Zur Geschichte der Volksrechte im Römischen Reich

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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
DETLEF LIEBS
Zur Geschichte der Volksrechte im Römischen Reich
Originalbeitrag erschienen in:
Studi in onore di Remo Martini. Band 2.
Milano: Guiffre, 2009, S. 449-472
Detlef Liebs
ZUR GESCHICHTE DER VOLKSRECHTE
IM RÖMISCHEN REICH
*
1. Grundlagen
Das römische Reich war eine fast die ganze damalige zivilisierte Welt umspannende politische Einheit mit einem bemerkenswert wirkungsvollen Zentrum, zunächst in Rom, später
näher an den zu verteidigenden Grenzen: in Trier und später Arles, Mailand und schließlich
Ravenna bzw., im Osten, in Thessalonike, Antiochien, Nikomedien und schließlich Konstantinopel. Dieses Reich ist aus dem Stadtstaat Rom hervorgegangen. Einst war das einer unter
mehreren tausend Stadtstaaten und sonstigen Völkerschaften auf dem Gebiet des späteren
römischen Reichs. Ein weltumspannendes Reich geworden, hat Rom die von seinem Ursprung als Stadtstaat geerbten Verfassungsstrukturen nur sehr zögerlich überwunden. Zu diesen Strukturen gehörte, dass die Bürger jedes einzelnen Stadtstaates nach ihrem je eigenen
Recht lebten: die Bürger Roms also nach römischem Recht, die Bürger Athens mit Attika
nach attischem Recht, die Bürger von Alexandrien nach alexandrinischem Recht und die Bürger des Stadtstaates Marseille nach massilischem Recht. Schwierigkeiten entstanden einerseits
dadurch, dass etwa Bürger von Athen in die Lage kommen konnten, in Rom oder sonstwo vor
Gericht zu stehen, also bei einem römischen Magistrat ihr Recht zu suchen, wo immer dieser
amtierte: ob in Italien oder – als Gouverneur – in den Provinzen. Dann hatte dieser, wenn der
Athener die Rolle des Beklagten hatte, an sich attisches Recht anzuwenden; doch kann man
sich leicht vorstellen, dass er dazu oft nicht in der Lage und [S.450] mit wachsendem Ungleichgewicht zwischen Rom und Athen oder einer der anderen Städte nicht einmal willens
war.1
*
Erschienen in: Studi in onore di Remo Martini, Mailand 2009, II S. 449-72. Hier überarbeitet.
H. J. WOLFF, Das Problem der Konkurrenz von Rechtsordnungen in der Antike, Heidelberg, 1979, pp. 66-73,
schätzt die Bereitschaft Roms, fremdes Recht anzuwenden, wenig günstig ein. Zum geringen Respekt selbst
eines grundsätzlich wohlwollenden römischen Statthalters vor dem Recht der Städte Bithyniens siehe Plin. ep.
10, 108 s. (dazu R. MARTINI, Ricerche in tema di editto provinciale, Milano, 1969, pp. 59-62) und 112 s.; zu
1
Die zweite, ebenso gravierende Schwierigkeit ergab sich aus dieser immer größeren
Ungleichheit der politischen Machtverhältnisse, die Rom zum übermächtigen Partner oder gar
Herrn der anderen politischen Einheiten im Mittelmeergebiet werden ließ. Das hatte nämlich
zur Folge, dass die mit Rom kollaborierenden2 Bürger anderer Stadtstaaten, und solche gab es
allenthalben in wachsender Zahl, das römische Bürgerrecht zusätzlich zum angestammten
begehrten und zur besseren Integration all dieser Einheiten in den römischen Machtbereich
immer häufiger auch bekamen; und das vererbten sie. Zu diesen Neubürgern an sich des
Stadtstaates Rom zählten in der Kaiserzeit nicht nur Bürger anderer formell fortbestehender
Stadtstaaten, sondern auch Barbaren ohne oder mit ungewissem politischen Hintergrund,
wenn sie nämlich 25 Jahre im römischen Heer treu gedient hattenoder wenn sie als Sklaven
eines römischen Bürgers von diesem förmlich freigelassen worden waren.3
Sklaven hatten keine Rechte und deshalb erübrigte sich bei ihnen die Frage, nach welchem Recht Ungewissheit und Streit bei ihnen zu beurteilen waren; das entschied ihr Herr
nach freiem Ermessen. Außerdem gab es gewissermaßen Staatenlose, dediticii. Wie der lateinische Name sagt, waren das diejenigen Unterworfenen, denen die Römer nach ihrer Unterwerfung zwar nicht die Freiheit genommen, die sie nicht versklavt hatten, denen sie aber auch
ihre politische Autonomie nicht einmal in begrenztem Umfang belassen hatten; mit zunehmender Ausdehnung ih[451]res Machtbereichs überließen sie nämlich immer häufiger den
Besiegten eine begrenzte Autonomie. In der Kaiserzeit kamen die freigelassenen Sklaven mit
krimineller Vergangenheit3a sowie besiegte und im Reich angesiedelte Barbaren hinzu. All
diese Staatenlosen hatten kein angestammtes Recht, nach dem ihre Konflikte hätten beurteilt
werden können.
Bei den Doppelstaatlern wandten die römischen Behörden meist römisches Recht an,
sofern deren lokales Recht, das oft zugunsten der Römer hatte abgeändert werden müssen,
ihnen keine zusätzlichen Lasten auferlegte, etwa eine besondere, an Rom zu entrichtende Abgabe, Einquartierung oder Beiträge zum Unterhalt öffentlicher Einrichtungen: Straßen, Häfen,
Staatspost, Wasserleitungen, Bäder und anderes. Die Doppelstaatler konnten aber auch vor
Trajan selbst siehe 10, 93. Nicht immer werden solche Fragen vor den Kaiser gekommen sein; und wenn, werden nicht alle Kaiser so rechtstreu wie Trajan reagiert haben.
2
Zu methodischen Bedenken gegenüber diesem Ausdruck cfr. J. v. UNGERN-STERNBERG, Kollaboration von der
Antike bis zum 21. Jahrhundert – Ein Diskussionsbeitrag, in Studia humaniora Tartuensia, V 2, 2004, pp. 1-9.
3
Zum römischen Militär als Mittel der Romanisierung siehe insbesondere die Beiträge in W. ECK / H. WOLFF (a
cura di), Heer und Integrationspolitik. Die römischen Militärdiplome als historische Quelle, Köln 1986. Allgemein zur Integration der für das Reich engagierten Teile der Bevölkerung bis zum 2. Jahrhundert n. Chr. R.
WIEGELS, Imperiale Herrschaft und provinziales Leben – Integration und Regionalismus im römischen Reich
des 2. Jahrhunderts n. Chr., in A. BAUER / K. H. L. WELKER (a cura di), Europa und seine Regionen. 2000 Jahre
Rechtsgeschichte, Köln 2007, pp. 13-47. Zum römischen Bürgerrecht der Freigelassenen jetzt E. STOLFI, Schiavitù, manomissioni e cittadinanza: per un confronto tra Grecia e Roma, Vortrag 8. Mai 2008 in Imperio/Genua.
3a
Gai. inst. 1, 13 u. 15.
2
den heimischen Autoritäten ihr Recht suchen, soweit Rom denselben Zuständigkeiten belassen hatte; und die peregrinen Richter wandten dann ihr angestammtes Recht an, das die Römer fortgelten ließen, nachdem sie dafür gesorgt hatten, dass alle kritischen Punkte geändert
oder entfernt worden waren. Von diesen Volksrechten muss es viele hunderte wenn nicht tausende gegeben haben.4
Dominanz des römischen Rechts über all diese Volksrechte resultierte aber noch aus einem dritten und vierten Grund – abgesehen von Doppelbürgerschaft und Allgegenwart der
römischen Magistrate mit wenig Lust, fremdes Recht anzuwenden. Überall in ihrem Machtbereich, wo immer Platz war oder geschaffen worden war, gründeten die Römer Stadtgemeinden römischen oder doch latinischen, d. h. geringfügig vereinfachten römischen Rechts: Kolonien5 und Munizipien. Kolonien waren planmäßige Ansiedlungen römischer Bürger, später
meist Veteranen, in Städten, die auf erobertem fremdem, mitunter bisher gar nicht städtisch
besiedeltem Gebiet gegründet wurden wie zum Beispiel Augst bei Basel, oder dessen bisherige Bevölkerung von den Römern ausgerottet worden war wie diejenige von Karthago, Korinth und Numantia; meist aber wurden die zur Mitwirkung bereiten Teile der Ureinwohner
bei der Urbanisierung einbezogen. Mitunter wurden solche Kolonien auch unmittelbar neben
einer fortbestehenden autochthonen [452] Stadt angelegt wie in Tarent und Patras; dann entstanden Doppelgemeinden.
