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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
JÖRN LEONHARD
Interesse der Völker und bürgerliche Glückseligkeit?
Außenpolitik und Öffentlichkeit in Europa 1792 - 1815
Originalbeitrag erschienen in:
Andreas Klinger (Hrsg.): Das Jahr 1806 im europäischen Kontext: Balance, Hegemonie und politische
Kulturen.
Köln: Böhlau 2008, S. 151-168
JÖRN LEONHARD
Interesse der Völker und bürgerliche Glückseligkeit?
Außenpolitik und Öffentlichkeit in Europa 1792-1815
1. Einleitung: Das klassische Zeitalter des Kriegs und der Erfahrungsumbruch des Politischen
„Napoleon verdankt m an 's [...], daß sich jetzt ein paar kriegerische Jahrhunderte aufeinander folgen dürfen, die in der Geschichte nicht ihresgleichen haben, kurz, daß wir ins klassische Zeitalter des Kriegs getreten sind, des gelehrten und zugleich volksthümlichen Kriegs im größten Maaßstabe (der Mittel, der Begabungen, der Disciplin), auf den alle kommenden Jahrtausende als
auf ein Stück Vollkommenheit mit Neid und Ehrfurcht zurückblicken werden: — denn die na tionale Bewegung, aus der diese Kriegs-Glorie herauswächst, ist nur der Gegen-choc gegen Napoleon und wäre ohne Napoleon
nicht vorhanden. Ihm also wird man einmal es zurechnen dürfen, daß der
Mann in Europa wieder Herr ü be r den Kaufmann und Philister geworden
ist.""
So kommentierte F riedrich Nietzsche 1882 eine neue Epoche des Krieges in Europa. Für ihn stellte dieser in seinen Begründungen und Ausmaßen neuartige
Krieg einen Grundzug des langen 19. Jahrhunderts dar. Er verband die Kriege
der Revolution und Napoleons mit den gewaltsamen Konflikten um die Etablierung neuer Nationalstaaten in den 1860er und 1870er Jahren. Den Beginn dieses
Umbruches datierte Nietzsche auf Napoleon, der die Solidaritätsidee der Französischen Revolution überwunden, die nationalen Gegenbewegungen provoziert
und damit das bürgerliche Sekuritätsverlangen tiefgreifend erschüttert habe. Dass
sich gerade auch der bürgerliche Bellizismus in seiner Ausrichtung am Ideal des
Nationenkriegs aus den Erfahrungssubstraten der Kriege zwischen 1792 und
1815 speiste, wollte Nietzsche so nicht sehen?
Mit dem Erfolg des Deutungsmusters der Na tion, das diesen neuen Kriegen
des langen 19. Jahrhunderts ihre ideologische Mobilisierungskraft gab, verband
sich aber zugleich ein verändertes Verständnis von Politik und Staat. Das galt
nicht allein für den Bereich der inneren Politik, die im Blick auf Verfassung und
Repräsentation zunehmend in das Zentrum der Aufmerksamkeit einer kritischen
bürgerlichen Öffentlichkeit trat, sondern auch für die Außenpolitik. Als Arkanbe1 Friedrich NIETZSCHE, Die fröhliche Wissenschaft (1882). Neue Ausgabe mit einem An'lange: Lieder des Prinzen Vogelfrei (1887), Fünftes Buch, Textnummer 362, in: DERS., Kritische Studienausgabe, hg v Giorgio COLLI u. Mazzino MONTTNAR.I, Bd. 3, München
2 1988, S. 609f.
2 Vgl. Jörn LEONHARD, Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in
Europa und den Vereinigten Staaten, 1750-1914, München 2008 [im Druck]; DERS., Der
Ort der Nation im Deutungswandel kriegerischer Gewalt: Europa und die Vereinigten
Staaten 1854-1871, in: Jahrbuch des Historisches Kollegs 2004, S. 111-138.
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reich fürstlich-dynastischer Herrschaft war sie in der alteuropäischen Ordnung
vor dem Ausbruch der Französischen Revolution von der Sphäre öffentlicher
Kritik, Kontrolle und Kommunikation weitestgehend abgeschirmt gewesen. Außenpolitische Entscheidungsgewalt lag demnach vor allem in der fürstlichen
Macht über Krieg und Frieden begründet. Mit dem Aufkommen neuartiger ideologischer Begründungszusammenhänge kriegerischer Gewalt seit dem letzten
Drittel des 18. Jahrhunderts, so die Ausgangsthese der folgenden Überlegungen,
änderte sich auch das Verhältnis zwischen Außenpolitik und Öffentlichkeit. Für
dieses neue Verhältnis war der Zusammenhang von Kriegsdeutungen und Nationskonzepten konstitutiv. 3
Ein einziger Augenblick des Krisenjahres 1806 beleuchtete diesen Umbruch.
Nach der vernichtenden Niederlage von Jena und Auerstedt wandte sich der Berliner Stadtkommandant mit einer Proklamation an die Öffentlichkeit, welche bereits den Zeitgenossen die Krisenhaftigkeit und Ungeheuerlichkeit der Niederlage
vor Augen führte: „Der König hat eine Bataille verlohren [sicl]. Jetzt ist Ruhe die
erste Bürgerpflicht. "4 Die folgenden Überlegungen sind der Versuch, die in diesem Appell an die Bürgerpflicht aufscheinenden Veränderungen des Wechselverhältnisses zwischen Öffentlichkeit, Na tion und Politik genauer zu analysieren. Es
geht dabei nicht um eine Rekonstruktion diplomatischer Verhandlungen und
Entscheidungsabläufe, sondern um den zeitgenössischen Umbruch von Sichtweisen auf außenpolitisches Handeln in einer europäischen Perspektive. Das soll
in drei Schritten geschehen: Erstens wird die Ausgangslage vor Ausbruch der
Kriege der Revolution und Napoleons knapp skizziert. In einem zweiten Schritt
werden paradigmatisch zwei konkrete Entscheidungssituationen untersucht, in
denen das neuartige Verhältnis zwischen außenpolitischen Prozessen, zugespitzt
in der Frage nach der letzten Entscheidungsgewalt über Krieg und Frieden und
nach der Legitimation der Entscheidungsträger, und der öffentlich-politischen
Teilnahme an den Ereignissen hervortrat: die Diskussion der französischen Konstituante 1790 über das Recht des französischen Königs, über Frieden und Krieg
3 Vgl. Dieter LANGEWIESCHE (Hg.), Revolution und Krieg. Zur Dynamik historischen Wandels seit dem 18. Jahrhundert, Paderborn 1989; die Beiträge von Ute FREVERT, Rudolf
JAUN, Hew STRACHAN, Stig FÖRSTER und Dietrich BEYRAU im ersten Abschnitt „Militär
und Nationsbildung" in: Ute FREVERT (Hg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 17-142 sowie für Deutschland die Beiträge von Georg SCHMIDT,
Horst CARI. und Nikolaus BUSCHMANN in: Dieter LANGEWIESCHE/Georg SCHMIDT (Hg.),
Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg,
München 2000, S. 33-111; vgl. in vergleichender Perspektive zudem Diet rich BEYRAU (Hg.),
Der Krieg in religiösen und nationalen Deutungen der Neuzeit, Tübingen 2001; Daniel
MoRAN/Arthur WAI.DRGN (Hg.), The People in Arms. Military Myth and National Mobilization since the French Revolution, Cambridge 2003; Nikolaus BUSCHMANN/Dieter LANGEWIESCHE (Hg.), Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der
USA, Frankfurt a. M. 2004, sowie Horst CARL u. a. (Hg.), Kriegsniederlagen. Erfahrung —
Erinnerung, Berlin 2004.
4 Zit. n. Thomas NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat,
München 6 1993, S. 15; vgl. Frank BECKER, Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864-1913, München 2001, S. 86.
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zu entscheiden, sowie die Debatten in der französischen Nationalversammlung
1791/92 über den Charakter eines möglichen Krieges. In einem dritten Schritt
wird in Form eines asymmetrischen und symptomatischen Vergleichs nach exemplarischen deutschen Reaktionen auf das neue Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Außenpolitik gefragt, wie es sich seit Beginn der 1790er Jahre in
Frankreich entwickelt ha tte.
