2
Wirtschaftswachstum (%)
4
Geldpolitik: Die konjunkturpolitische Bewertung erfolgt anhand des Zusammenhangs zwischen den realen kurzfristigen Zinssätzen und dem Output Gap
(Abbildung 4.6). Wenn der kurzfristige Realzins mit besserer Konjunktur tendenziell steigt und mit schlechterer Konjunktur sinkt, dann trägt die Geldpolitik
zur Verstetigung der Konjunktur bei. Dies war in den neunziger Jahren in
Deutschland und den meisten anderen hier betrachteten Ländern der Fall.62
62
Während die kurzfristigen Realzinsen in Deutschland für die Rezession 1993 aus rein konjunktureller Sicht „zu hoch“ bewertet wurden, fällt das Urteil hier für den Durchschnitt der
neunziger Jahre für Deutschland positiv aus. Dies liegt daran, dass die realen Geldmarktzinsen regelmäßig im Abschwung gesenkt und im Aufschwung erhöht wurden, wenn auch teilweise mit Verzögerungerungen. Der hier für den internationalen Vergleich des Verhaltens
der Geldpolitik im Konjunkturverlauf verwendete Beurteilungsmaßstab ist also relativ „grob“.
99
100
101
Lediglich in Finnland und in Schweden fällt die Bewertung der Geldpolitik eindeutig negativ aus. In Italien, Irland und Neuseeland verläuft die Regressionsgerade zwischen dem realen Kurzfristzins und dem Output Gap sehr flach, so
dass auch hier die Bewertung nicht positiv ist.
Arbeitsmarktflexibilität: Als Indikator wird hier der Employment Protection Legislation Index der OECD verwendet, und zwar der Durchschnittswert, wie er
sich aus den Einzelindizes für die Regulierungen bei der regulären Beschäftigung, bei der temporären Beschäftigung und bei Entlassungen ergibt (vgl. Tabelle 4.2). Nach diesem Indikator können von den betrachteten Ländern lediglich in den USA, in Großbritannien, Neuseeland und Irland die Arbeitsmärkte im
Durchschnitt der neunziger Jahre als flexibel bezeichnet werden. Bei einer Bewertungsskala zwischen 0 für totale Flexibilität und 6 für totale Regulierung weisen diese Länder Werte von unter 1,5 auf. Von den EWU-Ländern hat demnach
Finnland noch den flexibelsten Arbeitsmarkt (Durchschnittswert 2,1), während in
Italien, Portugal (Werte von jeweils 3,6) und Spanien (3,1) die Arbeitsmärkte am
stärksten reguliert sind. Etwas weniger, aber doch relativ stark sind die Regulierungen in Belgien, Deutschland, Frankreich und Österreich (Werte zwischen 2,8
und 2,7).
Beschäftigungsanreize im Abgabensystem: Als Indikator wird hier die vom
ifo Institut berechnete Grenzabgabenquote des Faktors Arbeit verwendet. Die
Grenzabgabenbelastung ist hier definiert als zusätzliche Abgabenlast, welche
auf der Wertschöpfung liegt, die mit einem zusätzlichen Bruttoarbeitseinkommen von 100 Währungseinheiten erstellt wird; berücksichtigt sind dabei die
Lohnsteuer, die gesamten Sozialabgaben (Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge) und die allgemeine Umsatzsteuer (Mehrwertsteuer) mit dem Regelsatz.
Mit dieser umfassenden Definition der Grenzbelastung ist sichergestellt, dass
die Wirkungen auf die Leistungsbereitschaft und auf die Neigung, in die Schattenwirtschaft abzuwandern, in dem Belastungsindikator berücksichtigt werden.
Berechnet wird die Grenzbelastung für einen alleinstehenden Industriearbeiter
mit Durchschnittsverdienst. Am niedrigsten ist die Grenzbelastung des Faktors
Arbeit demnach in den USA und in Neuseeland (knapp unter bzw. rund 40%. In
Großbritannien ist die Grenzbelastung noch knapp unter und in Spanien nur
wenig über 50% (vgl. Tabelle 4.3). Diese Länder erhalten in Tabelle 4.1 beim
Belastungsindikator eine positive Bewertung (+). In allen anderen der betrachteten Länder liegt die Grenzbelastung über 60%; Am höchsten ist sie in Belgien
mit rund 72%. Deutschland hat gegenwärtig mit rund 68% die zweithöchste
102
Tabelle 4.2: Indikatoren für Regulierung des Arbeitsmarktes1)
Regulierung bei
Durchschnitt
regulärer
Beschäftigung
temporärer
Beschäftigung
Entlassungen
Werte
Rangordnung
EWU-Länder
Deutschland
Frankreich
Italien
Niederlande
Österreich
Belgien
Spanien
Portugal
Irland
Finnland
2,8
2,3
2,8
3,1
2,6
1,5
2,6
4,3
1,6
2.1
2,3
3,6
3,8
1,2
1,8
2,8
3,5
3,0
0,3
1,9
3,1
2,1
4,1
2,8
3,3
4,1
3,1
3,6
2,1
2,4
2,7
2,7
3,6
2,4
2,6
2,8
3,1
3,6
1,3
2,1
(8)
(8)
(13)
(6)
(7)
(10)
(12)
(13)
(3)
(5)
Sonstige Länder
Großbritannien
Schweden
USA
Neuseeland
0,8
2,8
0,2
1,7
0,3
1,6
0,3
0,4
2,9
4,5
2,8
0,4
1,3
3,0
1,1
0,8
(3)
(11)
(2)
(1)
1)
Je höher die Werte sind, umso stärker sind die Regulierungen. Die Werte können zwischen 0
(totale Flexibilität) und 6 (totale Regulierung) schwanken.
Quelle: OECD, Berechnungen des ifo Instituts
Grenzbelastung. Nach der Steuerreform, wie sie vor kurzem im Bundesrat verabschiedet wurde, wird die Grenzbelastung in Deutschland bis zum Jahr 2005
auf rund 65% sinken; dabei sind allerdings die Effekte der kalten Progression,
die aufgrund steigender Nominaleinkommen die Grenzbelastung in den nächsten Jahren tendenziell erhöhen, nicht berücksichtigt. Auch wenn die jüngste
Steuerreform in Deutschland die Grenzbelastung des Faktors Arbeit senkt,
bleibt diese dennoch absolut gesehen und im internationalen Vergleich relativ
hoch.
Beschäftigungsanreize bei der Arbeitslosenunterstützung: Als Indikator
wird hier die Relation zwischen der Höhe der Arbeitslosentransfers (nach Abzug
der Steuern) und dem letzten Nettolohn verwendet (unemployment benefit
replacement rate). In einer relativ großzügigen Arbeitslosenunterstützung werden negative Arbeitsanreize gesehen und in einer relativ niedrigen Unterstützung positive Arbeitsanreize. Da die Arbeitslosenunterstützung im allgemeinen
103
104
mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit sinkt, wird hier ein Durchschnittswert zwischen dem ersten und dem sechzigsten Monat der Arbeitslosigkeit herangezogen. Es handelt sich dabei jeweils um Durchschnitte für drei Familientypen (Alleinstehende, Verheiratete ohne Kinder, Verheiratete mit zwei Kindern). Im allgemeinen sind die Lohnersatzleistungsquoten für die gering verdienenden Arbeitnehmer überdurchschnittlich hoch. In Tabelle 4.4 sind die Lohnersatzleistungsquoten für unterdurchschnittliche (2/3 des Durchschnittslohns)
und durchschnittliche Lohneinkommen sowie für den Durchschnitt aus beiden
ausgewiesen. Unsere Bewertung bezüglich der Arbeitsanreize fällt dann positiv
aus, wenn die durchschnittliche Lohnersatzleistungsquote niedriger als 60% ist.
Tabelle 4.4: Netto-Lohnersatzleistungen für Arbeitslose, 19971) in %
Für Arbeitnehmer mit
Durchschnitt
2/3 des Durchschnittslohns
77
82
88
71
61
26
90
65
45
61
Durchschnittslohn
71
63
74
58
48
26
77
62
40
53
66
58
62
Großbritannien
Dänemark
Schweden
Durchschnitt
EU-Länder
83
92
87
60
69
75
72
81
81
69
58
64
USA
43
41
42
Deutschland
Belgien
Finnland
Frankreich
Irland
Italien
Niederlande
Österreich
Portugal
Spanien
Durchschnitt
EWU-Länder
74
73
81
65
55
26
84
64
43
57
1)
Durchschnitt der Netto-Lohnersatzleistungen für Arbeitslose (net replacement rates) als Quotient zwischen der Netto-Arbeitslosenunterstützung und dem letzten Netto-Lohn (in %) für drei
Familientypen (Alleinlebende, Verheiratete ohne Kinder, Verheiratete mit zwei Kindern) und
Durchschnittswerte zwischen dem ersten Monat der Arbeitslosigkeit und dem sechzigsten Monat der Arbeitslosigkeit.
Quelle: OECD, Berechnungen des ifo Instituts
105
Dies ist von den in Tabelle 4.1 ausgewiesenen Ländern neben den USA (42%)
lediglich noch in Italien (26%), Irland (55%) und Spanien (57%) der Fall. Am
höchsten sind die Lohnersatzleistungen in den Niederlanden, Finnland und
Schweden (mit jeweils über 80%), gefolgt von Deutschland, Belgien und Großbritannien (mit jeweils über 70%). Diese Länder erhalten zusammen mit Frankreich und Österreich (jeweils über 60%) in Tabelle 4.1. eine negative Bewertung
bezüglich der Arbeitsanreize im System der Arbeitslosenunterstützung.
Fasst man nun die makropolitischen und die strukturpolitischen Einflussfaktoren
zusammen, dann zeigt sich, dass diese in den neunziger Jahren insbesondere
in den USA sehr günstig waren. Insofern überrascht es nicht, dass die USA in
den letzten 10 Jahren eine sehr günstige Wachstums und Beschäftigungsbilanz
ausweisen (vgl. Tabelle 4.5). Das durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum lag im Zeitraum 1990 bis 1999 mit 3,1% deutlich über dem Durchschnitt in
Deutschland und im gesamten EWU-Raum (jeweils 1,8%). Die Zahl der Beschäftigten nahm in den USA im letzten Jahrzehnt deutlich zu (um durchschnittlich 1,8%), während sie in Deutschland zurückging (um durchschnittlich 0,2%)
und im gesamten EWU-Raum nur wenig stieg (um durchschnittlich 0,2%). Innerhalb der EWU-Länder verzeichnete Irland die höchste Wachstums- und Beschäftigungsdynamik; mit deutlichem Abstand folgen die Niederlande, Portugal,
Spanien und Österreich. Das geringste Wachstum wies Italien auf und den
stärksten Rückgang bei der Beschäftigung erlebte Finnland; dies ist auf den
Einbruch in der ersten Hälfte der neunziger Jahre zurückzuführen. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre stieg die Beschäftigung in Finnland wieder stark
an. Großbritannien schneidet bei der Bewertung der Makropolitik und der
Strukturpolitik ebenfalls noch relativ günstig ab, wenn auch nicht so gut wie die
USA. In Großbritannien war die Wachstums- und Arbeitsmarktbilanz deutlich
weniger günstig als in den USA. In den anderen Ländern mit günstigen strukturpolitischen Bedingungen wie Neuseeland und partiell Irland und Spanien war
die Makropolitik weniger günstig. Dennoch erzielte vor allem Irland (und in den
letzten Jahren auch Spanien) ein überdurchschnittlich hohes Wirtschafts- und
Beschäftigungswachstum. Bemerkenswert ist aber, dass in Neuseeland die
Zahl der Beschäftigen sogar stärker stieg als in den USA (durchschnittlich um
1,9), obwohl das Wachstum niedriger war. 63
63
106
Vgl. dazu auch W. Leibfritz, E. Langmantel, W. Meister, B. Schaden, U. Scholten, M. Werding, Evaluierung des Steuerreformvorschlags der CDU/CSU vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit fundamentalen Steuerreformen im Ausland, ifo Studien zur Finanzpolitik Band 70,
München 2000.
107
5.
Anforderungen an die Finanzpolitik und die übrigen Politikbereiche
unter dem Regime des Stabilitäts- und Wachstumspakts
5.1 Bisherige Erfahrungen mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt in
den Ländern der EWU64
Mit der Einführung des Euro ist die geldpolitische Kompetenz von den nationalen Zentralbanken auf die Europäische Zentralbank (EZB) übergegangen, während die Fiskalpolitik weiterhin in der dezentralen Verantwortung der Einzelstaaten liegt. Für die Fiskalpolitik haben sich die Euro-Länder jedoch im Rahmen des „Stabilitäts- und Wachstumspakts“ (Juni 1997) zu Einschränkungen
ihres Handlungsspielraums verpflichtet, die durch einen supranationalen Kontroll- und Interventionsmechanismus durchgesetzt werden sollen. Damit soll
erreicht werden, dass die Geldpolitik der EZB unterstützt oder jedenfalls nicht
konterkariert wird, und dass die Fiskalpolitik ihre durch hohe Staatsschulden
eingeschränkte Handlungsfähigkeit wiedergewinnt. Der vereinbarte Mechanismus ruht auf drei Säulen, nämlich einem mittelfristigen Frühwarnsystem (jährliche Vorlage eines „Stabilitätsprogramms“), einer Überwachung der Stabilitätsprogramme und einem Verfahren bei „übermäßigen Haushaltsdefiziten“. (vgl.
Kasten 2). Für die entsprechende Durchführung sind die Europäische Kommission, das Wirtschafts- und Finanzkomitee und der Rat der Wirtschafts- und Finanzminister (ECOFIN-Rat) zuständig. Die Europäische Zentralbank spielt als
unabhängige kritische Instanz bei der Beurteilung der vorgelegten Stabilitätsprogramme und der tatsächlichen Budgetentwicklungen ebenfalls eine wichtige
Rolle.
Die bisherigen Erfahrungen mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt sind positiv. Die Budgetdefizite wurden nicht nur in den Planungen (sozusagen „auf dem
Papier“), sondern tatsächlich reduziert, und zwar in den meisten Fällen durchaus im beabsichtigten Maße. Tatsächlich wurde mit dem Maastrichter Vertrag
zur Einführung der Euro-Währung und die festgesetzte 3%-Defizitobergrenze
als Bedingung für die Teilnahme an der Währungseinheit ein in der europäischen Nachkriegsgeschichte beispielloser Wettbewerb unter den EU-Ländern
bei der Senkung der Defizitquoten durchgeführt. An diesem Wettbewerb nahmen im Prinzip alle EU-Länder teil. So unternahmen hochverschuldete Staaten
wie Italien, Belgien, aber auch Griechenland und Schweden besonders große
108
Konsolidierungsbemühungen im Vergleich zu den weniger verschuldeten Ländern. Sowohl die Höhe der Budgetkonsolidierung als auch die Zeitspanne, in
der die erste bedeutende Konsolidierung durchzuführen war (bis 1997), waren
also vorgegeben durch die Maastrichter Verträge und den vorhandenen Schuldenstand in den EU-Staaten. Die Reduzierung der tatsächlichen (nicht aber der
primären) Defizitquoten wurde vor allem in den hoch verschuldeten Ländern
auch durch die Senkung der Zinssätze erleichtert. Diese waren in diesen Ländern wegen höherer Inflationserwartungen und einer höheren Risikoprämie zuvor besonders hoch und näherten sich mit der Schaffung der EWU den niedrigeren Werten in den anderen Ländern an.
Ende 1998 haben die Euro-Länder ihre ersten und Ende 1999 ihre zweiten Stabilitätsprogramme vorgelegt. Die jüngsten Stabilitäts- und Konvergenzprogramme der EU-Länder sind in Tabelle 5.1 wiedergegeben. Dabei hatte in zwei
Fällen , nämlich Österreich und Portugal, die Kommission für 2001 höhere Defizite prognostiziert als in den Programmen vorgesehen waren. Für 1999 und
2000 sind die Defizite dort aber in Übereinstimmung mit der Planung. Die Kritik
der Kommission im vergangenen Frühjahr an Österreich führte zu einer sofortigen Reaktion des Landes, das zusätzliche fiskalische Anpassungsleistungen
versprach. Im Frühjahr 1999 hatte Italien um die Erlaubnis gebeten, das für
dasselbe Jahr vorgesehene Defizit (2%) um 0,4 Prozentpunkte überschreiten
zu dürfen. Die Erlaubnis wurde erteilt (vielfach beklagt als „erster Sündenfall“ im
Stabilitäts- und Wachstumspakt) – wurde aber schließlich gar nicht benötigt,
denn das Haushaltsdefizit Italiens in 1999 betrug am Ende 1,9%. Dies zeigt,
dass einen erheblichen „peer pressure“ gibt, die angekündigten Budgetziele zu
erreichen. Einige Länder (Finnland, Irland, Luxemburg, Niederlande) weisen
inzwischen deutliche Budgetüberschüsse auf. In keinem Land ist das Budgetdefizit nahe am vereinbarten Grenzwert von 3%, so dass Erfahrungen mit dem
„Verfahren bei übermäßigem Defizit“ noch nicht gemacht wurden. In allen Ländern wird voraussichtlich die Staatsschuldenquote im Jahre 2001 niedriger sein
als 1998. Allerdings liegen Italien und Belgien noch weit oberhalb des Grenzwerts von 60%. Während die Überschussländer ihre Staatsschuld erheblich
reduzieren konnten, ist der diesbezügliche Fortschritt bei den Defizitländern
langsamer. Aber auch in diesen Ländern konnte die Schuldenquote gesenkt
werden.
64
Vgl. zum folgenden auch R. Osterkamp, Budgetüberwachung im Euro-Gebiet: Greift der
Stabilitäts- und Wachstumspakt?, in ifo Schnelldienst 21/2000.
109
Auf der Basis dieser Fakten ist man geneigt, die Wirksamkeit des Stabilitätsund Wachstumspakts und seines Überwachungsmechanismus günstig zu beurteilen. Allerdings muss die Tatsache berücksichtigt werden, dass die Konjunkturentwicklung in Europa im Jahr 200 sehr günstig war. Die öffentlichen
Haushalte profitieren ferner von den in letzter Zeit relativ niedrigen Kapitalmarktzinsen, wobei die niedrigen Zinsen teilweise auch auf die geringeren
staatlichen Budgetdefizite zurückzuführen sind.
Der Vergleich der staatlichen Finanzierungssalden in den verschiedenen Abgrenzungen bzw. Definitionen zeigt, dass es in den Ländern der EWU in den
letzten Jahren zu einer echten Haushaltskonsolidierung gekommen ist. Nicht
nur ging das tatsächliche Budgetdefizit deutlich zurück, sondern auch das
strukturelle Defizit und auch der primäre strukturelle Budgetsaldo (struktureller
Budgetsaldo abzüglich Zinsausgaben) verbesserte sich deutlich (vgl. Tabelle
5.2 und Abbildung 5.1). In einigen Ländern wie in Finnland, Irland und den Niederlanden ist die Haushaltskonsolidierung allerdings weit stärker vorangeschritten als in den anderen Ländern.
Auf den ersten Blick ist damit inzwischen in den meisten Ländern der EWU ein
Spielraum für ein Wirkenlassen der automatischen Stabilisatoren in einem zukünftigen Konjunkturabschwung wieder vorhanden. Dies ist ein wichtiger Unterschied zu der Situation vor Beginn der letzten Rezession 1993.
110
Kasten 2: Stabilitäts- und Wachstumspakt
Die EU-Mitgliedstaaten haben im Sommer 1997 mit dem Stabilitäts- und
Wachstumspakt die Vorschriften des Vertrags von Maastricht für die zukünftige
Finanzpolitik konkretisiert.65 Jedes Euro-Mitgliedsland legt jährlich ein „Stabilitätsprogramm“ und jedes Nicht-Euro EU-Mitglied ein „Konvergenz-Programm“
vor. Die Stabilitäts- bzw. Konvergenzprogramme enthalten Angaben zur voraussichtlichen mittelfristigen Entwicklung der Gesamtwirtschaft und der wichtigsten finanzpolitischen Kennziffern (insbesondere Staatsdefizit und Schuldenstand) und zu den wesentlichen finanzpolitischen Maßnahmen. Bei diesen
Programmen tragen die Länder der im ECOFIN-Rat im Oktober 1998 gemeinsam getroffenen Vereinbarung Rechnung, dass die mittelfristigen Haushaltsziele („nahezu ausgeglichener Haushalt oder Haushaltsüberschuss“) spätestens im Jahre 2002 erreicht sein müssen. Die Programme werden durch die
Europäische Kommission bewertet und durch den Wirtschafts- und Finanzausschuss der EU bzw. den ECOFIN-Rat geprüft. Wenn sie den Vorschriften des
Stabilitäts- und Wachstumspakts nicht entsprechen, kann der ECOFIN-Rat
Nachbesserungen fordern. Weicht die aktuelle Entwicklung des öffentlichen
Gesamthaushalts in einem Mitgliedsland von den Zielen des Stabilitäts- bzw.
Konvergenzprogramms ab, dann kann der ECOFIN-Rat das betreffende Land
auffordern, zusätzliche Maßnahmen zur Korrektur zu ergreifen. Falls die Defizitobergrenze von 3% des BIP überschritten wird und der ECOFIN-Rat nach
den Bestimmungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ein übermäßiges
Defizit feststellt, verhängt er innerhalb von 10 Monaten Sanktionen, wenn keine
wirksamen Maßnahmen zum Defizitabbau ergriffen werden. Die Sanktionen
bestehen in einer zinslosen Einlage bei der Europäischen Zentralbank in Höhe
von 0,2% des BSP (feste Komponente) + einer variablen Komponente von
1/10 der Differenz zwischen der faktischen Defizitquote und dem Referenzwert
(3%). Ein Betrag in Höhe von 0,5% des BSP ist die Obergrenze für die Einlage.
Die Einlage kann in eine Strafe (d.h. keine Rückzahlung) umgewandelt werden,
wenn das übermäßige Defizit nicht innerhalb von zwei Jahren beseitigt wird.
65
Vgl. dazu auch den Jahreswirtschaftsbericht 2000 der Bundesregierung 2. 24f. und den Finanzbericht 2001 des Bundesministeriums der Finanzen S. 187f.
111
Tabelle 5.1: Budgetziele in den Stabilitäts- und Konvergenzprogrammen
der EU-Länder – in % des Bruttoinlandsprodukts
1998–99
Programm
1999–2000
Programm
20002
2002
2003
Stabilitätsprogramm
Belgien
Deutschlanda)
Finnland
Frankreich
Irland
Italien
Luxemburg
Niederlande
Österreich
Portugal
Spanien
– 0,3
– 1,0
2,3
– 0,8
1,61)
– 1,01)
1,7
– 1,1
– 1,4
– 0,8
0,1
0,0
– 1,0
4,6
– 0,7
2,51)
– 1,01)
2,9
– 1,1
– 1,4
– 0,7
0,1
0,2
– 0,5
4,7
– 0,3
n.a.
– 0,1
3,1
n.a.
– 1,3
– 0,3
0,2
Konvergenzprogramm
Dänemark
Griechenland
Großbritannien
Schweden
2,61)
– 0,81)
– 0,1
2,51)
2,3
0,2
– 0,1
2,0
2,5
n.a.
– 0,4
n.a.
1)
2001;
a)
Das im Oktober 2000 aktualisierte Stabilitätsprogramm der Bundesregierung sieht für
das Jahr 2004 einen Budgetausgleich vor.
Quelle: Europäische Kommission, Bundesministerium der Finanzen.
112
113
114
5.2 Zukünftige Anforderungen an die Makropolitik und die Strukturpolitik
Da für die Mitgliedsländer der Europäischen Währungsunion die nationale
Wechselkurspolitik und die nationale Geldpolitik nicht mehr zur Konjunkturstabilisierung zur Verfügung stehen, stellt sich die Frage, ob und wie in Zukunft eine
makroökonomische Stabilisierung zu erreichen ist und welche Möglichkeiten die
EWU-Länder haben, die teilweise noch hohe Arbeitslosigkeit zu senken.
Geldpolitik
Wirkungen auf die Konjunktur
Der Wirkungsmechanismus der Geldpolitik auf die Konjunktur lässt sich schematisch anhand von Abbildung 5.2 darstellen.66 Geht man von der geldpolitischen Regel aus, dass die EZB immer dann die Zinsen anhebt, wenn die Inflationsrate zunimmt, und zwar so stark, dass der Realzins steigt und unterstellt
man ferner, dass bei höherem Realzins die reale gesamtwirtschaftliche Nachfrage und das reale BIP sinken,67 dann ergibt sich eine negativ geneigte gesamtwirtschaftliche Nachfragekurve GN. Dies besagt, dass bei steigender Inflationsrate die EZB die Zinsen erhöht und dies in der Folge die gesamtwirtschaftliche Nachfrage senkt, d.h. die Konjunktur dämpft. Umgekehrt senkt die EZB die
Zinsen, wenn die Inflationsrate sinkt, was dann die Konjunktur anregt. Geht
man ferner davon aus, dass die Inflationsrate (mit zeitlicher Verzögerung)
steigt, wenn das tatsächliche reale BIP über dem Produktionspotential (dem
BIP bei Normalauslastung) liegt und die Inflationsrate sinkt, wenn es darunter
ist,68 und unterstellt man ferner adaptive Inflationserwartungen, dann kann dies
durch eine horizontal verlaufende Kurve für die „Inflationsanpassung“ IA dargestellt werden. Der Schnittpunkt zwischen den beiden Kurven GN und IA bestimmt das reale BIP und die Inflationsrate. Die durchgezogenen Linien GN und
IA schneiden sich bei dem realen BIP, das dem Produktionspotential entspricht
und der Inflationsrate, welche der Zielrate der EZB entspricht. In diesem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht wird die Inflationsrate weder fallen noch
steigen. Für die EZB ergibt sich hier kein Handlungsbedarf, d.h. die Geldpolitik
66
Vgl. dazu J.B.Taylor, a.a.O.
Die Senkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage bei steigendem Realzins ist analog zur
IS-Kurve im traditionellen keynesianischen Modell.
68
Dies entspricht der Phillipskurve bei Berücksichtigung adaptiver Preiserwartungen (expectation augmented Phillips curve), d.h. der langfristigen Phillipskurve, wie sie in Kapitel 4 beschrieben wurde.
67
115
ist (und bleibt) konjunkturneutral. Die gestrichelten Nachfragekurven in Abbildung 5.2 stellen dagegen gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte dar, bei denen die Geldpolitik reagiert, um die Inflationsrate auf der Zielrate zu halten bzw.
falls es schon zu einer Abweichung gekommen ist, sie wieder auf die Zielrate zu
bringen. Bei der rechts oben liegenden Nachfragekurve ist die Nachfrage über
das Potentialniveau der Produktion hinaus gestiegen, sei es aufgrund einer
kräftigen Erhöhung der Inlandsnachfrage oder der Exportnachfrage. Deshalb
droht hier aufgrund der Überauslastung der Kapazitäten ein inflationärer Druck,
der dann die IA-Kurve nach oben schieben würde. Die EZB wird auf die steigende Inflationsrate oder – vorbeugend – auf den drohenden Anstieg der Inflationsrate mit Zinssteigerungen reagieren, was die Nachfragekurve wieder in das
Gleichgewicht bringt. Umgekehrt bezeichnet die rechts unten liegende Nachfragekurve eine Situation bei Unterauslastung der Kapazitäten, d.h. eine Lücke
(output gap) zwischen potentieller und tatsächlicher Produktion (und Beschäftigung). Die Inflationsrate droht unter die Zielinflationsrate zu fallen. In diesem
Fall wird – entsprechend der geldpolitischen Regel – die EZB die Zinsen senken und das BIP wird wieder auf seinen Potentialwert steigen.
