Psychologie des Spracherwerbs Thema Grenz- und Meilensteine: Grammatik, Pragmatik und metasprachliche Kompetenzen Dozent Dr. Werner Kany Referent Ralph Schumacher Methodischer Überblick „Gleisverlegung“ (‚phonologische Festlegung‘) Es werden von den Seminarteilnehmern sieben ihnen bekannte (vertraute) Räume (in einem Wohnhaus/Elternhaus) ausgewählt, durch die -rein mental- „Gleise verlegt“ verlegt werden. Einrichten der „Bahnhöfe / Stationen“ In jedem Raum wird ein Bahnhof eingerichtet. Dieser Bahnhof nimmt die Gestalt eines Gegenstandes an, der im jeweiligen Raum platziert wird. Jeder Raum (mit seinem jeweiligen „Bahnhof“) steht für ein Entwicklungsjahr. Entwicklungsmonate Sie werden innerhalb der Teilstrecken durch Sinnesqualitäten vermittelt (näheres siehe Arbeitsblatt) Methodischer Überblick Thematische Aspekte (Grammatik, Pragmatik, metasprachliche Kompetenzen) Sie werden in einfache, anschauliche Sinnbilder umgestaltet. Verortung der thematischen Aspekte („Sinnbilder“) Je nach Entwicklungsjahr werden die Sinnbilder im jeweiligen (Zeit-)Raum abgelegt. Monatsangaben werden durch Veränderung der Sinnesqualität bewerkstelligt (siehe „Sinnes“-Tabelle). Methodischer Überblick Darstellung der Meilensteine (Normalentwicklung) Normalentwicklungen werden im Gedächtnisraum dadurch abgebildet, indem ein Mädchen („Sophia“) eine entsprechende Handlung durchführt Darstellung der Grenzsteine (Entwicklungs-Abweichung) Entwicklungs-Abweichungen werden im Gedächtnisraum dadurch abgebildet, indem ein Junge („Ernst“) eine entsprechende Handlung durchführt. Methodische „Vorarbeit“ Trage in das Arbeitsblatt die von dir erdachten Räume ein Lege dir eine Route fest, mittels der eine ModellEisenbahn durch diese Räume auf einem Gleis fahren könnte Betrachte die Zuordnungstabelle (Zahl-Gegenstand) Platziere in jedem Raum den betreffenden Gegenstand, d.h. in Raum „0“ den Gegenstand „Ball“, in Raum „1“ eine Säule, etc. Der Gegenstand sollte passend zur Umgebung abgelegt werden Schließe nochmals die Augen, laufe das Gleis ab und sichte die abgelegten Gegenstände Kleiner Exkurs „Einrichten des Gedächtnisraumes“ (Zeit-)Räume für die Lebensjahre 0 - 3 (Zahl-Form-System) (Zeit-) Raum Gegenstand 0 Ball 1 (Marmor-)Säule 2 Spazierstock 3 Maulwurfshügel Kleiner Exkurs „Einrichten des Gedächtnisraumes“ (Zeit-)Räume für die Lebensjahre 4 - 7 (Zahl-Form-System) (Zeit-) Raum Gegenstand 4 Stuhl/Sessel/Thron 5 Fahrrad 6 Schnecke 7 Sense Kleiner Exkurs Arbeitsblatt Kleiner Exkurs „Gedächtnisraum“ Sinnes-Qualitäten für die Lebensmonate 0 - 3 (Zahl-Form-System). Lebensmonat 0 Sinnesorgan Seh-Sinn: Sinnesqualität schön, anmutend strahlend : Sonne 1 Seh-Sinn: matt : Lidschatten 2 Tastsinn: blass, eingestaubt, schattig geschmeidig, samtig glatt : Streichelrichtung beim Streicheln eines Kopfes (glatt) 3 Tastsinn: rau : Noppen rau Kleiner Exkurs „Gedächtnisraum“ Sinnes-Qualitäten für die Lebensmonate 4 - 7 (Zahl-Form-System). Lebensmonat 4 Sinnesorgan kinästhetischer Sinn: Sinnesqualität leicht bis schwerelos leicht : Segelboot 5 kinästhetischer Sinn: schwer schwer : Gewicht 6 Hörsinn: laut : Triller-Pfeife 7 Hörsinn: leise : Harfe laut bis ohrenbetäubend leise, wohlklingend, beruhigend Kleiner Exkurs „Gedächtnisraum“ Sinnes-Qualitäten für die Lebensmonate 8 - 11 (Zahl-Form-System). Lebensmonat 8 Sinnesorgan Geruchs-Sinn: Sinnesqualität wohlduftend, frisch wohlduftend : zwei Blütenblätter 9 Geruchs-Sinn: stinkend : Elefantenrüssel (im Schlamm suhlend) 10 Geschmacks-Sinn: schimmelig, verwesend, stinkend süßlich süß : Löffel 11 Geschmacks-Sinn: sauer : zwei saure Gurken