2. Die Entscheidung über Krieg und Frieden: Vom fürstlichen Arkanum zum Objekt der aufgeklärten Öffentlichkeit
Am Zusammenhang zwischen Krieg, Staatsentwicklung und Nationsbildung und
damit an der engen Wechselbeziehung zwischen dem Verständnis von Politik
und Krieg ist nicht zu zweifeln: Wie der moderne Nationsbegriff war auch der
moderne Politikbegriff eine Kriegsgeburt. 5 Sowenig die Geschichte von Politikund Nationsdeutungen in einer Geschichte von Kriegserfahrungen aufgeht, sowenig kann ihre Entwicklung von der Sphäre des Krieges getrennt werden. Wie
der Krieg den Prozess der frühneuzeitlichen Staatsbildung maßgeblich bestimmte, so war er zumal für die modernen Nationsbildungsprozesse und die Etablierung neuer Nationalstaaten konstitutiv. 6 Er war nicht der einzige Kausalfaktor in
diesem Prozess, aber einer der wichtigsten. In den zeitgenössischen Sinn- und
Erziehungslehren des Krieges, den Debatten um Krieg und Frieden bündelten
sich Vorstellungen von Staat, Gesellschaft und Gemeinschaftsbildung, die auf
den Krieg als Erfahrungsraum verwiesen. Der krisenhafte Wandel im Übergang
von der ständisch-korporativen Lebenswelt zur bürgerlichen Gesellschaft, vom
Stände- zum Anstalts-, Leistungs- und Nationalstaat mit der ihn legitimierenden
Formel der Na tion als übergeordneter Sinnstiftungsinstanz war ohne das im
Krieg sichtbare und erfahrbare Kriterium politischer Effizienz nicht denkbar.
Kriegsfähigkeit war ein Maßstab für die Fähigkeit zum politischen Überleben
staatlicher Akteure. Sie vermittelte Legitimation. Was die Kriege seit dem Ende
5 Vgl. Jörn LEONHARD, Nation-States an d Wars, in: Timothy BAYCROFr/Mark HEwrrsoN
(Hg.), What is a Nation? Europe 1789-1914, Oxford 2006, S. 231-254.
6 Vgl. Johannes KUNISCH/Herfried MÜNKLER (Hg.), Die Wiedergeburt des Krieges aus dem
Geist der Revolution. Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, Berlin 1999, sowie Herfried MÜNKLER, über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion, Weilerswist 22003,
S. 53ff. u. 75ff.; vgl. zur deutschen Perspektive Jörg ECHTERNKAMP/Sven Oliver MÜLLER
(Hg), Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen, München
2002; Werner ROSENER (Hg.), Staat und Krieg. Vom Mittelalter bis zur Moderne, Göttingen 2000; vgl. zur Forschungslage insgesamt Edgar WOLFRUM, Krieg und Frieden in der
Neuzeit Vom Westfälischen Frieden bis zum Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003, S. 49ff.,
66ff. u. 95ff.; vgl. zu Deutschland neben BECKER, Bilder, vor allem Karen HAGEMANN,
,Mannlicher Muth und Teutsche Ehre`. Na ti on, Militär und Geschlecht zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens, Paderborn 2002; Nikolaus BUSCHMANN, Einkreisung
und Waffenbruderschaft. Die öffentliche Deutung von Krieg und Na tion in Deutschland
1850-1871, Göttingen 2003.
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des 18. Jahrhunderts dabei von früheren Kriegen unterschied, war der gezielte
Rekurs auf das neue ideologische Legitimationsreservoir der souveränen Na tion.
Sie verdrängte durch den veränderten Anspruch als Subjekt politischer Teilhabe
an der Politik den Untertanenverband als Objekt fürstlicher Herrschaft.
Damit verband sich eine emanzipatorisch-partizipatorische Dimension des
Krieges: Indem die Massenkriegführung immer umfassender auf alle Teilgruppen
der Gesellschaft zurückgriff, indem die Gesellschaft als Na tion in Waffen unentbehrlich für die Kriegfiihrung wurde, erfuhr der Krieg eine tendenzielle Demokratisierung. Diese Entwicklung dynamisierte die na tionale Legitimation staatlichen Handelns und intensivierte die Mobilisierung a ller gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Kräfte sowie kultureller Wertressourcen. Sie provozierte aber
auch neuartige Ansprüche auf gleichberechtigte Anerkennung und politisch-soziale Teilhabe an der Nation. Das neuartige Verhältnis von Krieg und Na tion prägte eine Tektonik staatlicher Bedürfnisse und partizipatorischer Ansprüche. Das
bezog sich nicht allein auf Möglichkeiten des öffentlichen Diskurses, sondern
auch auf eine indirekte Mitwirkung an Fragen, die den traditionellen Arkanbereich fürstlicher Politik — die Entscheidung über Krieg und Frieden — betrafen.
Auf der Basis einer Verfassung und einer geregelten Repräsentation der Interessen der Na tion war diese Mitwirkung nicht mehr vom Wohlwollen des Fürsten
abhängig, sondern wurde zur Basis einer indirekten Teilhabe der Na tion an theoretisch allen politischen Entscheidungsprozessen.
Die Tragweite dieser Veränderungen lässt sich nur abschätzen, wenn man die
longue durée des Verhältnisses zwischen Außenpolitik und Öffentlichkeit seit
dem 16. Jahrhundert in den Blick nimmt. Dieser Prozess hatte seine Ursachen in
den politischen und gesellschaftlichen Bürgerkriegen, den bürgerkriegsähnlichen
Religionskriegen in der Folge der Reformation und in der damit verbundenen
ideologischen Aufladung von Kriegsgründen, die auf eine emotionale Identifizierung von Kombattanten mit der als „gerecht", „wahr" oder „moralisch besser"
erachteten Sache zielte und eine Steigerung der kriegerischen Machtmittel rechtfertigte. Der Fürstenstaat des 17. und 18. Jahrhunderts und sein Anspruch auf ein
politisches Arkanum war nicht zuletzt eine Reaktion auf diese Krisenerfahrungen. Auf dieser Erfahrung des Bürgerkrieges mit der Entfesselung und Mobilisierung bisher unbekannter Gewalt gründete das neuzeitliche Kriegs- und Völkerrecht, das seit den großen europäischen Friedensschlüssen von Münster, Osnabrück und Utrecht zwischen 1648 und 1713 den Bürgerkrieg in den Ordnungsrahmen eines eingehegten Staatenkrieges zu überführen suchte, indem es den
Krieg entideologisierte und durch die Formel des iustus hostis das Bild des Feindes entkriminalisierte.? Verschiedene Elemente kennzeichneten dieses Verständnis von Politik: die Überwindung des Bürgerkrieges im Kriegs- und Völkerrecht
als europäischer Ordnungsrahmen des ius publicum Europaeum, die Neukonzeption einer im Fürsten konzentrierten staatlichen Souveränität durch die konse7 Vgl. Carl SCHNITT, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum,
Köln 1950, S. 23 u. 112ff.; vgl. zu SCHhuTTS Kriegsdeutung auch DERS., Die Wendung zum
diskriminierenden Kriegsbegriff (1938), Berlin 1988.
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quente Trennung zwischen innerer und äußerer Politik, das Verbot der Intervention in die inneren Angelegenheiten eines Staates, sowie schließlich die Etablierung eines Machtgleichgewichts zwischen den europäischen Staaten. Der Bereich
außenpolitischer Entscheidung wurde zur fürstlichen domaine réser vé, dem die
zeitgenössischen Schlüsselbegriffe equilibre und réputation korrespondierten. 8
Schon hier hätte ein europäischer Vergleich anzusetzen. Denn im Gegensatz
zu den kontinentaleuropäischen Monarchien existierten in England mit der Repräsentation der politischen Na tion im Parlament und durch die außerparlamentarische Öffentlichkeit Londons besondere Foren auch für die kritische
Debatte außenpolitischer Fragen. Das zeigte sich etwa anlässlich des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges nach 1776 und wieder nach 1792, so vor allem im
Gegensatz zwischen William Pi tt und Charles James Fox .9 Für Kontinentaleuropa, das hier im Zentrum stehen soll, wurde eine andere Entwicklung entscheidend: Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts kam es im Kontext der aufgeklärten
Despotismuskritik vor allem in Frankreich zu einer langfristig folgenschweren
Revitalisierung des Bürgerkriegsparadigmas. Damit wurde zunächst auf der Ebene des Diskurses das fürstliche Monopol politischer Entscheidung über Krieg
und Frieden in Frage gestellt und eine Verbindung zwischen aufgeklärter Öffentlichkeit und außenpolitischen Entscheidungen hergestellt. Der französische Philosoph Abbé Mably sah den Grund für die Eroberungskriege des 18. Jahrhunderts im Despotismus der Regierungen und der geheimen Sphäre der Kabinette.
Einen revolutionären Bürgerkrieg aller Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker
begriff er als Wohltat, als „bien", und legitimierte in diesem Zusammenhang
ausdrücklich die „Nation militaire". 10 Mit der Französischen Revolution gelangten solche Überlegungen auf eine neue Wirkungsebene. Der neue Revolutionsbegriff nahm das Deutungsmuster des internationalisierbaren Bürgerkrieges auf.
Im Fortgang der Revolution trat dann a be r das Muster des zwischenstaatlichen
8
Vgl. Johannes BURKHARDT, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer
Theorie der Bellizität Europas, in: ZHF 24 (1997), S. 509-574, sowie Heinz SCHILLING,
Krieg und Frieden in der werdenden Neuzeit — Europa zwischen Staatenbellizität, Glaubenskrieg und Friedensbereitschaft, in: Klaus BUSSMANN /Heinz SCHILLING (H&), 1648:
Krieg und Frieden in Europa. Politik, Re ligion, Recht und Gesellschaft, München 1998,
S. 13-22; im weiteren Kontext vgl. auch Bernhard R. KROENER /Ralf PRÖvE (Hg.), Krieg
und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Paderborn 1996, sowie vor
allem die Arbeiten von Johannes KUNISCH (Hg), Staatsverfassung und Mächtepolitik, Berlin 1979; DERS. (Hg), Der dynastische Fürstenstaat, Berlin 1982; DERS. (Hg), Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit, Berlin
1986; DERS., Das „Puppenwerk" der stehenden Heere. Ein Beitrag zur Neueinschätzung
von Soldatenstand und Krieg in der Spätaufklärung, in: ZHF 17 (1990), S. 49-84; DERS.,
Fürst — Gesellschaft — Krieg Studien zur bellizistischen Disposition des absoluten Fürstenstaates, Köln 1992; DERS., La guerre — c'est moi! Zum Problem der Staatenkonflikte im
Zeitalter des Absolutismus, in: ebd., S. 1-41, sowie DERS., Von der gezähmten zur entfesselten Bellona. Die Umwertung des Krieges im Zeitalter der Revolutions- und Freiheitskriege,
in: ebd., S. 203-226.
9 Vgl. Paul LANGFORD, A Police and Commercial People England 1727-1783, Oxford 1992,
S. 331 f£; Asa BRIGGS, The Age of Improvement 1783-1867, London 8 1990, S. 129f£
10 Gabriel Bonnot, Abbé de MABLY, Des droits et de devoirs du citoyen, Keil 1789, S. 93£
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Nationalkrieges immer mehr hervor und überlagerte die Vorstellung eines revolutionär-solidarischen und internationalen Bürgerkrieges a ller Unterdrückten gegen
ihre Unterdrücker. Damit stand der Nationalkrieg argumentativ zwischen dem
tradierten Staatenkrieg der vorrevolutionären Ordnung Alteuropas und dem
universal gedachten Bürgerkrieg. Vor allem bezeichnete diese zeitgenössische
Chiffre einen tendenziellen Anspruch auf Teilhabe der Nation an den politischen
Entscheidungen. 11
Eine andere Ambivalenz trat hinzu: Einerseits wurden die Nationalkriege des
langen 19. Jahrhunderts noch vielfach nach den Regeln des klassischen Staatenkrieges geführt, auch wenn sich in den Kriegserfahrungen der 1860er Jahre, vor
allem im amerikanischen Bürgerkrieg, bereits eine Transforma tion von der Entgrenzung des absoluten Krieges zum totalen Krieg mit dem Verwischen der
Grenzen zwischen militärischer und Heimatfront abzuzeichnen begann. Andererseits entsprach der Charakter der Nationalkriege, die identifikatorische Selbstbindung jedes Einzelnen mit der als legitim erachteten Sache, eindeutig dem Bedeutungsspektrum des frühneuzeitlichen Bürgerkrieges. 12 Dieses neuartige Wechselverhältnis zwischen der Kriegsrechtfertigung im Namen der Na tion und den politischen Partizipationsansprüchen ließ sich in den Revolutionskriegen nach 1792
konkret erfahren. Das Prinzip des gewaltsamen Konfliktaustrags nicht mehr allein im Namen einer Dynastie oder eines mit dieser verbundenen abstrakten
Staatsinteresses, sondern als eine Angelegenheit, der die Überzeugungen und die
Identifikation jedes Einzelnen unmittelbar berührte, bedingte einen neuen Leitbegriff, der diese Integration zu leisten imstande war. Der Nationalkrieg stand
also in bedeutungshafter Nähe zum Bürgerkrieg, unterschied sich aber doch
charakteristisch von ihm. Über die erheblichen Konsequenzen eines nicht mehr
in der externen, interstatalen Sphäre, sondern im gesellschaftlichen Innern eines
Staates entstandenen Krieges machte sich Chris tian Garve bereits 1800 keine
Illusionen mehr. Dabei antizipierte er die mögliche Radikalisierung kriegerischer
Gewalt. Garve verwies ausdrücklich auf das Paradigma des Bürgerkrieges, in dem
die „Leidenschaften", also die affekthafte Identifizierung mit einem als legitim erachteten Prinzip, erkennbar wurden. Die Rechtfertigung der Gewalt in diesem
Sinne ließ eine Dynamik entstehen, die sich nicht mehr mit den staatlichen Mitteln des 18. Jahrhunderts kontrollieren ließ:
„Da, nach aller Erfahrung, die bürgerlichen Kriege grausamer als die Nationalkriege geführt werden, so sind auch die Leidenschaften, die in dem Laufe
der Revolutionen bloß im Gefolge des Parteienkampfes entstehen, von einer
so wütenden Art, daß sie alles Gute [...] zerstören können."
11 Vgl. Jörn LEONHARD, Die Nationalisierung des Krieges und der Bellizismus der Nation:
Die Diskussion um Volks- und Nationalkrieg in Deutschland, Großbritannien und den
Vereinigten Staaten seit den 1860er Jahren, in: Ch ristian JANSEN (Hg), Der Bürger als Soldat. Die Militarisierung europäischer Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert ein internationaler Vergleich, Essen 2004, S. 83-105.
12 Carl von CLAUSEWITZ, Vom Kriege (1832/34), in: Reinhard STUMPF (Hg.), Kriegstheorie
und Kriegsgeschichte. Carl von Clausewitz /Helmuth von Moltke, Frankfurt a. M. 1993,
S. 5-423, hier S. 240f.
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Sei erst „einmal Krieg im Innern des Staates entsprungen", so könne man „Ausgang und Folgen" nicht mehr berechnen. 13
3. La Nation veut, le Roi exécute: Die Prärogative der Kriegsentscheidung als Ausweis der selbstbestimmten Nation im französischen
Verfassungsdiskurs von 1790/91
Wie in einem Brennglas fassten die Debatten um die zukünftige französische
Verfassung 1790/91 die Umbrüche im Verhältnis zwischen Öffentlichkeit, Nation und Außenpolitik zusammen. Diese Debatten markierten deshalb einen
Schlüsselmoment, weil es nicht mehr um einen theoretischen Diskurs im Sinne
aufgeklärter Despotismuskritik ging, sondern um die Umsetzung eines konkreten
Anspruches der aus der Revolution hervorgegangenen souveränen Na tion, der
von der europäischen Öffentlichkeit aufmerksam verfolgt wurde. Den Anlass
hierzu bot die Frage, welcher Ins ti tu tion das Recht zukommen sollte, ü ber Krieg
und Frieden zu entscheiden. Die Wahrnehmung dieser Prärogative war im Ancien régime ein Ausweis des absoluten Herrschaftsanspruches des französischen
Monarchen gewesen. Aus ihm hatte sich das Ideal des Feldherrnkönigs, des roi
connétable, in der Mischung aus zentraler Machtautonomie, persönlicher Autorität und Symbolisierung der patrie im Krieg entwickelt"
Hinter der Entscheidung über Krieg und Frieden stand insofern die Frage
nach dem Charakter zukünftiger Kriege, als erst die Durchsetzung des monarchischen Herrschaftsanspruches die mittelalterlichen Privatkriege und die frühneuzeitlichen Bürgerkriege überwunden ha tte. Wie der Fürst die Souveränität des
Staates nach innen und außen verkörpert ha tte, war der Krieg zum rein äußeren
Konflikt zwischen Staaten, Monarchen und Dynastien geworden. Dieses Paradigma stan d nach dem Umbruch von 1789 nun zur Disposi tion, aber erodiert war es
bereits früher. Argumentativer Ausgangspunkt in den Debatten seit dem Sommer
1789 war das verbreitete Bekenntnis zur Friedensgesinnung des revolutionären
Frankreich im Gegensatz zur monarchischen Kriegsdisposition und den Staatenkriegen absolutistischer Regime, die als prinzipiell aggressiv wahrgenommen
wurden. Bereits in den Cahiers de doléances hatten sich zahlreiche Autoren gegen
das königliche Recht der Entscheidung ü be r Krieg und Frieden gewandt. Der
erfolgreiche Kampf für die politische Freiheit im Inneren schien die Na ti on ge13 Christian GARVE, über die Grenzen des bürgerlichen Gehorsams, in Beziehung auf den
Aufsatz von Kant über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber
nicht für die Praxis (1800), zit. n. Dieter HENRICH (Hg.), Kant — Gentz — Rehberg Ober
Theorie und Praxis, Frankfurt a. M. 1967, S. 151.
14 Vgl. Michèle FOGEL, Célébrations de la monarchie et de la guerre: Les Te deum de victoire
en France de 1744 à 1783, in: Paul VIAL LANEIX /Jean EHRARD (Hg.), La bataille, l'armée, la
gloire 1745-1871, 2 Bde., Clermont-Ferrand 1985, hier Bd. 1, S. 35-44 ; Philippe CONTAMINE, La guerre et l'État monarchique dans la France de la fin du Moyen Âge, in: ROSENER (Hg), Staat, S. 64-81; Philippe CONTAMINE, Mourir pour la patrie Xe-XXe siècle, in:
Pierre NORA (Hg.), Les lieux de mémoire. Quarto édition, 3 Bde., Paris 1997, hier Bd. 2,
S. 1673-1698.
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DORN LEONHARD
gen jeden möglichen Angriff von außen immunisiert zu ha be n, die politisch befreite Nation konnte nur defensiv eingestellt sein. 15
Die Kontroversen in der Konstituante zeigten aber schnell, wie sich an der
Frage des Krieges unterschiedliche Vorstellungen vom Gewicht der Nation gegenüber der Monarchie entwickelten. Einerseits betonte man, das Recht der Entscheidung ü be r Krieg und Frieden stehe allein dem König zu, weil nur so eine
adäquate Reaktion auf einen Angriff von außen gewährleistet sei und eine Rücksichtnahme auf die Wünsche der Nation die notwendige Einheitlichkeit staatlicher Handlungen beeinträchtige. Nur der Monarch als Zentrum der Herrschaftsausübung könne die Sicherheit des Staates garantieren. Der Marquis
d'Estourmel betonte, die Funktion des Königs als „Roi des François" und Oberhaupt der Legislative werde sinnlos, wenn man ihm diese Entscheidungsbefugnis
nehme. Hinzu kam die Angst vor einer aufgrund politischer Fraktionierungen
und Intrigen unberechenbar gewordenen Nationalversammlung, der m an eine so
weitreichende Entscheidung nicht zukommen lassen wollte. 16 Andererseits wandten sich nicht wenige Mitglieder der Versammlung entschieden gegen die „tyrannie ministé rielle", welche die zahlreichen Kriege der Vergangenheit zu verantworten habe. Hier antizipierte man in der friedlichen Solidarität aller Völker enthusiastisch die Überwindung des monarchischen Bellizismus.' 7 Schließlich ließen
sich auch Argumente anführen, die aus einer Neuinterpretation des Naturrechts
abgeleitet wurden: Der Offensivkrieg sei überhaupt kein Recht, das man delegieren könne, sondern Folge eines Machtmissbrauchs, während ein Verteidigungskrieg gegen die Unterdrückung ein Naturrecht der freien Na ti on darstelle, das sie
überhaupt nicht an einen Monarchen delegieren könne. Der Krieg wurde in dieser Sicht zum Ergebnis eines in der Na ti on begründeten voluntaristischen Prinzips, während dem König nur noch die Umsetzung dieses Kriegswillens der souveränen Na ti on zukam: „La Na ti on veut, le Roi exécute. Si la Na ti on veut et
exécute, il y a an archie. Si le Roi veut et exécute, il y a despo ti sme."18
15 Vgl. Tiers de Mâcon in den Cahiers de doléances, zit. n. Charles-Louis CHASSIN, L'Armée
et la Révolution. La paix et la guerre, l'enrôlement volontaire, la levée en masse, la conscription, Paris 1867, S. 38, sowie François-Alphonse AuLARD, La Société des Jacobins,
6 Bde., Paris 1889-97, hier Bd. 2, S. 243.
16 Opinion de M. Le Marquis d'Estourmel, Député du Cambrésis, sur la question de savoir si
la Nation doit déléguer au Roi le Droit de Guerre Sc de Paix, prononcée dans la Séance du
22 Mai 1790 [Paris 1790], S. 3; vgl. Opinion de M. du Quesnoi, Député du Département de
la Moselle. Sur cette question constitutionnelle: `La Nation doit-elle déléguer au Roi
l'exercice du droit de la Paix et de la Guerre', prononcé à la Séance du 22 Mai 1790, à 10
heures du matin [Paris 1790], S. 9.
17 Baillio [i.e. Montalbanois, volontaire de la Garde Nationale de Paris], Les Mangeurs de
Peuples au diable! Motion faite aux citoyens du Palais Royal, le 22 mai à neuf heures et
demie du soir, dans les tentes du café de Foi. Au sujet du Décret de l'Assemblée Nationale,
qui porte que le Droit de décider de la paix ou de la guerre appartient à la Nation, Paris
1790, S. 2.
18 [ Augustin-Félix-Élisabeth BARRIN LA GALISSONNIÈRE], Opinion de M. le Comte de la
Galissonnière, Député de l'Anjou à l'Assemblée nationale, prononcée, le 20 mai 1790 à
l'ouverture de la séance, sur la question: Si la Nation doit déléguer au Roi, ou au Corps lé-
INTERESSE DER VÖLKER UND BÜRGERLICHE GLÜCKSELIGKEI7?
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Die Dominanz solcher Argumente trat zurück, als Graf Mirabeau seinen Verfassungsentwurf fir eine konstitutionelle Monarchie einbrachte. Krieg und Frieden seien grundsätzlich „actes de souveraineté, qui n'appartiennent qu'à la nation". 19 Die Rückbindung der Entscheidung an die Na tion als Souverän bedeutete praktisch die Delegation der Entscheidung an die Repräsentanten der Nation. Regierung und Monarch waren in dieser Deutung nur mehr Exekutoren des
Willens der Nation. In diesem Zusammenhang unterschied Mirabeau zwischen
„guerres nationales" und „guerres anti-nationales", die sich der volonté générale
der Nation und dem monarchischen Willen zuordnen ließen. In Mirabeaus Entwurf wurden die Legislative und der König als Inhaber der „direction de la force
publique" gemeinsam eingebunden, auch wenn die Legislative als Ausdruck des
Willens der Nation den Entscheidungsprozess bestimmte.ZO So sollten guerres
anti-nationales im Sinne monarchischer Staatenkriege des Anden régime ausgeschlossen werden. Das am 22. Mai 1790 von der Nationalversammlung verabschiedete Dekret formulierte gemäß der Souveränität der Na tion den Primat der
Legislative, b and aber den Monarch mit ein und entsprach damit dem Kompromisscharakter der konstitutionellen Monarchie: „Le droit de la paix et de la guerre appartient à la nation. La guerre ne pourra être décidée que par un décret de
l'assemblée nationale, qui sera rendu sur la proposition formelle et nécessaire du
roi, et qui sera sanctionné par lui."