Dieses Verhalten der Geldpolitik ergibt sich im Prinzip unabhängig davon, ob
die Notenbank eine Strategie mit direktem Inflationsziel (Inflation-targeting) oder
- wie die Bundesbank früher - eine Geldmengensteuerung oder – wie die EZB –
eine Zweisäulenstrategie mit einem Inflationsziel und einem Referenzwert für
die Geldpolitik verfolgt. So wird bei der Festlegung des Referenzwerts für die
Geldmenge das Produktionspotential (bzw. seine Wachstumsrate) sowie die
Zielinflationsrate zugrunde gelegt. Die Notenbank wird daher bei konjunkturellen Schwankungen, die zu Abweichungen des Geldmengenwachstums vom
Referenzwert (bzw. der tatsächlichen Inflationsrate von der Zielinflationsrate)
führen, die Zinsen entsprechend verändern, um diese Abweichungen zu verhindern. Bei einer Konjunkturüberhitzung wird die Notenbank also die Zinsen
erhöhen, und bei einer schwachen Konjunktur wird sie die Zinsen senken, weil
ansonsten das Geldmengenwachstum und die Inflationsrate größer bzw. kleiner
sind als geplant.
Würde dagegen die EZB eine Wechselkurspolitik betreiben und dabei zur Stützung des Eurokurses die Zinsen stärker anheben als dies mit Blick auf das Inflationsziel notwendig ist, dann würde dies die GN-Kurve nach links verschieben
und das reale BIP würde unter das Produktionspotential fallen.
116
117
Besonderheiten in der EWU
Die Geldpolitik der EZB kann sich naturgemäß nur am Durchschnitt der Euroländer orientieren und nicht an der Situation in einzelnen Mitgliedsländern. Bei
symmetrischen Schocks, also solchen, welche den gesamten EWU- Raum
treffen, wird also bei der Anwendung der beschriebenen geldpolitischen Regel,
die Konjunktur in den einzelnen Mitgliedsländern mit Hilfe der Geldpolitik stabilisiert werden. Da große Länder, wie Deutschland, die Konjunktur in der EWU
stark beeinflussen, ist bei ihnen die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Konjunktur zu
der des Gesamtraums synchron verläuft (symmetrische Schocks)und es zu einer ihrer Konjunkturentwicklung angemessenen Reaktion der Geldpolitik
kommt, relativ groß. In Deutschland veränderte sich in den neunziger Jahren
das Wirtschaftswachstum ziemlich parallel zum Durchschnitt der EWU, auch
wenn das Wachstumsniveau in den letzten Jahren etwas niedriger lag (Abbildung 5.3 und Tabelle 5.3). Bei einem ausgeprägten Konjunkturabschwung in
Deutschland wird die EZB die Zinsen also senken, weil sich gleichzeitig auch im
EWU-Durchschnitt die Konjunktur abschwächt und dadurch die EWUInflationsrate unter die Zielinflationsrate und das EWU-Geldmengenwachstum
unter den Referenzwert sinken. Bei einem Aufschwung in Deutschland und im
EWU-Durchschnitt wird dagegen die EZB die Zinsen entsprechend anheben,
um ein Überschießen der EWU- Inflationsrate über die Zielinflationsrate und
des EWU- Geldmengenwachstums über den Referenzwert zu verhindern. Bei
normal ausgelasteten Kapazitäten in der EWU (EWU-Output Gap gleich Null)
und bei Erreichen des EWU-Inflationsziels, sind dagegen – entsprechend der
oben skizzierten geldpolitischen Regel – die monetären Bedingungen im
Durchschnitt der EWU und auch in Deutschland. Voraussetzung für diese – aus
der Sicht der Konjunkturstabilisierung in Deutschland – günstige geldpolitische
Konstellation ist aber, wie erwähnt, eine weitgehend parallele Entwicklung von
Konjunktur und Preisen zwischen Deutschland und dem Durchschnitt der EWU
und ein Verhalten der EZB entsprechend der oben skizzierten geldpolitischen
Regel. Letzteres setzt voraus, dass die EZB bei der Bewertung der Preisstabilität ausschließlich auf den innerhalb des Eurogebiets entstehenden Inflationsdruck abstellt, temporäre externe Preisschocks, wie sie derzeit durch die Ölpreisentwicklung entstehen, also nicht zum Anlass für Zinsanhebungen nimmt,
jedenfalls, solange diese nicht die Inflationserwartungen erhöhen.
Kleinere Mitgliedsländer der EWU sind zwar ebenfalls von der Gesamtkonjunktur im EWU-Raum betroffen, doch beeinflussen sie den Durchschnitt der
EWU weniger. Deshalb ist bei diesen Ländern, die Wahrscheinlichkeit für eine
118
im Vergleich zur Konjunktur der EWU unterschiedliche Entwicklung (asymmetrische Schocks) größer. Die Geldpolitik der EZB bzw. die monetären Rahmenbedingungen in der EWU sind dann für diese Länder suboptimal.
So sind gegenwärtig die monetären Rahmenbedingungen für den Durchschnitt
der EWU und auch für Deutschland angemessen.69 Für einige kleinere Mitgliedsländer, die sich gegenwärtig in einem ausgeprägten Konjunkturboom befinden, insbesondere Irland, aber auch Finnland, dürften sie aber zu expansiv
sein.
Zur zukünftigen Bestimmung des Referenzwerts des Geldmengenwachstums
Wie oben erwähnt verfolgt die EZB eine Zwei-Säulen-Strategie, die sich erstens
auf die Geldmenge und zweitens auf ein Indikatorbündel zur Abschätzung der
künftigen Inflation stützt. Bei der künftigen Festlegung der angestrebten Ausweitung der Geldmenge sollte aber immer wieder geprüft werden, ob die bisherigen Annahmen über die Entwicklung der Bestimmungsgründe, nämlich
Wachstum des Produktionspotentials, Veränderung der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes und Inflationsziel noch gültig sind.
Beim Produktionspotential geht die EZB derzeit von einer jährlichen Zuwachsrate zwischen 2 und 2 ½% aus. Wenn der jetzt in Gang gekommene Konjunkturaufschwung ohne inflationäre Spannungen verläuft und die Investitionsdynamik anhält sowie überdies Produktivitätsgewinne aufgrund der sogenannten
New Economy (d.h. den positiven Effekten aufgrund der Aktivitäten im Zusammenhang mit Telekommunikation und Internet) erzielt werden, dann könnte das
Potentialwachstum in der EWU in den nächsten Jahren höher liegen als in den
neunziger Jahren. Auch die in einigen Ländern durchgeführten oder in Angriff
genommenen Steuerreformen könnten zu einem höheren Potentialwachstum
beitragen. Um ein höheres Wirtschaftswachstum zu realisieren, muss dann allerdings das Arbeitsangebot in den Ländern der EWU entsprechend flexibel
sein, so dass die zunehmende Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften
auch befriedigt werden kann.
Das Produktionspotential im EWU-Raum könnte auch durch den Konvergenzprozess zwischen den Mitgliedsländern positiv beeinflusst werden. So sind in
einigen Ländern, insbesondere in Irland, Spanien und Italien im Zuge der Vorbereitung und Schaffung der EWU nicht nur die Nominalzinsen deutlich gesun69
Vgl. das Herbstgutachten 2000 der Forschungsinstitute in: ifo Wirtschaftskonjunktur 10/2000.
Der Zinssatz für Hauptrefinanzierungsgeschäfte, der am 9. April 1999 von 3% auf 2,5%
gesenkt worden war, wurde am 5. November 1999 von 2,5% auf 3% erhöht und dann weiter
am 4. Februar 2000 auf 3,25%, am 17. März auf 3,5%, am 28. April auf 3,75%, am 9. Juni
auf 4,25% und am 7.Oktober auf 4,75%.
119
ken – dies war angesichts der sinkenden Inflationserwartungen nicht ungewöhnlich – sondern auch die Realzinsen (vgl. Abbildung 5.3). Niedrigere Realzinsen erhöhen – für sich gesehen – die Investitions- und Wachstumsdynamik.
Unklar ist allerdings, ob dies das mittelfristige Wachstum im Durchschnitt der
EWU erhöht oder ob es lediglich zu einer Verlagerung der Wachstumsdynamik
zugunsten dieser Länder und zulasten anderer EWU-Länder führt; im letzteren
Fall wäre Deutschland negativ betroffen, weil sich die aufholenden Länder jetzt
im Vergleich zu Deutschland besser stellen als früher.
Der Konvergenzprozess in der EWU bewirkt auch eine Angleichung der regionalen Preisniveaus, was für die Übergangszeit in den aufholenden Ländern
überdurchschnittlich hohe Inflationsraten impliziert. Bei handelbaren Gütern
wird die Konvergenz der Preisniveaus durch die größere Preistransparenz auf
den Märkten in der EWU gefördert, bei nicht handelbaren Dienstleistungen (z.B.
Wohnungsvermietung) kann es ebenfalls zu einer Angleichung der Preisniveaus kommen, und zwar dann, wenn die Dienstleistungspreise aufgrund von
Lohnsteigerungen, die sich an den übrigen Sektoren orientieren, stärker steigen
(Balassa-Samuelson-Effekt). Dadurch steigen die Preise insgesamt in den aufholenden Ländern stärker als in den Ländern mit höherem Lebensstandard.
Abbildung: 5.4
Wirtschaftswachstum in der EWU
und in Deutschland
4.0
%
%
EWU-Länder
3.0
3.0
2.0
2.0
darunter
1.0
1.0
Deutschland
0.0
0.0
-1.0
-1.0
-2.0
-2.0
1992
1993
1994
1995
1996
Quelle: Europäische Zentralbank, Statistisches Bundesamt.
120
4.0
1997
1998
1999
2000
121
-0.135
0.204
-0.016
1971-1980
1981-1990
1991-1999
0.064
-0.044
0.055
0.849
0.913
0.869
0.923
DEUT
-0.578
0.639
0.155
0.720
0.142
0.781
0.935
ESPA
0.017
-0.043
0.070
0.928
0.945
0.902
0.972
FRAN
0.502
0.897
0.928
0.814
ITAL
0.805
0.733
0.834
0.855
NLDE
-0.405
0.374
-0.411
0.395
0.031
-0.114
-0.072
0.101
0.021
Differenzen zur Vorperiode
0.684
0.278
0.652
0.241
IRLA
-0.080
0.058
0.110
0.851
0.771
0.829
0.939
AUTS
0.322
-0.089
0.088
0.614
0.936
0.846
0.935
PRTU
-0.591
0.303
-0.469
0.872
0.281
0.584
0.115
FINL
0.000
0.000
0.000
1.000
1.000
1.000
1.000
EWU
Quelle: W. Nierhaus, Zur Synchronisation von Konjunkturzyklen in der EWU, unveröffentlichtes Manuskript des ifo Instituts.
1) Die Produktionslücken wurden jeweils mit Hilfe eines Hodrick-Prescott Filters berechnet.
0.888
0.753
0.957
0.941
1960-1970
1971-1980
1981-1990
1991-1999
BELG
Korrelation der nationalen Produktionslücken zur Produktionslücke des Euro-Gebiets 1)
Tabelle 5.3
122
Nach Auffassung der EZB kann dieser Effekt in der Europäischen Währungsunion durchaus relevant sein70, doch hat sie diesen Preiserhöhungseffekt bei
der Festlegung des Inflationsziels und des Geldmengenwachstums bisher nicht
explizit berücksichtigt. Sie geht weiterhin von einem Inflationsziel von „unter
2%“ aus, wie es auch früher in den einzelnen Mitgliedsländern mit relativ hoher
Preisstabilität angesetzt wurde.
Unsicherheiten gibt es auch bei der Festlegung der trendmäßigen Abnahme der
Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes; diesen Wert setzt die EZB mit ½ bis 1%
an. Die Forschungsinstitute haben hier einen etwas höheren Wert von 1 bis
1½% errechnet.71
Auch wenn sich alle diese Einflussfaktoren auf die Bestimmungsgründe des
Referenzwertes von M3 nur schwer abschätzen lassen, so deutet vieles darauf
hin, dass in Zukunft ein etwas höherer Referenzwert für das Geldmengenwachstum anzusetzen ist. Dies muss dann allerdings von der EZB entsprechend begründet werden, um zu vermeiden, dass dies als Aufweichung des
geldpolitischen Kurses interpretiert wird; letzteres würde den Euro weiter
schwächen.
Angesichts all dieser Unsicherheiten bei der Festlegung des Referenzwertes für
die Geldmenge und auch hinsichtlich der Stabilität des Zusammenhangs zwischen Geldmenge, Konjunktur und Inflation, ist der EZB zu empfehlen, auch
weiterhin an der Zwei-Säulen-Strategie festzuhalten.
70
71
Vgl. Europäische Zentralbank, Inflationsunterschiede in einer Währungsunion, in: Monatsberichte der EZB, 10/1999, S. 39 ff.
Vgl. Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Herbst 2000, Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungsinstitute, in: ifo Wirtschaftskonjunktur 10/2000.
123
Finanzpolitik
Wirkungen auf die Konjunktur
Die Wirkungsweise der Finanzpolitik auf die Konjunktur lässt sich ebenfalls
schematisch anhand von Abbildung 5.2 darstellen. Eine expansive Finanzpolitik
(Steuersenkung oder Ausgabenerhöhung) verschiebt die GN-Kurve nach rechts
und eine restriktive Finanzpolitik (Steuererhöhung oder Ausgabensenkung) verschiebt sie nach links. 72 Die expansive Finanzpolitik kann allerdings das reale
BIP nicht dauerhaft über das Produktionspotential anheben. Da gleichzeitig die
Inflationsrate steigt, verschiebt sich auch die IA-Kurve nach oben.
Aus Abbildung 5.2 könnte man evtl. schließen, dass die Regierung mit Hilfe finanzpolitischer Maßnahmen die Konjunktur so steuern kann, dass das reale
BIP immer auf dem Niveau des Produktionspotentials oder zumindest nahe
beim Produktionspotential liegt. Wie mehrfach erwähnt, spielt eine derartige
„keynesianische Feinsteuerung“ in der Finanzpolitik derzeit praktisch keine
Rolle mehr. Auch die teilweise vorgeschlagene „Arbeitsteilung“ zwischen der
Finanzpolitik und der Geldpolitik dergestalt, dass die Finanzpolitik die Aufgabe
übernehmen soll, das reale BIP nahe dem Produktionspotential zu halten, und
sich die Geldpolitik ausschließlich der Inflationsbekämpfung widmet, um eine
hohe Glaubwürdigkeit als „Hüterin der Stabilität“ zu erlangen,73 ist heutzutage
weniger aktuell als in den früheren Phasen der „Stagflation“, also hoher Inflationsraten und gleichzeitiger Unterauslastung. Die Absage an eine finanzpolitische Feinsteuerung der Konjunktur hat gute Gründe. So dauert es angesichts
des politischen Entscheidungsprozesses relativ lange, bis derartige Maßnahmen implementiert werden können. Es gibt auch eine große Unsicherheit über
die Höhe und die zeitliche Verteilung dieser Wirkungen, so dass die Maßnahmen evtl. erst wirken, wenn sich die Konjunktur schon wieder verändert hat.
Unterstellt man, dass die Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte nicht auf
kurzfristigen Veränderungen, sondern auf einem längerfristigen Erwartungshorizont beruhen,74 dann hätten temporäre finanzpolitische Maßnahmen ohnehin
keine oder nur geringe (oder evtl. sogar negative) Wirkungen auf die Gesamt-
72
Bei den hier betrachteten kurzfristigen Wirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage
wird allerdings vernachlässigt, dass Steuersenkungen und Ausgabeerhöhungen auch das
Produktionspotential erhöhen können, z.B. über eine Senkung der Grenzsteuersätze oder
eine Erhöhung des Infrastrukturkapitals.
73
Dieser Vorschlag geht auf Robert Mundell zurück. Vgl. dazu Robert Mundell Festschrift, G.
Calvo,M. Obstfeld, and R. Dornbusch, eds. Cambridge:MIT Press (in Vorbereitung).
74
Vgl. dazu auch die Literatur zu den nicht-keynesianischen Effekten in Kapitel 4.2.
124
nachfrage. Schließlich hat die diskretionäre Finanzpolitik in der Vergangenheit
häufig zu einem asymmetrischen Verhalten geführt: In Phasen schwacher
Konjunktur wurden Ausgaben und Defizite erhöht, aber dann bei günstigerer
Konjunktur nicht wieder entsprechend reduziert, so dass die Staatsverschuldung längerfristig stark gestiegen ist, insbesondere in Europa.
Besonderheiten in der EWU
Allerdings kann es Ausnahmesituationen geben, bei denen die Finanzpolitik
stabilisierend wirken kann. Wie erwähnt, kann in der EWU die Geldpolitik nur
noch auf die Entwicklung im Durchschnitt der Euro Raums und nicht mehr auf
nationale Besonderheiten (asymmetrische Schocks) reagieren; auch sind die
Wechselkurse zwischen den EWU-Ländern fixiert. Ist also die Konjunktur in einem EWU-Land überdurchschnittlich kräftig und drohen übermäßige Preissteigerungen, dann sollte dort die Finanzpolitik eher restriktiv ausgerichtet werden,
um den für das Land (nicht aber für den Durchschnitt der EWU) zu expansiven
monetären Bedingungen entgegen zu wirken. Ist umgekehrt die Konjunktur in
einem Land deutlich schwächer als im Durchschnitt der EWU, dann wäre evtl.
in diesem Land eine expansivere Ausrichtung der Finanzpolitik angebracht, wobei allerdings die oben genannten Risiken einer derartigen Politik zu berücksichtigen sind.
Für ein relativ großes EWU-Mitgliedsland wie Deutschland, dessen Konjunktur
sich, wie erwähnt, im allgemeinen ähnlich entwickelt wie der EWU-Durchschnitt,
wird bei dem oben skizzierten Verhalten der EZB die Konjunktur über die Geldpolitik stabilisiert. Eine zusätzliche diskretionäre Finanzpolitik zur Stabilisierung
125
der Konjunktur ist hier also nicht erforderlich; ihre Effizienz wäre angesichts der
oben genannten Probleme ohnehin fraglich.75
Stabilitätsprogramm und automatische Stabilisatoren
Wenn aber die Geldpolitik die Konjunktur stabilisiert, kann sich die Finanzpolitik
hinsichtlich der Konjunkturstabilisierung auf das Wirkenlassen der automatischen Stabilisatoren beschränken. Die automatischen Stabilisatoren können
aber nur dann wirken, wenn sich die Finanzpolitik nicht sklavisch an einem festgelegten Budgetsaldo ausrichtet, sondern – bei unerwarteten Veränderungen
der Konjunktur - konjunkturbedingte Schwankungen des Budgetsaldos zulässt.
So sollte auch bei der Durchführung der Stabilitätsprogramme, die ja einen
mittelfristigen Abbau der Defizite vorsehen, auf ein konjunkturgerechtes Zusammenspiel von automatischen Stabilisatoren und diskretionärer Finanzpolitik
geachtet werden. Falls die Konjunkturentwicklung in einzelnen Jahren stärker
ist, als im Stabilitätsprogramm unterstellt, dann sollte das Defizit aufgrund der
konjunkturbedingten Mehreinnahmen und Minderausgaben schneller als geplant zurückgeführt werden. Ist die Konjunkturentwicklung dagegen schwächer
oder gleitet die Wirtschaft sogar in eine Rezession ab, dann sollten die konjunkturbedingten Mindereinnahmen und Mehrausgaben hingenommen werden;
75
126
Es kann jedoch Situationen geben, in denen die Geldpolitik ihre Effizienz zur Stabilisierung
der Konjunktur verliert. Wenn nämlich die Inflationsrate unter die Nulllinie sinkt und die Nominalzinsen die Nulllinie erreichen, dann führt die Senkung der Inflationserwartungen (d.h.
die Erwartung einer anhaltenden Deflation), zu einem Anstieg des Realzinses. Dies senkt die
reale Güternachfrage weiter und die Geldpolitik kann darauf nicht mit Zinssenkungen reagieren, weil diese ohnehin schon bei Null sind. In dem Schema der Abbildung 5.2 lässt sich dieses Deflationsszenario wie folgt darstellen: Die horizontale Kurve IA sinkt unter der Nulllinie.
In diesem Bereich ist die GN Kurve nicht negativ geneigt, wie oberhalb der Nulllinie, sondern
positiv; die Kurve weist also unterhalb der Nulllinie der Inflation einen Knick auf (J.B. Taylor
a.a.O.). Die Erwartung weiter sinkender Preise senkt wegen der steigenden Realzinsen
(Nominalzins abzüglich Preiserwartung) das reale BIP immer weiter. Viele Beobachter haben
die jüngste Entwicklung in Japan als ein derartigen Deflationsszenario charakterisiert oder
auch als keynesianische Liquiditätsfalle, also eine Situation, bei der die Geldpolitik die Konjunktur nicht mehr stabilisieren kann. Tatsächlich hat die japanische Regierung auf die bisherige Unwirksamkeit der Geldpolitik mit mehreren finanzpolitischen Konjunkturprogrammen
reagiert. Die Wirksamkeit dieser Programme blieb bislang aber – abgesehen von temporären
Impulsen – gering ist. Ob die Geldpolitik bei Nominalzinsen in der Nähe von Null tatsächlich
unwirksam ist, wird teilweise aber bestritten. So wird darauf verwiesen, dass die Konjunktur
über andere Wirkungskanäle als die Zinsen angeregt werden kann. So würde bei einer Ausweitung der Geldmenge die Kreditgewährung der Banken erleichtert und die Aktienkurse
würden steigen und der Wechselkurs würde sinken. All dies würde die Konjunktur anregen.
Vgl. A. Meltzer, „Commentary: Monetary Policy at Zero Inflation,“ in: New Challenges for Monetary Policy, Federal Reserve Bank of Kansas City, proceedings of a conference at Jackson
Hole, Wyoming, August 1999, s. 261-76.
das Defizit wäre dann zwar vorübergehend größer als ursprünglich geplant,
doch würde der Konjunkturabschwung gedämpft.
Im Prinzip sollte sich also die Finanzpolitik an den zyklisch bereinigten d.h. den
strukturellen Finanzierungssalden orientieren und rein konjunkturbedingte Abweichungen des tatsächlichen Defizits von den Planansätzen hinnehmen. Auf
diese Weise können die automatischen Stabilisatoren ihre konjunkturstabilisierende Wirkung entfalten. Allerdings ist eine derartige idealtypische Strategie
einer konjunkturgerechten Finanzpolitik in der Praxis nicht leicht durchführbar.
So gibt es, wie oben erwähnt, bei der empirischen Abschätzung der konjunkturbedingten bzw. der strukturellen Defizite erhebliche Risiken. Eine starre Regelbindung an ein strukturellen Defizit kann daher problematisch sein. So fallen die
von den verschiedenen Institutionen berechneten strukturellen Defizite teilweise
sehr unterschiedlich aus. Da die Unterschiede bei den Veränderungen von Jahr
zu Jahr sich zwischen den verschiedenen Schätzungen aber im allgemeinen
nur wenig unterscheiden, könnte sich die Finanzpolitik an der folgenden pragmatischen „Regel für konjunkturgerechtes Verhalten“ orientieren: Für jeden
Prozentpunkt Abweichung der Konjunktur von der beim Stabilitätsprogramm
unterstellten Entwicklung, sollte eine Abweichung bei der Defizitquote von etwa
einem halben Prozentpunkt hingenommen werden.76 Wenn also die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in einem Jahr günstiger oder ungünstiger verläuft,
als im Stabilitätsprogramm unterstellt, dann könnte auch für dieses Jahr eine im
Vergleich zum Stabilitätsprogramm entsprechend günstigere bzw. ungünstigere
Defizitentwicklung toleriert werden. Bei einer derart flexiblen Durchführung des
Stabilitätsprogramms blieben die automatischen Stabilisatoren wirksam. Das
mittelfristige Budgetziel darf dabei aber nicht aus dem Auge verloren werden.
Falls die gesamtwirtschaftliche Entwicklung aber nicht nur in einzelnen Jahren,
sondern dauerhaft günstiger oder ungünstiger ist, als im Stabilitätsprogramm
unterstellt, dann bedeutet dies, dass der Wachstumstrend unterschätzt bzw.
überschätzt worden ist. In diesem Fall muss bei seiner Fortschreibung das Stabilitätsprogramm entsprechend revidiert und auf den neuen Wachstumstrend
abgestellt werden.
76
Dieser Wert für die Konjunkturreagibilität des Budgetsaldos ergibt sich für Deutschland und
auch für eine Reihe anderer Länder. Die Spannbreite der geschätzten Konjunkturreagibilität
der Budgetsalden liegt für den EU Durchschnitt zwischen 0,4 und 0,6.
127
Sicherheitsabstand zur Defizitobergrenze
Die Hinnahme einer konjunkturbedingten Verschlechterung der Budgetposition
im Abschwung setzt voraus, dass das Defizit bei normaler Konjunkturlage (d.h.
das strukturelle Defizit) entsprechend niedrig ist, so dass das Defizit bei schwächerer Konjunktur die Obergrenze von 3% des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreitet.
Wie groß die „Sicherheitsmarge“ zur Defizitobergrenze in einem Land sein
muss, hängt davon ab:
• Mit welchen negativen Angebots- und/oder Nachfrageschocks in Zukunft zu
rechnen ist.
• Wie hoch die staatliche Schuldenquote und damit die Belastung des Staatsbudgets mit Zinsausgaben ist. Sind diese relativ hoch, dann wirken sich zukünftige Zinserhöhungen relativ stark auf das Gesamtbudget aus.
• Wie sensitiv der staatliche Budgetsaldo auf negative Schocks reagiert.
• Wie unsicher die Entwicklung der staatliche Einnahmen und Ausgaben generell ist. So gab es, unabhängig von der Konjunkturentwicklung, in der Vergangenheit öfter unerwartete Steuermindereinnahmen und Mehrausgaben,
welche die Budgetdefizite erhöhten.
Neueren Schätzungen zufolge ist die Sicherheitsmarge für die konjunkturbedingten Defizite für die EWU-Länder insgesamt mit etwa 2% des Bruttoinlandsprodukts zu veranschlagen und die Marge für die übrigen Risiken mit ½ bis 1%
des Bruttoinlandsprodukts (Artis and Buti, 2000). Dies bedeutet, dass der Abstand zur Defizitobergrenze von 3% etwa 2 ½ bis 3 Prozentpunkte betragen
müsste. Bei einem nahezu ausgeglichenen konjunkturbereinigten Haushalt wäre also ausreichend Vorsorge getroffen, dass das tatsächliche Defizit auch bei
zukünftigen (normalen) Konjunkturabschwüngen und unter Berücksichtigung
zusätzlicher Budgetrisiken nicht über die 3%-Grenze steigt. Nach der Prognose
der OECD vom Dezember 200077 werden die strukturellen Defizite im Jahr
2001 noch in einigen Mitgliedsländern höher als 1% sein, nämlich in Deutschland (1.7%), in Frankreich (1.6%), und in Portugal (1.4%); in Deutschland ist
dies auf die Mindereinnahmen aufgrund der Steuerreform zurück zu führen.
Diese Länder müssen demnach in den nächsten Jahren die Haushaltskonsolidierung fortsetzen, um ihre mittelfristigen Budgetziele und auch den notwendigen Sicherheitsabstand zu der Defizitobergrenze von 3% zu erreichen.
77
128
Vgl. OECD Economic Outlook, No. 68, December 2000.
