medizin ı interview Der mann mit dem Französische Ärzte stießen 2007 auf einen Mann, dessen Gehirn auf einen ­schmalen Saum am Schädelrand zusammengeschrumpft ist – und der dennoch ein völlig unauffälliges Leben führt. Der Neurologe Jean Pelletier von der Klinik »La Timone« in Marseille berichtet über den schier unglaublichen Fall. Stichwort Hydrozephalus (auch: Wasserkopf) Ein Hydrozephalus ent­ steht, wenn sich Zerebro­ spinalflüssigkeit (Hirn­ liquor) in den Hohlräumen des Gehirns (Ventrikel) ansammelt und diese sich dadurch ausdehnen. Ein gesunder Erwachsener produziert pro Tag mehr als 500 Milliliter Hirnliquor – eine klare Flüssigkeit, die Gehirn und Rückenmark wie ein Schutzpolster umgibt. Da die Ventrikel nur bis zu 200 Milliliter fassen können, muss überschüssiger Hirnliquor abfließen. Verstopfungen etwa durch eine Zyste, angebo­rene Fehlbildungen, Hirnblutungen oder Hirn­­ hautentzündungen können einen Hydrozephalus verursachen. Herr Pelletier, Sie haben einen Mann entdeckt, dessen Schädel fast vollständig mit ­Hirnliquor angefüllt ist. Wie geht es diesem Patienten? Er lebt ganz normal: Er ist 44 Jahre alt, Verwal­ tungsangestellter, verheiratet, hat zwei Kinder und zeigt keinerlei neurologische Auffällig­ keiten. Es war purer Zufall, dass wir die Anoma­ lie in seinem Kopf bemerkten. Er war eigentlich nur deshalb zu uns in die Klinik gekommen, weil er unter Beschwerden im linken Bein litt, die auf Probleme mit dem Ischiasnerv hin­ deuteten. Wie haben Sie das hohle Gehirn entdeckt? Der Mann berichtete, er nehme seit frühester Kindheit Medikamente ein, und zwar wegen eines Hydrozephalus. Bei dieser Erkrankung dehnen sich die Hirnkammern im Kopf – die so genannten Ventrikel – aus, weil sich in ihnen zu viel Hirn- und Rückenmarksflüssigkeit an­ sammelt. Eine denkbare Ursache sind zum Bei­ spiel Zysten, die Kanäle in den Hirnhäuten ver­ stopfen. Als der Patient noch ein Säugling war, hatten Mediziner versucht, die überschüssige Zerebrospinalflüssigkeit mit Hilfe eines dün­ nen Schlauchs vom Schädelinnenraum in die wasserblasen im Kopf Die großen, schwarzen Flecken im Schädel des Patienten (MRT-Aufnahmen S. 73) sind Hohlräume, die mit Zerebrospinalflüssigkeit angefüllt sind. Die Hirnmasse selbst ist auf eine schmale, graue Schicht längs der Schädelinnenseite reduziert. Die kleinen Bilder links zeigen ein gesundes Gehirn mit Ventrikeln in Normalgröße (schwarz). 72 G&G 6_2008 Abbildungen dieser Doppelseite aus: L. Feuillet, H. Dufour und J. Pelletier, The Lancet 2007, Bd. 370, S. 362 hohlen GEHIRN www.gehirn-und-geist.de 73 tichwort S Kernspintomografie uch: (funktionelle) Ma­ a gnetresonanztomografie Bildgebendes Verfahren, das Gewebestrukturen im Körperinneren sichtbar macht. Der Kernspin­ tomograf misst, wie lange elektrisch geladene Teil­ chen im Gewebe brauchen, um nach magnetischer Anregung wieder in den Ausgangszustand zurück­ zukehren. Die funktionelle Kernspintomografie erlaubt auch, Stoffwechsel­ prozesse abzubilden und so Regio­nen mit besonders starker Hirnaktivität sichtbar zu machen. Literaturtipp Feuillet, L. et al.: Brain of a White-Collar Worker. The Lancet 370, 2007, S. 262. weblinks http://wwwalt.med-rz. uniklinik-saarland.de/ hydrocephalus/hydrocephalus/index.htm Bauchhöhle umzulenken. Dort kann der Liquor abgebaut werden. Aber das hat ganz offenbar nicht funktioniert, oder? Im Alter von 14 Jahren musste man den Tubus ersetzen, weil der Junge gewachsen war. Der neue Schlauch verstopfte dann vermutlich, ohne dass es jemand bemerkte. So konnte sich die Hirnflüssigkeit rund 30 Jahre lang im Kopf ansammeln und die Hirnmasse nach und nach verdrängen. Deren Strukturen – Zellkörper so­ wie Nervenfasern – wurden gegen die Schädel­ wand gedrückt. Als ich von der Krankenge­ schichte des Patienten erfuhr, habe ich