Mirabeau wies ausdrücklich auf die Gefahr hin, das Recht der Kriegserklärung
einseitig politischen Versammlungen zuzugestehen, die unter dem Einfluss politischer Leidenschaften entscheiden könnten. 21 Das Ergebnis bedeutete verfassungsrechtlich den ersten Schritt im Übergang vom überkommenen Monarchenund Staatenkrieg als einem agonalen Rechtskonflikt zur guerre nationale, die für
neuartige ideologische Mo tive und Ziele offen war. Ganz in der Tradi tion der
aufgeklärten Kritik an den Kriegen absolutistischer Despoten verzichtete die
französische Nation im Text der Verfassung ausdrücklich darauf, „entreprende
gislatif l'exercice du droit de la guerre et de la paix, ainsi que celui de faire les traités
d'alliance et de commerce, Paris 1790, S. 25f.
19 Mercure de France und Mercure historique et politique de Bruxelles, Nt 22, 29. Mai 1790,
S. 320-327 u. ebd. Nr. 23, 5. Juni 1790, S. 11f; vgl. Alexandre LAMETH, Examen d'un Écrit
intitulé: Discours et Réplique du Comte de Mirabeau à l'Assemblée Nationale, dans les
Séances des 20 et 22 Mai, sur cette Question: A qui la Nation doit-elle déléguer le droit de
la Paix & de la Guerre? avec une Lettre d'envoi à MM. les Administrateurs des Départements, Paris 1790; [LAFAYEITE], Opinion de M. de Lafayette dans la séance d'aujourd'hui,
22 Mai 1790 [Paris 1790], S. 2.
20 [Graf MIRABEAU], Discours et Réplique du Comte de Mirabeau à l'Assemblée Nationale,
dans les Séances des 20 et 22 Mai, sur cette question: A qui la Nation doit-elle déléguer le
droit de la paix et de la guerre. Avec une Lettre d'envoi à Messieurs les Administrateurs des
Départements, Paris 1790, Vorwort, o. S.
21 MIRABEAU, in: Mercure de France, Nt 23, 5. Juni 1790, S. 21f., sowie PERS.] Discours de
M. de Mirabeau, Adressé aux Administrateurs des Départements, in: LAMETH, Examen,
S. 17-79 (jeweils auf den ungeraden Seitenzahlen), hier: S. 49 u. 51.
160
JöRN LEONHARD
aucune guerre dans la vue de faire des conquêtes". Truppen würden niemals gegen die Freiheit eines anderen Volkes eingesetzt. n
Mit dieser Position b an d man die Kriegführung an moralische Kriterien, die
das europäische Völkerrecht in seiner seit den frühneuzeitlichen Bürgerkriegen
entwickelten Formalisierung des ius ad bellum so nicht gekannt hatte. Obwohl
die Verfassung von 1791 nur Frankreich selbst betraf, formulierte sie auch einen
Wendepunkt in europäischer Perspektive. Mit dem Scheitern der konstitutionellen Monarchie, der Radikalisierung der Revolution und dem Ausbruch des Krieges sollte dieser Anspruch weit ü be r Frankreich hinaus getragen werden. Das
machte die Jahre 1791/92 zu einer Schlüsselphase der europäischen Umbrüche
seit 1789. Jetzt traf der neuartige Anspruch auf die naturrechtliche Begründung
des Krieges als Verteidigung gegen äußere Angriffe mit dem Ziel, das europäische Mächtegleichgewicht wiederherzustellen. So berief sich der Herzog von
Braunschweig bei seiner Forderung nach Unterwerfung der Franzosen auf die
Grundsätze des „Natur- und Völkerrechts". Der König von Preußen rechtfertigte die Kriegserklärung an Frankreich mit dem Hinweis auf die Abwehr der aus
einem „funeste esprit d'insubordina tion" hervorgehenden Risiken für Frankreich
und das gesamte „équi libre de l'Europe". 23 Die Ideologisierung des Krieges im
Namen der revolutionären Na tion traf hier auf die überkommene Tradi tion des
europäischen Völkerrechts.
4. Die Aufhebung der Trennung zwischen dem Inneren und Äußeren
der Politik: Der revolutionäre Anspruch auf Universalisierung des
Bürgerkriegsmodells 1792
Die in Frankreich wahrgenommene äußere und innere Bedrohung der Revolutionserrungenschaften schuf seit Sommer 1791 einen Kontext, in dem sich soziale
Spannungen und politische Konflikte zunächst ableiten und kanalisieren ließen,
indem man die innerlich geeinte Na tion im Kampf gegen den äußeren Feind
propagandistisch thematisierte. In dieser Interpretation verwandelte sich der
Konflikt vom Staatenkrieg in der Tradi tion des Ancien régime zum revolutionären Bürgerkrieg. In der Wendung gegen die äußeren Feinde wurden innere Spannungen internationalisiert und die Trennung zwischen äußerer und innerer Politik
aufgehoben. Diese ideologische Rechtfertigung offenbarte zugleich das Potential
möglicher Eroberungen im Namen einer revolutionären Mission. Solche Argumente waren kein Ergebnis des Krieges, sondern entwickelten sich bereits vor
22 Constitution Française, 3. September 1791, zit. n. Günther FRANZ (Hg), Staatsverfassungen. Eine Sammlung wichtiger Verfassungen der Vergangenheit und Gegenwart in Urtext
und Übersetzung, München 21964, S. 366.
23 Karl Wilhelm Ferdinand, Herzog von Braunschweig, Manifest an die Bewohner Frankreichs vom 25. Juli 1792, zit. n. Claus TRAGER (Hg.), Mainz zwischen Rot und Schwarz,
Berlin 1963, S. 95, sowie Exposé succinct des raisons qui ont déterminé Sa Majesté le Roi
de Prusse à prendre les armes contre la France, 26. Juni 1792, in: Johann August REUSS,
Teutsche Staatscanceley, Bd. 36, Berlin 1793, S. 237f.
INTERESSE DER VÖLKER UND BÜRGERLICHE GLOCKSELIGKEIT?
161
dem Frühjahr 1792. Blickten gemäßigte Konstitutionelle im Sommer 1791 noch
auf den König als Garanten von Frieden und Stabilität in Europa, vertrat die
Zeitschrift Révolutions de Pa ris bereits die Idee einer universellen Republik a ller
freien Völker und wurde so zum Sprachrohr der expansiven Revolution. Dem
Despotismus der Fürsten hielt man die Solidarität aller unterdrückten Völker
entgegen, der sich die französische Na tion verpflichtet fühle. Frankreich wurde
zu einem über sich selbst hinausweisenden Modell der revolutionären Befreiung
aller europäischen Völker. „les rois ont toujours été d'accord pour despotiser les
peuples; les peuples sont maintenant d'accord pour détrôniser les rois". 24
Als Reaktion auf die Verhaftung des französischen Königs nach seiner gescheiterten Flucht regte F riedrich Wilhelm II. von Preußen im August 1791 ein
gemeinsames Vorgehen mit Österreich an. Die vor diesem Hintergrund verabschiedete Erklärung von Pillnitz betonte das gemeinsame Interesse aller europäischen Monarchen an einer vollständigen Wiederherstellung der monarchischen
Regierung in Frankreich, wenn nötig auch unter Einsatz militärischer Gewalt. Die
Regierungen konnten zu diesem Zeitpunkt und auch ein Jahr später im Manifest
des Herzogs von Braunschweig kaum die Tragweite der Ereignisse in Frankreich
abschätzen. Die Wahrnehmung der Erklärung von Pillnitz, die von dem emigrierten Bruder Ludwigs XVI., dem Grafen von A rtois, als Ultimatum ausgelegt
wurde, wirkte in Frankreich wie ein Katalysator für die politische Radikalisierung.