Zur Nachhaltigkeit der Haushaltskonsolidierung
In der Diskussion um das Ausmaß der notwendigen Haushaltskonsolidierung
wird auch auf die Belastungen der öffentlichen Haushalte aufgrund der erwarteten Alterung der Bevölkerungen verwiesen.78 Dies wird die öffentlichen Haushalte erheblich belasten. Betroffen sind insbesondere die gesetzliche Rentenversicherung, aber auch die gesetzliche Krankenversicherung, die Pflegeversicherung und die Versorgungssysteme für staatlich Bedienstete. In Vorbereitung auf diese Lasten könnte – so wird argumentiert – der Staat Budgetüberschüsse bilden und damit seinen Schuldenstand und seine Zinsausgaben senken. Damit wäre ein Spielraum vorhanden, um die spätere Erhöhung der altersbedingten Ausgaben besser zu verkraften; die Abgabenlast bliebe dann insgesamt niedriger. Es käme zu einem langfristigen „tax smoothing“.
Die Senkung der Staatsschuld und der staatlichen Zinsausgabenbelastung ist
allerdings nur eine von mehreren Optionen bei der Vorbereitung auf das Älterwerden der Bevölkerung. Eine andere - näher liegende - Option, ist eine entsprechende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung. Dies wird auch in
Deutschland seit geraumer Zeit diskutiert und jetzt auch verstärkt angegangen.79
Fest steht jedenfalls, dass die demographischen Veränderungen für die öffentlichen Haushalte große Risiken bergen. Stellt sich die Politik nicht oder zu spät
darauf ein, dann könnte es zu erheblichen Vertrauensverlusten in der Bevölkerung kommen. Die in der Literatur erwähnten Vorteile der Haushaltskonsolidierung würden sich dann nicht einstellen, bzw. würden wieder verspielt. Es würden stattdessen – im oben definierten Sinne – negativ wirkende nichtkeynesianische Effekte auftreten.80 Die Folge wäre weniger Wachstum und weniger Beschäftigung, was die Finanzierung der Alterslasten noch vergrößern
würde.
Angesichts dieser demographischen Probleme ist bei der Diskussion um Ausmaß und Zeitraum der Haushaltskonsolidierung eine längerfristige Perspektive
notwendig. Um den Anpassungsbedarf für eine nachhaltige Haushaltskonsoli78
79
80
Darauf verweist die OECD schon seit mehreren Jahren und auch in ihrem jüngsten Economic Outlook No. 67, June 2000.
Vgl. hierzu auch die verschiedenen Beiträge zur Rentenreform im ifo Schnelldienst 2829/2000 (ifo Standpunkt Nr. 16, „Ein Schritt in die richtige Richtung“ von H.W. Sinn; Zur Diskussion gestellt: Rentenreform 2000: Beiträge von W. Riester, H. Seehofer, U. Schmidt, W.
Schmähl, B. Raffelhüschen, D. Besendorfer; M. Werding, Rentenreform: Modellrechnungen
zu den langfristigen Effekten.
F. Giavazzi und M. Pagano (1990), Can Severe Fiscal Adjustment be Expansionary? NBER
Macroeconomics Annual, MIT Press: Cambridge, Mass.
129
dierung des Gesamtstaates (Gebietskörperschaften und Sozialversicherung)
transparenter zu machen, wird in der Literatur auch empfohlen, die traditionellen Finanzindikatoren wie Defizitquoten und Schuldenquoten durch Indikatoren
zu ergänzen, welche auch die künftigen Verpflichtungen des Staates (die sogenannte unsichtbare Staatsschuld bzw. contingent liabilities) erfassen; diese besteht insbesondere aus der beim derzeitigen Rentenrecht81 auftretenden Differenz zwischen den auf die Gegenwart abgezinsten zukünftigen Beitragseinnahmen und Rentenausgaben. Das Konzept der Generationenbilanzen und das
Konzept der langfristigen Projektionen des Staatshaushalts dienen diesem
Zweck.82 Beide Konzepte erfordern allerdings entsprechende Annahmen über
zentrale demographische und gesamtwirtschaftliche Faktoren (insbesondere
Bevölkerungsentwicklung einschließlich der Netto-Zuwanderungen, Entwicklung
der Erwerbsquote und der Arbeitsproduktivität). Beim Konzept der Generationenbilanzen werden die zukünftigen Netto-Verbindlichkeiten auf die Gegenwart
abgezinst (Gegenwartswertberechnung), so dass hier zusätzlich Annahmen
über den Diskontierungssatz notwendig sind. Angesichts all dieser Annahmen
ist die Unsicherheitsspanne dieser Berechnungen entsprechend groß. Da die
langfristigen Projektionen des Staatshaushalts und die Generationenbilanzen
im allgemeinen auch auf der Annahme einer status quo Finanzpolitik und Rentenpolitik beruhen, handelt es sich bei diesen Konzepten ohnehin nicht um
Projektionen im Sinne von Wahrscheinlichkeitsprognosen. Dennoch ermöglichen es diese Methoden, zumindest der Größenordnung nach das Ausmaß der
für die langfristige Haushaltskonsolidierung notwendigen Reformen und die Bedeutung der unterschiedlichen Reformmaßnahmen zu illustrieren. Mit Hilfe von
Sensitivitätsanalysen kann dabei die Bedeutung der verschiedenen demographischen und ökonomischen Annahmen für das Gesamtergebnis aufgezeigt
werden, so dass sich die Unsicherheitsspanne besser beurteilen lässt.
Eine nachhaltige Konsolidierung der öffentlichen Haushalte erfordert demnach
sowohl eine möglichst schnelle Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
wie auch eine weitere Reduzierung des strukturellen Defizits bei den übrigen
öffentlichen Haushalten. Falls man die Strategie verfolgt, in den Jahren vor demographischen Verschlechterung die staatliche Schuldenquote und die Zinsbelastung zu senken, dann wäre in den nächsten 15 bis 20 Jahren nicht nur ein
– über den Konjunkturzyklus hinweg – ausgeglichener Haushalt erforderlich,
81
82
130
D.h. der relativen Rentenhöhe und dem Beitragssatz, wie sie sich nach der derzeitigen
Rechtslage ergeben.
Vgl. A.J. Auerbach, L.J. Kotlikoff, and W. Leibfritz, eds. (1999), Generational Accounting
Around the World, University of Chicago Press.
sondern es müssten sogar strukturelle Überschüsse erwirtschaftet werden. In
jedem Fall erfordert das Ziel der nachhaltigen Haushaltssicherung eine Fortsetzung des finanzpolitischen Konsolidierungskurses weit über den gegenwärtigen
Zeithorizont des Stabilitäts- und Wachstumspakt hinaus.
Strukturpolitik
Bleibt auch bei normaler Konjunkturlage die Arbeitslosigkeit immer noch relativ
hoch, dann ist die Makropolitik überfordert, diese zu bekämpfen. In Deutschland
und auch in anderen EWU-Ländern hat sich im Jahr 2000 die Konjunktur gegenüber dem Vorjahr deutlich verbessert. Damit dürfte der Anteil der Arbeitslosigkeit, der auf eine konjunkturelle Unterauslastung zurückzuführen ist und der
mit Hilfe der Makropolitik bekämpft werden könnte, bald eliminiert sein. Die Priorität der Wirtschaftspolitik muss jetzt bei der Bekämpfung der verbleibenden
strukturellen Arbeitslosigkeit liegen. Dafür gibt es eine Reihe von möglichen
Maßnahmen. So wurden in Deutschland und auch in anderen Ländern in
jüngster Zeit neue Steuerreformen beschlossen, die vor allem zum Ziel haben,
die Voraussetzungen für Wachstum und Beschäftigung mittelfristig zu verbessern. Dies sind Schritte in die richtige Richtung. Allerdings werden auch nach
diesen Steuerreformen in Deutschland und in den meisten EWU-Länder die
Grenzbelastungen des Faktors Arbeit relativ hoch bleiben. Überdies wird in den
nächsten Jahren die sogenannte kalte Progression bei der Einkommensteuer
aufgrund steigender Einkommen einen Teil der durch die Reformen bedingten
Senkungen wieder wett machen. Wenn die Steuerreformen aber begleitet werden von einer moderaten Lohnpolitik, einer größeren Lohndifferenzierung nach
Qualifikationen, Regionen und Unternehmen und wenn zusätzlich bei den
Transferzahlungen an Arbeitslose (Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe) die Anreize zur Aufnahme von Arbeit verstärkt werden, dann steigen die
Chancen für einen Abbau der strukturellen Arbeitslosigkeit. In Anhang 2 sind
zwei unterschiedlichen Wege dargestellt, welche die USA einerseits und die
Niederlande andererseits bei der Schaffung von Arbeitsplätzen in den letzten
Jahren gegangen sind. Ferner werden in Anhang 3 verschiedene Wege aufgezeigt, welche andere Länder bei der Schaffung von Arbeitsplätzen im Niedriglohnbereich gehen.
Auch wenn die Ausgangsbedingungen in den einzelnen Ländern teilweise unterschiedlich sind, so ist der Blick auf die Arbeitsanreize in den Sozialsystemen
anderer Länder durchaus hilfreich. Generell gilt, dass die vom staatlichen Finanzsystem ausgehenden Arbeitsanreize – unter sonst gleichen Umständen –
um so niedriger sind, je höher die gesamte effektive Grenzbelastung des Fak-
131
tors Arbeit (Steuern und Sozilabgaben) ist83 und je höher die staatliche Unterstützung der Arbeitsfähigen bei Nichtarbeit d.h. die Lohnersatzleistungsquote
(Replacement Rate) ist.84 Wie gezeigt wurde, sind in Deutschland sowohl die
effektiven Grenzbelastungen wie auch bei den Lohnersatzleistungen an Arbeitslose relativ hoch. Beim System der Sozialhilfe ist die effektive Grenzbelastung für Arbeitnehmer in Deutschland sogar extrem hoch. Da man die Sozialhilfe nur dann in voller Höhe erhält, wenn man kein Arbeitseinkommen hat,
und da sie in weiten Bereichen eins zu eins mit dem erzielten Arbeitseinkommen gekürzt wird, beträgt die effektiven Grenzbelastung der Arbeit für die betroffenen Arbeitnehmer rund 100%. Über einen geringeren Kürzungssatz der
Sozialhilfe bei zusätzlichen Erwerbseinkommen bzw. über Lohnsubventionen
an besonders Bedürftige, die einen Arbeitsplatz auch bei geringem Lohn annehmen, ließe sich die effektive Grenzbelastung der Arbeit in diesem Bereich
senken. Ein derartiges System der Sozialhilfe für Arbeitnehmer ist hinsichtlich
der Arbeitsanreize dann besonders wirksam und bleibt auch für den Staat finanzierbar, wenn gleichzeitig die Lohnspreizung relativ hoch ist. Für gering
Qualifizierte müssen die Löhne also – entsprechend ihrer relativ geringen Produktivität - relativ niedrig sein, so dass von Seiten der Unternehmen die Nachfrage nach diesen Arbeitskräften hoch ist. Da der Staat die Erwerbseinkommen
über diese Art der Sozialhilfe aufstockt, ist auch ein entsprechendes Arbeitsan83
84
132
Der negative Effekt der Abgabenbelastung auf die Beschäftigung ist dabei um so größer, je
mehr es den Arbeitnehmern gelingt, die Abgaben über entsprechend höhere Bruttolöhne auf
die Unternehmen zu überwälzen, weil dann die Lohnkosten entsprechend höher sind. Falls
die Arbeitnehmer dagegen bei hohen Abgaben einen entsprechen niedrigeren Reallohn akzeptieren, steigen die Lohnkosten nicht.
Es gibt mehrere empirische Untersuchungen zu den Auswirkungen der Abgabenbelastung
und der Lohnersatzleistungen auf Wachstum und Beschäftigung. Häufig handelt es sich um
internationale Querschnittsvergleiche. Eine Studie für 17 OECD-Länder (Zeitraum 1983-93)
konnte zwar für die absolute Höhe der Grenzabgabenbelastung keinen signifikanten Einfluss
auf die Arbeitslosigkeit ermitteln, wohl aber für die Veränderung der Grenzabgabenbelastung
und die Veränderung der Lohnersatzleistungen. Demnach steigt die langfristige Arbeitslosigkeit im Durchschnitt dieser Länder um 0,1 Prozentpunkt, wenn die Abgabenlast um 1 Prozentpunkt steigt und um 0,13 Prozentpunkte, wenn die Lohnersatzleistungsquote um 1 Prozentpunkt zunimmt. Vgl. S. Scarpetta „Assessing the Role of Labour Market Policies and Institutional Settings on Unemployment: A Cross-Country Study“, in: OECD Economic Study,
No. 26, Paris: Organisation for Economic Cooperation and Development, 1996.
Nach einer anderen Studie für die ähnliche, wenn auch nicht identische Ländergruppe (20
OECD-Länder, Zeitraum 1983-94) lassen sich ebenfalls negative Wirkungen auf die Beschäftigung nachweisen, doch sind sie geringer. Bei einem Anstieg der Lohnersatzleistungsquote um 1 Prozentpunkt steigt hier die Arbeitslosigkeit nur um 0,01 Prozentpunkte. Nach
dieser Untersuchung zeigt sich aber, dass die Arbeitslosigkeit umso höher ist, je länger das
Arbeitslosengeld gewährt wird. Vgl. S. Nickell “Unemployment and Labour Market Rigidities:
Europe Versus North America”, in: Journal of Economic Perspectives, Vol. 11 (Summer), pp.
55-74, 1997.
gebot vorhanden.85 Eine derartige Reform der Sozialhilfe könnte auch in
Deutschland einen Beitrag zur Senkung der strukturellen Arbeitslosigkeit leisten. Die Arbeitnehmer würden damit insgesamt besser gestellt. Die gering Qualifizierten erhielten zwar einen geringeren Lohn, doch würde das Lohneinkommen – bei Bedürftigkeit – durch die Sozialhilfe aufgestockt, und es entstünden
mehr Arbeitsplätze. Da mehr Menschen arbeiten, wäre auch das Bruttoinlandsprodukt höher.
85
Ein Vergleich der Lohnspreizung zwischen Deutschland einerseits und den USA und den
Niederlanden andererseits, zeigt, dass die Lohnspreizung in den USA weitaus größer ist als
in den Niederlanden und in Deutschland. In den unteren Lohn- und Gehaltsgruppen ist die
Spreizung in den Niederlanden etwas größer als in Deutschland, in den oberen Gruppen dagegen etwas geringer. Gegenüber den frühen achtziger Jahren hat die Lohnspreizung in den
unteren Lohngruppen in den USA und in den Niederlanden zugenommen, wobei in den USA
angesichts abnehmender Arbeitslosigkeit seit 1996 eine Umkehr zu verzeichnen ist. In
Deutschland haben dagegen die Lohndifferenzen abgenommen. Insbesondere sind die Tariflöhne von Frauen in den unteren Lohngruppen überdurchschnittlich angehoben worden.
Weil die Höhe der Sozialhilfe die Lohnhöhe im unteren Segment indirekt beeinflusst, hat sie
auch Einfluss auf die Lohnspreizung; diese ist um so geringer, je höher die Sozialhilfe ist. Da
man die Sozialhilfe nur dann in voller Höhe erhält, wenn man kein Arbeitseinkommen hat,
kann der niedrigste Lohn (für Vollzeitarbeit) nicht unterhalb der Sozialhilfe liegen. Vgl.
W.Ochel, Löhne und Beschäftigung: Deutschland, Niederlande und USA im Vergleich, ifo
Schnelldienst 30/2000; H.W. Sinn, Eine neue Sozialhilfe, ifo Standpunkt No.6,
http://www.ifo.de/orcl/dbssi/stp006.htm.
133
Anhang 1
Die Wirkungen von Steuern und Staatsausgaben auf das Bruttoinlandsprodukt
Der folgende Teil des Gutachtens beschäftigt sich mit der Frage, welche Effekte
fiskalische Maßnahmen in der Vergangenheit auf die Volkswirtschaft hatten.
Konkret geht es dabei um die Wirkungen von Steuern und Staatsausgaben auf
das Bruttoinlandsprodukt. Gemäß der keynesianischen Theorie ist der Staat in
der Lage den konjunkturellen Verlauf durch finanzpolitische Maßnahmen zu
beeinflussen. Hierbei ist zwischen direkten Nachfrage-Effekten und sogenannten Multiplikator-Effekten zu unterscheiden. Die Ausgaben des Staates für Güter und Dienstleistungen führen zu einer direkten Wirkung auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und damit auf das Bruttoinlandsprodukt. Steuern und
Transfers hingegen wirken nur indirekt auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage,
über ihren Einfluss auf den privaten Konsum. Somit gibt es nur bei den
Staatsausgaben einen direkten Effekt. Beide Maßnahmen haben aber eine
Multiplikatorwirkung. Insofern es zu einer Erhöhung des Bruttoinlandsproduktes
kommt, wird die hierdurch induzierte Ausweitung des privaten Konsums zu einer weiteren Nachfrageerhöhung und einer abermaligen Produktionserhöhung
führen. Aus diesem Grund prognostiziert die keynesianische Theorie eine Wirkung der Fiskalpolitik, die den Wert eins übersteigt. Aufgrund des direkten Effektes der Staatsausgaben ist außerdem deren Wirkung betragsmäßig größer
als die der Steuern und Transfers.
Dieses Modellergebnis ist jedoch in der theoretischen Diskussion stark umstritten ist. Je nachdem wie die Annahmen gesetzt werden, erscheint das komplette
Spektrum von sehr starken Effekten der Fiskalpolitik bis zu völliger Neutralität
als theoretisch möglich. Um zu einer Vorstellung über die empirisch geltenden
Zusammenhänge zu kommen, ist es deshalb notwendig, die Wirkungen in einem statistischen Modell näher zu untersuchen. Dies soll im folgenden geleistet
werden. Hierbei soll der deutsche Fall im Blickpunkt stehen, es wird aber auch
ein Vergleich mit einer bereits existierenden Studie für die USA präsentiert
(Blanchard und Perotti, 1999). Die Details der statistischen Vorgehensweise
sind im technischen Anhang am Ende erläutert.
134
1.
Begriffsbestimmungen und Datenquellen
Zunächst ist es erforderlich einige Begriffsbestimmungen vorzunehmen. Unter
Steuern verstehen wir im folgenden die gesamten Einnahmen aller Gebietskörperschaften inklusive der Sozialversicherung abzüglich den gezahlten Subventionen, den Transfers und den Ausgaben der Sozialversicherung. Es handelt
sich somit um ein Netto Konzept, welches das dem privaten Sektor entzogene
Einkommen messen soll. Unter Staatsausgaben verstehen wir die Summe aus
dem staatlichen Konsum und den staatlichen Investitionen, wie es der Definition
der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung entspricht.1 Für die statistische Analyse ist es von großer Bedeutung, dass es sich bei den untersuchten fiskalischen Maßnahmen um sogenannte "Schocks" handelt, d.h. um unerwartete
Maßnahmen. Dies ist wichtig, da erwartete Maßnahmen ihre Effekte zum Teil
bereits dann entfalten, wenn die entsprechende Erwartung aufgebaut wird, also
bevor die Maßnahme tatsächlich durchgeführt wird. Wir sprechen deshalb im
folgenden von Steuerschocks und Ausgabenschocks, sowie von Inlandsproduktschocks. Im Rahmen eines statistischen Modells können selbstverständlich
nur solche Erwartungen berücksichtigt werden, die auf vergangenen Werten der
betrachteten Variablen aufbauen und nicht solche, die z.B. auf Verlautbarungen
des Finanzministeriums beruhen. Diese Einschränkung muss aus Gründen der
Datenverfügbarkeit in Kauf genommen werden.
2.
Empirische Ergebnisse für Deutschland
2.1 Das statistische Grundmodell
Welche Folgen hat nun ein Steuer- oder Ausgabenschock auf das Bruttoinlandsprodukt? Oder konkreter, um wie viel DM erhöht sich das Sozialprodukt in
den Jahren nach einer unerwarteten Steuersenkung, bzw. einer unerwarteten
Ausgabenerhöhung? Um dieser Frage nachzugehen, analysieren wir die dynamischen Beziehungen zwischen diesen Variablen in einem statistischen Modell
und prognostizieren nach erfolgter Schätzung die erwarteten Wirkungen. Werfen wir zunächst einen Blick auf die verwendeten Variablen. In den Abbildungen
1.1 und 1.2 ist die Entwicklung der Anteile der Staatsausgaben und der Steuereinnahmen am Bruttoinlandsproduktes abgetragen. Nach dem starken Anstieg
des Staatsausgabenanteils in den 70ern sieht man einen kontinuierlichen
1
Eine genaue Definition unter Berücksichtigung der verwendeten Datenquellen findet sich
ebenfalls im Anhang.
135
Rückgang, der nur durch die deutsche Wiedervereinigung unterbrochen wurde.
Beiden Steuereinnahmen hingegen lässt sich kein klarer Trend erkennen. Die
Abbildungen 2.1 bis 2.3 zeigen die Wachstumsraten der Staatsausgaben,
Steuereinnahmen und des Bruttoinlandsprodukts. Dies sind die Zeitreihen, die
durch das verwendete statistische Modell beschrieben werden. Die Reihe für
das Bruttoinlandsprodukt zeigt deutlich die vier Rezessionen der Nachkriegsgeschichte in den Jahren 1967, 1975, 1982 und 1993. Der weiterhin klar erkennbare Übergang auf gesamtdeutsche Daten von 1991 (Bedingt durch die Wiedervereinigung) wurde mit Hilfe einer Dummy-Variable (null-eins Variable) in
den Berechnungen berücksichtigt.
Die Ergebnisse der Schätzungen unseres Statistischen Modells sind in der Tabelle 1 wiedergegeben. Die jeweilige abhängige Variable in der Schätzgleichung befindet sich in der obersten Zeilen. Die Wachstumsraten der Variablen
sind mit ∆SA (Staatsausgaben), ∆ST (Nettosteuern) und ∆BIP (Bruttoinlandsprodukt) bezeichnet. Die abhängigen Variablen sind die verzögerten Werte aller
durch das Modell beschriebenen variablen sowie des Einheits-dummies und der
Konstanten. Der tiefgestellte Buchstabe t bezeichnet die Zeit. Man erkennt an
den Schätzwerten die dynamischen Zusammenhänge in der Volkswirtschaft.
2.2 Impuls-Antwortfunktionen
Eine besonders anschauliche Darstellungsweise dieser Zusammenhänge sind
die sogenannten Impuls Antwort Funktionen. Diese sind in den Abbildungen 3.1
bis 5.3 dargestellt. Die Interpretation dieser Abbildungen ist folgende: Es zeigt
die durch unser geschätztes Modell prognostizierte Auswirkung von den oben
beschrieben Schocks auf alle anderen Variablen im Zeitablauf. Der Schock, der
analysiert wird, ist immer eine einprozentige Erhöhung der jeweiligen Variablen.
Die Wirkungen sind für dasselbe und alle folgenden Jahre angegeben. Es handelt sich dabei ebenfalls um prozentuale Veränderungen in den jeweiligen Jahren. Die gestrichelten Linien geben an, ob die Veränderungen im zum 5% Niveau statistisch signifikanten Bereich liegen.
Für die Finanzpolitik sind insbesondere die Auswirkungen von Staatsausgaben
und Nettosteuern auf das Bruttoinlandsprodukt relevant.
136
–
Auswirkungen von Staatsausgaben
An Abbildung 3.1 erkennt man, dass das Bruttoinlandsprodukt wie erwartet positiv auf Veränderungen in den Staatsausgaben reagiert. Dies ist in Übereinstimmung mit dem keynesianischen Modell. Man sieht aber auch, dass der
Effekt auf dasselbe Jahr, in dem die Staatsausgabenerhöhung durchgeführt
wird, beschränkt ist. Bereits im darauffolgenden Jahr ist die Reaktion nicht im
statistisch signifikanten Bereich. Die geschätzten Werte deuten darauf hin,
dass es bereits nach kurzer Zeit zu negativen Rückwirkungen kommt, die
den ursprünglich positiven Effekt auf das Niveau des BIP wieder eliminieren.
Dies ist im Einklang mit der Vorstellung, dass die Ausgabenpolitik keine dauerhaften Wirkungen auf das Inlandsprodukt hat. Es muss allerdings angemerkt werden, dass aufgrund der großen Konfidenzintervalle, diese Aussage
nicht statistisch gesichert ist. Die Auswirkungen der Staatsausgaben auf die
anderen beiden Variablen ist in den Abbildungen 3.2 und 3.3 dargestellt. Wie
zu erwarten führt eine Erhöhung der Staatsausgaben über die automatischen
Multiplikatoren zu einer Erhöhung der Steuereinnahmen. Außerdem kommt
es zu einer positiven Rückwirkung auf die Staatsausgaben selbst, die in erster Linie durch die in der Regel prozyklische Ausgabenpolitik in Deutschland
bedingt sein dürfte.
–
Auswirkungen von Nettosteuern
Die Auswirkungen Nettosteuern auf das Bruttoinlandsprodukt können der Abbildung 4.1 entnommen werden. Erwartungsgemäß ist diese Reaktion negativ,
allerdings ist sie nicht im statistisch signifikanten Bereich. Ein interessantes
Ergebnis ist sicherlich die signifikante negative Reaktion des BIP im Jahr
nach einer Steuererhöhung. Dies lässt auf eine Wirkungsverzögerung der
Steuererhöhung schließen. Dies ist plausibel, da der Effekt der Steuern in
der Realität nur indirekt über die Konsum- und Investitionsnachfrage auf das
Bruttoinlandsprodukt wirkt. Wenn Konsum und Investitionen einer mittelfristigen Planung unterliegen, dann werden Haushalte und Unternehmen nur mit
Verzögerung auf Änderungen der Gewinne, bzw. des verfügbaren Einkommens reagieren. Summiert man die geschätzten Werte auf, dann ergibt sich
ein negativer Effekt der Steuern auf das BIP in der langen Frist. Dies ist evtl.
durch die verzerrende Wirkung der Steuern zu erklären, die als Wachstumsbremse wirken kann. Es muss aber auch hier angemerkt werden, dass das
Modell eigentlich nicht geeignet ist solche langfristigen Folgen abzuschätzen
und die permanenten Effekte nicht immer statistisch signifikant sind. Eine
genauere Analyse der quantitativen Größe der Wirkungen der Steuerpolitik
und ein Vergleich zum Staatsausgabeneffekt wird im Abschnitt 2.4 vorgenommen. Die prognostizierte Wirkung auf zukünftige Steueränderungen, die
in Abbildung 4.2 wiedergegeben ist, deutet darauf hin, dass Steuererhöhungen und auch -senkungen in der Regel bereits nach einem Jahr wieder rückgängig gemacht werden. Dieses Resultat ist statistisch hoch signifikant und
sehr robust. Die Reaktion der Staatsausgaben, die in Abbildung 4.3 dargestellt ist, ist dagegen insignifikant und nahe bei Null.
137
–
Auswirkungen von Veränderungen des Bruttoinlandsproduktes
Erkennbar an Abbildung 5.1 hat das Bruttoinlandsprodukt den bekannten zyklischen Verlauf. Positiven Veränderungen des Bruttoinlandsproduktes folgen
in der Regel weitere positive Veränderungen (und umgekehrt). Weiterhin ist
zu beobachten, dass die Nettosteuern positiv auf das BIP reagieren (siehe
Abbildung 5.2). Veränderungen des BIP haben sogar Wirkungen auf die
Nettosteuern über das Jahr hinaus in denen die Veränderung stattgefunden
hat. Die mag dadurch bedingt sein, dass Veränderungen der Steuerbemessungsgrundlage bei bestimmten Steuerarten erst im folgenden Jahr ihre Wirkung auf die tatsächlichen Steuerzahlungen zeigen. Wie aus Abbildung 5.3
zu entnehmen ist, reagieren auch die Staatsausgaben positiv auf eine Erhöhung der Steuereinnahmen in den darauffolgenden Jahren. Dies deutet auf
eine in der Regel prozyklische Ausgabenpolitik in Deutschland hin und ist
kompatibel mit den übrigen Ergebnissen des Gutachtens.