Verfassung und Rechtsordnung der römischen Kolonien waren römisch. An der Spitze
standen zwei Konsuln, meist bescheiden duumviri oder duoviri genannt, die, wie ursprünglich
auch die römischen Konsuln, auch die Rechtsprechung versahen. Seit Cäsar, nachdem ihre
sonstigen Aufgaben immer mehr beschnitten worden waren, rückte die Jurisdiktion ganz in
den Vordergrund, weshalb sie seitdem meist duumviri iure dicundo hießen. Darunter rangierten die duumviri aediles oder auch quinqueviri, niedere Magistrate hauptsächlich mit Polizeiaufgaben und verantwortlich für Bau und Unterhalt öffentlicher Einrichtungen, wie die römischen Ädilen. In größeren Städten gab es außerdem quaestores zur Einziehung von Abgaben
und Verwaltung des städtischen Vermögens. Eine vierstufige Obrigkeit wie in Rom: Konsuln,
Prätoren, Ädilen und Quästoren, leistete man sich in den Kolonien im Allgemeinen nicht; sie
war mangels Aufgaben auch nicht erforderlich.
4
Grundlegend L. MITTEIS, Reichsrecht und Volksrecht in den östlichen Provinzen des römischen Kaiserreichs,
Leipzig, 1891. Aktueller Überblick: W. KAISER, s.v. Volksrecht, in Der Neue Pauly, XII 2, 2003, coll. 303-306,
mit weiterer Literatur. Inwiefern schon vor 212 das römische auf die lokalen Rechte einwirkte, untersucht J.
TIANTAPHYLLOPOULOS, Griechisch-römische Nomokrasie vor der Constitutio Antoniniana, in Akten des VI.
Internationalen Konkresses für Griechische und Lateinische Epigraphik München 1972, 1973, pp. 169-91.
5
Überblick über die Geschichte der römischen Kolonien: H. GALSTERER, sv. Coloniae, in Der Neue Pauly, III,
1997, coll. 76-85.
3
Die Römer haben aber auch autochthone Stadtgemeinden romanisiert, indem sie sie zu
Munizipien erhoben.6 Das bedeutete, dass alle Jahresmagistrate mitsamt ihren Familien das
begehrte römische Bürgerrecht erhielten und die anderen freien Bürger wenigstens das latinische. Damit ging eine allmähliche Umbildung von Verfassung und Rechtsordnung nach römischem Muster einher, einschließlich Senat (ordo decurionum) und – vielfach machtloser –
Volksversammlung, wenn auch oft mit einzelnen Residuen alteingewurzelter Traditionen;7 so
hießen die duumviri africanischer Munizipien oft Suffeten.8
Schließlich verhalf dem römischen Recht zur Vorherrschaft viertens seine innere Entwicklung. Die Römer begannen früh, ihr Recht zu universalisieren. Wie anderswo auch wies
es einst viele althergebrachte Eigenheiten auf, die Nichtrömern kaum einleuchten würden. Sie
bemühten sich aber bald um ein Recht, das überall gelten konnte, indem sie, fass-bar seit dem
3. Jahrhundert v. Chr., neben ihre nur Römern zugänglichen Rechtsinstitute solche stellten,
von denen sie meinten, sie seien allen Kulturvölkern gemeinsam; sie nannten das ius gentium,
das bei allen [453] Völkern anzutreffen sei.9 Wenn man genauer hinschaut, ist diese Vorstellung jedoch nicht zu verifizieren; es war eine Abstraktionsleistung der Römer. So galt für
Käufe unter Bürgern an sich nach altem Gewohnheits-recht, dass das Geschäft vor sechs
mündigen männlichen römischen Bürgern abzuwickeln war, darunter einem Fachmann im
Abwiegen von Rohkupfer, der libripens; das Geschäft war also quasi öffentlich. Zudem mussten bestimmte Worte hergesagt, das Kaufobjekt sofort übergeben und der Kaufpreis, der einst
aus Rohkupfer bestand, sofort abgewogen werden. Daneben stellten die Römer nun die formfreie Einigung über Kaufobjekt und Preis; war sie zustande gekommen, dann war das Vereinbarte rechtsverbindlich und konnte die Ausführung vor dem römischen Prätor erzwungen
werden. Das galt, soweit wir blicken können, nirgend-wo sonst.10
Oder: Eine Handelsgesellschaft konnte ursprünglich nur durch künstliche Verbrüderung: Nachbildung einer Erbengemeinschaft begründet werden, wozu die Beteiligten, diesmal
vor dem Prätor, wiederum bestimmte Worte sprechen mussten. Daneben war es, wohl seit
dem 2. Jahrhundert v. Chr., möglich, sich durch formlose Einigung gegenseitig zu verpflich6
Überblick über die Munizipien: H. GALSTERER, sv. Municipium, in Der Neue Pauly, VIII, 2000, coll. 476-479.
Zur Munizipalisierung von Zentralspanien siehe etwa L. A. CURCHIN, The Romanization of Central Spain,
New York, 2004, pp. 87-95 und 123 s.
8
Dazu etwa Y. LE BOHEC, Histoire de l’Afrique romaine, Paris, 2005, pp. 124-129.
9
Deutlich etwa Gai. inst. 1, 1; siehe schon Cic. pro Sex. Rosc. Am. 143; id. de harusp. resp. 32; id. de orat. 1,
56; id. de rep. 1, 2, 2; id. part. orat. 130; id. Tusc. disp. 1, 30; id. de off. 3, 23 und vor allem 69. Zu alldem M.
KASER, Ius gentium, Köln, 1993, pp. 14-22.
10
Zwar hat E. E. COHEN, Consensual Contracts at Athens, in H. A. RUPPRECHT (a cura di), Symposion 2003.
Vorträge zur griechischen und hellenistischen Rechtsgeschichte, Wien, 2006, pp. 73-84, darzutun versucht, dass
es auch in Athen allein kraft Konsenses verbindliche Verträge gegeben habe, jedoch hat E. JAKAB, Antwort auf
Edward Cohen, ibid., pp. 85-91, das schlüssig widerlegt.
7
4
ten, alles oder auch nur ein bestimmtes Unternehmen auf gemeinsame Rechnung und Gefahr
zu betreiben. Wenn einer der Beteiligten sich an die wie auch immer, und sei es lediglich
mündlich mit beliebigen Worten oder gar konkludent getroffene Vereinbarung nicht hielt,
konnte er vor dem Prätor zu Abrechnung, Teilung des Gewinns und Beteiligung an einem
Verlust gezwungen werden. Auch eine solche Regelung ist nirgendwo sonst bezeugt.
Für eine gültige Eheschließung, um ein Beispiel aus dem Familienrecht anzuführen, erklärten die römischen Juristen all die althergebrachten Riten wie Einkehr ins Haus des Mannes und Mitgift für rechtlich unerheb[454]lich. Maßgeblich wurde allein der Konsens der
Brautleute,11 wirklich eine Ehe unter Gleichen eingehen zu wollen, kein flüchtiges Verhältnis
und auch kein bloßes Konkubinat mit einer vor der Öffentlichkeit nicht als Gemahlin geehrten
Frau. Stand einer der Beteiligten noch unter väterlicher Gewalt, dann war freilich auch Zustimmung seines beziehungsweise ihres Gewalthabers, des Vaters beziehungsweise, wenn er
noch lebte, des Großvaters väterlicherseits und so weiter erforderlich. Und ebenso selbstverständlich war für eine rechtsgültige Ehe, die allein (wenn der Vater Römer war) zu lebenslanger väterlicher Gewalt über die Kinder und gesetzlichem Erbrecht nebst Noterbenrecht der
Kinder nach dem Vater führte, erforderlich, dass beide Teile das römische Bürgerrecht hatten;
zumindest aber, wenn einer der beiden kein römisches Bürgerrecht hatte, conubium. Das
heißt, wenn er beziehungsweise sie dieses Vorrecht nicht schon als Latiner beziehungsweise
Latinerin des latinischen Bundes hatte, das eigens eingeräumte Privileg, mit einer Römerin
beziehungsweise einem Römer eine rechtsgültige Ehe einzugehen; die prisci Latini hatten das
conubium von Rechts wegen. So gut wie regelmäßig wurde dieses Privileg Veteranen zugunsten ihrer barbarischen Freundinnen gewährt, wenn auch mit der Einschränkung dumtaxat
singulas singulis, also zugunsten einer Frau nach Wahl des Veteranen, jedoch immer nur je
einer für je einen.
Das Recht so fortzubilden, dass es möglichst überall gelten konnte, war zunächst wohl
ein Verdienst der römischen Juristen. Die fruchtbarsten unter ihnen kamen regelmäßig aus der
Periferie der römischen Kultur;12 sie entwickelten das Recht des Stadtstaates Rom weiter in
Richtung auf ein Reichsrecht, wenn in der Kaiserzeit dann auch die kaiserliche Rechtssetzung
mehr und mehr zur treibenden Kraft wurde, schon vor 212.13 Dem Kaiser war auch die alleinige Befugnis zugekommen, Nichtrömern das römische Bürgerrecht zu verleihen; und 212
11
Siehe etwa Cerv. Scaev. Digesta IX (D. 24, 1, 66). Allerdings blieb die feierliche deductio in domum mariti
ein wichtiges Indiz für ernsthaften Ehewillen insbesondere des Mannes, siehe Pomp. ad Sab. XIV (D. 23, 2, 5).
12
D. LIEBS, Römische Provinzialjurisprudenz, in Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, II 15, Berlin,
1976, pp. 354 s.