Sie verzahnte im Appell an die Gewalt gegen alle Revolutionsfeinde die Ebenen
von Innen- und Außenpolitik. Ab Oktober 1791 begannen die Vertreter der
Gironde mit ihrer gezielten Propaganda für einen Krieg. 25
In seiner Rede vom 16. Dezember 1791 führte Jacques B rissot aus, ein Volk,
das nach zehn Jahrhunderten der Sklaverei die Freiheit errungen ha be, müsse
Krieg führen, um die Freiheit auf eine feste Basis zu stellen. Während Maximilien
Robespierre sich zunächst mit dem Hinweis „Domptons nos ennemis inté rieurs
et marchons ensuite contre nos ennemis" gegen die Idee einer Ausbreitung der
Revolution wandte, weil niemand Sendboten der Freiheit in Waffen liebe, 26
24 Révolutions de Paris, Bd. 8, Nr. 93, 14. bis 21. Mai 1791, S. 269f£, sowie Alphonse AuLARD, Histoire politique de la révolution française. Origine et développement de la démocratie et de la république (1789-1804), Paris 2 1903, S. 111f.; vgl. L'esprit du vrai patriotisme.
Avis aux Polonais, Hamburg 1791.
25 Vgl. Elisabeth FEHRENBACH, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß, München 42001,
S. 45f.; Frank L. KIDNER, The Girondists and the ,Propaganda War` 1792. A Re-Evaluation
of French Revolutionary Foreign Policy from 1791 to 1793, Ph.D. Princeton 1971, sowie
Michael HoCHEDLINGER, ,La cause de tous les maux de la France'. Die ,Austrophobie im
revolutionären Frankreich und der Sturz des Königtums 1789-1792, in: Francia 24,2
(1997), S. 73-120; vgl. Pierre-Louis ROEDERER, Discours sur la question de la guerre, Paris
1791; Jacques Pierre BRISSOT, Discours sur la nécessité de faire la guerre aux princes allemands qui protègent les émigrés, présenté à la Société des amis de la Constitution, Paris
1791; DERS., Second discours sur la nécessité de faire la guerre aux princes allemands qui
protègent les émigrés, présenté à la Société des amis de la Constitution, Paris 1792.
26 Société des amis de la Constitution, séance aux Jacobins à Paris. Discours de M. Robespierre prononcé à la Société le 18 décembre, sur le parti que l'Assemblée nationale doit
prendre relativement à la proposition de guerre annoncée par le pouvoir exécutif [Paris
JORN LEONHARD
162
rechtfertigte B rissot den Krieg ausdrücklich als Möglichkeit, die Revolution
durch ihre Expansion nach innen und außen unumkehrbar zu machen. 27 Hinzu
trat die sozialrevolutionäre Bestimmung der liberté und ihre konsequente Universalisierung im religiösen Tonfall einer Erlösungserwartung. Die Erinnerung der
Deutschen an die Zerstörungen der Pfalz unter Ludwig XIV. würde wettgemacht
durch die Erfahrung eines Volkes, das für seine eigene und die Freiheit anderer
Völker kämpfe:
„C'est alors que les Allemands verront la différence d'un peuple qui se bat
pour la liberté, à une armée qui sou tient les fantaisies de quelques brigands
couronnés [...]. Le moment est venu pour une autre croisade et e lle a un objet
bien plus noble, bien plus saint. C'est une croisade de liberté universelle. "28
So spiegelte sich in den französischen Debatten zwischen 1790 und Frühjahr
1792 eine entscheidende Veränderung: Der Krieg übernahm als ideologisch legitimierte Gewaltanwendung im Namen der freiheitlichen Na tion den Erfahrungsgehalt des Bürgerkrieges. Als moralischer Kampf gegen das Ancien régime wurde
er dabei auf ganz Europa erweitert. Von hier aus forderte man die universe lle
Solidarität aller Unterdrückten und versicherte sie zugleich der Hilfe durch die
französische Nation. Das pazifistische Bewußtsein der Aufklärer schlug in den
Bellizismus der Revolutionäre um.
Der neue Anspruch auf Bestimmung der äußeren Politik durch die in der
Konstituante repräsentierte Na tion zeigte sich ganz konkret in einem programmatischen Nationskonzept: Als mit der Abschaffung der Feudalrelikte und mit
den neuen Kirchengesetzen Rechte deutscher Reichsfürsten und Bischöfe im
deutsch-französischen Grenzbereich des Elsass berührt wurden und Kaiser sowie
Reichstag daraufhin Protest einlegten, verwies die Konstituante darauf, dass die
territorialen Enklaven nicht deshalb zu Frankreich gehörten, weil sie annektiert
worden seien, sondern aufgrund der freiwilligen Entscheidung der Elsässer, zur
französischen Nation zu gehören. Bereits vor dem Krieg wurde hier in Ansätzen
ein voluntaristisches Nationskonzept formuliert, welches das überkommene
Völkerrecht des 18. Jahrhunderts in Frage stellte. Entscheidungen mit weitreichenden außenpolitischen Konsequenzen wurden nun mit der Prämisse nationaler Selbstbestimmung gerechtfertigt. Der Unterschied zwischen dieser Posi tion
und den monarchischen Kriegsbegründungen war ideologischer Natur. Aus ihm
ergab sich die besondere Schärfe der Auseinandersetzung seit dem Frühjahr
1792. Der Kontrast wird noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, dass
zur gleichen Zeit die europäischen Mächte Preußen, Österreich und Russland mit
der endgültigen Aufteilung Polens jene fürstliche Machtpolitik territorialer Arrondierung fortsetzten, die auf die Kategorien von Volk und Na tion keinerlei
1791 j; vgl. H. A. GÖTZ BERNSTEIN, La Diplomatie de la Gironde, Paris 1912, S. 54, sowie
George MICHON, Robespierre et la guerre révoluti onnaire, Paris 1937.
27 Rede Brissots, 16. Dezember 1791, in: P. J. B. BucHEZ/P. C. Roux, Histoire parlementaire
de la Révolution française ou Journal des assemblées nationales depuis 1789 jusqu'en 1815,
40 Bde., Paris 1834-38, hier Bd. 12, S. 409ff.; vgl. Walter MARKOV, Revolution im Zeugenstand. Frankreich 1789-1799, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1987, hier Bd. 2, S. 198-200.
28 BRlsso r, ait. n. GÖTZ-BERNSTEIN, Diplomatie, S. 60 u. 90.
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163
INTERESSE DER VÖLKER UND BÜRGERLICHE GLUCECSELIGKErr?
Rücksicht nahm29 In dieser Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Legitimationsstrategien manifestierte sich der Unterschied zwischen der überkommenen Rolle des
Volkes als Objekt monarchischer Handlungen und dem Subjektcharakter der Nation für prinzipiell alle politischen Entscheidungsprozesse. Obwohl der Anspruch
der Freiheitsmission der französischen Na tion und die Kriegswirklichkeit bald
auseinandertraten, konnte es am Erfahrungsumbruch und dem damit verbundenen gesteigerten Anspruch auf eine den Wünschen der Na tion entsprechende
Außenpolitik keinen Zweifel geben. Gerade die Tatsache, dass Napoleons
Kriegsbegründungen diese Argumente immer wieder aufnahmen, unterstrich das
Legitimationspotential, das man ihnen zubilligte. 30
5. Vom Enthusiasmus der öffentlichen Gemûther zur
Gewalt der Meinungen: Die Wahrnehmung der ideologisierten Revolutionskriege
und die Veränderung des Politikbegriffs in Deutschland
Ideologische Gegnerschaft zur Revolution ließ auch deutsche Zeitgenossen den
Umbruch des Verhältnisses von Krieg und Na tion mit besonderer Sensibilität
analysieren. Das galt zumal für F riedrich von Gentz und seine Schriften seit den
1790er Jahren. Aus der Revolution war in seiner Analyse ein neuartiger Kriegstypus erwachsen, der alle Institutionen Europas bedrohe. We il „ihre verzehrende
Kraft im Innern von Frankreich nicht mehr Nahrung fand", habe die Revolution
durch ihre Kriege „alle politischen Verhältnisse von Europa" verändert. Auch die
Friedenssicherung war zum Problem geworden, „das keine Staatskunst mehr zu
umfassen und zu ergründen vermag". Das stellte die Prämissen klassischer Außenpolitik in den Traditionen des 18. Jahrhunderts in Frage. Gentz folgerte aus
den Erfahrungen des letzten Jahrzehnts, dass „die Gewalt allein" entscheiden
werde, „was künftig Völkerrecht unter den europäischen Staaten sein soll". 31 Der
im Namen der Revolution ideologisierte Krieg der souveränen Na ti on schränkte
den tradierten Handlungsspielraum von Fürsten und Regierungen ein. Die Vorstellung des eingehegten Krieges ließ sich angesichts eines ideologisierten Gewaltbegriffs nicht mehr ohne weiteres aufrechterhalten.
Mit den tradierten Kriegslegitimationen aus dem 18. Jahrhundert waren die
Revolutionskriege nicht mehr angemessen zu erfassen. Die Ursache dafür lag in
einer neuartigen emotionalen Identifizierung des Staatsbürgers mit der im Krieg
herausgeforderten Na tion. Die Revolution habe mit dem Idealbild der kollektiv
errungenen Freiheit „in der Französischen Nazion einen unüberwindlichen Enthusiasmus" entzündet, „der selbst nachdem er im Innern des Landes gelähmt
und niedergeschlagen war, in den Armeen seinen fortdauernden Einfluß" habe
29 Vgl. FEHRENBACH, Régime, S. 45.
30 Vgl. Jörn LEONHARD, Krise und Wandel: 1806 als europäischer Erfahrungsumbruch, in:
Konrad BREITENBORN /Justus H. ULBRICHT (Hg), Jena und Auerstedt. Ereignis und Erinnerung in europäischer, nationaler und regionaler Perspektive, Dößel 2006, S. 79 106.
31 Friedrich von GENTZ, über den ewigen Frieden (1800), in: Kurt von RAUMER (Hg), Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, München 1953, S. 493ff.
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164
JoRrr LEONHARD
behaupten können. 32 Gentz erkannte, welche Folgen diese Erfahrung der Verbindung von Krieg und Nation für die französische Gesellschaft haben musste.
Kriegs- und Gewalterfahrung hätten „dem ganzen Französischen Volk eine Art
von militärischer Erziehung" gegeben, „und bereiteten den militärischen Geist
selbst über die Classen aus, die ihn sonst wenig oder gar nicht gekannt hatten". 33
Zu dieser emotionalen Mobilisierung traten die praktische Erschließung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ressourcen und eine ideologische Propagierung
des Krieges. Erst die Kombination dieser Faktoren machte für den Zeitgenossen
den Aufstieg Frankreichs zur beherrschenden Macht Europas verständlich.
Die Erfahrung der Revolutionskriege zwang gerade die europäischen Revolutionsgegner zu einem dynamischen Lernprozess. Hier erkannten sie exemplarisch
das durch den Krieg gesteigerte Effizienzkriterium politischer Legitimation. Aus
der Wahrnehmung ergab sich zugleich der Transfer eines veränderten Nationsbegriffes. Es sei notwendig geworden, „in dem fürchterlichen Streite mit
einer revolutionirten Nazion, das erste Element der ganzen Aufgabe, den revolutionären Charakter des Krieges" und seine Legitimation durch die selbstbestimmte und freie Na tion anzuerkennen. Das aber bedeutete die Übernahme des
französischen Modells der emotionalen Mobilisierung des ganzen Volkes für den
Krieg. In Gentz' Projektion veränderte sich damit auch die Rolle der Öffentlichkeit. Sie war nicht länger gleichbedeutend mit den passiven Untertanen, sondern
wurde zu einem Kriegssubjekt, auf das sich die Sorge der Fürsten und Regierungen zu konzentrieren ha tte. Gentz sah vor allem die Fürsten durch die Konfrontation mit der französischen Na tion gezwungen, ihre Fortschrittlichkeit unter
Beweis zu stellen, um dem durch erfolgreiche Kriegsfähigkeit demonstrierten
Selbstbild Frankreichs ein überzeugendes Modell entgegenzustellen. Dieses ging
von einer organischen Harmonie zwischen Volk und Monarch aus, entschied also
die Machtfrage anders als 1790/91 in Frankreich nicht zugunsten der in der Legislative repräsentierten Na ti on, sondern setzte auf ein konsensuales Zusammenwirken von Fürst und Gesellschaft. Der Krieg hatte eine Konkurrenzsituation zwischen ideologisch entgegengesetzten Vorstellungen politischer Legitimation und ein neues Kriterium für die Beurteilung erfolgreicher Staatlichkeit
entstehen lassen:
„Sie [i.e. die Fürsten] mußten dem Enthusiasmus der Revoluzion durch einen
glücklich berechneten Einfluß auf die Gemüther entgegen wirken [...]. In einem Kriege, der großentheils eine neue Richtung der öffentlichen Meinung
erzeugte, durfte man die öffentliche Meinung keinen Augenblick vernachlässigen oder verachten. Belehrung und Leitung mußte die unabläßige Sorge der
Fürsten seyn. Auf allen zweckmäßigen Wegen, durch oft wiederholte feierliche Erklärungen, durch Schriften, durch Predigten, durch Volks-Unterricht,
durch die Unterstützung und Ermunterung jedes Talents mußten sie unabläßig auf die Ideen und Maximen des Zeitalters wirken. Mit Achtung gegen die
unaufhaltsamen Fortschritte der Cultur, mit Wohlwollen gegen nützliche Re32 Friedrich von GEtuTZ, Ueber den Ursprung und Charakter des Krieges gegen die Französische Revoluzion [sicl], Berlin 1801, S. 185f. u. 200f.
33 Ebd., S. 214f.
INTERESSE DER VÖLKER UND BÜRGERLICHE GLÜCKSELIGKEIT?
165
formen, mit Bereitwilligkeit zur Abstellung a ller Mißbräuche, mußten sie den
Drang nach unerreichbaren Idealen [...] und die Verwirrungen einer sich selbst
mißverstehenden Unzufriedenheit der untern Classen des Volks bekämpfen. ' 34
Gentz' zeitgenössische Analyse dokumentierte also einen wichtigen Aspekt des
Transfers von politisch-sozialem Deutungswissen im Kontext des Krieges. Er
nahm die veränderten Bedingungen eines Krieges in den Blick, der von einer
„revoluzionirten Nation" ausgegangen war, um von hier aus die veränderte Bedeutung der Öffentlichkeit als eines neuen und wichtigen Faktors der Kriegführung zu thematisieren. 35 Das war keine isolierte Wahrnehmung: Schon 1795 hatte
man in Preußen die „Gewalt der Meinungen und den Einfluß des jetzigen Krieges auf die öffentliche Meinung" konstatiert. 36 Krieg und Öffentlichkeit waren
nicht mehr in die überkommenen Kategorien des status militaris und status civilis
einzuordnen. Im Gegensatz zu Gentz' Skepsis ließ sich diese Verbindung von
Krieg und Öffentlichkeit auch positiv als Überwindung des Antagonismus zwischen despotischer Herrschaft und Untertanen deuten. Im Vergleich zwischen
der Polarisierung der religiösen Meinungen durch den Dreißigjährigen Krieg und
der politischen Strömungen durch den Konflikt der Gegenwart wurde eine neuartige Ideologisierung der Kriegsgründe fassbar:
„Dieser Krieg hat das Licht in die politischen Meinungen getragen, wie der
dreißigjährige in die religiösen es trug [...]. Das Interesse der Völker giebt jetzt
in den Augen der mehrsten die Richtschnur zu ihrer Handlungsweise gegen
sich und andere Völker ab."
Der Krieg habe dazu gezwungen, „über die wahre Politik der Staaten, über den
Zweck des gesellschaftlichen Zustandes und über die wahren Mittel der bürgerlichen Glückseligkeit nachzudenken". 37
34 Ebd., S. 277ff.
35 Vgl. Otto DANN, Die Friedensdiskussion der deutschen Gebildeten im Jahrzehnt der Französischen Revolution, in: Wolfgang HUBER (Hg.), Historische Beiträge zur Friedensforschung, München 1970, S. 95-133; Otto DANN, Vernunftfrieden und nationaler Krieg. Der
Umbruch im Friedensverhalten des deutschen Bürgertums zu Beginn des 19. Jahrhunderts,
in: Wolfgang HUBER/Johannes SCHWERTFEGER (Hg.), Kirche zwischen Krieg und Frieden.