ihm zu einem Hirnscan geraten. Und so kam es dann an den Tag: Sein Gehirn ist reduziert auf eine Schicht von wenigen Zentimetern Dicke, die entlang dem Schädelrand verläuft. Trotzdem ist der Patient im Alltag in keiner Weise beein­ trächtigt, bewegt sich problemlos und übt sei­ nen Beruf aus. Kaum zu glauben – in der Mitte des Gehirns sitzen doch normalerweise wichtige Regionen wie die Basalganglien, die Bewegungen steuern. Es scheint so, als seien diese Strukturen bei dem Mann einfach verschwunden. Die Basalganglien sind bei dem Patienten zwar völlig anders geformt als bei anderen Men­ schen, aber sie existieren nach wie vor. Vermut­ lich sind sie ebenfalls an den Schädelrand ge­ drängt worden, wie das übrige Hirngewebe. Das Gehirn erweist sich eben als enorm plastisch – ­vorausgesetzt, die Veränderungen laufen sehr langsam ab. Nehmen Sie zum Beispiel den Tha­ lamus, über den fast alle Sinnesinformationen in die Großhirnrinde gelangen. Auf unseren Hirnscan-Bildern scheint er unauffindbar. Tat­ sächlich ist er aber durchaus noch vorhanden und funktionstüchtig – nur eben platt gedrückt an der Schädelwand. Das gilt auch für alle üb­ rigen zentralen Strukturen, zum Beispiel die Amygdala, das Gefühlszentrum unterhalb der Großhirnrinde. Allgemeine Informationen über das Krankheitsbild Hydrozephalus auf der Website der Universität des Saarlandes www.stiftung-augenblicke.de Stiftung zur Unterstützung von Kindern mit Hydrozephalus 74 Normalerweise sind die beiden Hirnhälften über ein dickes Faserbündel miteinander verbunden, das man den Balken nennt. Wie sieht es damit aus? Der Patient verhält sich nicht wie jemand, bei dem der Balken durchtrennt wurde. Seine Be­ wegungen sind koordiniert, die beiden Hirn­ hälften können offensichtlich gut kommuni­ zieren. Alles funktioniert vollkommen normal. Vermutlich wurde auch der Balken zur Schä­ deldecke hingedrückt; auf den Tomografenbil­ dern ist er allerdings kaum vom übrigen Hirn­ gewebe zu unterscheiden. Es ist beeindru­ ckend, wie flexibel Nervenfasern sind. Doch anscheinend ist auch diese Anpassungsfähig­ keit begrenzt. Woran machen Sie das fest? Der Intelligenzquotient des Patienten liegt deutlich unter dem Durchschnitt. Schwierig­ keiten hat der Mann vor allem mit Testaufga­ ben, die das Arbeitsgedächtnis beanspruchen. Dieser laufend aktualisierte Teil des Erinne­ rungsvermögens benötigt sehr schnelle Verbin­ dungen zwischen Nervenzellgebieten, die weit voneinander entfernt liegen – zum Beispiel zwischen den schon erwähnten Basalganglien und dem präfrontalen Kortex im Stirnhirn. Von solchen Informationsautobahnen besitzt unser Patient wohl nur sehr wenige. Welche Schlüsse lassen sich aus diesem Fall auf die Funktionsweise des Gehirns ziehen? Um das zu beurteilen, müssen wir weitere Er­ gebnisse von Tests und Hirnscans abwarten, »Das Gehirn erweist sich als enorm plastisch – wenn die Veränderungen sehr langsam ablaufen« unter anderem auch mittels funktioneller Kernspintomografie. Vermutlich ist die ge­ samte Hirnarchitektur vollständig neu ange­ ordnet, weil sie sich an die widrigen Umstände anpassen musste. Wir werden untersuchen, welche Teile des Gehirns wie funktionieren und wann sie aktiv sind – etwa beim Sprechen, bei Bewegungen oder beim Problemlösen. Leider ist die Untersuchung per funktioneller Bildge­ bung bei diesem Patienten sehr schwierig, weil die Zerebrospinalflüssigkeit die Aufnahmen be­ hindert. Andere Techniken könnten jedoch hel­ fen, Nervenfasern sichtbar zu machen, mit de­ ren Hilfe verschiedene Regionen kommunizie­ ren. Auf diese Weise finden wir hoffentlich bald heraus, wie die Faserverbindungen im Gehirn eine solche Umwälzung überhaupt überstehen konnten. Ÿ Die Fragen stellten Redakteure von »Cerveau&Psycho«, der französischen Ausgabe von »Gehirn&Geist«. G&G 6_2008