2.3 Monetisierung der Effekte
Es bietet sich nun an die bisherige qualitative Analyse durch eine exakte Berechnung der DM Größen zu ergänzen. Hierzu rechnen wir prozentuale Größen
in DM Größen für ein bestimmtes Basisjahr um. Diese Berechnungen wurden
für das Basisjahr 1999 durchgeführt und werden in der Tabelle 2 wiedergegeben. Wie der Tabelle zu entnehmen ist, führt eine Erhöhung der Staatsausgaben um eine DM in demselben Jahr zu einer Erhöhung des Bruttoinlandsproduktes um 1,36 DM. Im darauffolgenden Jahr geht der kumulative Effekt aber
bereits auf 0,58 zurück. Langfristig schwächt sich dieser Effekt dann nahezu auf
0 DM ab. Für die Steuern ergibt sich ein unmittelbarer negativer Effekt einer
Steuereinnahmenerhöhung um eine DM von 0,62 DM auf das BIP. Dieser verstärkt sich im zweiten Jahr bereits auf etwa 1,63 DM und bleibt auch langfristig
auf diesem Niveau. Die Resultate sind mit dem sogenannten HaavelmoTheorem in der keynesianischen Theorie weitgehend verträglich. Dieses besagt, dass es kurzfristig durch eine Budgetverlängerung um 1 DM zu einer Produktionsausweitung um 1 DM kommt. Die Resultate des statistischen Modells
implizieren, dass in Deutschland eine Erhöhung der Staatsausgaben und der
Nettosteuern um 1 DM etwa 0,74 DM an zusätzlichem BIP im selben Jahr bewirken.
138
3.
Ein Vergleich mit Ergebnissen für die USA
Da Ergebnisse für die USA mit einer sehr ähnlichen Methode bereits vorliegen,
soll in diesem Abschnitt ein Vergleich mit den Resultaten für Deutschland präsentiert werden. Es handelt sich dabei um die Studie von Blanchard und Perotti
(1999). In dieser Arbeit untersuchen die Autoren die Effekte von Fiskalpolitik auf
das Bruttoinlandsprodukt in den USA im Zeitraum zwischen 1947 und 1997. Es
werden dabei auch verschiedene statistische Spezifikationen sowie isoliert die
Wirkungen von bestimmten, außergewöhnlich großen Maßnahmen analysiert.
In den folgenden Ausführungen beziehen wir uns auf die Ergebnisse, die dem
von uns gewählten Ansatz entsprechen.
Kommen wir zunächst zu den sofortigen Wirkungen. Die Autoren berechnen,
dass eine Staatsausgabenerhöhung um 1 US$ das BIP in den USA in derselben Periode um 0,96 US$ erhöht. Dies ist etwas niedriger als der hier für
Deutschland ermittelte Wert von 1,36 DM den eine Staatsausgabenerhöhung
um 1 DM auf das BIP hat. Allerdings sind die beiden Zahlen aus deutscher
Sicht statistisch nicht signifikant verschieden, da ein Multiplikator von 0,96 für
Deutschland zu herkömmlichen Signifikanzniveaus nicht abgelehnt werden
kann. Für die Nettosteuern liegen die Zahlen noch enger beisammen. Während
BP für die USA einen Steuermultiplikator von -0,87 für dieselbe Periode berechnen, gelangen wir zu dem Ergebnis, dass eine Erhöhung der Nettosteuern
um 1 DM in Deutschland das BIP um 0,62 DM im selben Jahr senkt. Statistisch
sind die beiden Werte nicht signifikant unterschiedlich.
Was geschieht in den nachfolgenden Jahren? Auch hier ergibt sich zumindest
qualitativ ein recht ähnliches Bild. Allgemein kann man sagen, dass in beiden
Ländern die Effekte der Staatsausgaben eine Abschwächung und die Effekte
der Steuern ein Verstärkung im Zeitablauf erfahren. Allerdings ist für die
Deutschland sowohl die Abschwächung bei den Wirkungen der Staatsausgaben, wie auch die Verstärkung der Wirkungen der Steuern stärker ausgeprägt.
So fällt in Deutschland der Multiplikator im Jahr nach der Erhöhung der
Staatsausgaben auf 0.58, und ist bereits zwei Jahre später praktisch Null. In
den USA dagegen hat eine Erhöhung der Staatsausgaben um 1 US$ einen Effekt von 0,55 US$ auf das BIP im darauffolgenden Jahr und bleibt dann mehr
oder weniger auf einem Wert von ca. 0,6. Es gibt somit einen positiven langfristigen Effekt, der aber nicht statistisch signifikant von Null verschieden ist. Bei
den Steuern berechnen BP einen betragsmäßige Erhöhung des Multiplikators
139
auf -1,07 im darauffolgenden Jahr und eine weitere Erhöhung auf -1,32 nach
zwei Jahren. Auf diesem Niveau bleibt der Wert auch langfristig, und das im
statistisch signifikanten Bereich. Das bedeutet, dass eine Steuererhöhung einen
negativen permanenten Effekt auf das BIP hat, was mit den Resultaten für
Deutschland kompatibel ist. Allerdings erreicht in Deutschland der Effekt einer
Steuererhöhung um 1 DM bereits nach zwei Jahren sein Maximum von -1,63
DM und der Rückgang des BIP bleibt dann etwa auf diesem Wert auch in der
längeren Frist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Ausweitung der
Staatstätigkeit, d.h. eine Erhöhung der Staatsausgaben und Steuern im gleichen Umfang, negative langfristigen Folgen auf das BIP hat, auch wenn die
genaue Größenordnung nur schwer zu quantifizieren ist.
In der größer angelegten Studie von Blanchard und Perotti wird darüber hinaus
auch noch gezeigt, dass die Ergebnisse gegen Änderungen der Annahmen im
statistischen Modell zumindest in der kurzen Frist recht robust sind und mit den
geschätzten Wirkungen von klar identifizierbaren großen diskretionären Maßnahmen übereinstimmen. Dies stärkt die auch von uns verwendete Methode als
ein brauchbares Instrument für die Analyse der betrachteten Zusammenhänge.
140
Abbildung 1.1: Anteil der Staatsausgaben am BIP in %
25
24
23
22
21
20
19
65
70
75
80
85
90
95
Abbildung 1.2: Anteil der Steuereinnahmen am BIP in %
24
23
22
21
20
19
18
65
70
75
80
85
90
95
141
Abbildung 2.1: Wachstumsrate der Staatsausgaben in %
0.20
0.15
0.10
0.05
0.00
-0.05
65
70
75
80
85
90
95
Abbildung 2.2: Wachstumsrate der Steuereinnahmen in %
0.2
0.1
0.0
-0.1
-0.2
65
70
75
80
85
90
95
Abbildung 2.3: Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts in %
0.14
0.12
0.10
0.08
0.06
0.04
0.02
0.00
-0.02
65
142
70
75
80
85
90
95
Tabelle 1: Schätzergebnisse des statistischen Modells
∆SA t
∆ST t
∆BIP t
∆SA t-1
0.25 (0.21)
-0.69 (0.52)
-0.31 (0.21)
∆SA t-2
0.10 (0.19)
0.79 (0.46)*
0.22
(0.19)
∆ST t-1
0.05 (0.10)
-0.59 (0.25)**
-0.12 (0.10)
∆ST t-2
0.21 (0.10)**
0.33 (0.25)
0.09 (0.10)
∆BIP t-1
0.89 (0.30)**
3.50 (0.73)**
0.88 (0.30)**
∆BIP t-2
-0.44 (0.34)
-2.12 (0.83)**
-0.29 (0.34)
Ein
0.15 (0.03)**
0.02 (0.07)
0.06 (0.03)**
Ein t-1
-0.07 (0.04)**
0.01 (0.09)
-0.00 (0.04)
Ein t-2
-0.05 (0.04)
-0.00 (0.09)
-0.04 (0.04)
Konstante
-0.00 (0.01)
-0.00 (0.02)
0.01 (0.01)*
F-Statistik
15.41**
5.29**
4.50**
Bereinigtes R2
0.80
0.54
0.49
Bemerkungen: Die Daten sind bis 1990 für Westdeutschland und ab 1991 für Gesamtdeutschland. Die Schätzmethode ist der Kleinst-Quadrate-Schätzer. Der effektive Beobachtungszeitraum ist 1966-99. Standardfehler sind in Klammern angegeben. 5% signifikante Werte sind mit
** und 10% signifikante mit * gekennzeichnet.
143
Abbildung 3.1: Auswirkungen einer 1%-igen Erhöhung der Staatsausgaben auf die Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes
0.8
0.4
0.0
-0.4
-0.8
01
02
03
04
05
06
07
08
09
10
Abbildung 3.2: Auswirkungen einer 1%-igen Erhöhung der Staatsausgaben auf die Wachstumsrate der Steuereinnahmen
3
2
1
0
-1
-2
01
02
03
04
05
06
07
08
09
10
Abbildung 3.3: Auswirkungen einer 1%-igen Erhöhung der Staatsausgaben auf die Wachstumsrate der Staatsausgaben
1.5
1.0
0.5
0.0
-0.5
-1.0
01
144
02
03
04
05
06
07
08
09
10
Abbildung 4.1: Auswirkungen einer 1%-igen Erhöhung der Steuereinnahmen auf die Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes
0.4
0.2
0.0
-0.2
-0.4
01
02
03
04
05
06
07
08
09
10
Abbildung 4.2: Auswirkungen einer 1%-igen Erhöhung der Steuereinnahmen auf die Wachstumsrate die Steuereinnahmen
1.5
1.0
0.5
0.0
-0.5
-1.0
-1.5
01
02
03
04
05
06
07
08
09
10
Abbildung 4.3: Auswirkungen einer 1%-igen Erhöhung der Steuereinnahmen auf die Wachstumsrate der Staatsausgaben
0.6
0.4
0.2
0.0
-0.2
-0.4
-0.6
01
02
03
04
05
06
07
08
09
10
145
Abbildung 5.1: Auswirkungen einer 1%-igen Erhöhung des Bruttoinlandsproduktes auf die Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes
1.5
1.0
0.5
0.0
-0.5
-1.0
-1.5
01
02
03
04
05
06
07
08
09
10
Abbildung 5.2: Auswirkungen einer 1%-igen Erhöhung des Bruttoinlandsproduktes auf die Wachstumsrate der Steuereinnahmen
4
2
0
-2
-4
01
02
03
04
05
06
07
08
09
10
Abbildung 5.3: Auswirkungen einer 1%-igen Erhöhung des Bruttoinlandsproduktes auf die Wachstumsrate der Staatsausgaben
2.0
1.5
1.0
0.5
0.0
-0.5
-1.0
-1.5
01
146
02
03
04
05
06
07
08
09
10
Abbildung 6: Auswirkungen einer 1%-igen Erhöhung der Staatsausgaben
und Steuereinnahmen auf das Niveau des Bruttoinlandsproduktes
0.4
0.2
0.0
-0.2
-0.4
01
02
03
04
05
Staatsausgabeneffekt
06
07
08
09
10
Steuereinnahmeneffekt
Tabelle 2: In DM bewertete Auswirkungen einer Erhöhung der Staatsausgaben und Steuereinnahmen um eine DM auf das Niveau des Bruttoinlandsproduktes (akkumuliert)
T+1
T+2
T –>∞
SA
1.37
0.58
...
0.08
ST
-0.62
-1.63
...
-1.63
147
Technischer Anhang
A.
Das statistische Modell
Um die Wirkungen fiskalischer Maßnahmen auf den Konjunkturzyklus empirisch
zu beurteilen bietet sich aus ökonometrischer Sicht das sogenannte vektorautoregressive Modell (VAR) an. Das VAR bildet die dynamischen Beziehungen
zwischen den beinhalteten Variablen in einem linearen statistischen Modell ab,
bei dem der heutige Wert einer Variablen durch vergangene Werte der Variablen selbst und aller anderen Variablen bestimmt ist.
Für die Darstellung des Modells werden die n betrachteten Variablen in einem
Vektor y t = ( y1t ,..., ynt )' zusammengefasst, der annahmegemäß folgendem stochastischen Prozess folgt:
y t = c + Φ1 y t −1 + Φ 2 y t − 2 + ... + Φ p y t −p + ε t
wobei ε t ~ i.i.d. N (0, Ω) . Der Vektor c beinhaltet die Konstanten der Gleichungen und die Matrizen Φ1 ,..., Φ n geben die Wirkungen der vergangenen Werte
des Vektors auf die gegenwärtigen Werte der einzelnen Variablen an. Wie viele
vergangene Werte berücksichtigt werden ist durch die lag-Ordnung p angegeben. Die Parameter des Systems können konsistent und effizient mit Hilfe der
Methode der kleinsten Quadrate für jede Gleichung getrennt geschätzt werden.
Die VAR-Residuen ε t sind gleichzeitig die Prognosefehler, d.h.
ε t = y t − E t −1 (y t )
und werden auch als Innovationen oder Schocks bezeichnet. Um die Wirkungen einer Veränderung in einer Variablen auf die anderen Variablen zu analysieren werden nach erfolgter Schätzung der Parameter die Wirkungen eines
solchen Schocks auf die Prognosen der anderen Größen simuliert. Die ist die
sogenannte Impuls-Antwortfunktion, die die Grundlage der Schätzungen im
Gutachten bildet.
Ein zentrales Problem ist allerdings, dass diese Schocks in der Regel noch
nicht direkt interpretierbar sind, da sie miteinander korreliert sind. Folglich ist
148
z.B. ein Schock bei den Steuern nicht notwendigerweise auf eine Politikmaßnahme des Finanzministers zurückzuführen, sondern hängt über die automatischen Stabilisatoren direkt mit einem Schock im Bruttoinlandsprodukt zusammen. Wenn nun aber das Interesse den Politikmaßnahmen gilt, dann müssen
diese Effekte zunächst säuberlich von einander getrennt werden. Zu diesem
Zweck wird der eben beschriebene Ansatz um strukturelle Elemente erweitert.
Konkret bedeutet dies, dass angenommen wird, dass die Kovarianzmatrix der
Störterme Ω durch das Zusammenwirken von unkorrelierten strukturellen
Schocks u t und zweier kontemporärer Wirkungsmatrizen B und R erklärt werden kann.
Statistisch ergibt sich folgender Zusammenhang zwischen den VAR-Residuen
und den strukturellen Schocks:
Bε t = Ru t
⇔ ε t = B −1 Ru t
wobei u t ~ i.i.d. N (0, Σ) und die Kovarianzmatrix Σ eine Diagonalmatrix ist. Sind
die Matrizen B und R bekannt, dann kann jedem strukturellen Schock uit ein
entsprechender Vektor von Schocks ε t zugeordnet werden. Es ist erforderlich
gewisse identifizierende Annahmen zu treffen um die beiden Matrizen schätzen
zu können. Dies geschieht auf Basis der folgenden Gleichungen:
= B-1R R'B-1'
Aus den n(n+1)/2 Varianzen und Kovarianzen der Matrix Ω ergeben sich maximal n(n+1)/2 unabhängige Gleichungen aus denen sich maximal n(n+1)/2
Unbekannte berechnen lassen. Dazu gehören in der Regel die n Varianzen der
Matrix . Somit verbleiben n(n-1)/2 freie Parameter für die Matrizen B und R.
Welche das im einzelnen sind, wird im folgenden anhand der konkreten Anwendung des Modells im Gutachten diskutiert.
Das Modell im Gutachten folgt im wesentlichen dem Ansatz von Blanchard/Perotti (1999). Der Variablenvektor beinhaltet die realen jährlichen
Wachstumsraten der Staatsausgaben yta , der Nettosteuern yts , und des Bruttonlandsproduktes ytx , die annahmegemäß dem folgenden VAR folgen:
149
y t = c + Φ1 y t −1 + Φ 2 y t −2 + Eβ + ε t
wobei y t = ( yta , yts , ytx )' und E = (e e −1 e − 2 ) . Die Vektoren in der Matrix E sind
kontemporäre und verzögerte Wiedervereinigungsdummies für das Jahr 1991,
die faktisch zum Ausschluss der Beobachtungen für die Jahre 1991,1992 und
1993 aus der Regression führen.
Für die Identifikation der Schocks ist es müssen Restriktionen auf die Matrizen
B und R auferlegt werden, so dass nur 3(3-1)/2 = 3 freie Parameter verbleiben.
Es werden folgende Beziehungen zwischen den Schocks unterstellt:
æ 1
ç
ç 0
ç− b
è 31
0
1
− b32
0 öæ ε ta ö æ 1
÷ç ÷ ç
− b23 ÷ç ε ts ÷ = ç r21
1 ÷øçè ε tx ÷ø çè 0
r12
1
0
r13 öæ u ta ö
÷ç ÷
0 ÷ç u ts ÷
1 ÷øçè u tx ÷ø
Hierbei sind b31 und b32 die Effekte von Ausgaben bzw. Einnahmenschocks auf
das Bruttoinlandsprodukt. Der Parameter b32 gibt den Effekt von Schocks im
Bruttoinlandsprodukt auf die Einnahmen an und wird aus bekannten Werten für
Steueraufkommenselastizitäten in Deutschland ermittelt. Die zwei Variablen r12
und r21 beschreiben die Korrelation zwischen Staatsausgabenschocks und Einnahmenschocks innerhalb eines Jahres. Um das System zu identifizieren wird
r12 oder r21 auf Null gesetzt. Es gibt keine klare Intuition welche Annahme plausibler ist. Da sich jedoch zeigt, dass die Ergebnisse von dieser Wahl praktisch
nicht beeinflusst werden, ist das Problem von untergeordneter Bedeutung. Da
die Matrizen mit b31 und r13 immer noch einen freien Parameter zuviel enthalten
muss eine zusätzliche Restriktion eingeführt werden. Mit Quartalsdaten ist es
recht plausibel anzunehmen, dass Innovationen im BSP keine direkte Rückwirkung auf die Staatsausgaben haben, da der Staat so kurzfristig nicht reagieren
kann. Dies ist auch die Annahme, die von Blanchard und Perotti getroffen wird.
Da Quartalsdaten jedoch große Probleme bezüglich der Modellierung der Saison bereiten, benutzen wir sie nur zur Abschätzung der direkten Wirkung des
Staatsausgabenschocks, d.h. b31. Wir können dann in unserem VAR mit Jahresdaten den verbleibenden Parameter r13 identifizieren.
Im Gutachten werden nach erfolgter Schätzung aller Parameter die erwarteten
Wirkungen von strukturellen Staatsausgabenschocks und -einnahmenschocks
auf die zukünftigen Werte aller Variablen simuliert. Die Standardvorgehenswei-
150
se ist hierbei eine Simulation des vollständigen Systems durchzuführen. Dies
bedeutet allerdings, dass die beobachteten dynamischen Wirkungen auf das
Bruttoinlandsprodukt nicht allein durch den eingespeisten Schock, sondern
auch durch die prognostizierten Veränderungen der Politikvariablen selbst bedingt sind. Aus wissenschaftlicher Sicht ist dies die korrekte Vorgehensweise,
berücksichtigt sie doch die faktischen Zusammenhänge zwischen verschiedenen Politikvariablen im Beobachtungszeitraum.
B.
Daten
Die für die Schätzungen verwendeten Jahresdaten stammen aus dem OECD
Economic Outlook. Es gelten die folgenden Definitionen unter Angabe der Originalcodes in englischer Sprache:
Staatsausgaben = CGNW + CGW + IG
Nettosteuern = SSRG + TY + TIND + TRRG – TSUB – SSPG – TRPG
wobei
- CGNW: Staatlicher Konsum ohne Löhne
- CGW: Staatlicher Konsum: Löhne
- IG: Staatliche Investitionen
- SSRG: Sozialversicherungsbeiträge
- TY: Direkte Steuern
- TIND: Indirekte Steuern
- TRRG: Sonstige Steuern
- TSUB: Subventionen
- SSPG: Ausgaben der Sozialversicherung
- TRPG: Sonstige Transfers
Beide Größen wurden, genauso wie das Bruttoinlandsprodukt, für die statistische Analyse mit dem Preisdeflator des BIP in reale Größen umgerechnet. Im
statistischen Model finden die ersten Differenzen der natürlichen Logarithmen
Verwendung, die der jährlichen Wachstumsrate entsprechen.
Die Quartalsdaten für Deutschland stammen aus der vierteljährlichen VGR des
DIW. Es sind
Staatsausgaben = Öffentlicher Verbrauch (3102) + Bruttoinvestitionen des
Staates (153)
Nettosteuern = Saldo der laufenden Übertragungen des Staates (352_59)
151
wobei die Nummern in Klammern die entsprechenden Reihen in der elektronischen Datenbank des DIW bezeichnen. Die jährliche Summe dieser so definierten Werte entspricht den Jahresdaten von der OECD bis auf sehr kleine
Abweichungen.
C.
Elastizitäten
Für die Identifikation des Systems ist, wie oben beschrieben, a priori Information über die Steueraufkommenselastizitäten notwendig. Um diese zu berechnen
greifen wir auf Schätzungen der OECD zurück (Giorno et. al., 1995). Dort sind
die folgenden Werte angegeben, wobei wir zum Vergleich auch die Daten für
die USA aufführen.
Direkte UnDirekte
ternehmens- Steuern der
steuern
Haushalte
Indirekte
Steuern
Sozialversicherungsbeiträge
Ausgaben der
Arbeitslosenversicherung
Deutschland
2,5
0,9
1,0
0,7
-0,6
USA
2,5
1,1
1,0
0,8
-0,2
Aus diesen Elastizitäten kann nun eine Elastizität für die gesamten Nettosteuern berechnet werden. Es gilt folgender Zusammenhang zwischen der Elastizität der Nettosteuern T und den Elastizitäten der Bestandteile Ti:
n
T = å Ti
i =1
Þ
n
∂T
∂T
=å i
∂Y i =1 ∂Y
⇔
n
∂T Y Ti
∂T Y
=å i
∂Y T i =1 ∂Y Ti T
Konkret bedeutet dies, dass die Gesamtelastizität die gewichtete Summe der
Elastizitäten der Bestandteile ist. Dies ist unabhängig davon ob diese Bestandteile positiv oder negativ in die Summe eingehen. Als Referenzjahr für die Berechnung der Gewichte diente i.d.R. 1999, für die Arbeitslosenversicherung
1995.
Die Daten für die Ausgaben der Arbeitslosenversicherung stammen aus der
OECD Social Expenditure Datenbank: 10.1 Unemployment compensation, public, at current prices.
Die Berechnungen führten zu dem folgenden Wert:
Aufkommenselastizität der Nettosteuern in Deutschland:
0,12 * 2,5 + 0,34 * 0,9 + 0,59 * 1,0 + 0,90 * 0,7 + (-0,10) * (-0,6) = 1,89
152
Anhang 2
Makropolitik und Strukturreformen in ausgewählten Ländern1
1.
Das „Modell“ USA
1.1 Gesamtwirtschaftliche Entwicklung
Die USA befinden sich derzeit in einem historisch langen Konjunkturaufschwung (bisher 9 Jahre) und trotz einer sich nun abzeichnenden Verlangsamung, ist ein Ende nicht abzusehen. Seit Anfang 1993 hat sich die Zahl der abhängig Beschäftigten um 20 Millionen erhöht. Durch die hohe Beschäftigung
und das in den letzten Jahren kräftige Produktivitätswachstum konnte das ProKopf Einkommen im Zeitraum 1993 bis 1999 um jährlich 2,7% zunehmen.2
Gemäß einer neuen Weltbankstudie ist das amerikanische Pro-Kopf Einkommen (in Kaufkraftparitäten gerechnet) derzeit 47% höher als das deutsche. Der
Anteil der Beschäftigten an der Erwerbsbevölkerung ist weiter gestiegen und
betrug zuletzt 67%. Gleichzeitig ist die Arbeitslosenquote auf 4,2% gefallen, das
niedrigste Niveau seit 30 Jahren.
Damit fällt die Wachstums- und Beschäftigungsbilanz der USA in den neunziger
Jahren deutlich positiver aus als in den meisten anderen Industrieländern einschließlich Deutschlands (Vgl. Abb. 1.1).3 Der in den 60er bis zu den 80er Jahren trendmäßige leichte Anstieg der Arbeitslosenquote wurde in den 90er Jahren umgekehrt. Die Ergebnisse zahlloser empirischer Untersuchungen zeigen,
dass dafür das Zusammenwirken einer ganzen Reihe von Faktoren maßgeblich
ist, die Anreize für Arbeitsangebot und -nachfrage bestimmen und die Flexibilität beeinflussen, mit der sich die Arbeitsmärkte an exogene Schocks anpassen.
1
2
3
Vgl. zum folgenden Leibfritz u.a.a.a.O.
Nach einer nur zögerlichen Entwicklung in den ersten Jahren des Aufschwungs, hat sich die
Produktion pro Stunde zwischen dem vierten Quartal 1995 und dem dritten Quartal 1999 um
jährlich 2,8% beschleunigt. Die realen Bruttolöhne und -gehälter stiegen 1995-99 um durchschnittlich 2%.
Zwischen 1970 und 1997 hat sich die Erwerbstätigenzahl in den USA von 78,7 Mill. auf
129,6 Mill. um rund 65 % erhöht. In Westdeutschland blieb sie mit 26,7 Mill. bzw. 27,5 Mill.
annähernd konstant (Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1998/99, Tab. 1* und 16*). In
den Vereinigten Staaten hat auch das in Stunden gemessene Arbeitsvolumen mit dem Anstieg der Erwerbstätigenzahl Schritt gehalten, während es in Deutschland – vor allem durch
Verkürzungen der jährlichen Arbeitszeit Vollzeitbeschäftigter – im Zeitablauf sogar gesunken
ist (Ochel, 1998: S. 264).
153
Abbildung 1.1
USA
Reales Bruttoinlandsprodukt (1970=100)
200
OECD
USA
180
D
160
140
120
100 BIP (Index)
220
1970
75
80
85
90
95
1998
Erwerbstätige (Index)
Entwicklung der Erwerbstätigenzahl (1970=100)
160
USA
140
OECD
West-D
100 120
80
1970
75
80
85
90
95
1998
Entwicklung des Arbeitsvolumens (1973=100)
USA
140
Arbeitsvolumen
a)
(Index)
160
120
100
80
1970
a)
West-D
75
80
85
90
95
1998
Erwerbstätigenzahl x durchschn. Arbeitsstunden je Erwerbstätigen.
Quelle: SVR, Jahresgutachten 1998/99, 1999/2000; OECD, Economic Outlook,
div. Jge.; OECD, Employment Outlook, div. Jge.; Berechnungen des ifo
Instituts.
Anders als in der deutschen Diskussion gelegentlich vermutet, sind im Zuge
des Beschäftigungswachstums in den USA während der letzten zwei Jahrzehnte nicht vorrangig schlecht bezahlte Jobs mit geringen Qualifikationsanforderungen entstanden. Zwar konzentriert sich die Zunahme der Beschäftigung auf
den Dienstleistungssektor, in dem die Entlohnung im Durchschnitt niedriger ist
als in der Industrie. Innerhalb des Dienstleistungssektors ist jedoch, gemessen
an Löhnen und nachgefragten Qualifikationen, ein breites Spektrum an neuen
Arbeitsplätzen entstanden (Rosenthal, 1995; Ilg, 1996). Die Anteile von Selbständigen, Teilzeitbeschäftigten sowie Erwerbstätigen mit mehreren Beschäfti-
154
gungsverhältnissen sind seit Anfang der 80er Jahre annähernd konstant geblieben (Werner, 1997: S. 592–594; OECD, 1997: S. 177; Stinson, 1997).
Im Gegensatz zum Zeitabschnitt 1973-93 hat sich die Einkommensverteilung
nach 1993 wieder verbessert: Das Einkommen von Familien im untersten Quintil ist mit einer Jahresrate von 2,7% etwas mehr gestiegen als die 2,4% des obersten Quintils. Auch ist die Qualität der Beschäftigung zunehmend gestiegen.
Eine Studie des Council of Economic Advisers und des Department of Labor
hat nachgewiesen, dass 81% der Arbeitsplätze, die zwischen 1993 und 1999
geschaffen worden sind, überdurchschnittlich entlohnt wurden und dies galt
immer noch für 71%, wenn hochqualifizierte Beschäftigte unberücksichtigt blieben. Auch ist der Prozentsatz der Amerikaner, die unterhalb der Armutsgrenze
leben, zwischen 1993 und 1998 von 15,1% auf 12,7% gefallen.
Nach dem relativ langsamen Wachstum in den siebziger und achtziger Jahren
und zunehmender Einkommensungleichheit haben die neunziger Jahre also ein
kräftiges und gleichmäßiger verteiltes Wachstum gebracht. Im folgenden wird
zunächst untersucht, welchen Beitrag dazu die Makropolitik, konkret die Finanzpolitik und die Geldpolitik geleistet haben. Anschließend wird dann auf die
strukturpolitischen Gegebenheiten im Steuersystem, im Sozialsystem und am
Arbeitsmarkt eingegangen.
Finanzpolitik
Die amerikanische Finanzpolitik hat in den vergangenen Jahren hauptsächlich
durch eine konsequente Haushaltsdisziplin zu der robusten Verfassung der amerikanischen Wirtschaft beigetragen. Während zu Beginn der neunziger Jahre
noch hohe strukturelle Budgetdefizite verzeichnet wurden, welche der Konjunkturschwäche 1990/91 entgegenwirkten, wurde mit dem Omnibus Budget
Reconciliation Act von 1993 eine Phase der Haushaltskonsolidierung eingeleitet. Diese wurde mit dem Balanced Budget Act von 1997 und dem Vetos des
Präsidenten gegen die Forderung massiver Steuersenkungen im Jahre 1999
his heute fortgesetzt. Der Anteil der Bundesausgaben am Bruttoinlandsprodukt
sank von 1992 auf 1999 um 5 Prozentpunkte (von 23,7 % auf 18,7 %) (vgl. Abb.
1.2). Unter der Annahme, dass die vom Präsidenten vorgeschlagenen Maßnahmen umgesetzt werden, prognostiziert das Finanzministerium für 2010 einen weiteren Rückgang des Anteils der Bundesausgaben am Bruttoinlandsprodukt auf 16,7%.
155
Noch 1996 hatte die Congressional Budget Office (CBO) hohe und wachsende
Haushaltsdefizite prognostiziert, während inzwischen hohe und steigende Überschüsse prognostiziert werden. Die veränderten Budgetprognosen beruhen
zu etwa gleichen Teilen auf revidierten Konjunkturprognosen (höhere Wachstumsraten und niedrigere langfristige Zinsen) und einer höheren Auskommenselastizität des Steuersystems. So wurde und wird bei den persönlichen Einkommensteuern ein überraschend hohes Aufkommen erzielt, das nicht zuletzt
auch auf hohen Einnahmen aus der Veräußerungsgewinnsteuer (capital gains
tax) beruht.
Durch den Umschwung des Budgetsaldos vom Defizit zum Überschuss wurde
die Bundesregierung zu einem Netto-Sparer, der die Investitionen der Privatwirtschaft mitfinanzieren kann. Im Jahr 1999 betrug der Haushaltsüberschuss
des Bundes 124 Mrd. $, während im Jahr 1992 noch ein Defizit von 290 Mrd. $
entstanden war. Zwar hat das starke Wirtschaftswachstum zu der Verbesserung der fiskalischen Situation beigetragen. Aber auch der strukturelle Saldo
weist für 1999 einen Überschuss aus.
Nach Überwindung der Rezession 1991 war damit die Finanzpolitik in den USA
– was die Nachfrageseite betrifft – restriktiv ausgerichtet, was in Aufschwungsphasen ja konjunkturpolitisch geboten ist. Insgesamt haben die Staatsausgaben
nur einen kleinen Teil zum gesamtwirtschaftlichen Nachfragewachstum der
neunziger Jahre beigetragen und damit die Konjunktur tendenziell gedämpft.
Von der Angebotsseite wirkte die Finanzpolitik aufgrund der Haushaltskonsolidierung und der damit einhergehenden Entlastung des Kapitalmarktes zinssenkend und damit positiv auf die mittelfristigen Wachstumsbedingungen.
156
Abbildung 1.2
USA
Wirtschaftswachstum und Beschäftigung
Veränderung des realen BIP gegenüber dem Vorjahr in %
Veränderung der Beschäftigung gegenüber dem Vorjahr in %
6
6
4
4
2
2
0
0
-2
-2
82
85
90
Entwicklung des Staatshaushalts
Staastausgaben
40
95
a)
98
in % des BIP
Staatseinnahmen
40
38
38
36
36
34
34
32
32
30
30
82
85
90
95
98
4
4
Finanzierungssaldo
2
2
0
0
-2
-2
-4
-4
82
85
90
95
98
a)
Gebietskörperschaften und Sozialversicherung in der Abgrenzung der
Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.
Quelle: OECD.
1.2
Geldpolitik
Während die Finanzpolitik der letzten Jahre restriktiv war, wurde die Geldpolitik
vergleichsweise expansiv gestaltet. Dies wurde durch die relativ hohe Preisstabilität ermöglicht. Im Jahr 1994 fiel die Arbeitslosenquote zum ersten Mal unter
6%, das niedrigste Niveau, das bislang mit einer Nichtbeschleunigung der Inflation vereinbar schien. In den folgenden Jahren ging sie sogar bis auf 4,2% zurück, ohne dass sich der Preisanstieg beschleunigte. Die Kerninflationsrate fiel
bei rückläufiger Arbeitslosenquote weiter. Die Lohnsteigerungen wurden durch
Produktivitätswachstum ausgeglichen, so dass sich die Lohnstückkosten nicht
erhöhten.
157
Diese günstige gesamtwirtschaftliche Preisentwicklung hat der Zentralbank einen großen Spielraum gegeben, um auf mögliche Gefährdungen des Aufschwungs zu reagieren. Ein Anziehen der Inflation hätte jedoch sicherlich eine
restriktive Geldpolitik ausgelöst mit höheren Zinssätzen, Rückschlägen auf den
Aktienmärkten, und negativen Auswirkungen auf den privaten Verbrauch und
die Investitionen.
Die Zinsen waren (gemessen am Tagesgeldsatz, der Federal Funds Rate) von
dem niedrigen Niveau von 3% des Jahres 1993 bis auf 6% im Juni 1995 hinaufgeschraubt worden, wurden dann im Laufe des Jahres jedoch wieder auf 5
¼% abgesenkt. In den nächsten zwei Jahren blieben sie in etwa auf einem Niveau von 5 ½ % bis sie im vierten Quartal 1998 in Reaktion auf die Turbulenzen
auf den internationalen Finanzmärkten bis auf 4 ¾% reduziert wurden. Als im
Laufe des Jahres 1999 das Inflationsrisiko anstieg, wurde der Tagesgeldsatz in
drei Schritten erhöht, so dass im November die Zinssenkungen des Jahres
1998 wieder rückgängig gemacht worden waren. Nun stand der Tagesgeldsatz
wieder bei 5 ½ %. Zwei weitere Erhöhungen im Februar und März 2000 brachten ihn dann zuletzt auf 6%. Betrachtet man den um die Kerninflationsrate bereinigten realen Tagesgeldsatz, der 1993 noch fast bei null lag, dann bewegte
sich dieser in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre nur geringfügig über dem
langjährigen Durchschnitt (vgl. Abb. 1.3). Während fast der ganzen zweiten
Hälfte der neunziger Jahre kann man daher die amerikanische Geldpolitik unter
Berücksichtigung der kräftigen Konjunktur als eher locker bezeichnen.
Die Finanzpolitik, die durch einen Abbau des strukturellen Defizits den Rückgang der Kapitalmarktzinsen begünstigt und damit die Investitionen angeregt
hat und die auf Grund der ruhigen Preisentwicklung möglichen relativ lockeren
Geldpolitik haben zusammen gemeinsam zum raschen Wirtschaftswachstum
und zum starken Beschäftigungsanstieg beigetragen. Neben dieser erfolgreichen Makropolitik haben eine Reihe von Strukturreformen bzw. die schon vorhandenen strukturellen Gegebenheiten die günstige Wirtschaftsentwicklung in
den USA unterstützt. Dabei beeinflussten sich die Politikbereiche gegenseitig.
So erleichterte das erfolgreiche Zusammenwirken von Geld- und Finanzpolitik
die Durchführung von Strukturreformen. Andererseits wurde die Makropolitik
ihrerseits durch die preisdämpfenden Effekte der Strukturreformen und verschiedener Deregulierungen (Energie, Telekommunikation) unterstützt. Im
158
Abbildung 1.3
Nominale und reale Geldmarktzinsen1) in den USA
12
12
%
%
10
10
Nominalzins
8
8
6
6
4
4
2
0
2
langjähriger Durchschnitt
Realzins
1)
-2
0
-2
1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000
1) Federal Funds.
2) Federal Funds abzüglich Kerninflationsrate.
Quelle: Federal Reserve Board, Bureau of Labor Statistics und Berechnungen des ifo Instituts.
folgenden wird untersucht, welche Beiträge die Steuerreformen und die strukturellen Gegebenheiten des Arbeitsmarktes zu der günstigen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geleistet haben.
1.3
Strukturreformen
1.3. 1 Steuerreformen
In den USA wurden in den letzten 20 Jahren insbesondere zwei große Steuerreformen durchgeführt. Die Steuerreform 1981 (Economic Recovery Tax Act)
hatte insbesondere das Ziel, das Wirtschaftswachstum zu erhöhen. Dabei wurden die Grenzsteuersätze für alle Einkommensgruppen deutlich gesenkt (vgl.
Tabelle 1.1). Ferner wurde ein günstigeres Abschreibungssystem eingeführt
(Accelerated Cost Recovery System) und die Investitionszulage wurde auf bisher nicht geförderte kurzlebige Investitionsgüter ausgeweitet (Investment Tax
Credit, ITC) ausgeweitet. Mit der Steuerreform 1986 wurde vor allem das Ziel
verfolgt, die Verzerrungen des Steuersystems, die durch die Reform 1981 sogar
noch vergrößert worden waren, zu verringern, und das Steuersystem zu vereinfachen (fairness and simplicity). Die wichtigsten Maßnahmen waren die Abflachung des Einkommensteuertarifs mit der Senkung des Spitzensteuersatzes
159
Tabelle 1.1: Entwicklung der Steuersätze in den USA
1980 1985 1988 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997
Spitzensatz der Bundesa)
Einkommensteuer
Steuer auf
b)
Kapitalgewinne
Spitzensatz der Bundesc)
Körperschaftsteuer
Körperschaftsteuersystemd)
1998
1999
70
50
28
28
31
31
39,6
39,6
39,6
39,6
39,6
39,6
39,6
28
20
28
28
31
31
28
28
28
28
20
20
20
46
46
34
34
34
34
35
35
35
35
35
35
35
KL
KL
KL
KL
KL
KL
KL
KL
KL
KL
KL
KL
KL
a) Sowohl auf der einzelstaatlichen Ebene als auch auf der lokalen Ebene wird zusätzlich zur Bundessteuer eine
Einkommensteuer erhoben. In der Regel sind einzelstaatliche und lokale Steuer von der Bemessungsgrundlage der
Bundessteuer absetzbar. Beispiel New York für 1999: Staat und Stadt New York erheben eine Einkommensteuer in
Höhe von 6,85 % bzw. 3,4 %, was einer Gesamtbelastung von 45,79% entspricht. - b) Steuer auf realisierte, langfristige Kapitalgewinne. – c) Vgl. Fußnote (a). Die Körperschaftsteuer der Einzelstaaten streute 1999 zwischen 4 und
12 % (New York: 9 %), die der Kommunen zwischen 1 und 2 % (Ausnahme New York: 8,85 %). Beispiel New York:
Die Gesamtbelastung lag 1999 bei 46,6 %. – d) KL: Klassisches System.
Quelle: Coopers & Lybrand (verschiedene Jahrgänge), PricewaterhouseCoopers (1999).
auf 28 % und die Senkung des Körperschaftsteuersatzes von 46 % auf 34 %,
sowie die Verbreiterung der Steuerbemessungsgrundlage (Abschaffung der
allgemeinen Investitionszulagen (ITC) sowie Rücknahme der früheren Verbesserungen bei den steuerlichen Abschreibungen, Wiedereinbeziehung der Kapitalgewinne in die Einkommensteuer, Besteuerung der Arbeitslosenunterstützung und Abschaffung der Abzugsmöglichkeit der privaten Zinsausgaben und
sonstiger Vergünstigungen). Insgesamt gesehen haben diese Steuerreformen
zu einer Senkung der Durchschnittssteuerbelastung geführt, die allerdings
durch die gleichzeitige Erhöhung der Sozialabgaben nahezu wettgemacht wurde.1 Deutlich zurück ging dagegen die Grenzabgabenbelastung bei den mittleren und höheren Einkommen.
1
160
So stieg der durchschnittliche Sozialabgabensatz in dieser Dekade für eine Familie mit mittlerem Einkommen um 2,7 Prozentpunkte (Bosworth und Burtless, 1992). Für Familien mit
unterdurchschnittlichem Einkommen brachten die Steuerreformen unter Berücksichtigung
der gleichzeitigen Erhöhung der Sozialabgaben nur geringe Vorteile; der durchschnittliche
Abgabensatz ging zwar unmittelbar nach den Steuerreformen 1981 und 1986 etwas zurück,
aber später erhöhte er sich wieder; er war im Jahr 1990 wieder höher als im Jahr 1981. Auch
die Grenzabgabenlast ging aufgrund der Steuerreform zurück, um dann später aufgrund der
höheren Sozialabgaben wieder zu steigen; im Jahr 1990 war sie mit 30,3 % nur noch um
knapp 1 Prozentpunkt geringer als 1981. Auch für die Familien mit mittlerem Einkommen
wurde die Senkung der durchschnittlichen Steuerbelastung durch die Erhöhung der Sozialabgaben weitgehend ausgeglichen, so dass die durchschnittliche Abgabenbelastung im Jahr
1990 nur wenig geringer war als 1981. Die Grenzabgabenbelastung ging für diesen Perso-
Die gesamtwirtschaftliche Ersparnis ist in den USA in Relation zum Bruttoinlandsprodukt seit den sechziger Jahren gefallen. Seit Mitte der neunziger Jahre
ist wieder ein Anstieg der Sparquote zu konstatieren. Allerdings war die private
Sparquote im gesamten Beobachtungszeitraum tendenziell rückläufig, während
die staatliche Sparquote ihren Tiefpunkt im Durchschnitt der Jahre 1990-95 erreichte und seitdem kontinuierlich steigt.
Die Steuerreformen 1981 und 1996 haben sicherlich einen Beitrag zum sektoralen Strukturwandel in den USA geleistet. Während der kapitalintensive industrielle Sektor von der Steuerreform 1981 durch die Einführung des Accelerated Cost Recovery System in größerem Ausmaß profitiert haben dürfte als
der arbeitsintensive Dienstleistungssektor, galt für die Steuerreform 1986 das
Umgekehrte. Die Verlängerung der Abschreibungsperioden und die stärkere
Senkung der Steuersätze bevorzugte den arbeitsintensiven Dienstleistungssektor.
Es gibt mehrere Untersuchungen, die einen positive Wirkung der beiden Steuerreformen 1981 und 1986 auf die Beschäftigung nachweisen, so insbesondere
die Studien von Bosworth und Burtless (1992), Burtless (1991), Lindsay (1988)
und Eissa (1995). Das Arbeitsangebot wurde demnach bei (nahezu) allen Einkommensgruppen ausgeweitet und sogar bei den gering Verdienenden, obwohl
deren Grenzbelastung in den achtziger Jahren tendenziell anstieg. Die verheirateten Frauen erhöhten nach den Steuerreformen ihre Erwerbstätigkeit besonders stark.
Bosworth und Burtless (1992) gruppieren die 25- bis 64-Jährigen nach ihrem zu
versteuernden Einkommen und ermitteln die Veränderung des Arbeitsangebots
infolge der Steuerreformen in den achtziger Jahren. Ihren Schätzungen zufolge
lag das Arbeitsangebot von Männern im Jahr 1989 im Durchschnitt um 6 %, das
von Frauen um 5,4 % über dem Niveau, das erreicht worden wäre, hätte sich
der vor 1981 zu beobachtende Trend fortgesetzt. Entgegen den Erwartungen
wurde allerdings das Arbeitsangebot nicht in der höchsten, sondern in der niedrigsten Einkommensgruppe - die am wenigsten von den Steuersenkungen pronenkreis aufgrund der Steuerreform 1986 aber deutlich zurück (um rund 7 Prozentpunkte).
Den größten Vorteil von den Steuerreformen hatten die höheren Einkommen; für diese sank
die durchschnittliche Abgabenbelastung leicht und die Grenzabgabenbelastung sehr stark,
und zwar um etwa 15 Prozentpunkte von 43 % 1980 auf 28 % 1990; aufgrund der Beitragsbemessungsgrenzen bei den Sozialabgaben waren diese Familien von der Erhöhung der
Sozialabgaben nicht betroffen, so dass sich die Senkung der Grenzsteuersätze voll in der
Senkung der gesamten Grenzabgaben niederschlug.
161
fitierte - am stärksten erhöht. Dies deutet darauf hin, dass die Arbeitsangebotserhöhung nur zum Teil auf die in den achtziger Jahren durchgeführten Steuerreformen zurückzuführen ist (Bosworth und Burtless, 1992: 23).
Trotz der beiden Steuerreformen kam es in den achtziger Jahren nicht zu einem
deutlichen Rückgang der staatlichen Einnahmequote. In den neunziger Jahren
stieg die Einnahmequote sogar deutlich an. Die hohen Budgetdefizite in der
ersten Hälfte der achtziger Jahre und dann auch wieder zu Beginn der neunziger Jahre sind vor allem Reflex der hohen bzw. über den Einnahmen liegenden
Staatsausgaben. Die Konsolidierung auf der Ausgabenseite in den neunziger
Jahren hat zusammen mit dem wachstumsbedingten Anstieg der Einnahmen
dazu geführt, dass, wie oben erwähnt, das gesamtstaatliche Budgetdefizit abgebaut und inzwischen Budgetüberschüsse erzielt werden.
1.3.2 Flexibilität des Arbeitsmarktes und Sozialsystem
Ob und in welchem Maße die Makropolitik sowie Reformen des Steuersystems
Wachstum und Beschäftigung erhöhen, hängt auch davon ab, wie flexibel die
Arbeitsmärkte sind und welche positiven oder negativen Arbeitsanreize vom
System der sozialen Sicherung ausgehen.
Neben der Abgabenbelastung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, konzentriert sich die Diskussion institutioneller Determinanten dieser Entwicklungen auf
−
die nationalen Systeme zur Festlegung von Löhnen und weiteren Arbeitsbedingungen, insbesondere Bedeutung und Verhalten von Gewerkschaften,
−
sonstige Arbeitnehmerschutzbestimmungen, vor allem soweit sie die Auflösung von Arbeitsverhältnissen betreffen,
−
Niveau und Befristung von Leistungen zur sozialen Sicherung von Arbeitslosen und sonstigen Nicht-Erwerbstätigen.
Der Grad an Regulierung und Institutionalisierung der Arbeitsmärkte in den
USA ist im internationalen Vergleich relativ gering. Von besonderer Bedeutung
ist dabei ein von Anfang an stark dezentrales System der Lohnfindung und der
Festlegung sonstiger Arbeitsbedingungen. In der Vergangenheit ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der Privatwirtschaft deutlich gefallen, nicht zuletzt weil er im expandierenden Dienstleistungssektor praktisch keine Rolle
mehr spielt (vgl. Tabelle 1.2). Entscheidender ist, dass Tarifverhandlungen in
den USA gegebenenfalls nur auf Firmenebene geführt werden und eine Koordination von Verhandlungszielen der Tarifparteien nicht stattfindet. Sowohl der
rechtliche Geltungsbereich von Tarifvereinbarungen als auch ihre Ausstrahlung
sind dadurch wesentlich begrenzter als in Deutschland.
162
Generell ist die Spreizung der Lohnstruktur, nach Qualifikation, beruflicher
Stellung, Alterskohorten oder Berufserfahrung in den Vereinigten Staaten deutlich ausgeprägter als hierzulande. Zahlreiche Studien zeigen, dass sich die wesentlichen Trends von Lohnniveau und Lohnstrukturen in den USA, unter Berücksichtigung exogener Entwicklungen wie technologischen Wandels und verstärkten internationalen Handels, zu großen Teilen auf der Basis einfacher Modelle von Arbeitsangebot und -nachfrage erklären lassen (vgl. Levy und Murnane, 1992; Murphy und Welch, 1992; Freeman und Katz, 1995). Auch dies
spricht dafür, dass US-Arbeitsmärkte dem Grundmodell eines flexiblen Wettbewerbsmarktes um einiges näher kommen als ihre europäischen Pendants.
Tabelle 1.2: Kollektive Lohnverhandlungen: Organisationsgrad der Beschäftigten und Geltungsbereich von Tarifnormen
USA
Japan
Deutschland
Frankreich
Italien
Großbritannien
Kanada
Gewerkschaftlicher
Organisationsgrada)
1980
1994
22%
16%
31%
24%
36%
29%
18%
9%
49%
39%
50%
34%
36%
38%
Geltungsbereich
von Tarifnormenb)
1980
1994
26%
18%
28%
21%
91%
92%
85%
95%
85%
82%
70%
47%
37%
36%
Australien
Belgien
Dänemark
Finnland
Neuseeland
Niederlande
Norwegen
Österreich
Schweden
Schweiz
Spanien
48%
56%
76%
70%
56%
35%
57%
56%
80%
31%
9%
88%
90%
69%
95%
67%
76%
75%
88%
86%
53%
76%
35%
54%
76%
81%
30%
26%
58%
42%
91%
27%
19%
80%
90%
69%
95%
31%
81%
74%
80%
89%
50%
78%
a) Gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte in Prozent aller Beschäftigten. – b) Von Tarifvereinbarungen erfasste Beschäftigte in Prozent aller Beschäftigten.
Quelle: OECD, Employment Outlook 1997, Tab. 3.3.
Weitere Anzeichen für die höhere Flexibilität der Arbeitsmärkte in den USA liefert die hohe Fluktuation (Brutto-Fluktuation der Beschäftigung bezogen auf die
163
Beschäftigtenzahl), die annähernd doppelt so hoch ist wie in Deutschland (OECD, 1996: S. 166).1 Ein wesentlicher Grund dafür wird im relativ geringen
Kündigungsschutz gesehen, der in den Vereinigten Staaten grundsätzlich dem
Hire-at-will Prinzip des angelsächsischen Common law folgt. Diesem Grundsatz, der sowohl Arbeitnehmern als auch Arbeitgebern jederzeit fristlose Kündigungen ohne Angabe von Gründen erlaubt, stehen zwar eine Reihe von Ausnahmen – insbesondere Diskriminierungsverbote und eine 1988 eingeführte 60Tages-Frist für die Vorankündigung von Massenentlassungen – entgegen.2 Im
Zusammenhang damit hat auch die Zahl gerichtlicher Auseinandersetzungen
über Kündigungen in den vergangenen Jahren stark zugenommen.3 Nach dem
von der OECD definierten ”Index of employment protection legislation” ist der
Bestandsschutz für Beschäftigungsverhältnisse in den USA unter den wichtigsten Industriestaaten dennoch am wenigsten ausgeprägt (vgl. die entsprechende Tabelle im Hauptteil.4
US-amerikanische Untersuchungen belegen, dass die Dauer individueller Arbeitslosigkeit tendenziell um so größer ist, je höher die Arbeitslosenunterstützung im Vergleich zum Lohn ist und vor allem je länger sie gewährt wird (Meyer, 1990; Katz und Meyer, 1990). Abgesehen von Geringverdienern sind in den
USA im Prinzip alle Arbeitnehmer arbeitslosenversichert. Einschränkende Regelungen bewirken jedoch, dass in der Praxis nur ca. 30–40 % der Arbeitslosen
Unterstützung erhalten. Die Leistungen können in der Regel bis zu 26 Wochen
gewährt werden, die durchschnittliche Bezugsdauer beträgt etwa 15 Wochen.
Nach Berechnungen der OECD belief sich die Einkommensersatzquote (d. h.
die Arbeitslosenunterstützung je durchschnittlichem Nettolohn eines Industriebeschäftigten) 1994 in Abhängigkeit von der Familiengröße zunächst auf 60–
68 % und lag damit exakt im OECD-Durchschnitt.5 Nach Ablauf der Versicherungsansprüche fällt das Niveau der Absicherung allerdings deutlich ab. Die
durchschnittliche Lohnersatzleistungsquote für Arbeitslose zwischen dem ersten Monat der Arbeitslosigkeit und dem sechzigsten Monat liegt deshalb in den
1
2
3
4
5
164
Auffallend ist außerdem, dass die Dynamik der Zahl verfügbarer Arbeitsplätze in den USA
weit stärker von der Gründung neuer und der Schließung alter Unternehmen getragen ist als
von der Beschäftigungsentwicklung in bestehenden Unternehmen, während in Europa – bei
insgesamt niedrigerer Fluktuation – das Gegenteil der Fall ist (Addison, 1997: S. 195).
Einen Beitrag zum Kündigungsschutz leisten in den USA effektiv auch die Modalitäten der
Prämiengestaltung bei der Arbeitslosenversicherung (”Experience rating” für Arbeitgeber).
Vgl. die in Buechtemann (Hrsg., 1993) gesammelten Studien und Addison (1997: S. 212 f.).
Für kritische Analysen dieses Zusammenhangs vgl. Nickell (1997) oder Franz et al. (1997).
Die Einkommensersatzquoten variieren in den USA jedoch sehr stark nach Einzelstaaten.
USA deutlich unter dem Durchschnitt der EU-Länder (vgl. Tabelle 4.4 im
Hauptteil).
Die weitreichendsten Reformen der Sozialen Sicherung in den USA haben sich
während der letzten Jahre darauf konzentriert, die Anreize der niedrig Qualifizierten zum Erwerb erforderlicher Qualifikation und zur Erwerbsbeteiligung zu
stärken. Zugleich sollten dabei die Probleme der Armut niedrigqualifizierter Beschäftigter bekämpft werden, ohne die Lohnkosten in den entsprechenden Arbeitsmarktsegmenten in die Höhe zu treiben. Anknüpfend an mehrere Vorläufer-Regelungen und Experimente in einigen Bundesstaaten bilden drei Elemente das Kernstück der 1996 durch neue bundesgesetzliche Rahmenregelungen begonnenen Sozialhilfereformen, die bis 2002 in allen Einzelstaaten voll
wirksam werden sollen (Peter, 1997): Erstens werden die bisherigen Sozialhilfeprogramme1 stärker entkoppelt, um bei einer Beschäftigungsaufnahme die
Kumulation von Transferentzugseffekten und die davon ausgehenden Fehlanreize zu vermindern. Zweitens wird die Gewährung finanzieller Unterstützung
an die Einhaltung gestufter Verpflichtungen zur Arbeitsaufnahme gebunden
bzw., soweit erforderlich, mit differenzierten Qualifikationsangeboten verknüpft.
Drittens werden finanzielle Leistungen generell auf maximal fünf Jahre befristet.2 Die Bedeutung des letzten Punktes kommt in der Umbenennung des allgemeinen Sozialhilfeprogramms (AFDC) in ”Temporary assistance to needy
families” (TANF) zum Ausdruck.
Unterstützt wird die Umsetzung dieser Reformen durch erweiterte Kompetenzen der Bundesstaaten bei der genaueren Ausgestaltung, verbunden mit finanziellen Anreizen, die Rahmenvorgaben des Bundes einzuhalten oder zu übertreffen, sowie durch eine weitere Dezentralisierung der Aktivitäten zum stufenweisen Job placement auf Gemeindeebene. Eine wichtige Komponente des
Anreizsystems dieser ”Welfare-to-work” Reformen bildet schließlich der weitere
Ausbau des bereits seit 1975 existierenden Earned income tax credit (EITC):
Anders als bei üblichen Grundsicherungssystemen bewirkt diese steuerliche
Regelung eine indirekte Subventionierung niedriger Erwerbseinkommen, die
1
2
Zu nennen sind dabei vor allem das allgemeine Sozialhilfeprogramm ”Aid to families with
dependent children” (AFDC) mit finanziellen Leistungen, die de facto insbesondere Alleinerziehenden gewährt werden, sowie zwei weitere Instrumente, die stärker auf Realtransfers
ausgelegt sind, nämlich das Medicaid-Programm zur Krankenversicherung von Arbeitslosen
und Nicht-Erwerbstätigen sowie das Foodstamp- (”Lebensmittelmarken”) Programm.
Anschließend besteht nur noch ein eingeschränkter Zugang zum Lebensmittelmarken-Programm und zu Medicaid.
165
ohne Erwerbsbeteiligung nicht in Anspruch genommen werden kann, andererseits aber so ausgelegt ist, dass sie Vollzeitbeschäftigte, die zum Mindestlohn
arbeiten, über die Armutsschwelle hebt.1
Die Perspektiven dieser Reformen lassen sich derzeit nicht abschließend beurteilen. Die bisher erzielten Erfolge bei der Beschäftigungsaufnahme von Sozialleistungsempfängern sind jedoch vor dem Hintergrund der allgemeinen Beschäftigungsentwicklung in den USA zu sehen. Klar ist, dass die positive Entwicklung andere strukturelle Gegebenheiten, vor allem die Existenz eines großen Niedriglohnsegments in US-amerikanischen Arbeitsmärkten, voraussetzt:
Ohne die Einführung solcher Beschäftigungsmöglichkeiten laufen die wichtigsten Anreize und Sanktionen solcher Reformen ins Leere.
Alles in allem liefern die USA das Bild eines Arbeitsmarktes, der – im Gegensatz zu europäischen Erfahrungen – wesentliche Herausforderungen der 80er
und 90er Jahre flexibel bewältigt hat. Die Anforderungen an die Flexibilität nationaler Arbeitsmärkte haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich
erhöht, und das US-amerikanische Arbeitsmarktmodell dürfte wesentlich zur
relativ günstigen Entwicklung von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit beigetragen haben.
2.
Das „Modell“ Niederlande
2.1 Gesamtwirtschaftliche Entwicklung
In den sechziger Jahren betrug das durchschnittliche reale Wirtschaftswachstum in den Niederlanden 4,5 %; in den siebziger Jahren lag es bei 2,8 %. Anfang der achtziger Jahre war die Situation mit negativen Wachstumsraten relativ
unerfreulich. Ab 1983 lagen die Wachstumsraten wieder im positiven Bereich,
mit einem Spitzenwert von 4,7 % im Jahr 1989. In den neunziger Jahren lag
das Wirtschaftswachstum mit durchschnittlich 2,7 % deutlich über dem Durchschnitt der EWU-Länder (1,8 %). Auch die Zunahme der Beschäftigung lag in
den neunziger Jahren mit durchschnittlich 2,1 % deutlich über dem EWUDurchschnitt (0,2 %) (vgl. Abb. 2.1 und 2.2). Diese vergleichsweise günstige
Entwicklung ist zu einem erheblichen Teil auf die Ausweitung von Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen zurückzuführen. So arbeiteten 1996 in den Niederlanden 38,1 % der Beschäftigten auf Teilzeitbasis, während ihr Anteil 1985 noch
1
166
Zu Ausgestaltung und Wirkungen des EITC vgl. Anhang 3.
bei 22,7 % gelegen hatte.1 Ablesbar ist dies auch an der Entwicklung der
durchschnittlichen Zahl von Arbeitsstunden je Erwerbstätigem, die in den Niederlanden zwischen 1979 und 1997 von 1 591 auf 1 365 sank.2 Das nach Stunden gemessene Arbeitsvolumen hat sich aufgrund dieser Entwicklung daher ab
Mitte der 80er Jahre zwar ebenfalls wieder erhöht, der Anstieg verlief im Vergleich zur Erwerbstätigenzahl jedoch nur unterproportional.3
Abbildung 2.1
Niederlande
Wirtschaftswachstum und Beschäftigung
Veränderung des realen BIP gegenüber dem Vorjahr in %
Veränderung der Beschäftigung gegenüber dem Vorjahr in %
6
6
4
4
2
2
0
0
-2
-2
82
85
90
95
98
1)
Entwicklung des Staatshaushalts a) in % des BIP
Staatausgaben
60
Staateinnahmen
60
55
55
50
50
45
45
40
40
82
85
90
4
95
98
4
Finanzierungssaldo
2
2
0
0
-2
-2
-4
-4
-6
-6
82
85
90
95
98
a)
Gebietskörperschaften und Sozialversicherung in der Abgrenzung der
Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.
Quelle: OECD.
1
2
3
Zum Vergleich: Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten lag in Deutschland 1996 bei 16,5 %,
nach 12,8 % im Jahre 1985. Allerdings hat in den Niederlanden – im Unterschied zu anderen
europäischen Ländern – in den 90er Jahren auch die Vollzeitbeschäftigung wieder zugenommen.
Die korrespondierenden Zahlen für 1979 und 1997 liegen in Westdeutschland bei 1 764 bzw.
1 553 Stunden und in den USA bei 1 905 bzw. 1 966 Stunden (OECD, 1999: Tab. F).
Dasselbe lässt sich auch an den Angaben der OECD (1998c: S. 31–35) zur Beschäftigungsentwicklung in Vollzeit-Äquivalenten ablesen.
167
Abbildung 2.2
Niederlande
Reales Bruttoinlandsprodukt (1970=100)
200
OECD
180
160
140
D
120
100 BIP (Index)
220
1970
Niederlande
75
80
85
90
95
1998
Entwicklung der Erwerbstätigenzahl (1970=100)
Erwerbstätige (index)
160
Niederlande
140
120
100 OECD
West-D
80
1970
75
80
85
90
95
1998
Entwicklung des Arbeitsvolumens (1973=100)
Arbeitsvolumena) (Index)
160
140
120
Niederlande
100
West-D
80
1970
a)
75
80
85
90
95
1998
Erwerbstätigenzahl x durchschn. Arbeitsstunden je Erwerbstätigen.
Quelle: SVR, Jahresgutachten 1998/99, 1999/2000; OECD, Economic Outlook,
div.Jge.; OECD, Employment Outlook, div. Jge.; Berechnungen des ifo
Instituts.
Die niederländische Arbeitslosenquote ging – in Übereinstimmung mit den
Trends in anderen westeuropäischen Ländern – bis Ende der 80er Jahre zurück. Sie unterschritt die deutschen Vergleichswerte jedoch im Verlauf der Rezession von 1993/94 und hat sich seither deutlich günstiger entwickelt. Zuzuschreiben ist die rückläufige Entwicklung der registrierten Arbeitslosigkeit allerdings auch einem gestiegenen und im internationalen Vergleich weit überdurchschnittlichen Anteil von Erwerbsunfähigkeitsrentnern, einer Bereinigung
der amtlichen Arbeitslosenzahlen um ältere Bezieher von Arbeitslosengeld sowie Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, wie Angaben auf der Basis
168
einer erweiterten Arbeitslosendefinition zeigen. Nach Berechnungen der OECD
liegt der Anteil des ”Broad unemployment” an den Erwerbspersonen seit Mitte
der 80er Jahre bei 25 % und darüber
2.1 Makropolitik
Die Finanzpolitik in den Niederlanden war in den achtziger Jahren und in der
ersten Hälfte der neunziger Jahre durch einen eher lockeren Kurs gekennzeichnet. Das konjunkturbereinigte (d.h. strukturelle) gesamtstaatliche Defizit
erreichte mehrfach (1986, 1987, 1989) Werte von rund 6 % des Produktionspotentials. Im Jahr 1990 stieg das strukturelle Defizit sogar auf über 7 % und
dies obwohl die Konjunktur boomte. Die Abschwächung der Konjunktur im Jahr
1993 wurde dagegen von einer deutlichen Reduzierung des strukturellen Defizits begleitet (von knapp 5 % im Jahr 1992 auf rund 2 ½ % im Jahr 1993) während in der anschließenden Aufschwungsphase . das strukturelle Defizit wieder
stieg. Von einer konjunkturverstetigenden Finanzpolitik kann also keine Rede
sein. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre stand die Finanzpolitik ganz im
Zeichen der Haushaltskonsolidierung, nicht zuletzt um die Kriterien des Vertrags von Maastricht zu erfüllen. Für die Jahre 2000 und 2001 wird – auch wegen der günstigen Konjunkturentwicklung - ein in etwa ausgeglichener (gesamtstaatlicher) Haushalt erwartet. Das strukturelle Defizit wird für diese Jahre noch
mit rund 1 % veranschlagt
Mit der festen Wechselkursbindung des holländischen Guldens an die D-Mark
hatten die Niederlande seit langem keine eigenständige Geldpolitik mehr. Da
die Konjunktur in den Niederlanden aber eng mit der Konjunktur in Deutschland
verknüpft ist, war dies in den meisten Jahren kein gravierendes Problem. Die
Tatsache, dass die Deutsche Bundesbank wegen bestehender Inflationsgefahren in den Frühphasen des Abschwungs häufig bremste und erst im späteren
Abschwung auf einen expansiven Kurs umschaltete, dürfte aber auch in den
Niederlanden die Konjunkturschwankungen verstärkt haben. Vor diesem Hintergrund wäre eine konjunkturverstetigende Finanzpolitik angebracht gewesen,
die allerdings in den neunziger Jahren wie erwähnt nicht zu beobachten war.
169
2.2
Strukturpolitische Rahmenbedingungen
2.2.1 Steuersystem
Früher wurden in den Niederlanden die Sachinvestitionen stark steuerlich gefördert, doch wurde diese Förderung Ende der achtziger/Anfang der neunziger
Jahre eingeschränkt. Parallel dazu senkte die niederländische Regierung die
Steuersätze (vgl. Tabelle 2.1). Der Spitzensteuersatz der persönlichen Einkommensteuer fiel um 12 Prozentpunkte von 72 auf 60 %, der der Körperschaftsteuer von 48 auf 35 %. Der Standardsatz der Mehrwertsteuer stieg in
den achtziger Jahren um 2 Prozentpunkte auf 20 %, wurde aber Anfang der
neunziger Jahre auf 17,5 % gesenkt. Geplant ist, den Mehrwertsteuersatz im
Jahr 2000 auf 19 % anzuheben.
Tabelle 2.1: Entwicklung der Steuersätze in den Niederlanden
1980
1985
1988
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
Spitzensatz der persönlichen
Einkommensteuer
72
72
72
60
60
60
60
60
60
60
60
60
60
Körperschaftsteuer
48
43
42
35
35
35
35
35
35
35
35
35
35
Körperschaftsteuersystema)
KL
KL
KL
KL
KL
KL
KL
KL
KL
KL
KL
KL
KL
Mehrwertsteuer
(Standardsatz)
18
19
20
18,5
18,5
18,5
17,5
17,5
17,5
17,5
17,5
17,5
17,5
a)
1999
KL: Klassisches System.
Quelle: Coopers & Lybrand (verschiedene Jahrgänge), PricewaterhouseCoopers (1999).
Trotz der Senkung der Einkommensteuersätze ist der Faktor Arbeit nach wie
vor relativ stark belastet.
Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass die Steuerreform einen wesentlichen
Einfluss auf die Entwicklung der sektoralen Wirtschaftsstruktur in den Niederlanden hatte. Von dem 1978 eingeführten Gesetz zur Investitionsförderung profitierte insbesondere der kapitalintensive industrielle Sektor. Dessen Abschaffung am 1. Januar 1990 belastete demgemäss auch insbesondere diesen Sektor. Gleichzeitig wurden die Steuersätze deutlich gesenkt, wovon insbesondere
der arbeitsintensive Dienstleistungssektor profitierte
Als Folge der in den Niederlanden in den achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre durchgeführten Steuerreformen ist die Steuerquote gesunken.
Gleichzeitig fand eine Gewichtsverlagerung von den Steuern auf Einkommen,
170
Gewinne und Kapitalgewinne hin zu den Steuern auf Güter und Dienste statt.
Innerhalb der Steuern auf Einkommen, Gewinne und Kapitalgewinne nahm zudem der Anteil der Körperschaften als Folge der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage deutlich zu. Insgesamt waren in den achtziger und auch in den
neunziger Jahren sowohl die Einnahmen- als auch die Ausgabenquote rückläufig. Das Ende der achtziger Jahre/Anfang der neunziger Jahre relativ hohe
strukturelle staatliche Finanzierungsdefizit wurde über einen rigiden Sparkurs
sukzessive zurückgeführt und lag 1999 nur noch bei 0,1 % des Bruttoinlandsprodukts. Für das nächste Jahr wird von der OECD wegen der neuen Steuerreform wieder ein Anstieg des strukturellen Defizits auf 1,7 % prognostiziert
2.2.2 Die übrigen strukturpolitischen Rahmenbedingungen
In den Niederlanden wurden vergleichsweise frühzeitig umfassende Reformen
der Wirtschafts- und Sozialpolitik eingeleitet. Anlass dazu gaben die in der
zweiten Hälfte der 70er Jahre – ähnlich wie in anderen europäischen Ländern –
zu beobachtende Stagnation des gesamtwirtschaftlichen Wachstums, ein auch
in den Folgejahren anhaltend hohes Staatsdefizit sowie eine zumindest am
Nachbarland Deutschland gemessen hohe Inflation (CPB, 1997: Kap. 3). Hinzu
kam, dass die Arbeitslosenquote während der Rezession 1981/82 besonders
stark anstieg.
Als Besonderheit des niederländischen Reformmodells ist festzuhalten, dass es
von Anfang an auf einem breiten Konsens aller Verantwortlichen in Politik und
Tarifparteien beruhte. Einen wesentlichen Ausdruck findet dies im sogenannten
”Vertrag von Wassenaar”, der unter dem Dach der ”Stiftung für Arbeit”, dem
zentralen Koordinationsgremium von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in Konsultation mit der Regierung, im Herbst 1982 geschlossen. Wesentliche Elemente der Reformstrategie – insbesondere eine längerfristig angelegte
Lohnzurückhaltung und Arbeitszeitverkürzungen zur möglichst kostenneutralen
Umschichtung von Arbeitsplätzen – wurden darin vereinbart und in der Folgezeit auch weitgehend eingehalten. Hinzu gekommen sind kontinuierliche, wenn
auch wenig einschneidende Reformen der gesetzlichen Arbeitsmarktregulierungen und vor allem der sozialen Sicherung, die diese beschäftigungspolitische Strategie ergänzen.
Die Verantwortung für Lohnverhandlungen liegt in den Niederlanden grundsätzlich auf Branchenebene, wobei die Abschlüsse allerdings regelmäßig zentral
171
vereinbarten Leitlinien folgen Die Rolle der Regierung in diesem Prozess ist
stärker als in anderen europäischen Ländern.1 Zwar gilt seit 1987 formell eine
weitgehende Tarifautonomie, doch nach wie vor kann die Regierung die in den
Niederlanden weit verbreitete Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen selektiv handhaben, so dass sie das Verhalten der Tarifparteien seit
1982 – zumeist ohne offene Konflikte – in ihrem Sinne beeinflusst hat (Stille,
1998: S. 300). Trotz eines vergleichsweise großen Geltungsbereichs von Tarifnormen trägt zur Flexibilisierung der Löhne auch bei, dass sich in den Niederlanden Tariföffnungsklauseln für betriebsspezifische Abweichungen von branchenweiten Vereinbarungen relativ rasch verbreitet haben und mittlerweile in
rund 70 % der Tarifverträge enthalten sind.2
Von spezieller Bedeutung, nicht nur für den Arbeitsmarkt, sind in den Niederlanden Niveau und Entwicklung des gesetzlichen Mindestlohnes, der zugleich
als wesentlicher Eckwert für die Festlegung zahlreicher Lohnersatzleistungen
und der Sozialhilfeansprüche fungiert. Während seitens der Regierung in den
80er und 90er Jahren dafür gesorgt wurde, dass dieser Mindestlohn nominal
durchgängig weniger stark angehoben wurde als die Tariflöhne, haben die Tarifparteien in den letzten Jahren erfolgreich darauf hingewirkt, den Abstand zwischen Mindestlohn und unteren Tariflohngruppen zu verringern. Aufgefangen
wird die damit einhergehende, stärkere Lohnspreizung teilweise durch Reformen des Steuer- und Transfersystems, so dass sich die Einkommensungleichheit in den Niederlanden in den letzten Jahren – bei generell relativ niedrigem
Niveau – weniger erhöht hat als in anderen Staaten.
Insgesamt haben sich die realen Arbeitskosten je Erwerbstätigem in den Niederlanden – allerdings nicht zuletzt aufgrund der verminderten durchschnittlichen Jahresarbeitszeit – seit Mitte der 80er Jahre deutlich weniger erhöht als in
anderen europäischen Staaten. Entscheidender ist, dass sich auch die Arbeitskosten je Erwerbstätigenstunde am unteren Rande des Spektrums europäischer Vergleichswerte bewegen und z. B. weit weniger gestiegen sind als in
Deutschland und selbst in Großbritannien. Dies belegt, dass die niederländische Mischung aus zentraler Abstimmung der Lohnpolitik und dezentralen Verhandlungen genutzt wurde, um die Arbeitskosten zu begrenzen und Arbeitsplätze zu schaffen
1
2
172
So kam der Vertrag von Wassenaar 1982 auch unter dem Eindruck der Drohung zustande,
dass die Regierung die Löhne einfrieren würde (OECD, 1998c: S. 35).
Allerdings liegen keine Angaben dazu vor, in welchem Maße diese Klauseln tatsächlich zur
Anwendung kommen.
Der Kündigungsschutz für reguläre Beschäftigungsverhältnisse in den Niederlanden ist unter den OECD-Staaten und selbst für europäische Verhältnisse
relativ strikt geregelt. Einzigartig ist dabei vor allem, dass eine Entlassung nur
mit Zustimmung der regionalen Arbeitsverwaltung möglich ist. Diese wird zwar
selten versagt, kostet in der Regel jedoch viel Zeit und dürfte insbesondere eine
starke Wirkung im Vorfeld haben. Hinzu kommen extrem kurze Probezeiten von
derzeit zwei Monaten, die auch durch eine Reform des gesetzlichen Kündigungsschutzes von 1998 nicht verändert wurden, während die Kündigungsfristen verkürzt und einige prozedurale Kündigungshemmnisse leicht gemildert
wurden. Ähnlich wie in Schweden wurden in den Niederlanden seit den 80er
Jahren allerdings nennenswerte Flexibilisierungen hinsichtlich befristeter Beschäftigungsverhältnisse vorgenommen, deren Anteil sich – einschließlich Leiharbeit und einiger weiterer Typen ”nicht-regulärer” Beschäftigung – im Zeitablauf von 8 % auf 12 % deutlich erhöht hat.1 Die Tatsache, dass ca. 2/3 der befristet Beschäftigten anschließend eine unbefristete Anstellung erhalten, zeigt,
dass diese Form der Beschäftigung genutzt wird, um die Inflexibilitäten regulärer Arbeitsverträge zu kompensieren (CPB, 1997: S. 298–303).2
Vergleichsweise großzügig ist in den Niederlanden das System der Arbeitslosenversicherung (CPB, 1997: S. 189–199). Ausschlaggebend dafür ist zum einen die Höhe des Einkommensersatzes – die Ersatzquote auf Nettobasis lag
1997, weitgehend unabhängig vom Familienstand, beim Durchschnittsverdiener
bei 77 % (vgl. Tabelle 4.4 im Hauptteil Überdurchschnittlich lang ist zum anderen auch die Laufzeit der Zahlungen von bis zu 54 Monaten, nach denen unbefristet Sozialhilfe bezogen werden kann. Verschärften Anspruchsvoraussetzungen der Arbeitslosenversicherung und Sanktionen bei Ablehnung zumutbarer
Beschäftigungsangebote stand in den 90er Jahren ein Zustrom von Leistungsbeziehern aus anderen Sicherungseinrichtungen gegenüber, in denen zuvor
ebenfalls faktisch Arbeitslose abgesichert werden konnten. Gegenüber den
80er Jahren hat sich die Zahl der Bezieher von Arbeitslosenunterstützung und
von arbeitslosen Sozialhilfeempfängern daher eher noch erhöht. Generell sieht
die OECD die Gefahr noch nicht als gebannt an, dass die Arbeitslosenversicherung von Arbeitnehmern und vor allem von Arbeitgebern ausgenutzt wird, die
1
2
In Deutschland lag ihr Anteil im Vergleichszeitraum (1987–96) dagegen konstant bei ca.
10 % (CPB, 1997: S. 298).
Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass der Anteil solcher ”nicht-regulären” Beschäftigungsverhältnisse in den USA Mitte der 90er Jahre nur bei 2 %, in Schweden bei 14 % lag
(Stille, 1998: S. 302).
173
damit ansonsten aufwendige Stellenkürzungs- und Frühverrentungsprogramme
ergänzen oder sogar ersetzen.
Auffallend ist in den Niederlanden die starke Beanspruchung anderer Sicherungssysteme zur Entlastung des Arbeitsmarktes, die ihren Höhepunkt Anfang
der 90er Jahre erreicht hatte. Im Jahr 1990 bezogen 11,2 % der Erwerbspersonen eine Erwerbsunfähigkeitsrente, und im Jahresdurchschnitt erhielten weitere
5,9 % – teilweise langfristig – Krankengeld.1 Insgesamt betrugen die öffentlichen Ausgaben für diese beiden Typen von Sicherungsleistungen gut 7 % des
Bruttoinlandsprodukts, während in Deutschland für diese Zwecke – allerdings
ohne die Lohnfortzahlung der Arbeitgeber – nur knapp 2,5 % ausgegeben wurden.
Die Reformen des Krankengeldes und der Erwerbsunfähigkeitsrenten liefern
gleichwohl typische Beispiele für die niederländische Reformstrategie im Bereich der gesamten sozialen Sicherung: Während mit den Reformen der 80er
Jahre vorwiegend eine Begrenzung des Ausgabenanstiegs angestrebt und dabei zugleich die Anreize der Arbeitnehmer zur Beanspruchung der Leistungen
verringert wurden, zielen die Reformen der 90er Jahre stärker auf einen Umbau
der Sicherungssysteme und auf veränderte Anreize der Arbeitgeber (OECD,
1998c: S. 78 f.). So wurden 1992 bei der Erwerbsunfähigkeitsrente vorübergehend ein Bonus-Malus-System für die Berechnung der Arbeitgeberbeiträge eingeführt und finanzielle Anreize für die Wiedereinstellung von Rentenbeziehern
eingeführt. Da andere Maßnahmen wie eine Neudefinition (und erneute Überprüfung) des Erwerbsminderungsstatus und eine Absenkung der Ansprüche
keine nachhaltige Senkung der Zahl der Leistungsempfänger brachten – teils
führten sie nur zu einem Wechsel des Sicherungssystems, teils wurden sie
durch Tarifvereinbarungen effektiv wieder außer Kraft gesetzt2 –, gilt seit 1998
ein neues Reformgesetz, das definitiv zu einer Prämiendifferenzierung für Arbeitgeber (”Experience rating”), in Verbindung mit einer teilweisen Privatisierung
(”Opting out”) der Versicherung übergeht. Ein ähnlicher Weg ist im Bereich der
Krankenversicherung bereits früher beschritten worden, wo 1994 zunächst die
Lohnfortzahlung für bis zu sechs Wochen auf die Arbeitgeber übertragen und
1996 Krankengeldzahlungen aus der gesetzlichen Versicherung bis auf wenige
1
2
174
Zum Vergleich: In Deutschland belief sich der Anteil der Bezieher von Erwerbsminderungsrenten zeitgleich auf ca. 4 % (Schmid und Helmer, 1998: Abb. 3.5), der Krankenstand in der
Gesetzlichen Krankenversicherung betraf noch einmal knapp 4 % der Erwerbspersonen
(BMA, 1998: Tab. 2.3 und 8.1).
Beides hält die OECD (1998: S. 84– 87) gleichwohl für vorteilhaft, da es die Transparenz des
sozialen Sicherungssystems erhöht und dessen Kosten im Lohnverhandlungsprozess spürbar macht.
Ausnahmen völlig eingestellt wurden. Bei dieser Privatisierung wurden außerdem Maßnahmen verpflichtend gemacht, durch die die Arbeitgeber einerseits
die Arbeitsbedingungen verbessern, andererseits Krankmeldungen stärker kontrollieren müssen.1 Auf diese Weise ist es gelungen, den durchschnittlichen
Krankenstand in den letzten Jahren signifikant zu vermindern, während ähnliche Erfolge bei den Erwerbsunfähigkeitsrenten noch nicht absehbar sind.
Eine Besonderheit stellt im internationalen Vergleich das niederländische Rentensystem dar (CPB, 1997: Kap. 7). Das staatliche Alterssicherungssystem gewährt – ähnlich wie mittlerweile in Großbritannien – lediglich eine einkommensunabhängige und dabei annähernd universelle Grundsicherung. Darüber hinaus
stützt sich die Altersvorsorge Erwerbstätiger in weit überdurchschnittlichem
Maße auf kapitalgedeckte Ansprüche aus einkommensbezogenen, privatwirtschaftlich organisierten Betriebsrenten2 sowie auf ergänzende private Vorsorge.
Ein wichtiger Vorteil des stark umverteilenden staatlichen Rentensystems ist im
Hinblick auf die niederländische Beschäftigungsstrategie, dass die einheitliche
Absicherung auch bei unterbrochenen Erwerbsbiographien und niedrigen (Teilzeit-) Einkommen Schutz bietet. Die negativen Anreizeffekte werden durch das
niedrige Beitrags- und Sicherungsniveau in Grenzen gehalten.
Abgerundet werden die Reformen des sozialen Sicherungssystems in den Niederlanden durch eine 1996 erfolgte Neufassung der Sozialhilfebestimmungen,
die zu einer vereinfachten Struktur der Ansprüche führten – mit maximalen Ansprüchen in Höhe des gesetzlichen Mindestlohnes für Familien und geringeren
Leistungen an andere Haushaltstypen –, zu einer Dezentralisierung und engeren Kooperation zwischen Sozialhilfe- und Arbeitsverwaltung auf lokaler Ebene
sowie zu verschärften Anspruchsvoraussetzungen. Dadurch soll insgesamt der
vorübergehende Charakter der Absicherung stärker betont und die Orientierung
der Empfänger zu einem Wiedereinstieg ins Erwerbsleben verbessert. Einen
Beitrag dazu leisten außerdem verschiedene Programme, die auf eine Subventionierung der Beschäftigung niedrigqualifizierter und/oder Langzeitarbeitsloser
1
2
Ein Nachteil dieser Strategie liegt in den Anreizen für Arbeitgeber, bereits bei der Einstellung
Risikoselektion zu betreiben, was die Erwerbschancen älterer und erwerbsgeminderter Arbeitskräfte für sich genommen vermindert.
Der Deckungsstock der zu diesem Zweck gebildeten Pensionsfonds belief sich 1993 auf
85 % des niederländischen Bruttoinlandsprodukts – ein Wert, der im europäischen Vergleich
nur von Großbritannien (82 %) annähernd erreicht wird und den von Dänemark (19 %), mit
einem ansonsten ähnlich angelegten ”Volksrenten”-System, weit übersteigt. Der Vergleichswert für Deutschland (6 %) ist dadurch nach unten verzerrt, dass er unternehmensinterne
Formen der Deckung betrieblicher Altersvorsorge nicht enthält (CPB, 1997: Tab. 7.5).
175
hinauslaufen, deren Arbeitskosten so effektiv unter den gesetzlichen Mindestlohn gesenkt werden.
Die Beurteilung des kontinuierlich fortgesetzten, alles in allem aber wenig radikalen niederländischen Reformweges ist gemischt: Insgesamt wird die wirtschaftliche Entwicklung in den Niederlanden von der OECD (1998c: S. 34 f.) als
Ergebnis eines noch nicht ganz vollendeten Aufholprozesses gesehen, der
durch die frühzeitig vollzogenen Reformen eingeleitet wurde, aufgrund besonders ungünstiger Ausgangsbedingungen aber auch größere Spielräume für
Verbesserungen aufwies als in anderen europäischen Ländern. Als problematisch erscheint vor allem der nach wie vor hohe Anteil inaktiver Erwerbspersonen, der sich zu großen Teilen außerhalb der registrierten Arbeitslosigkeit niederschlägt. Hervorzuheben ist trotzdem die vergleichsweise günstige Entwicklung bei der Beschäftigung, auch wenn man sie um die verbreitete Teilzeiterwerbstätigkeit korrigiert. Entscheidend dürfte dafür die längerfristige Lohnzurückhaltung sein, die die niederländischen Gewerkschaften im Rahmen eines
breit angelegten gesellschaftlichen Konsenses seit 1983 eingehalten haben.
176
Anhang 31
Anreize zur Schaffung von Arbeitsplätzen für wenig qualifizierte Arbeitnehmer – ein internationaler Vergleich
Angesichts der relativ hohen Arbeitslosigkeit von weniger qualifizierten Arbeitskräften haben viele Industrieländer Maßnahmen ergriffen, um die Beschäftigung
im Niedriglohnbereich zu fördern. Mit diesen Maßnahmen soll die Arbeitslosigkeit abgebaut, das Anwachsen der »Working poor« verhindert und die Marginalisierung der Unterschicht vermieden werden. Es werden entweder Lohnsubventionen an Arbeitgeber gewährt oder das verfügbare Einkommen der Arbeitnehmer durch Steuergutschriften sowie beschäftigungsabhängige Transfers
erhöht. Derartige Anreize zur Aufnahme einer Arbeit finden sich insbesondere
in den angelsächsischen Ländern. Sie sollen im Folgenden vorgestellt und bewertet werden.
1. Zur Beschäftigungs- und Einkommenssituation wenig qualifizierter Erwerbspersonen
Wenig qualifizierte Erwerbspersonen stellen in den meisten OECD-Ländern
einen großen Teil der Arbeitslosen. Ihre Arbeitslosenquote ist im Allgemeinen
überdurchschnittlich hoch. Die Nachfrage nach Geringqualifizierten wird dadurch reduziert, dass die von ihnen ausgeübten Tätigkeiten häufig auch maschinell ausgeführt werden können und die von ihnen hergestellten einfachen
Produkte einer zunehmenden internationalen Konkurrenz aus so genannten
Niedriglohnländern ausgesetzt sind. Zudem verhindern hohe Arbeitskosten
(Nettolohn, Lohnsteuer, Sozialbeiträge usw.) bei niedriger Produktivität, dass
sich die Einstellung dieser Arbeitskräfte lohnen würde (OECD 1999a,
S. 151 ff.).
Empfänger von Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe können aber auch
einen geringen Anreiz verspüren, eine Arbeit aufzunehmen. Das kann zum einen darauf zurückzuführen sein, dass der Abstand zwischen dem verfügbaren
Einkommen bei Erwerbstätigkeit und dem Niveau von Arbeitslosenunterstüt1
Vgl. W. Ochel, Steuergutschriften und Transfers an Arbeitnehmer im Niedriglohnbereich –
der angelsächsische Weg zu mehr Beschäftigung und weniger Armut, in: ifo Schnelldienst
21/2000.
177
zung und Sozialhilfe gering ist (Lohnabstandsproblem). Zum anderen kann der
Arbeitsanreiz dadurch gemindert werden, dass die Zusatzverdienste, welche
Sozialleistungsempfänger erzielen, teilweise oder vollständig auf ihren Hilfeanspruch angerechnet werden. Ihre Zusatzverdienste unterliegen damit einem
hohen Grenzsteuersatz. Dieses Problem wird als »Arbeitslosenfalle« bezeichnet (OECD 1997; Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft 1996).
Die Nettolöhne gering qualifizierter Arbeitskräfte sind in der Regel relativ gering.
Viele dieser Arbeitnehmer sind dem Niedriglohnsektor zuzurechnen, der nach
Definition der OECD diejenigen Einkommensbezieher umfasst, die weniger als
zwei Drittel des Durchschnittseinkommens verdienen. Eine Niedriglohnbeschäftigung bedeutet nicht, dass das Einkommen unterhalb der Armutsgrenze liegt.
Diese ist erst dann unterschritten, wenn das Einkommen weniger als 50% des
durchschnittlichen Haushaltseinkommens beträgt (OECD 1999a, S. 152).
2. Beschäftigungsförderung und Einkommenserhöhung im Niedriglohnbereich
Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit wenig qualifizierter Arbeitskräfte und der
relativ geringen Bezahlung im Niedriglohnbereich haben immer mehr Industrieländer Maßnahmen ergriffen, um diesen Problemen zu begegnen. Diese
Maßnahmen sind entweder darauf gerichtet, die Nachfrage nach wenig qualifizierten Arbeitskräften zu erhöhen. Zu diesem Zweck werden unter anderem die
Sozialversicherungsbeiträge bei niedrigen Löhnen gesenkt, direkte Zuschüsse
zu den Lohnkosten gewährt oder niedrige Einkommen geringer besteuert. Oder
es wird eine Erhöhung des Arbeitsangebots angestrebt. Dies wird erreicht durch
eine Kürzung der Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfeleistungen, durch
eine Senkung des Anrechnungssatzes für Erwerbseinkommen in der Sozialhilfe
sowie – abgesehen von Mindestlöhnen – durch Steuergutschriften und lohnbezogene Transfers an Arbeitnehmer und ihre Familien. Mit den zuletzt genannten
Arbeitnehmersubventionen soll zusätzlich ein »angemessen« hohes Nettoeinkommen im Niedriglohnbereich gesichert werden.
Bei der Förderung des Niedriglohnbereichs haben die einzelnen Länder in den
letzten Jahren unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Länder mit hoher Arbeitslosigkeit im Bereich wenig qualifizierter Arbeitskräfte haben primär Maßnahmen zur Steigerung der Arbeitsnachfrage ergriffen. Belgien, Frankreich,
Großbritannien und die Niederlande haben die Sozialversicherungsbeiträge für
178
Niedriglohnbeschäftigte gekürzt. Noch größer ist der Kreis der Länder, die direkte Lohnzuschüsse gewähren und die Steuern auf Niedrigeinkommen gesenkt haben (OECD 1999b, S. 49; 119 ff.).
In Ländern mit einem hohen Lohnabstand wurden Höhe und Dauer der Arbeitslosenunterstützung reduziert und die Anspruchsvoraussetzungen verschärft. Um das Problem der »Arbeitslosenfalle« abzumildern, wurde in einigen
Ländern die Transferentzugsrate in der Sozialhilfe gesenkt. In den liberalmarktwirtschaftlichen angelsächsischen Ländern mit ihrer starken Lohnspreizung bilden die »Working poor« ein Problem. Diesem versuchte man durch
Einführung (Großbritannien, Irland) bzw. Erhöhung der Mindestlöhne (USA,
Neuseeland) zu begegnen (während andererseits in den meisten kontinentaleuropäischen Ländern die Mindestlöhne [sofern vorhanden] gesenkt wurden). Außerdem erhöhten die angelsächsischen Länder das Nettoeinkommen im Niedriglohnsektor durch Gewährung von Steuergutschriften und lohnbezogenen
Transfers. Derartige Arbeitnehmersubventionen werden bis heute von Australien, Großbritannien, Irland, Kanada, Neuseeland, den Vereinigten Staaten und
Finnland gewährt (OECD 1999b, S. 49; 112 ff.; OECD 1999c). Auf diesen Förderansatz sollen sich die folgenden Ausführungen beschränken.
3.
Beschäftigungsabhängige Steuergutschriften und Transferleistungen
In den OECD-Ländern existieren zurzeit die folgenden beschäftigungsabhängigen Systeme zur Steigerung des Nettoeinkommens im Niedriglohnbereich:
Australiens »Employment Entry Payment« und »Special Employment Advance«, Finnlands »Earned Income Tax Credit«, Großbritanniens »Working
Families’ Tax Credit«, der 1999 den »Family Credit« ablöste, das mehrgliedrige
Programm Irlands, Kanadas »Child Tax Benefit«, Neuseelands »Family Tax
Credit« und der »Earned Income Tax Credit« der Vereinigten Staaten. In Australien, Großbritannien, Irland, Kanada und Neuseeland liegt die Zuständigkeit
für die Programme beim Zentralstaat. In den Vereinigten Staaten gewähren sowohl der Zentralstaat als auch viele Bundesstaaten einen »Earned Income Tax
Credit«. In Finnland ist der »Earned Income Tax Credit« bei den 450 Gemeinden des Landes angesiedelt. Die Durchführung der Programme obliegt in Finnland, Großbritannien, Kanada, Neuseeland und den Vereinigten Staaten der
Steuerverwaltung, in Australien und Irland dagegen den Sozialämtern.
179
Die genannten Systeme bestehen entweder aus der Gewährung von Steuergutschriften oder aus Transferzahlungen. Eine Absicherung des Existenzminimums erfolgt nicht. Vielmehr ist ein bestehendes Beschäftigungsverhältnis Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Leistungen. In den Genuss der öffentlichen Mittel kommen in der Regel nur die Bezieher von Niedrigeinkommen, und
auch hier ist der Kreis der Anspruchsberechtigten überwiegend auf Familien mit
Kindern beschränkt. Die Eingrenzung auf den Niedriglohnbereich bedeutet,
dass ab einer bestimmten Einkommenshöhe der Nettotransfer reduziert und
schließlich Null wird. In diesem Bereich ist die Grenzbelastung des Bruttoeinkommens sehr hoch. Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Leistungen
ist – wie erwähnt – ein bestehendes Beschäftigungsverhältnis. Lediglich in
Australien wird die Aufnahme einer Beschäftigung belohnt. In der Regel werden
die Leistungen unbefristet gewährt.
3.1 Der »Earned Income Tax Credit« in den Vereinigten Staaten
Das wohl bekannteste Programm zur Förderung von Beschäftigten mit geringem Einkommen bildet der im Jahre 1975 eingeführte »Earned Income Tax
Credit« (EITC) der Vereinigten Staaten.1 Er verfolgt das Ziel, finanzielle Arbeitsanreize für Geringverdiener zu schaffen und ihnen zu einem größeren Einkommen zu verhelfen. Das Programm wurde 1986, 1990 und 1993 modifiziert
und erheblich ausgeweitet. Es bildet heute den bedeutendsten Ansatz zur Armutsbekämpfung in den Vereinigten Staaten.
Der EITC ist eine Steuergutschrift, die unter bestimmten Voraussetzungen
Haushalten mit niedrigen Einkommen gewährt wird. Die begünstigten Gruppen
unterliegen grundsätzlich der Bundeseinkommensteuer. Ist die Steuergutschrift
höher als die zu entrichtende Einkommensteuer, so wird der Differenzbetrag an
die Berechtigten ausgezahlt. Dies ist bei der Mehrzahl der berechtigten Haushalte der Fall (Walker und Wiseman 1997, S. 410). Ansonsten erfolgt eine Verrechnung mit der Einkommensteuerschuld. Die verwaltungsmäßige Abwicklung
des EITC erfolgt im Rahmen der Einkommensteuer des Bundes (Alstott 1995,
S. 533 ff.).
Anspruchsberechtigt sind grundsätzlich nur Erwerbstätige und hier wiederum
insbesondere solche mit Kindern. Die Höhe der Steuergutschrift ist abhängig
1
180
Im Folgenden wird das auf Bundesebene realisierte Programm dargestellt.
vom erzielten Bruttoeinkommen (Löhne und Gehälter, sonstige Entgelte und ein
spezifisch definiertes Einkommen von Selbständigen). Drei Bereiche sind zu
unterscheiden. Zunächst nimmt die Steuergutschrift mit steigendem Bruttoeinkommen linear zu (Abschnitt I), bleibt danach konstant (Abschnitt II) und nimmt
ab einer bestimmten Einkommensgrenze wieder ab (Abschnitt III). Die Höhe der
Steuergutschrift und die Einkommensgrenzen unterscheiden sich je nach
Haushaltstyp. Dabei werden Familien mit zwei und mehr Kindern, Familien mit
einem Kind und Personen ohne Kinder unterschieden, wobei Haushalten mit
zwei und mehr Kindern die höchsten Beträge gewährt werden (vgl. Abbildung
1).
Abbildung 1
Der EITC der Vereinigten Staaten für verschiedene Haushaltstypen, 2000
US-$
Steuergutschrift
4000
3000
Familie mit
zwei Kindern
Familie mit
einem Kind
2000
1000
Personen ohne Kinder
0
0
5000
10000
15000
20000
25000
30000
35000
40000
Bruttoeinkommen
Quelle: R. Zahradnik, I.J. Lav, A D.C. Earned Income Tax Credit Could Provide Tax Relief
and Reduce Child Poverty, Center on Budget and Policy Priorities, February 9, 2000.
Die Parameter des EITC im Jahre 2000 zeigt Tabelle 1. Danach erhält z.B. eine
Familie mit zwei und mehr Kindern innerhalb der Einkommensgrenzen1 von 0
bis 9 720 US-$ eine Steuergutschrift von 40 Cents je hinzuverdientem Dollar.
1
Die Einkommensgrenzen werden Jahr für Jahr entsprechend dem Anstieg des Preisniveaus
erhöht.
181
Bei einem Bruttoeinkommen von 9 720 US-$ wird der maximale Betrag von
3 888 US-$ erreicht.1 Dieser bleibt konstant, bis das Bruttoeinkommen eine Höhe von 12 690 US-$ erreicht. Bei jedem über 12 690 US-$ hinaus verdienten
Dollar mindert sich die Steuergutschrift um 21 Cents (genau 21,06). Hieraus
folgt, dass bei einem Bruttoeinkommen von 31 152 US-$ die Steuergutschrift
einen Wert von Null erreicht. Durch Anrechnung des 12 690 US-$ überschießenden Bruttoeinkommens zu 21,06% (Entzugsrate) ist die maximale Steuergutschrift aufgebraucht worden.
Tabelle 1
Parameter des „Earned Income Tax Credit“ der Vereinigten Staaten im Jahr 2000
Haushaltstyp
Abschnitt I
Abschnitt II
Einkommensa)
grenzen
US-$
maximaler
Betrag
US-$
34,0
0 – 6 920
2 353
15,98
12 690 –27 413
40,0
0 – 9 720
3 888
21,06
12 690 – 31 152
7,65
0 – 4 620
353
7,65
5 770 – 10 380
Transferrate
%
Abschnitt III
Entzugsrate
%
Einkommensa)
grenzen
US-$
Familien mit
einem Kind
Familien mit
zwei und mehr
Kindern
Personen
ohne Kinder
a)
Jahresbeiträge für das Einkommen bzw. die Förderung durch den EITC.
Quelle: Zahradnik und Lav 2000.
In Abschnitt III, in dem die Steuergutschrift reduziert wird, ist die Grenzbelastung des Einkommens höher als der marginale Satz der Einkommensteuer. Sie
beträgt im Bereich der Rückführung der Steuergutschrift in der Regel rund 50%.
Berücksichtigt man, dass gleichzeitig andere einkommensabhängige Transfers
(vor allem die Lebensmittelhilfe) reduziert werden, so ergeben sich Grenzbelastungen von bis zu 75% (Gern 1996, S. 292; Eissa und Liebman 1995, S. 34).
Im Jahre 1998 nahmen 19,8 Mill. Arbeitnehmer (davon 16,4 Mill. Familien mit
Kindern) den EITC in Anspruch. Die Steuergutschrift belief sich auf durchschnittlich 1 584 US-$ (bzw. 1 870 US-$ für Familien mit Kindern) (Economic
Report of the President 1999, Box 3.-3).
1
182
1 US-$ = 2,06 DM (April 2000).
3.2 Der »Working Families’ Tax Credit« in Großbritannien
Ebenso wie die Vereinigten Staaten hat auch Großbritannien eine lange Tradition in der Förderung von Erwerbstätigen mit niedrigem Einkommen. Schon 1971
wurde der »Family Income Supplement« eingeführt. Er wurde im Jahre 1988
durch den »Family Credit« (FC) ersetzt. Dieser wiederum wurde Ende 1999
vom »Working Families’ Tax Credit« (WFTC) abgelöst.
Der »Family Credit« verfolgte das Ziel, das Nettoeinkommen von Geringverdienern zu erhöhen. Damit sollte ein Anreiz geschaffen werden, eine niedrig entlohnte Beschäftigung aufzunehmen. Den »Family Credit« konnten Familien mit
mindestens einem Kind in Anspruch nehmen, sofern ein Erwachsener wenigstens 16 Stunden pro Woche arbeitete. Ausgeschlossen waren Familien mit einem Kapitalvermögen von 8 000 £ und mehr.
Die Höhe des »Family Credit« bemaß sich nach der Zusammensetzung der
Familie. Im Jahre 1997 belief sich der Regelsatz für Erwachsene auf 47,65 £
pro Woche und für Kinder je nach Alter auf zwischen 12,05 und 34,70 £ pro
Woche. Bei einer Arbeitszeit des beschäftigten Familienmitglieds von 30 Stunden und mehr erhöhte sich der Transfer um 10 £ pro Woche. Auf den »Family
Credit« wurde das Nettoeinkommen unter Berücksichtigung eines Freibetrages
von 77,15 £ pro Woche zu 70% angerechnet. Bei der Berechnung des Nettoeinkommens konnten Kinderbetreuungskosten bis zu einer Höhe von 60 £ pro
Woche in Ansatz gebracht werden (vgl. Tabelle 2). Die hohe Entzugsrate bei
der Anrechnung von Erwerbseinkommen auf die Transferzahlungen führte zu
einer effektiven Grenzbelastung des Einkommens von nicht selten mehr als
80% (Duncan und Giles 1996, S. 143).
Die Administration des »Family Credit« erfolgte durch die Sozialämter. Die
Verwaltungskosten fielen auch angesichts der Bedürftigkeitsprüfungen hoch
aus, obwohl die Leistungen immer für einen Zeitraum von sechs Monaten ohne
weitere Zwischenprüfungen gewährt wurden. Nur schätzungsweise 50% der
Berechtigten nahmen den »Family Credit« tatsächlich in Anspruch (Whitehouse
1996, S. 136). Gegen Ende der neunziger Jahre soll er aber eine größere Akzeptanz erfahren haben. Pro Familie wurden Ende 1996 Transferzahlungen in
Höhe von durchschnittlich 57 £ pro Woche geleistet.
183
Tabelle 2
Parameter des „Family Credit“ und des „Working Families‘ Tax Credit“
in Großbritannien
„Family Credit“
1997
„Working Families‘ Tax
Credit“ 2000
47,65
53,15
0 - 10 Jahren
12,05
25,60
11 - 15 Jahren
19,95
16 - 17 Jahren
24,80
18 Jahren
34,70
Regelsätze (Pfund pro Woche)
Erwachsene
Kinder im Alter von
Berücksichtigung von
Kinderbetreuungskosten
Abzugsmöglichkeit bei Berechnung des Nettoeinkommens um bis zu 60 ₤
pro Woche
26,35
Erhöhung des Tax Credit
um 70% der Kinderbetreuungskosten (bis zu
150 ₤ pro Woche)
Entzugsrate (bezogen auf das eigene
Nettoeinkommen) in %
70
55
Freibetrag (Pfund pro Woche)
77,15
91,45
Anrechnung eigenen Vermögens (Pfund)
8 000
8 000
Mindestarbeitszeit pro Woche in Stunden
16
16
Bei Arbeitszeit von 30 Stunden und mehr:
Zusatzzahlung (Pfund pro Woche)
10
11,25
Träger
Sozialamt
Steuerverwaltung
Quelle: OECD 1999d; Blundell, Ducan, McCrae und Meghir 2000, S 77 ff.; Her Majesty’s Stationary Office 2000.
Mit der Ablösung des »Family Credit« durch den »Working Families’ Tax Credit« sind zwei Änderungen verbunden. Zum einen obliegt seine Durchführung
nicht mehr den Sozialämtern, sondern der Steuerverwaltung. Damit ist auch
verbunden, dass nicht mehr wie beim »Family Credit« die Mütter die Zahlungen
entgegennehmen, auch wenn die Väter die Einkommensbezieher sind, sondern
dass der Einkommensteuerpflichtige die Zahlungen erhält. Zum anderen sieht
der WFTC großzügigere finanzielle Regelungen vor:
• Der Regelsatz für Erwachsene beläuft sich auf 53,15 £ pro Woche und für
Kinder je nach Alter entweder auf 25,60 £ oder 26,35 £ pro Woche. Bei einer
Arbeitszeit von 30 Stunden und mehr erhöhen sich die Leistungen um
11,25 £ pro Woche.1
1
184
1 £ = 3,27 DM (April 2000).
• Kinderbetreuungskosten können zwar nicht mehr wie beim »Family Credit« bei der
Berechnung des Nettoeinkommens abgesetzt werden, dafür aber zu 70% den »Tax
Credit« erhöhen. Dabei sind die Höchstgrenzen für Familien mit einem Kind auf 100
£ pro Woche und für Familien mit zwei und mehr Kindern auf 150 £ pro Woche festgelegt worden. Anspruchsberechtigt sind allein Erziehende und Paare mit Kindern,
bei denen beide Partner mehr als 16 Stunden pro Woche arbeiten;
• bei der Anrechnung des Nettoeinkommens wird jetzt ein Freibetrag von 91,45 £ pro
Woche berücksichtigt, und schließlich
• ist die Entzugsrate von 70% auf 55% reduziert worden (Blundell, Duncan, McCrae
und Meghir 2000, S. 77 ff.; Gregg, Johnson und Reed 1999, S. 99 f.; Blundell 2000,
S. 27 ff. sowie ergänzende Angaben vom Institute for Fiscal Studies, London).
Die vorteilhaftere Ausgestaltung des WFTC wird durch Abbildung 2 veranschaulicht. Sie schlägt sich in Budgetkosten von 5 Mrd. £ pro Jahr nieder, d.h.
einem Anstieg gegenüber den Budgetkosten des »Family Credit« von
1,5 Mrd. £.
Abbildung 2
WFTC und Family Credit im Vergleich
Family Credit / WFTC
WFTC mit Kinderbetreuung
WFTC
Family credit
0
10
20
30
40
50
60
70
Arbeitsstunden pro Woche
Quelle: R. Blundell, A. Duncan, J. McCrae, C. Meghir, The Labour Market Impact of the Working Families' Tax
Credit, in: Fiscal Studies, Vol. 21, No. 1, 2000, S. 78.
185
3.3 Der »Earned Income Tax Credit« in Finnland
Als einziges Land außerhalb des angelsächsischen Raumes hat Finnland einen
»Earned Income Tax Credit« (EITC) eingeführt. Er ist finanziell weniger großzügig ausgestaltet als die Systeme in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien. Der EITC ist auf der Ebene der 450 Gemeinden angesiedelt. Sie erheben eine eigene Einkommensteuer, deren proportionaler Steuersatz im Durchschnitt bei 18% liegt (er beträgt im Einzelfall zwischen 15 und 20%). Der EITC
ist wie folgt ausgestaltet: Bei einem Arbeitseinkommen von 15 000 bis 49 000
FIM können 20% des Einkommens von der Steuerbemessungsgrundlage der
kommunalen Einkommensteuer abgesetzt werden.1 Bei 49 000 FIM wird der
maximale Steuerabsetzbetrag von 9 800 FIM erreicht. Dieser bleibt bis zu einem Einkommen von 75 000 FIM (= 50% des Durchschnittseinkommens) konstant. Zwischen 75 000 und 355 000 FIM nimmt der Steuerabsetzbetrag ab.
Jede über 75 000 FIM hinaus verdiente FIM wird zu 3,5% vom maximalen
Steuerabsetzbetrag abgezogen. Bei 355 000 FIM Arbeitseinkommen beträgt
der Steuerabsetzbetrag Null. Angesichts eines proportionalen Steuersatzes von
18% beläuft sich die Steuerersparnis auf 18% des Steuerabsetzbetrags. Die
Steuerersparnis erreicht eine maximale Höhe von 1 764 FIM (vgl. Tabelle 3 und
Abbildung 3).
Tabelle 3
Parameter des „Earned Income Tax Credit“ in Finnland im Jahr 2000
Steuerabsetzquote
(% des Arbeitseinkommens)
20%
Einkommensbereich, in dem der Steuerabsetzbetrag ansteigt
15 000 – 49 000 FIM
Einkommensbereich, in dem der Steuerabsetzbetrag konstant bleibt
49 000 – 75 000 FIM
Einkommensbereich, in dem der Steuerabsetzbetrag abnimmt
75 000 – 355 000 FIM
Maximaler Steuerabsetzbetrag
9 800 FIM
Marginale Entzugsrate
3,5%
Durchschnittlicher Einkommensteuersatz
der Gemeinden
18%
Maximale Steuerersparnis
1 764 FIM
Quelle: Auskunft von J. Kiander, Government Institute for Economic Research, Helsinki.
1
186
100 FIM = 32,90 DM (April 2000).
Abbildung 3
Der "Earned Income Tax Credit" in Finnland im Jahr 2000
(1000 FIM)
10
9
8
7
Steuerabsetzbetrag
6
5
4
3
2
Steuerersparnis
1
0
0
100
200
300
400
Arbeitseinkommen
Quelle: Auskunft von J. Kiander, Government Institute for Economic Research, Helsinki.
3.4 Die Förderung von Beschäftigten mit niedrigem Einkommen in Irland
Die Förderung von Beschäftigten mit niedrigen Einkommen besteht in Irland
aus mehreren Ansätzen:
•
•
•
•
der »Back to Work Allowance« (BTWA),
dem »Family Income Supplement« (FIS),
dem »Continued Child Dependent Payment«(CCDP) und
dem »Part Time Job Incentive« (PTJI).1
Die »Back to Work Allowance« verfolgt das Ziel, Anreize für die Aufnahme einer
Erwerbstätigkeit zu schaffen (Department of Social Community and Family Affairs 1999). Zu diesem Zweck können Arbeitslose, die eine Arbeit aufnehmen,
1
Vgl. zu den Hintergründen der irischen Beschäftigungspolitik Tansey 1998, Chap. 10.
187
einen Teil ihrer bisherigen Arbeitslosenunterstützung befristet weiter beziehen.
Die Inanspruchnahme der BTWA ist an die Bedingung geknüpft, dass die Personen älter als 22 Jahre sind, zwölf Monate lang arbeitslos waren und Arbeitslosenunterstützung in Höhe von mindestens 40 IR£ (allein Stehende) oder 62
IR£ (Paare) bezogen haben, oder dass es sich um allein Erziehende handelt,
die zwölf Monate lang Unterstützung erhalten haben.1 Außerdem muss durch
die Einstellung dieser Personen der Beschäftigtenstand des jeweiligen Arbeitgebers erhöht werden. Anspruchsberechtigte erhalten folgende Leistungen:
•
•
•
•
75% der Arbeitslosenunterstützung im 1. Arbeitsjahr,
50% im 2. Jahr,
25% im 3. Jahr sowie
(unter bestimmtem Bedingungen) eine Fortsetzung des Bezugs von »secondary benefits« für die Dauer von drei Jahren.
Neben abhängig Beschäftigten können auch Selbständige, die zuvor arbeitslos
waren, die BTWA nutzen. Sie erhalten:
•
•
•
•
100% der Arbeitslosenunterstützung im 1. Jahr,
75% im 2. Jahr,
50% im 3. Jahr und
25% im 4. Jahr.
Die Transferzahlungen unterliegen keiner Besteuerung. Sie werden wöchentlich
auf ein Bankkonto überwiesen.
Der »Family Income Supplement« ist eine Unterstützungszahlung an Familien,
die einer gering bezahlten Beschäftigung nachgehen (Callan, O’Neill und
O’Donoghue 1995). Anspruchsvoraussetzung ist eine Beschäftigung von mindestens 19 Wochenstunden, die auf drei Monate oder länger angelegt ist. Die
Arbeitszeit von Ehegatten/Partnern kann addiert werden. Die Transferzahlungen belaufen sich auf 60% der Differenz zwischen dem Nettoeinkommen der
Familie (Bruttoeinkommen – Steuern – Sozialversicherungsbeiträge) und einer
Einkommensgrenze, die sich von 233 IR£ bei einem Kind, 253 IR£ bei zwei
Kindern, auf 355 IR£ bei sieben und mehr Kindern pro Woche erhöht. Die Mindestzahlung beträgt 10 IR£ pro Woche. Die Höhe der Zahlung wird für 52 Wo1
188
1 IR£ = 2,38 DM (April 2000).
chen festgelegt (es sei denn, das Beschäftigungsverhältnis endet zwischenzeitlich) und erst dann wieder überprüft. Die Zahlungen können wöchentlich bei den
Postämtern in Empfang genommen werden. Die Beanspruchung der BTWA
schließt die des FIS nicht aus (Department of Social Community and Family
Affairs).
Der »Continued Child Dependent Payment« (CCDP) sieht vor, dass Langzeitarbeitslose (mehr als zwölf Monate arbeitslos) und Teilnehmer an öffentlichen
Beschäftigungsprogrammen 13 Wochen lang die Unterstützungszahlungen für
ihre Kinder weiter beziehen können, sofern sie einen Vollzeitjob annehmen, der
auf eine Dauer von mindestens vier Wochen angelegt ist.
Der »Part Time Job Incentive« (PTJI) beinhaltet, dass Langzeitarbeitslose, die
eine Teilzeitbeschäftigung antreten, anstelle der Arbeitslosenunterstützung unbefristet eine wöchentliche Zahlung von IR£ 46,40 bzw. IR£ 76,50 (Paare) erhalten. Das Einkommen aus der Teilzeitbeschäftigung wird hierauf nicht angerechnet (vgl. Tabelle 4).
Tabelle 4
Die Förderung von Beschäftigten mit niedrigem Einkommen in Irland im Jahr 2000
Back to Work
Allowance
Family Income
Supplement
Continued Child
Dependent
Payment
Part Time Job
Incentive
Ansatzpunkt
Weiterzahlung
von Sozialleistungen bei
Aufnahme einer
Erwerbstätigkeit
Erhöhung des
Nettoeinkommens
Weitergewährung
der Unterstützung
von Kindern in
(bisher) arbeitslosen Familien bei
Aufnahme einer
Erwerbstätigkeit
Kompensation für
den Wegfall der
Arbeitslosenunterstützung
Anspruchsvoraussetzung
Übergang von
Langzeitarbeitslosigkeit in die
Erwerbstätigkeit;
Erhöhung des
Beschäftigungsstandes beim
jeweiligen Arbeitgeber
Beschäftigung
von mindestens
19 Stunden pro
Woche; geringes
Einkommen
Übergang von
Langzeitarbeitslosigkeit in Vollzeitjob
Übergang von
Langzeitarbeitslosigkeit in Teilzeitbeschäftigung
Höhe der Transferzahlungen
75% der Sozialleistungen im
1. Jahr; 50% der
Sozialleistungen
im 2. Jahr; 25%
der Sozialleistungen im 3. Jahr
60% (Nettoeinkommen – soziale
Einkommensgrenze)
Bisherige Unterstützungszahlungen für Kinder
IR₤ 46,40 pro
Woche (Einzelpersonen)
IR₤ 76,50 pro
Woche (Paare)
Dauer des Anspruchs
3 Jahre
13 Wochen
unbegrenzt
52 Wochen (mit
Verlängerung)
Quelle: Department of Social Community and Family Affairs, Dublin.
189
Ende 1999 nahmen 37 600 Personen die BTWA, 14 500 den FSI und knapp
600 den PTJI in Anspruch.
3.5 Der »Canada Child Tax Benefit«
Die Unterstützung von berufstätigen Familien mit Kindern hat eine längere Tradition in Kanada. Die »Family Allowances« wurde 1993 durch den »Child Tax
Benefit« ersetzt, der später durch ein »Working Income Supplement« für Familien mit geringen Einkommen ergänzt wurde. Beide gingen gegen Ende der
neunziger Jahre im »Canada Child Tax Benefit« (CCTB) auf (Battle 1997,
S. 89 ff.).
Der CCTB beinhaltet die Zahlung von Kindergeld. Er besteht aus den »basic
benefits« und dem »National Child Benefit Supplement« (NCBS) für einkommensschwache Familien. Durch den NCBS werden die »basic benefits« ergänzt. Der NCBS gewährt Familien mit niedrigen Einkommen 785 Kan. $ pro
Jahr für das erste Kind, 585 Kan. $ für das zweite Kind und 510 Kan. $ für jedes
weitere Kind.1 Ab einem Nettoeinkommen von 20 921 Kan. $ wird jeder zusätzlich verdiente Dollar mit Entzugsraten von 11,5% für Familien mit einem Kind,
20,1% (2 Kinder) und 27,5% (3 Kinder) vom Kindergeld mehr in Abzug gebracht. Bei einem Einkommen von etwa 27 750 Kan. $ wird kein Kindergeld
mehr im Rahmen des NCBS gezahlt (vgl. Tabelle 5). Aus Abbildung 4 wird ersichtlich, dass eine Familie mit einem Kind und geringem Einkommen 1 805
Kan. $ im Jahr an Kindergeld erhält. Ab einem Nettoeinkommen von 27 750
Kan. $ nimmt das Kindergeld zuerst rasch und später, nach Auslaufen des
NCBS, langsamer ab. Der CCTB wird von 3,2 Mill. kanadischen Familien mit
80% aller Kinder in Anspruch genommen (Department of Finance 2000).2
1
2
190
1 Kan. $ = 1,41 DM (April 2000).
Neben dem »Child Tax Benefit« führt das Human Resources Development Canada einen
Modellversuch unter dem Namen »Self Sufficiency Project« (SSP) in den Provinzen British
Columbia und New Brunswick durch. Es ist darauf gerichtet, allein erziehenden Langzeitarbeitslosen (zwölf Monate und länger) einen Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung zu
bieten. Voraussetzung ist die Übernahme einer Vollzeitbeschäftigung (von mindestens 30
Stunden pro Woche). Die Anspruchsberechtigten erhalten drei Jahre 50% der Differenz aus
ihrem individuellen Bruttoarbeitseinkommen und einer bestimmten Einkommensgrenze. Diese lag 1996 bei 37 625 Kan. $ und wird jährlich angepasst. Der durchschnittliche Teilnehmer
am SSP arbeitet 130 Stunden im Monat à 7,50 Kan. $ pro Stunde und erhält zusätzlich zu
seinem Arbeitseinkommen von 975 Kan. $ einen staatlichen Zuschuss von 1 080 Kan. $ pro
Monat (vgl. Card und Robins 1996; Card, Robins und Lin 1998 sowie verschiedene Reports
der Social Research and Demonstration Corporation, dem das Projekt begleitenden engeren
Träger).
Tabelle 5
Parameter von Kanada’s Child Tax Benefit im Jahr 2000
Basic Benefit
National Child Benefit
supplement (NCBS)
Zielsetzung
Erhöhung des Nettoeinkommens
von Familien mit Kindern
Erhöhung des Nettoeinkommens von Familien mit Kindern und niedrigem Einkommen
Anspruchsvoraussetzung
Familie mit Kind
Familie mit Kind und niedrigem Einkommen
Höhe des Kindergeldes
1 020 Kan.$ pro Kind unter 18
Jahren sowie zusätzlich 75 Kan.$
für das 3. Und jedes weitere Kind
und 213 Kan.$ für jedes Kind
a)
unter 7 Jahren
785 Kan.$ für das 1. Kind
585 Kan.$ für das 2. Kind
510 Kan.$ für jedes weitere
Kind
Entzugsrate
(Nettoeinkommen der Familie
abzgl. 25 921 Kan.$) mal
2,5% für Familien mit 1 Kind
sowie
5% für Familien mit mehreren
Kindern
(Nettoeinkommen der Familie
abzgl. 20 921 Kan.$) mal
11,5% für Familien mit 1 Kind
20,1% für Familien mit
2 Kindern
sowie
27,5% für Familien mit 3 und
mehr Kindern
a)
Abzüglich 25% der Kinderbetreuungskosten, die im Rahmen der Steuererklärung geltend gemacht werden.
Quelle: Your Canada Child Tax Benefit (http:\\www. ccra-adrc.gc.ca/E/pub/tg/t 411ed).
191
Abbildung 4
Kanada's National Child Benefit Supplement, 2000 a)
Kan. $
Kindergeld
2000
CCTB
Basic
1000
NCBS
0
0
10000
20000
30000
40000
50000
60000
70000
Familiennettoeinkommen
a) Familie mit einem Kind im Alter von 7 - 18 Jahren.
Quelle: Your Canada Child Tax Benefit.
3.6
Australiens »Employment Entry Payment« und »Special
Employment Advance« sowie Neuseelands »Family Tax Credit«
Im Gegensatz zu den bisherigen Systemen fördert Australien den Übergang
von der Arbeitslosigkeit in ein Beschäftigungsverhältnis. Der Eintritt ins Arbeitsleben wird mit 100 austr. $ belohnt.1 An die Gewährung dieser Transferzahlung
sind keine Bedingungen geknüpft. Der »Employment Entry Payment« ist Bestandteil der »Newstart Allowance«, eines Programms, das die Arbeitssuche
1
192
1 austr. $ = 1,23 DM (April 2000).
von Arbeitslosen fördert.1 Alternativ zum »Employment Entry Payment« kann
auch ein »Special Employment Advance« in Anspruch genommen werden. Er
beinhaltet insbesondere die Erstattung von Ausgaben, die mit der Aufnahme
einer neuen Tätigkeit verbunden sind, bis zu einer Höhe von 500 austr. $.
Neuseeland stockt mit seinem »Family Tax Credit« das Nettoeinkommen von
Familien mit geringem Verdienst auf. Sofern das Familieneinkommen weniger
als 286 neus. $ pro Woche bzw. 14 872 neus. $ pro Jahr nach Steuern erreicht,
wird die Differenz vom Finanzamt transferiert.2 Die Inanspruchnahme des
»Family Tax Credit« setzt voraus, dass mindestens ein Elternteil einer Erwerbstätigkeit nachgeht. Bei allein Erziehenden muss die wöchentliche Arbeitszeit mindestens 20 Stunden betragen. Paare müssen zusammen mindestens
30 Stunden pro Woche arbeiten. Jeder der Partner erhält 50% der Transferzahlungen.3
4.
Einkommens- und Beschäftigungseffekte
Mit der Gewährung von Steuergutschriften und beschäftigungsabhängigen
Transfers wird das Ziel verfolgt, die Nettoeinkommen im Niedriglohnbereich und
das Arbeitsangebot zu erhöhen. Das Einkommensziel erreichen diese Systeme
weitgehend. In den Vereinigten Staaten fließt etwa die Hälfte aller EITCZahlungen an Familien, deren Einkommen unterhalb der Armutsgrenze liegt. Es
wird geschätzt, dass der EITC im Jahre 1998 bei 4,3 Mill. Personen das Einkommen über diese Grenze hinaus angehoben und außerdem einen großen
Beitrag zur Vermeidung von Kinderarmut geleistet hat (Economic Report of the
President 2000). Auch der WFTC in Großbritannien und der NCBS in Kanada
kommen insbesondere Familien am unteren Ende der Einkommenspyramide
zugute. Lediglich der FSI in Irland sowie der EITC in Finnland scheinen neben
den unteren auch andere Einkommensgruppen zu erreichen. Die hohe Zielgenauigkeit wird dadurch erreicht, dass Bezieher höherer Einkommen durch einen
einkommensabhängigen Entzug zunehmend vom Empfang der Leistungen
ausgeschlossen werden und ab einer bestimmten Einkommensgrenze über-
1
2
3
Vgl. http://www.centrelink.gov.au.
1 neus. $ = 1,23 DM (April 2000).
Vgl. http://www.ird.govt.nz/famiasst/famiasst.htm.
193
haupt keine Transfers mehr erhalten. Dadurch werden auch die Budgetkosten
in Grenzen gehalten.1
Im Gegensatz zu den Einkommenseffekten sind die Auswirkungen der Arbeitnehmersubventionen auf das Arbeitsangebot und (bei hinreichender Arbeitsnachfrage) auf die Beschäftigung im Niedriglohnbereich nicht eindeutig anzugeben. Zwar üben die Anhebung der Nettoeinkommen und die damit einhergehende Vergrößerung des Lohnabstands einen Anreiz auf die Nichterwerbstätigen aus, eine Arbeit aufzunehmen, d.h. die Partizipationswahrscheinlichkeit
wird erhöht. Auf der anderen Seite bewirkt die hohe Grenzbelastung des Einkommens im Bereich des Entzugs von Transferleistungen, dass die schon Beschäftigten weniger Stunden arbeiten (Reaktion der Arbeitsstunden). Es besteht
somit ein »Trade-off« zwischen der Partizipationswahrscheinlichkeit und der
Reaktion der Arbeitsstunden. Beide Effekte scheinen sich hinsichtlich des angebotenen Arbeitsvolumens weitgehend auszugleichen.
Empirische Untersuchungen zeigen, dass die Auswirkungen auf das Arbeitsangebot je nach Ausgestaltung des Fördersystems und je nach familiärer Situation
der Leistungsempfänger unterschiedlich ausfallen. In den Vereinigten Staaten
ging vom EITC ein besonders starker Anreiz auf allein erziehende Frauen aus,
erwerbstätig zu werden. Die Partizipation von verheirateten Männern wurde
dagegen kaum beeinflusst, die von verheirateten Frauen nahm leicht ab. Letzteres dürfte damit zusammenhängen, dass der EITC die Höhe des Transfers
nicht am individuellen Einkommen, sondern am Arbeitseinkommen der Familie
festmacht, so dass es für verheiratete Frauen (mit berufstätigem Ehemann) auf
Grund der hohen Grenzbelastung des Einkommens im Transferentzugsbereich
unattraktiv wird, eine Arbeit aufzunehmen. Auch das Arbeitsverhalten der schon
Beschäftigten wird in unterschiedlicher Weise verändert. Während das Stundenangebot von verheirateten Frauen, aber auch das von verheirateten Männern, zurückgeht, bleibt es bei allein stehenden Müttern weitgehend konstant.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Beschäftigungsquote durch
den EITC erhöht, das Stundenangebot gesenkt und das Arbeitsvolumen leicht
gesteigert wurde (vgl. Tabelle 6).
1
194
Die Budgetkosten belaufen sich z.B. für den EITC in den Vereinigten Staaten auf 0,3% des
BIP und für den WFTC auf 0,6% des BIP (OECD 1999a, S. 156).
Der WFTC in Großbritannien übt einen großen Anreiz aus, erwerbstätig zu werden. Lediglich bei verheirateten Frauen (mit arbeitendem Partner) ist eine gegenteilige Wirkung zu verzeichnen. Es wird geschätzt, dass durch den WFTC
die Erwerbsbeteiligung insgesamt um 30 000 Personen zunimmt. Andererseits
übt die hohe Grenzbelastung der Einkommen im Bereich einer wöchentlichen
Arbeitszeit von mehr als 16 Stunden einen hohen Anreiz aus, nur 16 Stunden
pro Woche zu arbeiten. Der Gesamteffekt wurde bisher nicht abgeschätzt (vgl.
Tabelle 7).
Tabelle 6
Die Auswirkungen des EITC der Vereinigten Staaten auf das Arbeitsangebot
Holtzblatt, McGubbin, Gilette (1994)
Erhöhung der Zahl der Beschäftigten, Reduzierung der Zahl der Arbeitsstunden der bisher schon Beschäftigten.
Dickert, Houser, Scholz (1995)
Zunahme der Zahl der Beschäftigten, geringfügige Abnahme der Zahl der
Arbeitsstunden der bisher schon Beschäftigten, leichte Erhöhung des Arbeitsvolumens.
Scholz (1996)
Der Rückgang der Arbeitsstunden bei denen, die bereits erwerbstätig waren,
wird mehr als ausgeglichen durch das zusätzliche Arbeitsangebot der als
Folge des EITC erwerbstätig gewordenen Personen. Der Zugewinn ist allerdings gering.
Eissa, Liebman (1996)
Unersuchung der Wirkungen der Ausweitung des EITC im Jahre 1986. Im
Vergleich zu allein stehenden Frauen (diese sind zum Empfang des EITC
nicht berechtigt) ergab sich eine relative Steigerung der Erwerbsbeteiligung
von allein stehenden Müttern mit Kindern von 2,8%. Beim Stundenangebot
der schon Erwerbstätigen zeigte sich kein relative Veränderung.
Eissa, Hoynes (1998)
Untersuchung der Auswirkungen des EITC auf das Arbeitsangebot von Ehepaaren mit Kindern. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass die
Höhe des EITC nicht vom individuellen Arbeitseinkommen, sondern vom
Familieneinkommen abhängt. Entscheiden Frauen, nachdem die Ehemänner sich entschieden haben, über ihr Arbeitsangebot, so kann es für Frauen
auf Grund der hohen Entzugsrate in Abschnitt III unattraktiv sein, Arbeit anzubieten. Ergebnis: Das Arbeitsangebot von Männern wird kaum beeinflusst.
Die Erwerbsbeteiligung der Frauen geht um einen Prozentpunkt zurück. Im
Entzugsbereich des EITC nimmt das Stundenangebot der Frauen ab.
R.M. Blank, D. Card, PH.K. Robins
(1999)
Erhöhung der Erwerbsbeteiligung allein erziehender Frauen, Reduzierung
der Arbeitszeit in Abschnitt III des EITC wegen der hohen Grenzbelastung
des Einkommens.
B.D. Meyer, D.T. Rosenbaum (1999)
Zunahme der Erwerbsbeteiligung und des Arbeitsvolumens allein erziehender Frauen kann zu einem großen Teil auf die großzügigere Ausgestaltung
des EITC und zu einem kleineren Teil auf Änderungen anderer sozialpolitischer Programme zurückgeführt werden.
Quelle: Eigene Zusammenstellung
Tabelle 7
Die Auswirkungen des Family Credit/Working Families‘ Tax Credit Großbritanniens auf
das Arbeitsangebot
Dilnot, Duncan (1992)
Gegenstand der Untersuchung: Die Auswirkungen der Verkürzung der Mindestarbeitszeit von 24 auf 16 Stunden innerhalb des FC im Jahre 1992. Ergebnis: Über 4% der allein Erziehenden erhöhen ihr Arbeitsangebot (insbesondere durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit), 3% reduzieren es.
Duncan, Giles (1996)
Die Erhöhung des FC um 10 £ pro Woche im Juli 1995 macht die Aufnahme
einer Arbeit für die 66% allein Erziehenden ohne Erwerbsarbeit nicht attraktiver; insgesamt leichter Rückgang des Arbeitsangebots.
195
Whitehouse (1996)
Anreiz, eine Arbeit von 16 Stunden aufzunehmen, ist beträchtlich; ebenso ist
der Anreiz, eine über 16 Stunden hinausgehende Arbeit einzuschränken,
sehr groß.
Gregg, Johnson, Reed (1999)
Ergebnis von Modellsimulationen zum WFTC: Hohe Anreize, eine Arbeit
aufzunehmen, sind gegeben bei allein erziehenden Frauen, verheirateten
Männern (ohne arbeitenden Partner) und bei verheirateten Frauen (ohne
arbeitenden Partner). Negative Anreize für verheiratete Frauen (mit arbeitendem Partner). Die Kosten pro neuen Arbeitsplatz belaufen sich auf
14 000 £.
Blundell, Duncan, McCrae,
Meghir (2000)
Anstieg der Erwerbsbeteiligung von allein erziehenden Frauen um 2,2 Prozentpunkte (= 34 000 Personen); die Erwerbsbeteiligung von verheirateten
Frauen (mit arbeitendem Partner) sinkt um 0,57 Prozentpunkte (= 20 000
Personen); insgesamt: Zunahme der Erwerbsbeteiligung um 30 000 Personen durch den WFTC.
Quelle: Eigene Zusammenstellung
Bei der Bewertung der Ergebnisse der vorgelegten Untersuchungen ist zu berücksichtigen, dass sie die negativen indirekten Beschäftigungseffekte, die
durch die Finanzierung dieser Programme aus allgemeinen Steuern ausgelöst
werden, nicht einbeziehen. Die geringe Beschäftigungserhöhung wird dadurch
noch weiter reduziert. Außerdem unterstellen die Untersuchungen , dass das
zusätzliche Arbeitsangebot auch zum herrschenden Lohnsatz beschäftigt wird.
Dies muss aber nicht der Fall sein, sodass auch aus diesem Grunde die ermittelten Effekte eine Obergrenze für die zusätzliche Beschäftigung darstellen
(Buslei und Steiner 1999, S. 79).1
5.
Zur Ausgestaltung der Fördersysteme
Die Wirkung von wirtschaftspolitischen Maßnahmen hängt in beträchtlichem
Maße von ihrer Ausgestaltung ab. Im Hinblick auf die hier interessierenden Arbeitnehmersubventionen lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen:
Zielgenauigkeit: Die Gruppe der Beschäftigten mit niedrigem Einkommen kann
in hohem Maße erreicht werden. Die besser Verdienenden lassen sich durch
einen einkommensabhängigen Leistungsentzug, Zweitverdiener in Haushalten
durch Zugrundelegung des Familien- statt des Individualeinkommens und kinderlose Paare durch Begrenzung der Leistungen auf Familien mit Kindern
(weitgehend) ausschließen. Damit gehen allerdings gleichzeitig negative Arbeitsanreize auf Besserverdiener und verheiratete Frauen aus.
1
196
Neben den Einkommens- und Beschäftigungseffekten ist auch von Bedeutung, wie sich das
Transfersystem auf das Aus- und Weiterbildungsverhalten, auf das Spar- und auf das Heiratsverhalten (und anderes mehr) auswirken. Vgl. hierzu die Papiere, die auf der Tagung des
Joint Center for Poverty Research der Northwestern University in Evanston am 7./8. Oktober
1999 vorgelegt wurden (http://www.jcpr.org).
Zeitpunkt der Transferzahlungen: Steuergutschriften knüpfen am Einkommen
des vergangenen Jahres an und werden in der Regel erst im Nachhinein ausgezahlt. Sie werden bei Personen mit kurzem Zeithorizont nicht mit dem eigenen Arbeitsangebot in Verbindung gebracht und üben dann keinen Anreiz aus.
Dies ist anders bei Transferzahlungen der Sozialämter. Sie setzen mit der Arbeitsaufnahme ein, erfolgen häufig Woche für Woche und sind damit für jeden
Empfänger unmittelbar wahrnehmbar.
Transparenz: Der Zeitpunkt der Leistungsgewährung beeinflusst auch die
Transparenz der Fördersysteme für den Empfänger. Bei Steuergutschriften
kommt hinzu, dass viele Berechtigte einen Steuerberater für ihre Einkommensteuererklärung in Anspruch nehmen (in den Vereinigten Staaten etwa die Hälfte
der Empfänger des EITC). Die Abhängigkeit der Höhe der Transferzahlung vom
eigenen Arbeitsangebot bleibt dadurch verborgen.
Beanspruchung der Leistungen: Die soziale Akzeptanz von Sozialleistungen ist
geringer als der Empfang von Steuergutschriften. Sozialleistungsempfänger
müssen sich in der Regel einer Bedürftigkeitsprüfung stellen, Steuerbehörden
nehmen sie nicht vor. Die unterschiedliche soziale Akzeptanz zeigt sich darin,
dass z.B. der FIS in Irland nur von 25% der Berechtigten in Anspruch genommen wird, der EITC in den Vereinigten Staaten dagegen von zuletzt 86%. Mit
der Gewährung von Steuergutschriften kann die Zielgruppe der Niedrigverdiener besser erschlossen werden als mit Zahlungen der Sozialämter.
Missbrauchsmöglichkeit: Eine missbräuchliche Inanspruchnahme dürfte bei der
Gewährung von Steuergutschriften in höherem Maße gegeben sein als bei
Transfers durch die Sozialämter. Steuererklärungen werden weniger streng geprüft als Anträge an die Sozialämter. Falsche Angaben über die Einkommenshöhe und das Verschweigen bestimmter Tätigkeiten (Schwarzarbeit) in der
Steuererklärung sind an der Tagesordnung. Erhebungen in den USA kommen
zum Ergebnis, dass knapp 20% der durch den EITC Begünstigten hierzu nicht
berechtigt waren. Selbstverständlich werden auch Sozialleistungen missbräuchlich in Anspruch genommen. Die Bedürftigkeitsüberprüfungen durch die
Sozialämter scheinen aber strenger zu sein. Allerdings ist damit auch ein größerer bürokratischer Aufwand verbunden (OECD 1996, S 49; OECD 1999b,
S. 100).
197
6.
Zusammenfassung
Die Förderung der Einkommens- und Beschäftigungssituation im Niedriglohnbereich kann an der Arbeitsnachfrage oder am Arbeitsangebot ansetzen. Eine
Reihe von angelsächsischen Ländern sowie Finnland gewähren schon seit vielen Jahren Steuergutschriften und Transferleistungen an Beschäftigte mit niedrigen Einkommen. Sie verfolgen damit im Wesentlichen zwei Ziele: die Erhöhung des Nettoeinkommens von Geringverdienern und damit die Vermeidung
von Armut sowie die Steigerung des Arbeitsangebots.
Es gelang, mit Hilfe dieser Maßnahmen die Einkommenssituation im Niedriglohnbereich zu verbessern. Auch wurde die Bereitschaft von Nichterwerbstätigen, eine Arbeit aufzunehmen, erhöht. Insbesondere für allein erziehende
Frauen schufen der EITC in den Vereinigten Staaten und der WFTC in Großbritannien spürbare Anreize, ins Erwerbsleben einzutreten. Auf der anderen
Seite gingen negative Arbeitsanreize auf die schon Beschäftigten aus. Sie
konnten das gleiche Nettoeinkommen mit weniger Arbeit erzielen. Außerdem
machte die hohe Grenzbelastung des Einkommens im Transferentzugsbereich
es kaum lohnend, die Arbeitszeit auszudehnen. Per Saldo, d.h. gemessen am
Arbeitsvolumen, dürfte das Arbeitsangebot nur leicht erhöht worden sein. Dabei
sind indirekte (negative) Beschäftigungseffekte noch nicht berücksichtigt
worden.
198
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