Studien zur Geschichte des deutschen Protestantismus, Stuttgart 1976, S. 178-201, sowie
Kari HOKKANEN, Krieg und Frieden in der politischen Tagesliteratur Deutschlands zwischen Baseler und Lunéviller Frieden (1795-1801), Jyväskylä 1975.
36 Über die Gewalt der Meinungen und den Einfluß des jetzigen Krieges auf die öffentliche
Meinung, Südpreußen 1795; vgl. auch Etwas ü ber den Krieg in der öffentlichen Meinung,
ein Wort zur Beherzigung bei den Kreuzzügen des 18. Jahrhunderts, Palaestina 1795.
37 Über den Einfluß des jetzigen Krieges auf die öffentliche Meinung, Glückseligkeit und
Humanität, o. O. 1795, S. 85f. u. 88f.
JdRv LEONHARD
166
6. Zusammenfassung und Ausblick: Die Schwere der gegenseitigen Nationalkraft und der Umbruch der außenpolitischen domaine réservé
des Fürsten
Die 1805/06 kulminierenden Erfahrungsumbrüche verwiesen auf eine grundlegend veränderte Tektonik zwischen Staat, Na tion und Krieg und den darauf
bezogenen Legitimationsmustern politischen Handelns. Das hatte sich bereits
1790/92 in Frankreich im neuen Selbstbild der aus der Revolution hervorgegangenen Nation und ihrem Anspruch auf Gestaltung der Politik sowie in Deutschland in der Wahrnehmung der Revolutionskriege in den 1790er Jahren angedeutet. Gentz' aufmerksame Analyse antizipierte ein neues Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Außenpolitik, zugespitzt in der Frage von Krieg und Frieden. Er
erkannte die neue Rolle der Öffentlichkeit an, aber nicht wie in Frankreich auf
der Basis einer parlamentarischen Repräsentation der Na tion, sondern in der
Hoffnung auf ein harmonisches Zusammenwirken von Monarch und Volk. Erst
durch den Einschnitt der militärischen Katastrophe Preußens 1806 führte dieser
auch in Deutschland früh erkannte Umbruch zu einem Programm der staatlichen
und nationalen Regeneration.
Aus der preußischen Fundamentalkrise nach dem Oktober 1806 ergab sich
die Konzeption einer Staatsbürgernation in Waffen. Nicht mehr im Sinne einer
Separierung von Kriegsstaat und Civilstaat wie noch in den Vorstellungen des
frühen 18. Jahrhunderts, sondern auf der Basis der durch den Krieg erzwungenen
Annäherung von Staat und Nation, Regierung und Volk sollte der Kampf gegen
Frankreich geführt werden. Wo die französische Entwicklung zwischen 1790 und
1792 die Entscheidungsgewalt der Na tion konstitutionell etablierte und 1791/92
im Appell an die Gewalt die Trennung zwischen der inneren und der äußeren
Sphäre der Politik tendenziell aufhob, da dominierte in Preußen nach 1806 die
Suche nach Möglichkeiten der militärischen Regeneration. Kriegsfähigkeit bedeutete Staatsfähigkeit, und dieses Kriterium war durch die Kriege seit 1792 in
bisher ungekannter Weise zugespitzt worden.
Auch ohne die französische Umbruchsdynamik waren die Folgen für das
Verständnis des Verhältnisses zwischen Öffentlichkeit und Politik in Preußen
tiefgreifend und überwanden das tradierte Paradigma von Politik aus dem 18.
Jahrhundert. Dabei avancierte die zeitgenössische Kriegs- und Militärtheorie zu
einer progressiven Leitwissenschaft mit einem hohen Deutungsanspruch. Für
Carl von Clausewitz war die überkommene Trennung zwischen militärischer und
staatlicher Sphäre potentiell aufgehoben durch die „Schwere der gegenseitigen
Nationalkraft", die den Charakter der Kriege tiefgreifend verändert habe. 38 Für
Gerhard von Schamhorst stand nicht mehr die begrenzte bataille, sondern der
potentiell allgemeine Volkskrieg im Zentrum seiner Überlegungen:
„Ohne eine [...] Entwicklung aller uns zu Gebot stehenden Verteidigungsanstaken, die nicht allein das stehende Heer, sondern auch die physischen und
38
CLAUSEWITL,
Kriege, S. 240f.
167
INTERESSE DER VÖLKER UND BÜRGERLICHE GLÜCKSELIGKEIT?
moralischen Kräfte der gesamten Na tion in Anspruch nimmt, können wir
nicht für den Erfolg stehen. "39
Dabei war er sich der politischen Konsequenzen bewusst: Die Monarchie musste
sich dem nationalen Kriegszweck unterordnen, und sie hatte sich im Verbund
mit der Regierung auf neuartige politische Partizipationswünsche einzurichten.
Sosehr dies nach 1806 noch eine auf das gehobene Bürgertum und seine Erwartungen ausgerichtete Vorstellung war, so antizipierte dies doch bereits den
inneren Zusammenhang zwischen Verteidigungspflicht und Partizipationsanspruch. Die Entwicklung von Wehrpflichtarmeen im 19. Jahrhundert und die
Frage nach den Folgen für die innere Nationsbildung spitzten diesen Zusammenhang zu.40
Die eingangs zitierte Formel der Proklamation nach der preußischen Niederlage von 1806 „Der König hat eine Batai lle verlohren [sic!]. Jetzt ist Ruhe die
erste Bürgerpflicht" markierte vor diesem Hintergrund das mögliche Ende des
Monarchenkrieges als dominantes Muster der Kriegsdeutung und die Krise der
außenpolitischen domaine reserué des Fürsten in der Tradition des frühneuzeitlichen Kabinettskrieges. 41 Es war kein Zufall, dass im Mittelpunkt des Aufrufs
„An mein Volk" von Friedrich Wilhelm III. im März 1813 bereits der Appell an
tional bestimmte Kampfgemeinschaft st and. Der König stellte nun die ein a
„heiligen Güter" höher als das individuelle Opfer, „wenn wir nicht aufhören
wollen, Preußen und Deutsche zu sein". 42 Das war nicht der Beginn, sondern
eher der Abschluss einer Entwicklung. Der in der Forschung noch immer dominierende Blick auf die Ambivalenz des Verhältnisses zwischen Außenpolitik und
Öffentlichkeit nach 1850 — unter Napoleon III., Bismarck oder im Kontext des
Versailler Vertrages — sollte nicht verdecken, dass es sich hier um die Fortsetzung
einer Wirkungsgeschichte handelte, deren longue durée lange vor 1806 und 1789
einsetzte. Ihre historische Genese erweist sich a ber nicht im isolierten preußischdeutschen Blick auf 1806, sondern allein in der europäischen Perspektive.
39 Gerhard von ScHAR.NHORSr/Neidhardt von GNEISENAU, Denkschrift über den Landsturm, April 1813, in: Gerhard von SCHARNHORSr, Ausgewählte militärische Schriften, hg.
v Hansjürgen USCZECK/Christa GUDZENT, Berlin (Ost) 1986, S. 342-445, hier S. 343; vgl.
Michael SIKORA, Scharnhorst und die militärische Revolution, in: KUNISCH/MÜNKLER
(Hg.), Wiedergeburt, S. 153-183, hier S. 181£
40 Vgl. Ute FREVERT, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001; Jörn LEONHARD/Ulrike von HIRSCHHAUSEN (Hg), Multi - Ethnic
Empires and the Military: Conscrip tion in Europe between Integration and Desintegration,
1860-1918, München 2007.
41 Zit. n. NIPPERDEY, Geschichte, S. 15; vgl. BECKER, Bilder, S. 86.
42 Friedrich Wilhelm III., An mein Volk, Breslau, 17. März 1813, in: Hans Bernd SPIES (Hg.),
Die Erhebung gegen Napoleon 1806 1814/15, Darmstadt 1981, S. 254f., hier S. 255. Der
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-
Verfasser des Aufrufs war Theodor Gottlieb von Hippel.
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