13
Cfr., was die Rechtsfortbildung durch Rechtsprechung betrifft, D. LIEBS, Vor den Richtern Roms, München,
2007, pp. 79-177, zusammenfassend pp. 180-183.
5
verlieh er es allen freien Reichsbewohnern, die es noch nicht hatten, wenn auch mit [455]
Einschränkungen.14 Diese betrafen jedenfalls besondere Abgaben, die den Neubürgern durch
die Einbürgerung nicht etwa erlassen waren. Auch ganze Personengruppen: die dediticii, waren ausgenommen.15
Schon vor 212 lebte ein beträchtlicher Teil der Reichsbevölkerung nach römischem
Recht. Die Italiker erhielten es im frühen 1. Jahrhundert v. Chr., ein Ergebnis des Bundesgenossenkrieges. Auf der iberischen Halbinsel lebten seit den Flaviern im Wesentlichen alle
Freien nach römischem Recht, weil Vespasian alle Städte dort zu Städten latinischen Rechts
erhoben hatte, was auch alsbald durchgeführt worden war.16 Die ländlichen Gebiete im römischen Reich waren meist Städten angegliedert oder doch ähnlich organisiert um einen oft nur
erst ansatzweise urbanisierten Vorort wenigstens mit Tempeln für die wichtigsten Götter,
Rathaus und Thermen wie vermutlich etwa Badenweiler, Krozingen, Umkirch und Riegel für
die ländliche Bevölkerung im Markgräflerland und im Breisgau.17 So wurden die spanischen
Städte, wenn sie keine Kolonien waren, durchweg Munizipien. Die Stadtrechte dort verwiesen
in allen wichtigen Fragen auf das Edikt des Provinzstatthalters und vor allem das des römischen Prätors.18 In Gallien waren bald die meisten Städte Munizipien wenn nicht Kolonien;
und auch in Britannien und den germanischen Provinzen nicht wenige. Im Osten hielten sich
die Volksrechte, zusammen mit der griechischen Sprache, noch am stärksten, aber stets nur
als lokale Rechte, die oft nicht einmal aufgezeichnet waren, also als lokales Gewohnheitsrecht.19 [456] Das traf zumal im ländlichen Ägypten zu, wo unter der hellenistischen Decke
das altägyptische Recht fortlebte: das demotische Recht. Hier war die römische Regierung,
konkret: Augustus bei Übernahme der Herrschaft nach Überwindung Kleopatras 31 v. Chr.,
zurückhaltend vorgegangen. Er hatte die neue Provinz für die römische Oberschicht gesperrt
und sie für lange Zeit einem mit der griechischen Kultur vertrauten, ergebenen Mitarbeiter aus
14
Pap. Giss. 40, bes. ll. 7-10. Neue Ausgabe mit deutscher Übersetzung und Kommentar: P. A. KUHLMANN, Die
Gießener literarischen Papyri und die Caracalla-Erlasse, Gießen, 1994, pp. 217-239, bes. 222 s. und 228-238.
15
Dazu zuletzt K. BURASELIS, ΘΕΙΑ ΔΩΡΕΑ. Das göttlich-kaiserliche Geschenk. Studien zur Politik der Severer und zur constitutio Antoniniana, Wien, 2007, pp. 6 f.; zweifelnd P. A. KUHLMANN, cit.
16
Unter Vespasian, Titus und Domitian, der das zum Abschluss bringen konnte, H. GALSTERER, Untersuchungen zum römischen Städtewesen auf der iberischen Halbinsel, Berlin, 1971, pp. 37-50.
17
Badenweiler nach einer Vermutung von H. U. NUBER ca. 1995 mündlich; zu allen vier Orten s. H. STEUER,
#######.
18
In der Lex Irnitana cap. 85 beziehungsweise 91.
19
Zu seiner Bedeutung in den Provinzen nach 212 s. etwa Ulp. de off. proc. I. IV (D. 1, 3, 33 s.). Dazu etwa E.
MEYER-ZWIFFELHOFFER, Πολιτικῶς ἄρχειν. Zum Regierungsstil der senatorischen Statthalter in den kaiserzeitlichen griechischen Provinzen, Stuttgart, 2002, pp. 70 und 272, allerdings durchsetzt mit Irrtümern; zur Schrift
Ulpians jetzt A. NOGRADY, Römisches Strafrecht nach Ulpian Buch 7 bis 9 De officio proconsulis, Berlin, 2006,
bes. pp. 19-23; zum Skopelismus (verfehlt dazu E. MEYER-ZWIFFELHOFFER, cit., p. 70) pp. 308 s. Weitere zeitgenössische Zeugnisse bei BURASELIS, op. cit. supra n. 15, pp. 137-41.
6
dem Ritterstand anvertraut,20 ohne die üblichen Einrichtungen römischen Rechtslebens in den
Provinzen einzuführen. Römische Bürger gab es hier zunächst kaum, doch entstanden dann
all-mählich Veteranengemeinden wie Philadelphia im Fajum. Alsbald nach 212 hat dann Ulpian in zahlreichen Schriften zu allen Rechtsgebieten diesen Trend zur Allgemeingültigkeit
weiter vorangebracht.21
2. Die römische Gerichtsverfassung im Verlauf der Kaiserzeit
Der Berührung mit fremdem Recht trug die Gerichtsverfassung in Rom erstmals 242 v.
Chr. Rechnung, als der Erste punische Krieg seinem Ende entgegen ging. Damals wurde die
Prätur, die 125 Jahre vorher vom Konsulat eigens für die Rechtsprechung abgespaltene Magistratur, verdoppelt. Ein zweiter Prätor wurde eingeführt, zuständig nur für die Rechtsprechung
mit und unter Fremden, der praetor peregrinus; der Kollege, dem die Jurisdiktion unter Bürgern verblieb, hieß seitdem praetor urbanus. War der vor dem Fremdenprätor in einem Zivilprozess Beklagte Bürger eines anderen Gemeinwesens, so richtete sich seine Verpflichtung,
also die Frage, ob und in welchem Umfang er zu verurteilen war, an sich nach dem Recht
seiner Heimat.22 Der Fremdenprätor bzw. seine Berater [457] konnten nun nicht sämtliche
Rechtsordnungen der in Rom weilenden Fremden mit all ihren Feinheiten kennen, weshalb es
Sache des Beklagten war, darzulegen und glaubhaft zu machen, was die Rechtsordnung seiner
Heimatstadt zu diesem Fall besagte. Oft wird das nicht hinreichend gelungen sein. Jedenfalls
scheint die Rechtsprechung des Fremdenprätors: sein Bestreben, den Anliegen der Fremden
trotzdem gerecht zu werden, zur Herausarbeitung des römischen ius gentium geführt zu haben.23
20
Nämlich C. Cornelius Gallus. Zu seiner Kultur M. SCHANZ, Geschichte der römischen Literatur, II, München,
4. ed. C. HOSIUS, 1935, pp. 169-172 = §§ 270-272.
21
Dazu vor allen T. HONORÉ, Ulpian Pioneer of Human Rights, 2. ed., Oxford, 2002, pp. 76-93 und 227-229.
22
Der Provinzialjurist Gajus (zu seinem provinzialen Standort R. MARTINI, cit., pp. 104-8; und D. LIEBS, Römische Provinzialjurisprudenz cit., pp. 294-310 und 328-330) kommt in seinen Institutionen darauf mehrmals
zurück, siehe Gai. inst. 1, 47. 55. 92; 3, 93. 120; ferner das gleichfalls außerjustinianisch überlieferte Frag. Dosith. de manumiss. § 12. Näher dazu H. LEWALD, Conflits de lois dans le monde grec et romain, jetzt in Labeo,
5, 1959, pp. 334-369, bes. 350-358 (zuerst 1946 in einer griechischen Zeitschrift); und C. CASCIONE, Zur Anwendung von internationalem Privatrecht durch den römischen Prätor, Vortrag Freiburg i. Br. 16. Juli 2007;
siehe auch F. STURM, Unerkannte Zeugnisse römischen Kollisionsrechts, in Festschrift Fritz Schwind zum 65.
Geburtstag, Wien, 1978, pp. 323-328. Bei Justinian spielen, wie am Ende erhellen wird, nichtrömische Rechte
so gut wie keine Rolle mehr, weshalb der Hauptteil unserer Überlieferung, der durch Justinians Hände gegangen
ist, davon nichts weiß. H. J. WOLFF, cit., pp. 69-73, würdigt all die hier zitierten Belege und Überlegungen nicht
hinreichend.
23
Siehe etwa L. MITTEIS, Römisches Privatrecht bis auf die Zeit Diokletians, I, Leipzig, 1908, pp. 62-65; und
M. KASER, cit. supra n. 6, bes. 5-7 und 129-132, zumal n. 535. Allzu kurz und dafür um so schärfer ablehnend F.
SCHULZ, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, Weimar, 1961, p. 88, dem jedoch H. J. WOLFF, cit., pp.
67 s., im Wesentlichen zustimmt.
7
In Italien waren, seitdem alle Italiker das römische Bürgerrecht hatten, grundsätzlich für
alle Zivilprozesse die römischen Prätoren zuständig, soweit nicht in Streitigkeiten, die in italischen Landstädten spielten, die Stadtgerichte zuständig waren, seit Cäsar gewöhnlich in Prozessen um bis zu 15 000 beziehungsweise – bei infamierenden Klagen – 10 000 IIS; außerdem, wenn die Parteien sich auf das Stadtgericht geeinigt hatten.24 Bei den Gerichten der römisch oder latinisch organisierten Städte außerhalb Italiens betrug der Streitwert, bis zu dem
sie in der Kaiserzeit Streitigkeiten um Geld und Gut im Allgemeinen selber entscheiden konnten, 1000 IIS.25
227 v. Chr. kamen zwei weitere Prätoren hinzu, Roms Statthalter in den beiden ältesten
Provinzen: Sizilien und Sardinia et Corsica. In Sizilien [458] waren Gerichtsverfassung und
das anzuwendende Recht schließlich, wie Cicero berichtet,26 in der lex Rupilia differenziert
geregelt, einem Provinzialstatut, das der Konsul P. Rupilius nach Überwindung eines langwierigen Sklavenaufstands 132 v. Chr. auf Beschluss einer 10köpfigen Senats-kommission
erlassen hatte. Prozesse unter Bürgern derselben sizilischen Gemeinde – zur Zeit Ciceros waren das etwa 6527 – entschied ein Gericht dieser Gemeinde nach ihrem eigenen Recht. Prozesse zwischen Einzelnen und einer Gemeinde sollte der Gemeinderat einer anderen Gemeinde
entscheiden; Prozesse zwischen Siziliern und Römern ein Richter aus der Rechtsgemeinschaft
des Beklagten. Bei Prozessen zwischen römischen Bürgern und Italikern und unter römischen
Bürgern sollte der Statthalter das Gericht mit Richtern aus dem Konvent der römischen Bürger besetzen. Ähnlich haben 94 v. Chr. Q. Mucius Scaevola, der Pontifex, als Prokonsul der
Provinz Asia und 51 v. Chr. Cicero als Prokonsul der Provinz Kilikien im Süden Kleinasiens
die Verhältnisse zur Zufriedenheit der einheimischen Bevölkerung geordnet.28 Prozesse innerhalb ein und derselben Gemeinde waren also der römischen Gerichtsberkeit im Allgemeinen entzogen, doch konnten die Parteien einverständlich von dieser Regelung abgehen und
die römische Gerichtsbarkeit anrufen, die dann wohl auch nicht an das einheimische Recht
gebunden war. Das kam nicht selten vor, weil die Einheimischen der eigenen Gerichtsbarkeit
oft misstrauten, auch anderswo.29
24
H. GALSTERER, Statthalter und Stadt im Gerichtswesen der westlichen Provinzen, in W. ECK (a cura di), Lokale Autonomie und römische Ordnungsmacht in den kaiserzeitlichen Provinzen vom 1. bis 3. Jahrhundert,
München, 1999, pp. 243-256, hier 249.
25
Lex Irnitana, cap. 84, und dazu H. GALSTERER, Statthalter cit., pp. 244 s. und 247 s.
26
Cic. in Verr. II 2, 32. 37. 90. Dazu R. MARTINI, cit., pp. 20-30; und zusammenfassend M. KASER, Das römische Zivilprozeßrecht, München, 2. ed. K. HACKL, 1996, pp. 167 s. = § 23 IV.
27
Nachweise bei J. MARQUARDT, Römische Staatsverwaltung, I, Leipzig, 2. ed., 1884, p. 244 und nn. 6 s.
28
Cic. ad Att. 6, 1, 15. Dazu R. MARTINI, cit., pp. 33-38; und KASER / HACKL, cit.
29
Plut. praec. ger. rei publ. 19 = p. 814 F und 815A, B; und Philostr. vit. sophist. 1, 25, 2.
8
So großzügig war Rom – zumindest auf dem Papier – aber nur im Zivilrecht. Im Strafrecht30 war, jedenfalls in der späten Republik und der Kaiserzeit, wer immer vor einen römischen Strafgerichtshof oder sons[459]tigen Strafrichter gestellt wurde, nach römischem Strafrecht abzuurteilen.31 Fremde Straftatbestände wie die besonderen jüdischen Bestimmungen
über Gotteslästerung hatten vor einem römischen Strafrichter wie Pontius Pilatus kein Gewicht. Vor ihm konnten die Ankläger Jesu ein Todesurteil nur mit dem Vorwurf solcher Taten
herbeiführen, die nach römischem Recht mit Todesstrafe bedroht waren, hier Anmaßung der
Würde eines Königs und Anstiftung zum Aufruhr.32 Ebenso war die jüdische Strafe der Steinigung im römischen Machtbereich unanwendbar, während in den Klientelkönigreichen wie
dem des Herodes Antipas und ebenso in den Freien Städten die dortigen Behörden das eigene
Strafrecht dieser formell selbständigen Gemeinschaften weiterhin anwandten. Rom hatte freilich die Macht, ihnen aufzuerlegen, den Römern anstößiges Strafrecht zu ändern oder auch,
wie nach den Bacchanalienfreveln 186 v. Chr. geschehen, neue Straftatbestände einzuführen,33 so ähnlich wie der Präsident der USA, George W. Bush, 2001/02 Amerikas Verbündete
dazu veranlassen konnte, neue Sicherheitsgesetze gegen die Bedrohung durch Terroristen zu
erlasssen.
Im Laufe der Kaiserzeit wurde allerdings ein Klientelkönigreich nach dem andern eingezogen und wurden auf deren Territorium Stadtgemeinden mit begrenzter Autonomie wie
überall sonst eingerichtet. Und die einst wirklich weithin Freien Städte büßten ihre Autonomie im Strafen, unter Septimius Severus hie und da noch wahrnehmbar,34 im weiteren Verlauf
des 3. Jahrhunderts ein. Aber schon vorher hatte das römische Strafrecht sich überall dort
durchgesetzt, wo römische Gerichte richteten, [460] mag der Täter oder der Verletzte ein römischer Bürger gewesen sein oder nicht; nicht einmal der Ankläger musste das sein.
30
Dazu weiter ausgreifend H. HORSTKOTTE, Die Strafrechtspflege in den Provinzen der römischen Kaiserzeit
zwischen hegemonialer Ordnungsmacht und lokaler Autonomie, in Lokale Autonomie, cit. supra n. 24, pp. 303318.
31
Procul. epist. VIII (D. 49, 15, 7 § 2); und Philostr. vit. sophist. 1, 25, 2 am Ende.
32
Zum Prozess Jesu zusammenfassend D. LIEBS, Vor den Richtern Roms, cit. supra n. 13, pp. 89-104.
33
So im senatusconsultum de Baccanalibus, abgedruckt in FIRA, 2. ed., I, 1941, pp. 240 s. = no. 30; siehe dazu
kurz D. LIEBS, in Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, I, München, 2002, p. 73 = § 110.7, 1. – Im 2.
Jahrhundert n. Chr. genügte eine allgemeine Kaiserkonstitution, um Handlungen, die ein Munizipalstatut ausdrücklich für zulässig erklärte, auch dort strafbar zu machen, Ulp. ad ed. XXV (D. 47, 12, 3 § 5).
34
So in der Freien Stadt Mylasa in Karien, die um 210 n. Chr. durch Volksbeschluss verbot, bei bestimmten
Geldgeschäften die allein autorisierte Bank zu übergehen, und bei Übertretungen Geldstrafen androhte, siehe W.
DITTENBERGER, Orientis graeci inscriptiones selectae, II, Leipzig, 1905, pp. 160-165 = no. 515 = Inschriften
griechischer Städte aus Kleinasien, XXXIV: Die Inschriften von Mylasa, I, Bonn, 1987, pp. 220-223 = no. 605;
deutsche Übersetzung: H. FREIS, Historische Inschriften zur römischen Kaiserzeit, Darmstadt, 1984, pp. 226 s. =
no. 139. Außerdem ist auf eine Rechtsauskunft Gordians III. aus dem Jahr 243 oder 244 hinzuweisen, s. dazu
H.J. WIELING, Eine neu entdeckte Inslchrift Gordians III. und ihre Bedeutung für das Verständnis der constitutio
Antoniniana, in ZSSt. 91, 1974, pp. 364-74.
9
In den um 175 n. Chr. niedergeschriebenen Metamorphosen des Apulejus von Madaura
wird ein öffentlicher Mordprozess im thessalischen Hypata geschildert,35 einer größeren
Stadt, und zwar vor einem städtischen Gericht. Ankläger ist der nocturnae custodiae praefectus,36 der Chef der Nachtwache, der den Erzähler in der vergangenen Nacht bei seiner Tat
beobachtet hat. Das Gericht besteht aus mehreren magistratus,37 also hohen städtischen Beamten. An sich müssten das die im 2. Jahrhundert n. Chr. an der Spitze der Stadt bezeugten
ταγοί der thessalischen Städteordnung gewesen sein,38 doch könnte Apulejus auch Munizipalmagistrate, die duumviri der – wenn auch zu Unrecht – als romanisiert vorgestellten Stadt
im Sinn gehabt haben. Jedenfalls reden beide, Ankläger und Angeklagter, in der Anklage- und
in der Verteidigungsrede die Bürger Hypatas als Quirites an,39 wie nur römische Bürger genannt wurden. Problematisch erscheint dann nur, dass Munizipalmagistrate Halsgerichtsbarkeit, also die Befugnis gehabt hätten, Todesurteile auszusprechen und ohne Weiteres zu vollstrecken. Freilich war das ganze Verfahren ein Scherz. Die Stadt schuldete jedes Jahr an einem bestimten Tag dem Gott des Lachens einen saftigen Ulk: Die Ermordeten entpuppten
sich als Schläuche, die der betrunkene Erzähler in der Nacht für Einbrecher gehalten und abgestochen hatte.
Die anzuwendenden Folterwerkzeuge wären freilich Graeciensi ritu gewesen,40 nach
griechischer Manier. Das braucht der soeben konstatierten römischrechtlichen Einkleidung
jedoch nicht zu widersprechen. In Nebenpunkten konnten auch in römischrechtlichen Verhältnissen die örtlichen Gewohnheiten maßgebend sein.41
Unter Diokletian beklagte ein griechischer Rhetor: Genethlios aus Petra oder Menander
aus Laodikeia, die beide damals in Athen lehrten,41a dass zu seiner Zeit die einzelnen Stadtrechte und -gewohnheiten nichts mehr nützten, da mittlerweile die öffentlichen Dinge nach
den allen gemeinsamen Gesetzen der Römer gehandhabt würden.41b
35
Apul. met. 3, 1-9.
Apul. met. 3, 3, 4.
37
Apul. met. 3, 2, 6; siehe auch 3, 11, 1 und 3, 12, 1.
38
Cfr. O. STÄHLIN, s.v. Ἡ Ὑπάτα, in PWRE IX 1, 1914, col. 240, ll. 18-23.
39
Apul. met. 3, 3, 2 und 3, 5, 6.
40
Apul. met. 3, 9, 1.
41
Siehe etwa Gai. ad ed. prov. IX. X (D. 13, 4, 3. 21, 2, 6); Ulp. ad ed. XXXIV (D. 25, 4, 1 § 15); Valer. 256 C.
6, 32, 2; und dazu MARTINI, cit., pp. 122-128.
41a
Siehe zu den beiden etwa HANS GÄRTNER, s.vv. Genethlios und Menandros 10, in Der Kleine Pauly, II,
1967, col. 739, und ibid., III, 1969, col. 1202; und D.A. RUSSELL / N.G. WILSON, Menander rhetor edited with
translation and commentary, Oxford 1981, Introduction S. xxxiv-xl; zur Datierung siehe zumal letztere.
41b
p. 363 l. 11-14 SPENGEL = 66 oben RUSSELL/WILSON. Schon in den 230er Jahren war das zu spüren, s. J.
MODRZEJEWSKI, Grégoire le Thaumaturge et le droit romain, in RH 49, 1971, 313-24, hier 319 ss.
36
10
Der griechische Kirchenschriftsteller Theodoret aus Antiochien, etwa 423 bis zu seinem
Tod 457/58 oder 466 Bischof des zwei Tagesreisen [461] entfernten Kyrrhos am Euphrat,42
versuchte in seiner spätestens 437 entstandenen apologetischen Schrift Graecarum affectionum curatio nachzuweisen, dass alle christlichen Kulturgüter den heidnischen überlegen seien.43 Im neunten Buch befasst er sich mit den Gesetzen und legt zunächst dar,44 wie einerseits
das christliche „Gesetz“ von den Völkern auch jenseits der Grenzen des römischen Reichs
freiwillig angenommen wird, andererseits all die griechischen Gesetzgebungen, die zum großen Teil von bedeutenden, bis in die Gegenwart berühmten Gesetzgebern stammten, in keinem Fall, nicht einmal von den unmittelbaren Nachbarn rezipiert worden seien, sondern eine
nach der anderen der römischen weichen musste. Aber auch die römischen Gesetze seien jenseits der Grenzen, in denen die Römer Zwang ausüben könnten, von keinem einzigen Nachbarn übernommen worden, ganz im Gegensatz zum christ-lichen Gesetz. Bei seinem ersten
Beispiel, Kreta und König Minos, lässt Theodoret die Kreter den römischen Gesetzen schon
unterworfen sein, als Rom die Weltherrschaft erlangt hatte.45
Historisch ist das sicherlich allzu einfach dargestellt mit leichtem Affekt gegen die römische Zwangsgewalt; in der Kaiserzeit pflegten Römer, wenn fremde Völker ihrem Reich
einverleibt wurden, ganz allgemein zu sagen, sie gelangten unter die römischen Gesetze.46 Für
die Gegenwart des Kirchenschriftstellers trifft jedoch wahrscheinlich zu, dass all die qualitativ
– zumindest in Teilen – gewiss nicht schlechteren griechischen Rechte in der Rechtspraxis
mittlerweile kaum mehr eine Rolle spielten, allenfalls Einzelnes als lokale Gewohnheit fortgalt, die für untergeordnete Rechtsfragen, welche einheitlich zu regeln nicht erforderlich war,
weiterhin akzeptiert wurde.46a Im Dominat entwickelte sich das Reich zu einem [462] Einheitsstaat; rechtliches Eigenleben der engeren Gemeinschaften wurde nur mehr in engen
Grenzen wenn überhaupt geduldet.
Deutlich wird das in Kaiser Justinians Gesetzen aus den Jahren 535 und 536 n. Chr. für
die armenischen Provinzen im Nordwesten Klein-asiens.47 Das einst selbständige Armenien
42
Zu ihm W. V. CHRIST, Geschichte der griechischen Literatur, II 2, München, 6. ed. O. STÄHLIN, 1924, pp.
1476-1481 = §§ 1079-1083; und B. R. VOSS, s.v. Theodoretos 1, in Der Kleine Pauly, V, 1975, coll. 688 s.
43
Zu dieser Schrift CHRIST, cit., pp. 1477 s. = § 1081.
44
Theodoret. Graec. affectat. curat. 9, 6-8 und 13.
45
Theodoret. 9, 7.
46
Siehe etwa Hor. carm. 4, 14, 7 f.: legis expertis Latinae / Vindelici didicere nuper; Prop. eleg. 3, 4, 4: Tigris et
Euphrates sub nova iura fluent; und, dies nur ein Wunschtraum, Hist. Aug. Tac. 15, 2: Francos et Alamannos
sub Romanis legibus habeat. Zur tatsächlichen Attraktivität der römischen Rechtsordnung für fremde Völker
siehe den Ausspruch Athaulfs, eines Königs der Westgoten, bei Oros. hist. adv. pagan. 7, 43, 5 s.
46a
Dazu ausführlich jetzt K. BURASELIS, ΘΕΙΑ ΔΩΡΕΑ, cit. supra n. 15, pp. 120-57.
47
Ed. Iust. 3; und Nov. 21. Zu Justinians Armenienpolitik in den 530er Jahren siehe etwa O. MAZAL, Justinian
I. und seine Zeit, Köln, 2001, p. 113.
11
war seit Jahrhunderten zwischen dem römisch-byzantinischen und dem neupersischen Reich
der Sassaniden aufgeteilt. In den armenischen Provinzen des oströmischen Reichs nun hatte
sich altarmenisches Recht erhalten. Im Jahr 535 erfuhr die Regierung, dass nach armenischem
Recht Frauen vom gesetzlichen Erbrecht ausgeschlossen waren, vielmehr alles den Söhnen
beziehungsweise, wenn vorverstorben, deren Söhnen und so fort und, wenn es keine Söhne
gab, den Brüdern und deren Söhnen und so fort zufiel. Töchter waren ins-besondere von unbeweglichen Familienerbgütern ausgeschlossen, die sie nicht einmal durch Testament erwerben konnten, auch nicht teilweise. Justinian ordnete jetzt an, dass alle seit seinem Regierungsantritt am 1. August 527 angefallenen Erbschaften neu zu verteilen sind, es sei denn, die Betreffenden hätten mittlerweile von sich aus einen einvernehmlichen Erbausgleich getroffen.
Hatte der Erblasser durch Testament die Töchter beteiligt, dann waren diese beziehungsweise
ihre Abkömmlinge auch an einem etwa vorhandenen Familienerbgut, das ihnen nach armenischem Recht nicht einmal durch Testament hatte zugewandt werden können, zu beteiligen.48
Knapp acht Monate später wandte Justinian sich noch einmal gegen alle vom römischen
Recht abweichenden armenischen Rechtsbräuche, insbesondere gegen die Benachteiligung
der Frauen. Nach armenischer Tradition brachten sie, wenn sie heirateten, auch keine Mitgift
in die Ehe ein, sondern wurden gekauft, wie Justinian beklagt: allein zu dem Zweck, Nachkommen zu gebären, als seien nicht auch sie von Gott geschaffen. Die armenischen Gesetze,
insbesondere das gesetzliche Erbrecht, sollten sich von den römischen in nichts mehr unterscheiden; die kürzlich vollendete Kodifikation, er nennt Institutionen, Digesten und Codex,
sollte bei ihnen gleichermaßen gelten.49
[463] Damit war einer bedeutsamen volksrechtlichen Einrichtung die Geltung abgesprochen, und zwar mit Formulierungen, die für jede andere Rechtseinrichtung, die vom neu
festgesetzten Reichsrecht abwich, gleichermaßen galten. Dass erst im Jahr 535 diese armenische Abweichung festgestellt wurde, ist für Justinian mit der zunächst einmal abzuschließenden Kodifikation zu erklären; offenbar erst, als diese nach acht Jahren harter Arbeit gegen
Ende des Jahres 534 bewältigt war, war der Gesetzgeber in der Lage, reformbedürftige Einzelregelungen der Gesamtrechtsordnung, die bei der Arbeit an den Texten der Kodifikation
nicht aufgefallen waren, überhaupt wahrzunehmen, dann aber auch zu reformieren. Die Novellengesetzgebung sprießte in den Jahren 535 bis 539; danach ging sie auf ein Bruchteil des
vorigen Ausstoßes zurück. Vor Justinian, also bis weit ins 6. Jahrhundert hinein, war dieses
armenische Volksrecht anscheinend unbehelligt angewandt worden. Justinian erkann-te das
48
Ed. Iust. 3 vom 23. Juli 535.
Nov. 21 vom 18. März 536. Am selben Tag ergingen noch vier weitere Novellen, darunter Nov. 31 zur Neuordnung der armenischen Provinzen: nunmehr vier statt bisher zwei.
49
12
insofern an, als er die armenischrechtliche Regelung derjenigen Erbfälle, die vor seinem Regierungsantritt eingetreten waren, nicht antas-tete.
3. Frauen als Vormünderinnen ihrer unmündigen Kinder
Eine nicht geringe Rolle spielte das Volksrecht bei der Frage, ob nach dem Tod eines
Vaters die Witwe Vormund der gemeinsamen unmündigen Kinder werden und dadurch das
ihnen vom Vater hinterlassene Vermögen verwalten konnte.50 Nach Reichsrecht war das an
sich ausgeschlossen, da Frauen keine Aufgaben übernehmen konnten, die sie dazu nötigten, in
der Öffentlichkeit für andere aufzutreten. So konnten sie zwar im eigenen Namen Prozesse
führen, aber nicht für andere.51 Sie konnten auch am Wirtschaftsleben für sich selbst teilnehmen und taten das in nicht geringem Umfang,52 wobei sie nicht einmal dadurch [464] nennenswert behindert waren, dass auch selbständige, nicht mehr unter väterlicher Gewalt stehende und auch nicht in eheherrliche Gewalt gegebene Frauen allein wegen ihres weiblichen
Geschlechts einen Vormund hatten, den Geschlechtsvormund im Unterschied zum Altersvormund der unmündigen Kinder, deren Vater weggefallen war. Nur zur Bestellung einer
Mitgift, Errichtung eines Testaments und Veräußerung von italischen Grundstücken, Sklaven
und Großvieh musste er zustimmen.53 Vor allem konnte die Frau darauf hinwirken, dass sie
einen ihr genehmen Geschlechtsvormund bekam. Außerdem hat Augustus römische Bürgerinnen, die dreimal bzw., wenn freigelassen, viermal geboren hatten, von der Geschlechtsvormundschaft befreit. Schließlich war auch nur in Grenzen hinderlich, dass seit 54/55 n. Chr.
Frauen, die für andere gebürgt oder sich sonstwie für andere verpflichtet hatten, es ablehnen
konnten, dadurch eingegangene Verbindlichkeiten zu erfüllen.54
Im Gegensatz zum römischen kannten im ersten und zweiten Jahrhundert n. Chr. jedenfalls das hellenistisch-ägyptische und das jüdische Recht eine Vormundschaft der Witwe über
die gemeinsamen unmündigen Kinder; die römischen Behörden akzeptierten das. Wahrscheinlich waren noch in weiteren Rechten der hellenistischen Welt Mütter als Vormünder
zulässig. Oft war solche Vormundschaft der Mutter schon im Ehevertrag oder doch im Te50
Dazu ausführlich T. CHIUSI, Zur Vormundschaft der Mutter, in ZSSt. 111, 1994, pp. 155-196.
Ulp. ad ed. praet. VI (D. 3, 1, 1 § 5); siehe auch Val. Max. memorab. 8, 3, 2. Danach stammt das Verbot erst
aus der späten Republik.
52
„Insbesondere freigelassene Frauen betätigten sich als Händlerinnen, Handwerkerinnen oder betrieben sonstige Geschäfte wie z. B. Eumachia, die in Pompeji eine Ziegelmanufaktur besaß, Patronin der Walker war und der
Stadt eine Reihe von Bauwerken stiftete“, M. JOHLEN, Die vermögensrechtliche Stellung der weströmischen
Frau in der Spätantike, Berlin, 1999, p. 66, mit Nachweisen.
53
Zur Geschlechtsvormundschaft siehe E. SACHERS, s.v. tutela 3, in PWRE VII A 2, 1948, coll. 1588-1599; und
O. TELLEGHEN-COUPERUS, Tutela mulierum, une institution rationelle, in RH 84, 2006, pp. 423-435.
54
Nach dem Velläanischen Senatsbeschluss, siehe D. 16, 1.
51
13
stament des verstorbenen Vaters, entweder gemeinsam mit einer dritten Person oder auch
allein, vorgesehen. Als 212 n. Chr. so gut wie alle freien Ägypter und Griechen das römische
Bürgerrecht hatten und somit nach römischem Recht lebten, ließen sie von solchen Gepflogenheiten nicht ab. Die römischen Behörden behalfen sich damit, dass sie zwar einen geeigneten Mann zum Vormund bestimmten, der Witwe jedoch die Möglichkeit einräumten, sich
von diesem gegen Sicherheitsleistung die Verwaltung des Kindesvermögens übertragen zu
lassen. Das wurde dann auch im Westen eine beliebte Konstruktion, um der Witwe die Verwaltung des Kindesvermögens faktisch doch zu ermög-lichen. Wenn sie dabei Fehler machte
und das Kindesvermögen durch [465] ihre Schuld verringert wurde, so hafteten zwar die
männlichen Vormünder, doch konnten sie bei der Mutter Rückgriff nehmen. Nur wenn diese
kein eigenes Vermögen hatte und auch sonst keinen Vermögenden aufbieten konnte, der die
Sicherheitsleistung für sie übernahm, konnte auf diese Weise nicht geholfen werden.
390 war es dann so weit, dass der Kaiser, Theodosius der Große, die Vormundschaft der
Mutter ins römische Recht einführte, wenn auch nur in Grenzen.55 Im Gegensatz zu den Männern, die nur dann eine ihnen angetragene Vormundschaft ablehnen konnten, wenn sie triftige
Gründe hatten, stand es der Mutter frei, bei der Behörde, meist die Gemeinde, die Vormundschaft zu beantragen oder auch nicht. Außerdem musste sie über 25 Jahre alt sein und gingen
ihr die gesetzlichen Vormünder, also die nächsten Verwandten der Kinder in männlicher Linie, vor. Schließlich musste sie schwören, dass sie keine neue Ehe eingehen werde. Heiratete
sie trotzdem noch einmal, während die Kinder noch unmündig waren, was rechtlich zulässig
war, dann endete ihre Vormundschaft und haftete sie den Kindern verschärft; ebenso der neue
Mann. Das dürfte auf Heiratskandidaten abschreckend gewirkt haben; keinesfalls sollte das
Vermögen der Kinder einen Stiefvater anlocken.
4. Förmliche Schuldversprechen
Nach römischem Recht war ein Vertrag, worin sich jemand ohne Angabe von Gründen
einem andern gegenüber verpflichtet, ihm eine bestimmte Leistung zu erbringen, meist, eine
bestimmte Summe zu zahlen (hauptsächlich geht es um Darlehensrückzahlungen und die Zahlung gestundeter Entgelte), nur dann verbindlich, wenn bestimmte mündliche Formen eingehalten worden waren. Der Gläubiger musste in Gegenwart des Schuldners die gesamte
Verpflichtung mit allen Einzelheiten wie Fälligkeit, etwaigen Raten, Zinsen, Verzugsfolgen
und so weiter in eine Frage kleiden, die er an den anwesenden Schuldner richtete, und dieser
55
CTh. 3, 17, 4.
14
musste die Frage alsbald bejahen – die sponsio stipulatio. Den hellenistisch geprägten
Rechtsordnungen war solcher Wortzauber fremd; er muss auf Griechen eher komisch gewirkt
haben. Bei ihnen war für der[466]artige Verträge die Schriftform üblich, und zwar entweder
ein subjektiv stilisiertes Handschreiben des Schuldners, worin er bekennt, das und das zu
schulden, und sich zur Leistung verpflichtet, ein χειρόγραφον, latinisiert chirographum; oder
ein objektiv stilisierter, von beiden Parteien unterschriebener und womöglich gesiegelter Vertrag, eine συγγραφή, latinisiert syngrapha. Die römischen Gerichte erkannten solche Schreiben als verpflichtend an, wenn die Parteien und, bei Verträgen zwischen Römern und Nichtrömern, die Schuldner hellenistische Peregrine waren, ein griechisches und nicht das römische Bürgerrecht hatten.56 Chirographa waren auch unter römischen Bürgern üblich, regelmäßig aber nur über Tatsachen, deren Beweis dadurch erleichtert werden sollte57 und offenbar
auch wurde, oft verbunden mit einem schlichten Schuldbekennt-nis, ohne dass die Parteien
dem schuldbegründende Kraft beigemessen hätten.58 Das zeigt sich auch daran, dass in diesen
Fällen meist zusätzlich eine Stipulationsverpflichtung beurkundet ist.59 Einmal allerdings ist
das Schuldbekenntnis so formuliert, dass man auf den Gedanken kommen könnte, der Aussteller habe ihm schuldbegründende Kraft beigemessen,60 doch bekundet der Aussteller am
Ende auch zu dieser Verpflichtung, dass der Gläubiger sich die Erfüllung hat stipulieren lassen.
Schon vor 212 kamen viele römische Bürger im Reich aus einer anderen als der römischen Rechtstradition: die Neubürger und ihre Abkömmlinge. Auch wenn sie gewillt, oft geradezu begierig waren, fortan nach römischem Recht, dem Recht der Privilegierten zu leben,61
erwies es sich als besonders schwer, ihnen die Stipulationsform beizubringen. Bei allem [467]
guten Willen haben sie diese, nicht anders übrigens als die Gallier und Iberer mit römischem
Bürgerrecht, nie voll erfasst, sondern sich damit begnügt, in das nach wie vor schriftlich gefasste Schuldversprechen am Ende die Klausel einzufügen „Gefragt, hat er (der Schuldner)
geantwortet“; und das taten sie dann ebenso bei anderen Schuldverträgen. Wenn nun schrift56
Gai. inst. 3, 134.
Das ergeben zahlreiche italische Wachstafeln aus dem 1. Jahrhundert n. Chr., z. B. aus Puteoli, neu ed. von G.
CAMODECA, Tabulae Pompeianae Sulpiciorum (TPSulp.). Edizione critica del archivio puteolano dei Sulpicii,
Roma, 1999, no. 45, 48, 50-57, 74, 79, 82 und 114.
58
Siehe TPSulp. no. 51-57 und 79.
59
So in TPSulp. no. 48 und 50-57.
60
TPSulp. no. 48: scripsi ... tantam pecuniam dari ....
61
Beispielhaft dafür das aufwendige Testament des in Alexandrien stationierten thrakischen Reitersoldaten
Antonius Silvanus, in FIRA, 2. ed., III, 1943, pp. 129-132 = no. 47. Als Soldat hätte er auch formlos testieren
können, ganz im Gegenteil wählte er jedoch für die einzelnen Bestimmungen regelmäßig die anspruchsvollste
der möglichen römischen Formen, wodurch sie im konkreten Fall oft gar nicht praktikabel waren, D. LIEBS, Das
Testament des Antonius Silvanus, in K. MÄRKER / C. OTTO (a cura di), Festschrt für Weddig Fricke, Freiburg i.
Br., 2000, pp. 113-128.
57
15
lich lediglich festgehalten war, dass der Schuldner eine mündliche Verpflichtungserklärung
abgegeben hat, sollte, wenn das in Anwesenheit des Gläubigers geschehen war, nach einem
Bescheid des Kaisers Septimius Severus, den sein Hausjurist Papinian formuliert hatte (beide
stammten aus der Provinz Africa), davon ausgegangen werden, dass auch der Gläubiger die
Frage korrekt gestellt hat.62 Nach 212 finden wir diese Klausel massenhaft am Ende aller
möglichen Verträge, auch wenn es sich um Schuldverpflichtungen handelte, die nach römischem Recht formfrei waren.63 472 bestimmte dann der oströmische Kaiser ausdrücklich, dass
bei Stipulationen die Wahl der Worte den Parteien zu überlassen ist; nicht einmal directis
verbis mussten sie fortan abgeschlossen sein, wenn sich die Parteien nur geeinigt hatten.64
Schließlich bestimmte Justinian 531, dass, wenn eine Stipulation beurkundet war, der Beweis,
der Vertrag sei nicht in Anwesenheit beider Teile geschlossen worden, in welchem Fall auch
keine Stipulation abgeschlossen worden sein konnte, nur mehr in engen Grenzen zulässig
sei.65 Aus der mündlichen Stipulation war praktisch ein schriftlicher Vertrag mit Stipulationsklausel geworden.
[468] 5. Soldatentestament
Im römischen Heer dienten Soldaten aus aller Herren Länder. Zwar standen für junge
Männer ohne römisches Bürgerrecht nur die Hilfstruppen offen: Marine, Reiterei, Bogenschützen, Schleuderer und sonstige Einheiten; ein Legionär benötigte immer das römische
Bürgerrecht. Wenn jedoch ein Nichtbürger für die Legionen besonders geeignet zu sein
schien und man ihn benötigte, erhielt er dieses Bürgerrecht mit Eintritt ins Heer, mochte seine
Vertrautheit mit der römischen Kultur noch so oberflächlich sein. Andererseits mussten die
Soldaten stets mit ihrem plötzlichen Tod rechnen, weshalb sie ein besonderes Interesse daran
hatten, ihre rechtlichen Verhältnisse für diesen Fall zu ordnen, ob sie nun römische Bürger
waren oder nicht. Ein römisches Testament konnten jedoch nur römische Bürger errichten.
Außerdem war das sehr aufwendig: Es musste grundsätzlich mündlich unter Verwendung
bestimmter lateinischer Worte vor sieben männlichen römischen Bürgern als Zeugen errichtet
werden, darunter einem Wägemeister für ungemünztes Kupfer und einem Scheinkäufer der
62
C. 8, 37, 1. Zur Urheberschaft Papinians T. HONORÉ, Emperors and lawyers, 2. ed., Oxford, 1994, pp. 76-81;
zur Sache D. LIEBS, Römisches Recht – Ein Studienbuch, Göttingen, 6. ed., 2004, pp. 237 s.
63
Beispiel: Pap. Straßb. 30, ein Pachtvertrag besonderer Art. Beide Parteien haben den römischen Gentilnamen
Aurelius, stammen also von jemand ab, dessen Bürgerrecht auf Caracallas allgemeine Bürgerrechtsverleihung
zurückgeht. Weiteres Material in reicher Fülle bei D. SIMON, Studien zur Praxis der Stipulationsklausel, München, 1964.
64
C. 8, 37, 10.
65
C. 8, 37, 14, kurz auch in I. 3, 19 § 12 referiert.
16
Familienhabe; dieser hatte gleichfalls bestimmte Worte herzusagen, sogar als erster. Wenn
eine Truppe rasch ausrücken musste, werden viele Soldaten erst jetzt daran gedacht haben, ein
Testament zu errichten oder ein vorhandenes zu ergänzen.
Letzteres wurde den römischen Bürgern im Heer seit Augustus leicht gemacht, wenn sie
in ihrem vorhandenen Testament festgehalten hatten, dass mit kleineren Nachträgen zu rechnen sei. Dann konnten sie diese Nachträge in stark vereinfachter, schriftlicher Form als codicilli verfassen, wenn auch nur über Nebenpunkte: Vermächtnisse und Freilassungen. Außerdem konnten seit Augustus Erben und sonstige im Testament Bedachte gezwungen werden,
sogar formlose Anordnungen des Erblassers, fideicommissa zu erfüllen. Beides galt für alle
Erbfälle nach römischen Bürgern, auch solche nach Zivilisten. Anlass zu diesen beiden Neuerungen waren freilich Testamentsnachträge eines Freundes des Augustus gewesen, der anscheinend ungefähr 4 n. Chr. in Kämpfen mit einem africanischen Volksstamm gefallen
war.66
[469] Schon Cäsar hatte, allerdings nur den eigenen Soldaten, das Vorrecht gewährt, ein
Testament mitsamt Erbeinsetzungen zu errichten, ohne eine bestimmte Form zu beobachten,
doch galt das nur zeitlich begrenzt; damals gab es noch kein stehendes Heer. Die Kaiser Titus,
Domitian und Nerva waren weiter gegangen und Trajan traf dann eine endgültige Regelung,
gewährte den Soldaten ein allgemeines Privileg. Fortan konnten alle Soldaten, offenbar auch
die Nichtbürger unter ihnen,67 ihr Testament nach Belieben, insbesondere auch nach dem
Recht ihrer Heimat errichten; die Form wurde ihnen völlig freigegeben, ebenso der Inhalt;68
beides so weit wie möglich. So konnten sie, ob sie nun Nichtrömer waren oder das römische
Bürgerrecht hatten, auch Nichtrömer zu Erben einsetzen und mit einem Vermächtnis bedenken, konnten sie nach Belieben auch die engsten Angehörigen enterben usf. Sie konnten das
Testament auch schlicht mündlich im Kreise ihrer Kommilitonen aussprechen; nur musste
eine verbindliche Verfügung von Todes wegen ernstlich gewollt sein. Nicht genügen sollten
66
I. 2, 23 § 1 und 2, 25 pr. Zu L. Cornelius Lentulus siehe E. GROAG, s.v. Cornelius 198, in PWRE. IV 1, 1900,
coll. 1372 s.; ID., in Prosopographia imperii Romani, 2. ed., II, 1936, pp. 336-338 = no. 1384; und B. THOMASSON, Fasti Africani, Stockholm, 1996, pp. 25 s., freilich skeptisch zu seinem Tod im Kampf mit den Nasamonen.
Aber dieses Detail ist mit dem vermutlich auf Marcians Institutionen beruhenden Bericht in Justinians Institutionen (cfr. I. 2, 25 § 3 mit D. 29, 7, 6 § 1), auch mit dem schlichten decederet dort durchaus vereinbar; wer in
einen feindlichen Hinterhalt gerät, musste deshalb keineswegs augenblicklich getötet werden und konnte sehr
wohl Gelegenheit gehabt haben, Kodizille abzufassen und nach Rom gelangen zu lassen. Vgl. CIL X 7457 =
FIRA, III cit., p. 170 = no. 56 aus Cefalù, dessen Verfasser, an der Donaufront von Feinden eingeschlossen, eine
letzte Botschaft nach Hause expediert hat.
67
Allgemeine Meinung; es folgt doch wohl aus § 34 des Idios Logos; und auch aus Ulp. ad ed. XXXXV (D. 29,
1, 11 pr. und 37, 13, 1 pr. und § 1), wenn dieser Text auch erst nach der constitutio Antoniniana niedergeschrieben wurde, T. HONORÉ, Ulpian, cit. supra n. 21, pp. 158-176.
68
Das berichtet Ulp. ad ed. XXXXV (D. 29, 1, 1 pr.), wo der maßgebende Text des kaiserlichen Mandats wörtlich wiedergegeben ist.
17
gelegentliche Bemerkungen. Diese von ernsthaften Willensäußerungen abzugrenzen, konnte
im Einzelfall schwierig sein, wie der Regierung durchaus bewusst war;69 man vertraute darauf, diese Schwierigkeiten zu meistern, wie man sie bei den formlos verbindlichen Verkehrsgeschäften wie Kauf, Miete, Pacht usf. seit Langem meisterte. [470] Kaiser Konstantin betonte, nachdem er durch seinen endgültigen Sieg über den einstigen Verbündeten und Mitkaiser
Licinius die Alleinherrschaft errungen hatte, die Formfreiheit des Soldatentestaments in einem Edikt mit den Worten:70
Milites [...] si uxores aut filios aut amicos aut commilitones suos postremo cuiuslibet
generis homines amplecti voluerint supremae voluntatis adfectu, quomodo possint ac velint
testentur nec uxorum aut filiorum eorum, cum voluntatem patris reportaverunt, meritum aut
libertas dignitasque quaeratur. (1) Proinde sicut iuris rationibus licuit ac semper licebit, si qui
in vagina aut in clipeo litteris sanguine suo rutilantibus adnotaverint aut in pulvere inscripserint gladio sub ipso tempore, quo in proelio vitae sortem derelinquunt, huiusmodi voluntatem
stabilem esse oportet.
So zu testieren war wohl nirgendwo Volksrecht gewesen, während im 2. Jahrhundert n.
Chr. noch Testiersitten begegnet waren, die sich sehr wohl wie Gewohnheitsrecht bestimmter
Fremdvölker ausnehmen.71 Ausgangspunkt des Soldatentestaments, wie es seit Trajan rechtens war, waren offenbar auch eingewurzelte Bräuche nichtrömischer Völker, die zahlreich im
Heer dienten wie die thrakischen Reiter. Großzügig gab die Regierung, wenn auch nur für
einen begrenzten Personenkreis, Form und Inhalt der Testamente frei, wie es schon einmal im
3. Jahrhundert v. Chr. mit den Verkehrsgeschäften geschehen war.
Freilich, war der Soldat – ehrenhaft – entlassen worden: Legionäre nach 20 Dienstjahren, nach 25 Hilfstruppen, die spätestens dann auch das römische Bürgerrecht erhielten, dann
galt sein als Soldat errichtetes Testament, wenn es nicht der römischen Testamentsform genügte, nur mehr ein Jahr lang; starb er später, dann war nur ein in aller Form errichtetes Testament gültig. Das veranlasste viele Soldaten, schon während [471] ihrer Dienstzeit ein
formvollendetes Testament zu errichten, sobald sie das etwa fehlende Bürgerrecht erlangt
hatten und sich ein Anlass für ein Testament ergab, beispielsweise die Geburt eines Sohnes
69
Siehe den D. 29, 1, 24 wörtlich angeführten Bescheid Trajans an Statilius Severus, vermutlich der Statthalter
von Thrakien des Jahres 114 n. Chr., Statilius Maximus Severus, K. WACHTEL, in Prosopographia cit., VII 2,
2006, pp. 316 und 311 = no. 840 und 830.
70
C. 6, 21, 15, ergangen in Nikomedien am 11. Aug. 325.
71
So in dem D. 29, 1, 24 zitierten Bescheid des Kaisers: si ... miles ... convocatis ad hoc hominibus, ut voluntatem suam testaretur, ita locutus est, ut declareret, quem vellet sibi esse heredem et cui libertatem tribuere. Außerdem in § 34 des Gnomon des Idios Logos, siehe dazu H. J. WOLFF, in ZSSt. 84, 1967, pp. 495 s.
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von der freigelassenen Konkubine;72 diese verzichteten also – wieder einmal – freiwillig auf
etwa ererbte, angestammte Formen und bekannten sich stolz zu denen des Reichsrechts.
Zusammenfassung
Nicht erst die Ausbreitung des römischen Bürgerrechts seit Cäsar entzog in der Kaiserzeit den Volksrechten trotz Doppelstaatlichkeit all-mählich den Boden, sondern auch enge
Verhältnisse bei den verbündeten Völkerschaften, oft mit Korruption verbunden, und Vertrauen in die Gerechtigkeit der römischen Justiz, wenigstens in Zivilsachen,73 ließen die
Fremdvölker oft von sich aus die eigene Justiz hintanstellen und freiwillig sich dem Trend
zum Reichsrecht anpassen, was die römische Ob[472]rigkeit auch kräftig förderte. In der
Spätantike sind dann die verschiedenen Volksrechte auf das Niveau lokaler Gewohnheitsrechte abgesunken, wofür das offizielle Reichsrecht immer weniger Raum ließ. Seit 212 war alle
Rechtsprechung bei römischen Magistraten; auch die Obrigkeiten der lokalen Gemeinschaften
waren spätestens seitdem römische Bürger und Funktionäre des Reichs. Die nichtrömischen
Rechtstraditionen verschwanden nicht sofort, aber die römische Regierung nahm die aus der
allgemeinen Bürgerrechtsverleihung resultierende Aufgabe bekanntlich ernst, das römische
Reichsrecht überall so weit als möglich durchzusetzen; die bis Diokletian reichlich überlieferten kaiserlichen Rechtsbescheide an Privatpersonen spiegeln diese Bemühungen. Freilich geschah es auch nicht selten, dass volksrechtliche Einrichtungen Reichsrecht wurden.
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So beim Testament des Antonius Silvanus, cit. supra n. 62, der als Ordonnanz des Präfekten schon vor dem
Ende seiner Dienstzeit das römische Bürgerrecht erhalten hatte. Heiraten konnten aktive Soldaten bis Septimius
Secverus nicht, J. H. JUNG, Das Eherecht der römischen Soldaten, in Aufstieg und Niedergang der römischen
Welt, II 14, Berlin, 1982, pp. 302-346; O. BEHRENDS, Die Rechtsregelungen der Militärdiplome und das die
Soldaten des Prinzipats treffende Eheverbot, in Heer und Integrationspolitik, cit. supra n. 3, pp. 116-166; und S.
PANCIERA, Soldati e civili a Roma nei primi tre secoli dell’impero, in W. ECK (a cura di), Prosopographie und
Sozialgeschichte. Studien zur Methodik und Erkenntnismöglichkeit der kaiserzeitlichen Prosopographie. Kolloquium Köln 24. – 26. November 1991, Köln, 1993, pp. 261-276, bes. 267 ss. Und nichteheliche Kinder erbten
nicht ipso jure; ohne Testament wäre das Vermögen des Soldaten an seinen Vater beziehungsweise seine Geschwister gefallen, G. SCHIEMANN, Zur Rechtsstellung der Soldatenkinder in vorseverischer Zeit, in Iuris professio. Festgabe für Max Kaser zum 80. Geburtstag, Wien, 1986, pp. 233-244; und D. LIEBS, Das Testament, cit.
supra n. 62, pp. 118-124.
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Vell. Paterc. 2, 117, 4 und 118, 1, bezeugt das sogar für die Germanen unter Quintilius Varus. Zwar stellt
Paterculus die dort berichteten Tatsachen als Verstellung der Germanen hin, doch braucht man dieser Färbung
nicht zu folgen. Dem römischen Steuerrecht standen die Germanen allerdings schon damals feindselig gegenüber, Cass. Dio 56, 18, 3 s. Zum 6. Jahrhundert cfr. Greg. Tur. hist. 3, 36 (548 n. Chr.); und 7, 15 (584 n. Chr.).
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