bitter/sauer Kleiner Exkurs Arbeitsblatt Kleiner Exkurs Sinnbild für „Meilensteine“ Meilensteine Bei Mädchen verläuft die sprachliche Entwicklung meist rascher, was sich auch in der Kognition beobachten lässt. Sie sind gegenüber Knaben meist sprachlich gewandter, „klüger“ Sinnbild: Sophia („Weisheit“) Kleiner Exkurs Sinnbild für „Grenzsteine“ Grenzsteine Knaben haben zum Teil viel häufiger eine verzögerte Sprachentwicklung, was mit ernster Aufmerksamkeit verfolgt werden sollte. Sinnbild: Ernst Kleiner Exkurs „Probelauf durch die Gedächtnisräume“ Durchlaufe nochmals die Räume entlang des Gleises Verweile bei jeder Haltestation und betrachte den Gegenstand Thematischer Einstieg Syntax Sinnbild Das Erlernen der richtigen Wortstellung ist wichtig Erst die Lok („Subjekt“), dann der Kohlewagen („Prädikat“), dann (evtl.) die Passagierwägen („Objekte“) Syntax Die Syntax (Wortstellung) beinhaltet das Verstehen und die Produktion syntaktischer Strukturen Æ richtige Anordnung des Zuges und der Wagen Zusammen mit den morphologischen Mitteln einer Zielsprache die Voraussetzungen für kontextunabhängiges Verstehen (z.B. Erzählen über Vergangenes und Künftiges) Nach Locke (1997) ist eine bestimmte Anzahl von (gespeicherten) Wörtern notwendig („kritische Masse“), damit grammatische Strukturen erworben werden können (Verzahnung einzelner Teilbereiche also notwendig) Æ eine gewisse Anzahl von Zügen und Wägen sind notwendig, um richtige Zuordnung zu finden Voraussetzungen: Regel- und Analogiebildung Æ die richtige Anordnung eines Zuges erfährt das Kind aus der Erwachsenensprache Syntax Typische Erwerbsreihenfolge (allgemein) Vorläufer von Satzbildungen: Æ sogenannte „Doppelungen“ von Wörtern („butt butt“) Æ Kombination verschiedener Wörter Æ Übergangsphase von Ein- zu Mehrwortsätzen (vorsyntaktisch) Bildung von semantischen Beziehungen Besitz Vorhandensein Wegsein Akteur - Handlung Æ Æ Æ Æ „Hilde Ball“ „da Puppe“ „weg Puppe“ „Bubi spielen“ Ab dem 2. LJ von semantisch fundiert zu syntaktisch fundiert (formale Abstimmung Æ Subjekt-Verb-Kongruenz Syntax Typische Erwerbsreihenfolge (Clahsen 1982) Phase I (1;6) Æ Vorläufer zur Syntax erste Wortkombinationen, meistens einfache Wortwiederholungen (Reduplikationen) als Vorläufer zur Syntax. Sinnbild: Sophia spielt in Raum „1“ mit „lauter Lok“ und laut quietschenden Waggons Prädysgrammatismus: Repräsentation der Wörter sind sehr unpräzis und instabil, Lautinventar ist sehr eingeschränkt, Probleme beim Ausgliedern von Lautgestalten (eingeschränktes und deformiertes „Spielmaterial“) Phase II (2;0) Æ Erwerb des syntaktischen Prinzips mit ca. 2;0 Jahren Erwerb des syntaktischen Prinzips, d.h. zwei oder drei Wörter werden miteinander kombiniert Æ „Mama Hose“. Meist Inhaltswörter (Nomen, Adjektiv, Verb), weniger Funktionswörter (Artikel, Präpositionen) Sinnbild: Sophia spielt in Raum „2“ mit strahlend schimmernder Lok. Lok und Waggon sind noch nicht verbunden. Dysgrammatismus: Verzögerter Erwerb des syntaktischen Prinzips (erste eigenständige Wortkombinationen) Syntax Typische Erwerbsreihenfolge (Clahsen 1982) Phase III (2;6) Æ Vorläufer einzelsprachlicher Grammatik Zweit- und Endstellungen mit Korrespondenz zwischen Subjekt und Verb Æ „Ich nemm Bär“ Sinnbild: Sophia stellt in Raum „2“ die Lok („Subjekt“) und den Kohlewagen („Prädikat“) folgerichtig hintereinander, ohne dass diese durch das Kupplungsgelenk miteinander verbunden sind. Die „Passung“ zwischen Lok und Waggons stimmt noch nicht. Der Vorgang geschieht durch laute Geräuschnachahmung der Lok und des Waggons. Phase IV (3;0) Æ Erwerb einzelsprachlicher syntaktischer Besonderheiten Kongruenz-System gilt als erworben 3 Jahren Verb-Zweitstellung Æ „Ich baue eine Turm“ Sinnbild: Sophia stellt in Raum „3“ die Lok („Subjekt“) und den Kohlewagen („Prädikat“) folgerichtig hintereinander, ohne dass diese durch das Kupplungsgelenk miteinander verbunden sind. Die „Passung“ zwischen Lok und Waggons stimmt noch nicht. Der Vorgang geschieht durch laute Geräuschnachahmung der Lok und des Waggons. Syntax Typische Erwerbsreihenfolge (Clahsen 1982) Phase V (3;6) Æ Komplexe Sätze komplexe, aus Teilsätzen bestehende zusammengesetzte Sätze („Ich weg und du musst mich finden“) keine Wortstellungsfehler in Nebensätzen (allerdings noch Auslassungen von Subjekt und Verb) Beherrschung der wichtigsten Formen des Kasussystems Erwerb von Passiv-Konstruktionen (ab 4;0) Sinnbild: Sophia stellt in Raum „3“ die Lok („Subjekt“) und den Kohlewagen („Prädikat“) folgerichtig hintereinander und fügt noch viele Waggons hinzu („Objekte“). Die „Passung“ zwischen Lok, Kohlewagen und Waggons stimmt. Die Elemente sind durch Kupplungsgelenke fest miteinander verbunden. Der Zug gibt laute Geräusche von sich, geradezu ohrenbetäubend. Postdysgrammatismus: relativ unauffällig, resudiale Sprachdefizite, beschränktes sprachlich-kommunikatives Repertoire, Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, beim Speichern und Abruf von Wörtern und Silben, bei der phonemischen Segmentierung und Vernetzung und Aktivierung von Wortschatzbereichen („wenig Waggons“) Syntax Meilensteine = Normalentwicklung (Zeit-) Raum Wahrnehmung/ Verstehen 0;0 – 1;0 Produktion Erstes Wort 1;0 – 1;5 Schlüsselwörter Ein-Wort-Stadium bzw. Vorläufer der Syntax 1;5 – 2;0 Verstehen syntaktischer Beziehungen basierend auf Wortordnungen Zwei- bzw. Dreiwortstadium: zunächst Verb-Endstellung 1;5 – 3;0 Danach finite (konjugierte) Verben in Zweitstellung (Ende des 2. LJ) Syntax Meilensteine = Normalentwicklung (Zeit-) Raum Wahrnehmung/ Verstehen 3;0 ff. 4;0 6;0 Grundschulalter Produktion Schließlich Endstellung des finiten Verbs im Nebensatz; komplexere Satzgefüge, Konditionalsätze Verstehen von AktivPassiv, Verstehen von Reflexivpronomen z.B. „Ich ziehen mich an“ Auftreten erster Passivsätze Grundlagen der Grammatik Syntax Grenzsteine = Entwicklungsabweichungen Sprachauffälligkeiten: • Wortstellungsfehler (flektiertes Verb wird noch lange ans Satzende gesetzt: „Ich auch will“) • Kongruenzfehler (z.B. „die Kinder rennt“) • falscher Artikelgebrauch (z.B. „die Haus“) • Flexionsfehler (Verbflexion „gegangt“). Insbesondere der Erwerb komplexer Satzstrukturen bleibt unvollständig. Sinnbilder : Verhaltensauffälligkeiten bei Ernst Æ Probleme bei Anordnung des Zuges Æ keine richtige Passung zwischen Zug und Kohlewagen/Waggons Morphologie Sinnbild Die Morphologie kann als Gelenkstelle zwischen den Satzgliedern aufgefasst werden „Gelenkstelle“ eines Zuges (roter Pfeil) sollte eine Passung aufweisen Morphologie Umfasst das Verstehen und die Produktion von Morphemen (kleinste bedeutungstragende Einheiten) Morpheme kennzeichnen z.B. - den Numerus („Kannen“, „Tonnen“) - den Genus ( „das Mädchen“, „der Junge“, „das Buch“) - den Kasus ( „Das Feuer brennt“ (Nom.), „Ich habe den Vogel gefüttert“ (Akk.), „Ich habe dem alten Mann geholfen“ (Dat.), „Der Kamm des Mädchens ist rot“ (Gen.) Erwerb der Kasusformen folgt einer aufbauenden Entwicklungssequenz Morphologie Meilensteine = Normalentwicklung (Zeit-)Raum Produktion 2;0 – 5;0 - Nominativ/Akkusativ vor Dativ/Genitiv - Verbflexion: langes Andauern von Übergeneralisierungen, z.B. „gingte“, „denkte“ (sie sind entwicklungsnormal) - Numerus: Übergeneralisierung wie Buch Æ Buchs sind entwicklungsnormal Sinnbild: Sophia versteht es ab Raum „2“, die Waggons mit der Werbeaufschrift „No“, “Kuss“, „Da“, „Ge(h)n“ des Ministrantenzuges nach Rom in richtiger Reihenfolge zu verbinden Morphologie Grenzsteine = Entwicklungsabweichungen (Zeit-)Raum > 5;0 Produktion Fortdauer von Fehlern: - Kasusfehler - Genusfehler - Numerusfehler - Verbflexionsfehler („ich habe gedenkt“) - Probleme bei Verwendung des unbestimmten und bestimmten Artikels Sinnbild: Ernst müht sich im Raum „5“ immer noch vergebens ab, die hochglanzpolierten Waggons miteinander zu verbinden, da die jeweiligen Kupplungsgelenke nicht zu einander passen Pragmatik Sinnbild Kennzeichnend sind hier die Feinheiten der sprachlichen Kommunikation, die nicht zur sprachlichen Entgleisung führen sollte Die Feinsteuerung der Sprache und sozialen Handlungsorientierung steht im Vordergrund „Weichenstellung“ und „Zugzusammensetzung“ Pragmatik „Sprechhandeln“ (kommunikative Fähigkeiten) Nicht nur Mittel zur Kommunikation, sondern auch zentral für schulische und berufliche Entwicklung (Repräsentation von Wissen) Sprechhandeln besteht bereits vorsprachlich als Kommunikationsrepertoire des Babys: Vorläuferkompetenzen des „Sprechhandelns“: - Kontaktlaute (zur Bezugsperson) - Unmutslaute - Schlaflaute - Trink- und Wohligkeitslaute (Bedürfnisbefriedigung) - Schreien (unmittelbares Bedürfnis Pragmatik Uneigentliche Nutzung von Sprache (Ironie, Metapherngebrauch, Witze) Soziale Normen (Anredekonventionen, situative Anpassungen (Höflichkeit), Gesprächsorganisation (Sprecherwechsel) Entwicklungsbedingungen: Æ sprachliche Anregung Æ Gespräche Æ Argumentationen Pragmatik Meilensteine = Normalentwicklung (Zeit-) Raum Wahrnehmung/ Verstehen 0;8 – 0;10 1;4 – 1;10 2;0 Produktion Vorsprachliche intentionale Kommunikation Beantworten von Fragen Einholen von Information Gesprächslänge nimmt zu: Produktion von 20 zusammenhängenden Äußerungen Pragmatik Meilensteine = Normalentwicklung (Zeit-) Raum Wahrnehmung/ Verstehen Produktion ab 3;0 Anpassung an den Redepartner (z.B. Anrede) werden berücksichtigt, einfache Erzählungen ab 6;0 Ereignisse/komplexere Geschichten werden wiedergegeben (Einschulung) Pragmatik Grenzsteine = Entwicklungsabweichungen - Grenzsteine lassen sich schlecht aufstellen - Auffällig jedoch, wenn im Alter von 3 Jahren noch keine Frage formuliert werden kann Metasprachliche Kompetenzen Sinnbild Die Sprache als „Untersuchungsgegenstand“ Als Sinnbild könnte ein kompletter Zug dienen Beschaffenheit der Loks und einzelner Waggons Metasprachliche Kompetenzen Wissen über die Sprache Sprachliche Einheiten : Æ was ist ein Wort, eine Silbe, ein Laut? Æ „phonologisches Bewusstsein“ formale Eigenschaften : welches Wort ist länger: „ ‚Zug‘ oder ‚Krokodil‘ ?“ Entwicklungsvoraussetzung : intakter und altergemäßer Entwicklungsstand (Kognition) Friedrich M. Dannenbauer : metasprachliche Hilfen als Anstoßfunktion für: Æ sprachliche Probleme (Reflektion) Æ explizite Informationen für rezeptives Wissen Æ Förderung von Überwachungs- und Korrekturfunktionen Metasprachliche Kompetenzen Meilensteine = Normalentwicklung - Mit zunehmender Einsicht mit 2;3 erste Selbstkorrekturen - Allerdings umstritten, ob dies bereits Ausdruck von Wissen ist und bewusst und absichtsvoll statt findet Metasprachliche Kompetenzen Grenzsteine = Entwicklungsabweichungen - Grenzsteine sind schwer zu setzen - Abhängig vom allgemeinen kognitiven Leistungsstand und nicht von bereichsspezifischen (z.B. primärsprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten)