36 Aphasien und andere umschriebene zerebrale

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M.-Marsel Mesulam
36
Aphasien und andere umschriebene zerebrale
Störungen
Für die deutsche Ausgabe Stephan A. Brandt
Der Kortex des menschlichen Gehirns enthält ungefähr 20 Milliarden
Neurone auf einer Fläche von 2,5 m2. Die primär sensorischen Areale
und motorischen Areale nehmen 10 % des Kortex ein. Der große Rest
schließt modalitätsselektive, heteromodale, paralimbische und limbische Gebiete ein und wird zusammenfassend als Assoziationskortex
bezeichnet (Abb. 36-1). Der Assoziationskortex vermittelt die integrativen Prozesse, die der Wahrnehmung, der Emotion und dem Verhalten dienen. Eine systematische Untersuchung dieser kognitiven Funktionen ist notwendig, um Erkrankungen des Assoziationskortex klinisch eindeutig beurteilen zu können. Nach derzeitigem Wissen gibt
es keine isolierten Zentren für das „Hören von Worten“, die „Wahrnehmung des Raumes“ und das „Speichern von Erinnerungen“.
Funktionsbereiche der Wahrnehmung und des Verhaltens werden
von ausgedehnten neuronalen Netzwerken koordiniert, die aus untereinander verbundenen kortikalen und subkortikalen Komponenten
bestehen. Fünf anatomisch definierte ausgedehnte Netzwerke sind für
die klinische Praxis besonders wichtig: (1) das perisylvische Netzwerk
für die Sprache; (2) das parietofrontale Netzwerk für die räumliche
Orientierung; (3) das okzipitotemporale Netzwerk für die Gesichtsund Objekterkennung; (4) das limbische Netzwerk für das Gedächtnis; und (5) das präfrontale Netzwerk für die exekutive Kontrolle von
Kognition und Verhalten.
DAS LINKE PERISYLVISCHE NETZWERK FÜR APHASIEN
Die Bereiche, die für die Sprache entscheidend sind, bilden ein weitläufiges Netzwerk entlang der perisylvischen Region der linken Hemisphäre. Ein Bereich im Gyrus frontalis inferior wird als Broca-Areal
bezeichnet. Eine Schädigung dieser Region stört Phonetik, Sprachflüssigkeit und grammatikalische Satzstruktur. Die Lage des zweiten Bereichs, des Wernicke-Areals, ist weniger umschrieben. Traditionell
geht man aber davon aus, dass dieses Areal in den posterioren Anteilen des Temporallappens liegt. Zerebrovaskuläre Läsionen dieses
Areals beeinträchtigen das Verständnis der gesprochenen und geschriebenen Sprache sowie die Fähigkeit, Gedanken durch sinnvolle
Wörter und Aussagen auszudrücken. Diese beiden Punkte sind miteinander und mit den umgebenden Teilen des Frontal-, Parietal- und
Okzipitallappens verbunden. Eine Schädigung dieses Netzwerks führt
zu Sprachstörungen, die als Aphasien bezeichnet werden. Die Diagnose einer Aphasie sollte nur gestellt werden, wenn die formalen Aspekte der Sprache, wie Wortfindung, Wortwahl, Wortverständnis,
Buchstabieren und Grammatik, beeinträchtigt sind. Dysarthrie und
Mutismus sind keine Formen der Aphasie. Bei etwa 90 % der Rechtshänder und 60 % der Linkshänder kommt es nur nach Läsionen der
linken Hemisphäre zur Aphasie.
& KLINISCHE UNTERSUCHUNG
Abbildung 36-1 Seitliche (oben) und mittlere (unten) Ansichten der zerebralen
Hemisphären. Die Zahlen beziehen sich auf die zytoarchitektonischen Felder von Brodmann. Area 17 entspricht dem primär visuellen Kortex, 41–42 dem primär auditorischen
Kortex, 1–3 dem primär somatosensorischen Kortex und 4 dem primär motorischen Kortex. AG = Gyrus angularis; B = Broca-Areal; CC = Corpus callosum; CG = Gyrus cinguli;
DLPFC = dorsolateraler präfrontaler Kortex; FEF = frontales Augenfeld (prämotorischer
Kortex); FG = Gyrus fusiforme; IPL = inferiorer Parietallappen; ITG = inferiorer Gyrus temporalis; LG = Gyrus lingualis; MPFC = medialer präfrontaler Kortex; MTG = mittlerer Gyrus temporalis; OFC = orbitofrontaler Kortex; PHG = Gyrus parahippocampalis; PPC =
posteriorer parietaler Kortex; PSC = peristriatärer Kortex; SC = striatärer Kortex; SMG =
supramarginaler Gyrus; SPL = superiorer Parietallappen; STG = superiorer temporaler
Gyrus; STS = superiorer temporaler Sulkus; TP = temporaler Kortex; W = WernickeAreal.
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Die klinische Untersuchung der Sprache besteht aus der Beurteilung
der Benennensleistung, der Spontansprache, des Sprachverständnisses, der Sprachwiederholung, des Lesens und des Schreibens. Eine
Störung des Benennens (Anomie) wird bei aphasischen Patienten am
häufigsten gefunden. Fragt man nach dem Namen bekannter Objekte,
hat der Patient Schwierigkeiten das entsprechende Wort zu finden. Er
könnte aber eine Beschreibung des Objektes geben („das Ding zum
Schreiben“) oder das Objekt falsch benennen (Paraphasie). Wenn der
Patient ein ähnliches, aber falsches Wort anbietet („Kugelschreiber“
statt „Bleistift“), wird dieser Fehler als semantische Paraphasie bezeichnet. Wenn das Wort ungefähr die korrekte Antwort darstellt,
aber phonetisch falsch ist („Bleilift“ für „Bleistift“), wird dies als phonematische Paraphasie bezeichnet. Bei den meisten Anomien kann
der Patient nicht den entsprechenden Namen finden, wenn ihm ein
Objekt gezeigt wird; er kann jedoch das entsprechende Objekt zeigen,
wenn der Name durch den Untersucher vorgegeben wird. Dies wird
als Einweg-Benennungsstörung bezeichnet. Eine Zweiweg-Benennungsstörung (nach dem Verständnis) besteht, wenn der Patient weder den korrekten Namen sagen noch wiedererkennen kann. Die
Spontansprache wird als flüssig bezeichnet, wenn sie eine angemessene Phrasenlänge und Melodie beibehält oder als nicht flüssig, wenn
sie pausierend und dysarthrisch ist und die durchschnittliche Phrasenlänge unter vier Wörtern liegt. Außerdem sollte der Untersucher
die Integrität der Grammatik anhand der Wortabfolge (Syntax), der
Zeiten, der Suffixe, Präfixe, Pluralformen und Possessivpronomen dokumentieren. Das Sprachverständnis kann getestet werden, indem beurteilt wird, ob der Patient einer Konversation folgen kann – mittels
Entscheidungsfragen („Kann ein Hund fliegen?“ „Schneit es im Sommer?“) oder der Aufforderung, ein bestimmtes Objekt zu zeigen („Wo
ist die Lichtquelle hier im Raum?“) oder der Bitte um die verbale Definition eines Wortes. Wiederholung wird beurteilt, indem man den
Patienten bittet, einzelne Wörter zu wiederholen oder kurze Sätze
oder aneinander gereihte Wörter wie „keine Wenns, Unds oder
Abers“. Das Testen der Wiederholung mit Zungenbrechern wie „ liebe
Lilli Lehmann“ oder „lila Flanellhemd“ ermöglicht eher die Beurtei-
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Aphasien und andere umschriebene zerebrale Störungen
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TABELLE 36-1 Klinische Eigenschaften von Aphasien und damit verbundene Defizite
Wernicke
Verständnis
Wiederholung
gesprochener Sprache
Benennen
Flüssigkeit
Gestört
Gestört
Gestört
Erhalten oder verstärkt
Broca
Erhalten (außer Grammatik)
Gestört
Gestört
Vermindert
Global
Gestört
Gestört
Gestört
Vermindert
Leitungsaphasie
Erhalten
Gestört
Gestört
Erhalten
Nicht flüssig (anterior) transkortikal
Erhalten
Erhalten
Gestört
Gestört
Flüssig (posterior) transkortikal
Gestört
Erhalten
Gestört
Erhalten
Isolation
Gestört
Echolalie
Gestört
Kein planmäßiger Sprachfluss
Anomisch
Erhalten
Erhalten
Gestört
Erhalten (aber Wortfindungspausen)
Reine Worttaubheit
Nur für gesprochene Sprache gestört
Gestört
Erhalten
Erhalten
Reine Alexie
Nur für Lesen gestört
Erhalten
Erhalten
Erhalten
lung einer Dysarthrie und Palilalie als einer Aphasie. Wichtig ist, dass
die Anzahl der Wörter nicht die Aufmerksamkeitsspanne des Patienten überschreitet. Andernfalls spiegelt die reduzierte Leseleistung die
eingeengte Aufmerksamkeitsspanne wider (Arbeitsgedächtnis) und
ist damit kein Hinweis auf ein rein aphasisches Defizit. Lesen sollte
durch Beurteilen von Defiziten beim lauten Lesen und beim Verständnis beurteilt werden. Eine Alexie beschreibt die Unfähigkeit, laut zu
lesen oder einzelne Wörter und einfache Sätze zu verstehen. Der Begriff Agraphie (oder Dysgraphie) wird verwendet, um erworbene Defizite beim Buchstabieren zu beschreiben.
Aphasien können akut infolge eines Schlaganfalls oder chronisch
progredient bei neurodegenerativen Krankheiten auftreten. Die in Tabelle 36-1 aufgelisteten Syndrome passen vor allem zur erstgenannten
Gruppe mit akuten ischämischen Läsionen der grauen und weißen
Substanz. Progressive neurodegenerative Erkrankungen haben zelluläre, laminare und regionale Besonderheiten und führen zu einer anderen Form der Aphasien, die gesondert besprochen werden. Die Syndrome, die im Folgenden dargestellt sind, sind idealisiert; reine Syndrome treten selten auf.
Wernicke-Aphasie
Das Verständnis für gesprochene und geschriebene Wörter und Sätze
ist eingeschränkt. Die Sprachproduktion ist fließend und behält eine
angemessene Melodie, sie ist jedoch ausgeprägt paraphasisch und
umschreibend. Die Tendenz für paraphasische Fehler kann so deutlich ausgeprägt sein, dass sie zu Neologismen und zur „Jargon-Aphasie“ führt. Die Sprache enthält nur wenige Substantive. Die sprachliche Produktion ist exzessiv, aber wenig informativ. So versucht ein
Patient zu beschreiben, wie seine Frau zufällig etwas Wichtiges weggeworfen hatte, vielleicht sein Gebiss: „Wir brauchen es nicht mehr,
sagt sie und mit ihm, wenn das unten war, war mein Zahntick, ein …
Zahn … Zahna … Zahnarzt … und sie waren zufällig in der Tasche
… gesehen? Wo sind meine zwei … zwei kleinen Teilchen des Zahnarztes, die ich brauche … die ich … alle weg. Wenn sie das ganze
Ding wegwirft … besucht einige Freunde von ihr und sie kann sie
nicht wegwerfen.“
Gestik und Mimik verbessern die Kommunikation oft nicht. Der
Patient scheint nicht zu bemerken, dass seine Sprache unverständlich
ist und kann dadurch verärgert und ungeduldig erscheinen, wenn der
Untersucher die Bedeutung der schwer paraphasischen Aussagen
nicht entschlüsseln kann. Bei einigen Patienten kann diese Art der
Aphasie von einer schweren Agitiertheit und Paranoia begleitet sein.
Die Fähigkeit, auf die axiale Muskulatur gerichtete Aufforderungen zu
befolgen, ist erhalten. Diese Dissoziation zwischen dem Nichtverstehen einfacher Fragen einerseits („Wie heißen Sie?“) und dem korrekten Befolgen der Aufforderung, die Augen zu schließen, sich aufzusetzen oder umzudrehen andererseits, ist für die Wernicke-Aphasie charakteristisch. Dieses Merkmal hilft, sie von Taubheit, einer psychiatrischen Erkrankung oder vortäuschendem Verhalten zu unterscheiden.
Patienten mit einer Wernicke-Aphasie können ihre Gedanken sprachlich nicht zum Ausdruck bringen und sie können die Bedeutung von
Worten nicht angemessen erkennen und begreifen. Daher hat diese
Aphasie expressive und rezeptive Komponenten. Wiederholung, Benennung, Lesen und Schreiben sind ebenfalls gestört.
Die am häufigsten mit einer Wernicke-Aphasie verbundene Läsion
liegt im hinteren Teil des Sprachnetzwerkes. Ein Verschluss eines Astes der A. cerebri media, speziell im hinteren temporalen oder angulären Ast, ist hier die häufigste Ursache (Kap. 446). Weitere Ursachen
der Wernicke-Aphasie sind intrazerebrale Blutungen, schwere Schädelhirntraumen und Neoplasien. Eine begleitende rechtsseitige Hemioder obere Quadrantenanopsie ist bei Patienten mit Wernicke-Aphasie häufig. Gelegentlich findet man Hinweise auf eine leichte rechtsseitige Hemiparese mit fazialer Betonung. Darüber hinaus ist die klinische Untersuchung jedoch oft ohne weiteren auffälligen Befund.
Die paraphasische, neologistische Sprache bei einem agitierten Patienten mit sonst unauffälligem neurologischem Befund kann zu dem
Verdacht auf eine primäre psychiatrische Störung führen (z. B. Schizophrenie oder Manie), die übrigen charakteristischen Komponenten
der erworbenen Aphasie und das Fehlen einer früheren psychiatrischen Erkrankung lösen gewöhnlich dieses Problem. In den meisten
Fällen ist die Prognose für eine Wiederherstellung jedoch zurückhaltend zu stellen.
Broca-Aphasie
Die Sprache ist angestrengt, dysarthrisch, nicht flüssig und von vielen
Pausen zur Wortfindung unterbrochen. Sie ist arm an Funktionswörtern, jedoch reich an bedeutungsentsprechenden Substantiven. Eine
fehlerhafte Wortreihenfolge und die unangemessene Anwendung von
bindenden Morphemen (Wortendungen, die man zur Bezeichnung
von Zeiten, Possessivpronomen oder Pluralformen verwendet) führen
zu einem charakteristischen Agrammatismus. Die Sprache ist telegrammstilartig und begrenzt, jedoch informativ. In der folgenden
Passage beschreibt ein Patient mit einer Broca-Aphasie seine Anamnese: „Ich sehe ... der Dotor, Dotor hat mich schickt ... Bosson. Geh
zu Krankenhaus. Dotor ... halt mich im Bett. Zwei dei Tage, der Dotor
schickt mich nach Hause.“
Die Sprachproduktion kann vermindert sein bis auf Grunzen oder
einzelne Worte („ja“ oder „nein“), die mit verschiedenen Intonationen hervorgebracht werden, um den Versuch einer Bestätigung oder
Ablehnung auszudrücken. Neben Sprachfluss sind Benennen und
Wiederholung ebenfalls eingeschränkt. Das Verständnis der gesprochenen Sprache ist bis auf syntaktisch schwierige Sätze in der Passivform oder mit eingebauten Hilfssätzen intakt. Daraus folgt, dass die
Broca-Aphasie nicht nur eine expressive oder motorische Störung ist,
sondern dass sie auch ein Verständnisdefizit bei der Dekodierung der
Syntax einschließt. Patienten mit einer Broca-Aphasie können traurig
sein, leicht frustriert und tief depressiv. Die Krankheitseinsicht ist –
im Gegensatz zur Wernicke-Aphasie – meist erhalten. Selbst wenn die
Spontansprache schwer dysarthrisch ist, kann der Patient beim Singen eine relativ normale Artikulation von Wörtern zeigen. Diese Dissoziation wurde zur Entwicklung spezifischer therapeutischer Ansätze
(melodische Intonationstherapie) bei der Behandlung von Patienten
mit Broca-Aphasie verwendet. Zusätzliche neurologische Störungen
umfassen eine rechtsseitige Fazialisparese, eine Hemiparese oder Hemiplegie und eine bukkofaziale Apraxie (motorische Aufforderungen
an die oropharyngeale Muskulatur und die Gesichtsmuskulatur, wie
ein Streichholz ausblasen oder durch einen Strohhalm trinken, können nicht ausgeführt werden). Die häufigste Ursache ist ein Infarkt
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Teil 2
Leitsymptome von Krankheiten
des Broca-Gebietes (inferiore frontale Region, „B“ in Abb. 36-1) und
des umgebenden vorderen perisylvischen und insulären Kortex als
Folge eines Verschlusses des oberen Astes der A. cerebri media (Kap.
446). Raumfordernde Läsionen einschließlich Tumoren (entweder
primär oder metastasierend), intrazerebrale oder subdurale Blutungen oder Abszesse können ebenfalls zu einer Broca-Aphasie führen.
Ist die Ursache der Broca-Aphasie ein Schlaganfall, wird ein Großteil
der Verbesserung der Sprachfunktion im Allgemeinen innerhalb von
2–6 Monaten erreicht, danach ist eine weitere Besserung meist nur
gering. Die Logopädie ist erfolgreicher als bei der Wernicke-Aphasie.
Leitungsaphasie
Die Sprachproduktion ist fließend, enthält aber viele phonematische
Paraphasien. Das Verständnis der gesprochenen Sprache ist intakt,
aber das Nachsprechen führt zu phonematischen Paraphasien und
das Buchstabieren ist ebenfalls gestört. Lautes Lesen ist gestört, das
Leseverständnis ist jedoch intakt. Die Läsion spart die Funktionalität
des Broca- und Wernicke-Areals aus, trifft jedoch Assoziationsbahnen, die diese beiden Areale verbinden. Gelegentlich verursacht eine
Läsion des Wernicke-Areals eine transiente Wernicke-Aphasie, die
sich dann schnell in eine Leitungsaphasie zurückbildet. Die paraphasische Sprachproduktion bei der Leitungsaphasie interferiert mit der
Fähigkeit, Bedeutungen auszudrücken. Dieses Defizit ist aber bei weitem nicht so schwer wie das eines Patienten mit einer WernickeAphasie. Entsprechend der primären Läsion kann eine Leitungsaphasie von neurologischen Symptomen begleitet sein.
Transkortikale Aphasien: flüssige und nicht flüssige
Die klinischen Phänomene der flüssigen (posterioren) transkortikalen
Aphasie ähneln denen der Broca-Aphasie, das Nachsprechen ist jedoch intakt, und der Agrammatismus steht meist weniger stark im
Vordergrund. Der übrige neurologische Untersuchungsbefund kann
regelrecht sein, eine rechtsseitige Hemiparese ist jedoch möglich. Die
Läsion trennt das intakte Sprachnetzwerk von präfrontalen Gebieten
des Kortex. Charakteristische Läsionen liegen in der vorderen Grenzzone zwischen den Gebieten der Aa. cerebri anterior und media oder
im supplementären motorischen Kortex im Gebiet der A. cerebri anterior.
Die klinischen Eigenheiten der nicht flüssigen (anterioren) transkortikalen Aphasie sind denen der Wernicke-Aphasie ähnlich, das
Nachsprechen ist aber intakt. Die Läsion trennt das intakte Zentrum
des Sprachnetzwerkes von anderen temporoparietalen Assoziationsgebieten. Assoziierte neurologische Symptome können eine Hemianopsie einschließen. Eine flüssige transkortikale Aphasie kann bei
zerebrovaskulären Läsionen auftreten (z. B. Infarkt der hinteren
Grenzzone) oder bei Tumoren, die den temporoparietalen Kortex hinter dem Wernicke-Areal betreffen.
Globale Aphasie und Isolationsaphasie
Die globale Aphasie ist Folge einer kombinierten Störung des Brocaund des Wernicke-Areals und tritt gewöhnlich nach Schlaganfällen
auf, die das gesamte Gebiet der A. cerebri media in der linken Hemisphäre betreffen. Die Sprachproduktion ist nicht fließend und das
Verständnis gesprochener Sprache ist meist schwer beeinträchtigt.
Außerdem führt eine Läsion in dieser Region nicht selten auch zu einer rechtsseitigen Hemiparese und einer inkompletten homonymen
Hemianopsie. Die Isolationsaphasie ist eine Kombination der zwei
transkortikalen Aphasien. Das Verständnis ist schwer eingeschränkt
und es gibt keine sinnvolle Sprachproduktion. Der Patient kann Fragmente einer gehörten Konversation nachsprechen (Echolalie), was darauf hinweist, dass die neurologischen Funktionen des Nachsprechens
relativ ausgespart bleiben. Dieser Zustand spiegelt eine pathologische
Funktion des Sprachnetzwerkes wider, wenn es von anderen Regionen des Hirns abgekoppelt ist. Die Broca- und Wernicke-Areale sind
meist ausgespart, es besteht aber ein Schaden im umgebenden frontalen, parietalen und temporalen Kortex. Die Läsionen sind ungleichmäßig verteilt und können durch Anoxie, eine Kohlenmonoxidvergiftung oder komplette Grenzzoneninfarkte verursacht sein.
Anomische Aphasie
Dieser Aphasietyp könnte als das „minimale Fehlfunktionssyndrom“
des Sprachnetzwerkes gelten. Artikulation, Verständnis und Nachsprechen sind intakt, konfrontierendes Benennen, Wortfindung und
Buchstabieren sind jedoch eingeschränkt. Da Pausen zur Wortfin-
216
dung selten sind, ist die Sprachproduktion fließend, aber paraphasisch, umschreibend und nicht informativ. Der Sprachfluss kann
durch Schwierigkeiten bei der Wortfindung unterbrochen sein. Die
Läsion kann irgendwo im linkshemisphärischen Sprachnetzwerk liegen, einschließlich des mittleren und unteren Gyrus temporalis. Die
anomische Aphasie ist die häufigste Sprachstörung bei Kopftraumata,
metabolischer Enzephalopathie und Alzheimer-Krankheit.
Reine Worttaubheit
Die häufigsten Ursachen sind entweder bilateral oder linksseitig Infarkte der A. cerebri media, die den oberen Gyrus temporalis schädigen. Die Folge der zugrunde liegenden Läsion ist eine Unterbrechung
des Informationsflusses vom unimodalen auditorischen Assoziationskortex zum Sprachnetzwerk. Patienten mit diesem Syndrom haben
keine Schwierigkeiten beim Verstehen geschriebener Sprache und
können sich selbst sehr gut in gesprochener und geschriebener Sprache ausdrücken. Diese Patienten haben keine Schwierigkeiten, Umgebungsgeräusche zu interpretieren und auf sie zu reagieren, da der primäre auditorische Kortex und die auditorischen Assoziationsgebiete
der rechten Hemisphäre intakt sind. Da akustische Informationen
nicht in das Sprachnetzwerk geleitet werden, können sie nicht in neuronale Wortrepräsentationen umgewandelt werden und der Patient
reagiert auf Worte, als ob sie in einer fremden Sprache gesprochen
würden, die nicht entschlüsselt werden kann. Die Patienten können
gesprochene Sprache nicht nachsprechen, haben jedoch keine Schwierigkeiten beim selbständigen Benennen von Objekten. Mit der Zeit
bringen sich Patienten mit reiner Worttaubheit selbst Lippenlesen bei
und können so bei der oberflächlichen Untersuchung gebessert erscheinen. Zusätzliche neurologische Zeichen können fehlen; agitierte,
paranoide Reaktionen sind jedoch in der Akutphase häufig. Zerebrovaskuläre Läsionen sind die häufigsten Ursachen dieses Syndroms.
Reine Alexie ohne Agraphie
Dies ist das visuelle Äquivalent der reinen Worttaubheit. Die Läsion
(gewöhnlich eine Kombination einer Schädigung des linken okzipitalen Kortex und des hinteren Teils des Corpus callosum – des Splenium) unterbricht den Fluss des visuellen Eingangs in das Sprachnetzwerk. Es besteht gewöhnlich eine rechtsseitige untere Quadrantenanopsie, das zentrale Sprachnetzwerk bleibt jedoch unberührt. Der
Patient kann verstehen und gesprochene Sprache produzieren, im linken Gesichtsfeld Objekte benennen, nachsprechen und schreiben. Der
Patient verhält sich jedoch beim Lesen so, als ob er Analphabet wäre,
da die visuelle Information der geschriebenen Wörter (die im intakten linken Gesichtsfeld erscheinen) das Sprachnetzwerk nicht erreicht. Objekte im linken Gesichtsfeld werden unter Umständen richtig benannt, da sie nicht visuelle Assoziationen in der rechten Hemisphäre aktivieren, die über transkallosale Bahnen des Speliums erreicht werden. Patienten mit diesem Syndrom können auch die
Fähigkeit verlieren, Farben zu benennen, obwohl sie Farben identifizieren können. Dies nennt man Farbenanomie. Die häufigste Ätiologie einer reinen Alexie ist eine zerebrovaskuläre Läsion im Gebiet der
A. cerebri posterior oder eine Neoplasie im linken okzipitalen Kortex,
der die Sehstrahlung und die kreuzenden Fasern des Spleniums betrifft. Da die A. cerebri posterior ebenfalls die medialen temporalen
Teile des limbischen Systems versorgt, kann ein Patient mit einer reinen Alexie auch eine Amnesie haben, die aber gewöhnlich vorübergehend ist.
Apraxie und Aphemie
Der Begriff Apraxie bezeichnet ein komplexes motorisches Defizit,
das keiner pyramidalen, extrapyramidalen, zerebellären oder sensiblen Fehlfunktion zugeschrieben werden kann und das nicht auf fehlendem Verständnis des Patienten für die Art der Aufgabe beruht. Als
Sprachapraxie wird eine Sprachstörung mit Veränderungen der Länge, Flüssigkeit und Betonung der Silben, aus denen die Wörter bestehen, bezeichnet. Durch die Intonation der Wörter wird die Artikulation oft verbessert. Sie kann bei zerebrovaskulären Läsionen des posterioren Anteil des Broca-Areals sowie im Rahmen einer frontotemporalen Lappendegeneration (FTLD) mit Tauopathie auftreten. Eine
Aphemie ist eine schwere Form der akuten Sprachapraxie mit massiver Störung der Sprachflüssigkeit (oft Mutismus), die keiner kortikobulbären, zerebellären oder extrapyramidalmotorischen Dysfunktion
zugerechnet werden können. Diese bilden sich in der Regel über ein
Zwischenstadium heiseren Flüsterns zurück. Schreiben, Lesen und
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Aphasien und andere umschriebene zerebrale Störungen
Verständnis sind intakt, sodass dies kein echtes aphasisches Syndrom
ist. Zerebrovaskuläre Ereignisse im Broca-Gebiet oder subkortikale
Läsionen, die dessen Verbindung mit anderen Teilen des Gehirns unterbrechen, können vorhanden sein. Gelegentlich liegt die Läsion im
medialen Teil der Frontallappen und kann den supplementären motorischen Kortex der linken Hemisphäre einschließen. Eine ideomotorische Apraxie wird diagnostiziert, wenn Aufforderungen zu bestimmten motorischen Handlungen („Huste!“; „Blas’ ein Streichholz aus!“)
oder zur Verwendung eines gewöhnlichen Werkzeuges (Kamm, Hammer, Strohhalm oder Zahnbürste) in Abwesenheit des realen Objektes
nicht befolgt werden können. Die Fähigkeit des Patienten, die Aufgabe zu verstehen, wird festgestellt, indem man verschiedene Bewegungen zeigt und der Patient versucht, diese zu erkennen. Einige Patienten mit dieser Apraxie können entsprechende Bewegungen imitieren (wenn sie durch den Untersucher demonstriert werden) und zeigen keine Einschränkung, wenn ihnen das reale Objekt gegeben wird,
was darauf hinweist, dass die sensomotorischen Mechanismen intakt
sind, die für die Bewegung notwendig sind. Einige Formen der ideomotorischen Apraxie stellen eine Unterbrechung des Sprachnetzwerkes vom pyramidalen motorischen System dar: Aufforderungen, komplexe Bewegungen auszuführen, werden verstanden, können aber
nicht zu den entsprechenden motorischen Gebieten geleitet werden.
Eine bukkofaziale Apraxie betrifft apraktische Defizite bei Bewegungen des Gesichts und des Mundes. Eine Gliedmaßenapraxie umfasst
apraktische Defizite bei Bewegung des Armes und des Beines. Eine
ideomotorische Apraxie ist fast immer durch Läsionen in der linken
Hemisphäre verursacht und gewöhnlich mit aphasischen Syndromen
verbunden, besonders mit einer Broca-Aphasie oder einer Leitungsaphasie. Da die Handhabung von realen Objekten nicht eingeschränkt
ist, verursacht eine ideomotorische Apraxie selbst keine wesentliche
Einschränkung der Aktivitäten des täglichen Lebens. Patienten mit
Läsionen des vorderen Corpus callosum können einen speziellen Typ
einer ideomotorischen Apraxie zeigen, der auf die linke Seite des Körpers beschränkt ist. Dies wird als sympathische Apraxie bezeichnet.
Bei einer schweren Form, die als Alien-Hand-Syndrom bekannt ist,
kommt es zusätzlich zu einer motorischen Enthemmung der linken
Hand. Die ideatorische Apraxie bezieht sich auf ein Defizit bei der
Ausführung zielgerichteter Bewegungsfolgen bei Patienten, die keine
Schwierigkeiten haben, die individuellen Komponenten dieser Sequenz auszuführen. Wenn sie zum Beispiel gebeten werden, einen
Füller aufzuheben und zu schreiben, so kann die Abfolge, die Hülle
vom Füller zu nehmen, die Hülle am entgegengesetzten Ende aufzusetzen, die Feder zur Schreibfläche zu richten und zu schreiben, unterbrochen sein. Der Patient versucht mit dem falschen Ende des Füllers zu schreiben oder sogar mit der entfernten Hülle. Diese Probleme
bei motorischen Sequenzen werden gewöhnlich im Zusammenhang
mit Verwirrtheitszuständen und Demenzen und weniger bei fokalen
Läsionen mit aphasischen Zuständen gesehen. Eine Gliedmaßenbewegungs-Apraxie betrifft eine Unbeholfenheit des tatsächlichen Gebrauchs von Werkzeugen, die keiner sensiblen, pyramidalen, extrapyramidalen oder Kleinhirnfunktion zuzuschreiben ist. Dieser Zustand
kann im Zusammenhang mit fokalen Läsionen des prämotorischen
Kortex oder bei der kortikobasalen Degeneration auftreten. Die motorische Beeinträchtigung einer Extremität bei der kortikobasalen Degeneration ist eine Kombination aus einer dystonen und einer dyspraktischen Störung. Es fällt den Patienten schwer, dies zu beschreiben, sie
verwenden dann meist Umschreibungen wie „es ist, wie wenn der
Arm nicht zu mir gehören würde“ oder „die Hand ist mir fremd“
(Alien-Hand-Syndrom, siehe oben).
Gerstmann-Syndrom
Die Kombination aus Akalkulie (Beeinträchtigung beim einfachen
Rechnen), Dysgraphie (eingeschränktes Schreiben), Fingeranomie (die
Unfähigkeit, einzelne Finger wie Zeigefinger oder Daumen zu benennen) und Rechts-Links-Verwechslung (die Unfähigkeit, zu sagen, ob
die Hand, der Fuß oder Arm des Patienten oder Untersuchers auf der
rechten oder linken Seite des Körpers ist) wird als Gerstmann-Syndrom bezeichnet. Die Diagnose kann nur dann gestellt werden, wenn
die Defizite in Bezug auf die Finger und die Rechts-Links-Benennung
nicht Teil einer größeren Anomie sind und wenn der Patient nicht
anderweitig aphasisch ist. Tritt akut ein isoliertes Gerstmann-Syndrom auf, so ist es gewöhnlich mit einer Läsion des Lobulus parietalis
inferior (besonders des Gyrus angularis) der linken Hemisphäre assoziiert.
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Pragmatik und Prosodie
Als Pragmatik werden die Aspekte der Sprache bezeichnet, die Einstellungen, Affekt und eher die symbolischen als die wörtlichen Anteile der Botschaft übermitteln (z. B. meint „grüner Daumen“ nicht
die Farbe des Fingers). Eine Komponente der Pragmatik, die Prosodie, bezeichnet Variationen der Sprachmelodik und Intonation,
welche die Beurteilung und den deduktiven Aspekt der verbalen Botschaft transportieren. So enthalten die zwei Aussagen: „Er ist klug.“
und „Er ist klug?“ eine identische Wortwahl und Syntax, überbringen
jedoch abhängig von der Intonation sehr verschiedene Mitteilungen.
Eine Schädigung der perisylvischen Gebiete in der rechten Hemisphäre kann die sprachliche Prosodie beeinträchtigen. Der Patient produziert grammatikalisch korrekte Sprache mit akkurater Wortwahl,
die Aussagen werden aber monoton herausgebracht – die beabsichtigte Wichtigkeit und die Gefühlslage werden nicht übermittelt. Patienten mit diesem Typ der Aprosodie erwecken den nicht zutreffenden
Eindruck, depressiv oder gleichgültig zu sein. Bei Läsionen der rechten Hemisphäre oder der Frontallappen werden weitere Aspekte der
Pragmatik, insbesondere die Fähigkeit zur Ableitung der symbolischen Aspekte einer Nachricht, eingeschränkt.
Subkortikale Aphasie
Eine Schädigung der subkortikalen Komponenten des Sprachnetzwerkes (z. B. Striatum und Thalamus der linken Hemisphäre) können
ebenfalls zu einer Aphasie führen. Die sich daraus ergebenden Syndrome enthalten Kombinationen von Defiziten verschiedener Komponenten der Sprache, passen aber selten auf die spezifischen Muster,
die in Tabelle 36-1 beschrieben sind. Bei einem Patienten mit einem
Schlaganfall und einer anomischen Aphasie, die von einer Dysarthrie
oder einer flüssigen Aphasie mit Hemiparese begleitet ist, sollte sich
der Verdacht auf eine subkortikale Läsionsstelle richten.
Progressive Aphasien
Aphasien infolge einer großen zerebralen Ischämie treten plötzlich
und mit maximaler Ausprägung zu Beginn der Erkrankung auf. Dies
sind die oben beschriebenen „klassischen Aphasien“. Aphasien durch
neurodegenerative Erkrankungen beginnen langsam und schreiten
langsam fort. Die Neuropathologie kann selektiv nur die graue Substanz oder nur bestimmte Kortexschichten und Zelltypen betreffen.
Die klinisch-anatomischen Korrelationen unterscheiden sich von den
in Tabelle 36-1 beschriebenen.
Klinisches Bild und Diagnostik der primär progressiven Aphasie (PPA)
Mehrere neurodegenerative Syndrome, wie die typischen Demenzen
vom Alzheimer-Typ (amnestisch) und vom frontalen Typ (behavioral) können in ihrem Verlauf die Sprache beeinträchtigen. In diesen
Fällen ist die Aphasie Teil des Gesamtsyndroms. Sofern eine neurodegenerative Sprachstörung relativ isoliert auftritt und so im Vordergrund steht, dass sie den Patienten zum Aufsuchen eines Arztes veranlasst, wird eine primär progressive Aphasie diagnostiziert.
Sprache bei der PPA Die Sprachstörungen bei der PPA unterscheiden sich von denjenigen der Aphasien durch zerebrovaskuläre Läsionen. Es gibt drei Hauptformen der PPA. Die agrammatikalische Variante ist durch einen grundsätzlich langsamen Sprachfluss und eine
gestörte Grammatik bei intaktem Wortverständnis gekennzeichnet.
Sie ähnelt vor allem der Broca-Aphasie und der anterioren transkortikalen Aphasie; es fehlt aber die rechtsseitige Hemiparese oder Dysarthrie, und die Grammatik ist stärker gestört. Der Neuronenuntergang (Atrophie der grauen Substanz) betrifft vor allem den linken
Gyrus frontalis inferior, an dem das Broca-Areal liegt. Die Neuropathologie ist in der Regel eine FTLD mit Tauopathie, möglich ist
aber auch eine atypische Form der Demenz vom Alzheimer-Typ. Bei
der semantischen Variante sind Sprachfluss und Syntax erhalten,
während das Einzelwortverständnis eingeschränkt ist und eine ausgeprägte Benennstörung besteht. Diese Form der Aphasie gibt es bei
zerebrovaskulären Läsionen nicht. Sie unterscheidet sich von der
Wernicke-Aphasie und der posterioren transkortikalen Aphasie dadurch, dass die Sprache in der Regel informativ ist, das Nachsprechen
intakt und das Verständnis von Gesprächen relativ erhalten ist, solange die Bedeutung nicht zu stark von den Wörtern abhängt, die der
Patient nicht versteht. Die Atrophie betrifft vor allem den linken anterioren Temporallappen, was zeigt, dass dieser Teil des Gehirns für
das Wortverständnis insbesondere von Objektbezeichnungen wichtig
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Teil 2
Leitsymptome von Krankheiten
ist. Neuropathologisch besteht oft eine FTLD mit anormalen Ablagerungen des transaktiven 43-kDa-Response-DNS-Bindungsproteins
TDP-43. Die logopenische Variante geht mit intakter Syntax und
Sprachverständnis sowie mit häufigen und schweren Pausen zur
Wortfindung, Anomie, Umschreibungen und Vereinfachungen während der Spontansprache einher. Die Atrophie betrifft vor allem den
temporoparietalen Übergang und den posterioren Temporallappen
und überschneidet sich partiell mit der traditionellen Lokalisation des
Wernicke-Areals. Allerdings ist das Sprachverständnis im Gegensatz
zur Wernicke-Aphasie erhalten, vermutlich weil die dafür zuständige
weiße Substanz, die oft durch zerebrovaskuläre Läsionen geschädigt
wird, bei der PPA relativ intakt bleibt. Im Gegensatz zur Broca-Aphasie oder agrammatikalischen PPA wird der Sprachfluss unterschiedlich lange unterbrochen, sodass die Sprache vollkommen normal imponieren kann, wenn der Patient „Small Talk“ betreibt. Die logopenische PPA ähnelt den anomischen Aphasien in Tabelle 36-1, geht
aber meistens mit längeren und häufigeren Wortfindungspausen einher. Oft können die Patienten Phrasen und Wörter nicht gut wiederholen, sodass die Aphasie der Leitungsaphasie in Tabelle 36-1 ähnelt.
Von allen Subtypen der PPA ist diese Form am häufigsten mit einer
Demenz vom Alzheimer-Typ vergesellschaftet. Auch eine FTLD ist
als Ursache möglich. Neben diesen drei Hauptformen kann sich die
PPA auch als reine Worttaubheit oder als Gerstmann-Syndrom manifestieren.
DAS PARIETOFRONTALE NETZWERK ZUR RÄUMLICHEN ORIENTIERUNG:
NEGLECT UND ÄHNLICHE STÖRUNGEN
Die Wahrnehmung und Verarbeitung relevanter Ereignisse im extrapersonalen Raum werden von einem ausgedehnten Netzwerk vermittelt, das aus drei kortikalen Regionen besteht. Der zinguläre Kortex
ermöglicht Zugang zu einer limbisch-motivierten Einordnung des extrapersonalen Raums, der hintere parietale Kortex zu einer sensibel
repräsentierten Einordnung und die frontalen Augenfelder im Frontallappen zu einer motorisch erforschenden Einordnung (Abb. 36-2).
Die subkortikalen Komponenten dieses Netzwerkes schließen das
Striatum und den Thalamus ein. Die Schädigung dieses Netzwerks
kann die Aufmerksamkeit im extrapersonellen Raum stören, sodass
ein Hemineglect, eine Simultanagnosie und Fehler bei der Objektfindung auftreten. Auch die Integration der egozentrischen (selbstzentrierten) und allozentrischen (objektzentrierten) Koordinaten kann
gestört sein, sodass die räumliche Orientierung, die Fähigkeit zum
Umgehen von Hindernissen und die Fähigkeit zum Ankleiden gestört
sind.
& HEMINEGLECT
Ein Hemineglect kontralateral zur Läsion ist das Ergebnis einer Schädigung der kortikalen oder subkortikalen Komponenten dieses Netzwerkes. Die verbreitete Auffassung, dass ein halbseitiger Neglect immer
auf eine Parietallappenläsion hinweist, ist falsch. Die neuronale Organisation der räumlichen Orientierung zeigt eine rechtshemisphärische
Dominanz. Die rechte Hemisphäre lenkt die Aufmerksamkeit auf den
gesamten extrapersonalen Raum, wohingegen die linke Hemisphäre
die Aufmerksamkeit nur auf den kontralateralen rechten Halbraum
lenkt. Linkshemisphärische Läsionen verursachen kaum einen kontralateralen Neglect, da der bilaterale Aufmerksamkeitsmechanismus
der rechten Hemisphäre die linkshemisphärisch verursachte Aufmerksamkeitsstörung im rechten Halbraum kompensieren kann.
Rechtshemisphärische Läsionen verursachen jedoch einen deutlichen
kontralateralen linksseitigen hemispatialen Neglect, da die nicht betroffene linke Hemisphäre keine gleichseitigen Aufmerksamkeitsmechanismen enthält. Ein kontralateraler Neglect ist konsequenterweise häufiger, schwerer und andauernder nach Schädigung der rechten Hemisphäre als nach Schädigung der linken. Ein schwerer Neglect
für den rechten Halbraum ist selten, selbst bei Linkshändern mit
linkshemisphärischen Läsionen.
Klinisches Bild
Patienten mit einem schweren Neglect haben Schwierigkeiten beim
Ankleiden, Rasieren und Reinigen der linken Körperhälfte. Sie lassen
unter Umständen beim Essen den Inhalt der linken Tellerseite liegen
und haben Schwierigkeiten beim Lesen der linken Hälfte eines Satzes.
Wird der Patient gebeten, ein einfaches Strichbild zu kopieren, kann
er Details auf der linken Seite nicht kopieren. Wird er gebeten zu
schreiben, besteht die Tendenz zu einem ungewöhnlich breiten Rand
218
Abbildung 36-2 Funktionelle MRT-Darstellung der Sprache und der räumlichen
Aufmerksamkeit bei einem neurologisch unauffälligen Probanden. Die roten und
schwarzen Areale sind Gebiete mit aufgabenspezifischer signifikanter Aktivierung (oben).
Die Probanden wurden gefragt, ob zwei Wörter synonym sind. Die sprachliche Aufgabe
führte zu gleichzeitiger Aktivierung der beiden Epizentren des Netzwerkes für die Sprache,
Broca-Gebiet (B) und Wernicke-Gebiet (W). Aktivierungen traten ausschließlich in der linken Hemisphäre auf (unten). Die Probanden wurden gebeten, ihre räumliche Aufmerksamkeit einem peripheren Ziel zuzuwenden. Diese Aufgabe führte zu gleichzeitiger Aktivierung der drei Epizentren des Netzwerkes für die Aufmerksamkeit, dem hinteren parietalen Kortex (P), dem frontalen Augenfeld (F) und dem Gyrus cinguli (CG). Die Aktivierungen traten überwiegend in der rechten Hemisphäre auf. (Mit frdl. Genehmigung von
Darren Gitelman, MD.)
auf der linken Seite. Tests zur Beurteilung eines Neglects, die am
Krankenbett durchgeführt werden können, sind die simultane bilaterale Stimulation und der Durchstreichtest. Für Erstere gibt der Untersucher entweder einseitige oder gleichzeitig bilaterale Stimulationen
in visuellen, auditorischen und taktilen Modalitäten. Nach rechtshemisphärischem Schaden haben Patienten, die keine Schwierigkeiten
beim Erkennen einseitiger Stimuli auf jeder Seite haben, bei beidseitig
präsentierten Stimuli das Gefühl, sie erscheinen nur auf der rechten
Seite. Dieses Phänomen ist als Extinktion bekannt und ist die Manifestation der sensibel repräsentierenden Anteile des Hemineglects. Bei
der Zielentdeckungsaufgabe werden Ziele (z. B. der Buchstabe „A“)
mit Distraktoren (z. B. andere Buchstaben des Alphabets) auf einem
21,5 × 28 cm großen Blatt Papier gemischt und man bittet den Patienten, alle Zielobjekte einzukreisen. Werden Zielobjekte auf der linken Seite nicht entdeckt, ist dies ein Ausdruck des exploratorischen
(motorischen) Defizits im halbseitigen Neglect (Abb. 36-3A). Eine
Hemianopsie allein führt in der Regel nicht zu einer Beeinträchtigung
bei Zielentdeckung, da diese Patienten durch Kopf- oder Augenbewegungen kompensieren. Ein pathologischer Befund bei dieser Aufgabe
spricht also für eine Beeinträchtigung der räumlichen Wahrnehmung
und nicht ausschließlich der sensorischen Afferenzen. Einige Patienten mit einem Neglect erkennen auch nicht das Vorliegen der eigenen
Hemiparese oder Hemihypästhesie und bestreiten unter Umständen,
dass eine gelähmte Extremität Teil ihres Körpers sei. Diesen Zustand
bezeichnet man als Anosognosie.
& BÁLINT-SYNDROM, SIMULTANAGNOSIE, ANKLEIDEAPRAXIE UND
KONSTRUKTIVE APRAXIE
Beidseitige Schädigung des Netzwerkes für die räumliche Orientierung, besonders seiner parietalen Komponenten, führt zu einer
schweren räumlichen Desorientiertheit, die als Bálint-Syndrom bekannt ist. Das Bálint-Syndrom beinhaltet Defizite in der normalen visuomotorischen Exploration der Umgebung (okulomotorische Apraxie), beim genauen manuellen Greifen eines visuellen Ziels (optische
Ataxie) und bei der Integration visueller Informationen im Zentrum
der Aufmerksamkeit mit weiter peripher gelegenen Informationen
(Simultanagnosie). Der Patient bleibt an dem Detail haften, das sich
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Aphasien und andere umschriebene zerebrale Störungen
36
A
B
Abbildung 36-3 A. Ein 47-jähriger Mann mit großer frontoparietaler Schädigung der rechten Hemisphäre wurde gebeten, alle As einzukreisen. Es wurden nur Ziele auf der rechten
Seite eingekreist. Dies ist Ausdruck eines Neglects für den linken Halbraum. B. Eine 70 Jahre alte Frau mit zweijähriger Anamnese einer degenerativen Demenz entdeckte fast alle
kleinen Zielobjekte (As), ignorierte jedoch die großen. Dies ist Ausdruck einer Simultanagnosie.
im Zentrum der Aufmerksamkeit befindet, ohne zu versuchen, die visuelle Umgebung nach zusätzlichen Informationen abzutasten. Der
Patient mit einer Simultanagnosie sieht „den Wald vor lauter Bäumen
nicht“. So wird ein Patient, dem eine Tischlampe gezeigt wird, bei der
Frage nach dem Namen des Objektes auf den runden Fuß der Lampe
blicken und in ihm z. B. einen Aschenbecher sehen. Einige Patienten
mit einer Simultanagnosie berichten, dass Objekte, die sie betrachten,
plötzlich verschwinden können, was wahrscheinlich auf der Unfähigkeit beruht, nach einer kurzen sakkadierten Wegbewegung auf den
ursprünglichen Blickpunkt zurückzusehen. Bewegung und ablenkende Stimuli erschweren die visuelle Erkennung erheblich. Eine Simultanagnosie kann gelegentlich ohne die zwei anderen Komponenten
des Bálint-Syndroms auftreten.
Eine Abwandlung des oben beschriebenen Buchstaben-Durchstreichtests kann zur Diagnose der Simultanagnosie am Bett verwendet werden. Bei dieser Abwandlung werden einige der Zielobjekte
(z. B. der Buchstabe „A“) sehr viel größer als die anderen gemalt
(7,5–10 cm gegenüber 2,5 cm) und alle Zielobjekte werden zwischen
Störreizen eingebettet. Patienten mit einer Simultanagnosie haben
entgegen der allgemeinen Erwartung die charakteristische Tendenz,
die großen Zielobjekte auszulassen (Abb. 36-3B). Dies tritt auf, da
die für die Identifizierung der großen Zielobjekte benötigte Informati-
on nicht auf die foveale Region beschränkt ist und die Integration visueller Informationen von vielen Fixierungspunkten verlangt. Die erheblichen Schwierigkeiten bei der Entdeckung großer Zielobjekte weisen auch darauf hin, dass nicht Sehschwäche für die Beeinträchtigung
der visuellen Funktionen verantwortlich ist und das Problem zentral
und nicht peripher liegt. Der in Abbildung 36-3B gezeigte Test reicht
allein für die Diagnose einer Simultanagnosie nicht aus, weil manche
Patienten mit einem frontalen Netzwerksyndrom die großen Buchstaben weglassen. Vermutlich fehlt ihnen die Reflektionsfähigkeit zu realisieren, dass die beiden Ziele identisch sind, obwohl sie sich oberflächlich unterscheiden.
Bilaterale parietale Läsionen können die Integration der egozentrischen und allozentrischen Raumkoordinaten stören. Eine Manifestation ist die Ankleideapraxie. Ein Patient mit dieser Störung ist nicht in
der Lage, die Körperachse mit der Symmetrie der Kleidung in Einklang zu bringen. Man kann beobachten, wie er einen Mantel am unteren Ende hält oder seinen Arm in eine Falte der Kleidung und nicht
in den Ärmel ausstreckt. Läsionen im hinteren parietalen Kortex führen auch zu großen Schwierigkeiten beim Abmalen einfacher Strichzeichnungen. Dies wird als konstruktive Apraxie bezeichnet und ist
besonders ausgeprägt bei Läsionen der rechten Hemisphäre. Bei einigen Patienten mit rechtshemisphärischer Schädigung sind die Zei-
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Teil 2
Leitsymptome von Krankheiten
chenschwierigkeiten auf die linke Seite der Zeichnung beschränkt und
Ausdruck eines halbseitigen Neglects. Bei anderen besteht ein umfassenderes Defizit beim Reproduzieren von Umrissen und einer dreidimensionalen Perspektive. Zu dieser Gruppe gehören auch die Störungen der räumlichen Orientierung, welche die Unfähigkeit widerspiegeln, sich anhand externer Objekte und Orientierungspunkte zu orientieren.
Ursachen für Störungen der räumlichen Orientierung
Zerebrovaskuläre Läsionen und Neoplasien in der rechten Hemisphäre sind die häufigsten Ursachen eines halbseitigen Neglects. In Abhängigkeit von der Läsion kann ein Patient mit Neglect auch eine Hemiparese, eine Hemihypästhesie und eine linksseitige Hemianopsie
haben, diese Befunde können jedoch unterschiedlich stark ausgeprägt
sein. Bei der Mehrzahl der Patienten bessert sich der Hemineglect in
den ersten Wochen. Das Bálint-Syndrom, die Ankleideapraxie und
Störungen der räumlichen Orientierung entstehen eher bei bilateralen
dorsoparietalen Läsionen. Häufige Ursachen für einen akuten Beginn
sind Grenzzoneninfarkte zwischen den Gebieten der Aa. cerebri media und posterior, eine Hypoglykämie oder eine Thrombose des Sinus
sagitalis.
Eine progrediente Form einer Störung der räumlichen Orientierung, die posteriore kortikale Atrophie, stellt meist eine Variante der
Alzheimer-Krankheit dar, bei der es zu einer ungewöhnlich stark ausgeprägten neurofibrillären Degeneration im parietookzipitalen Kortex
und dem Colliculus superior kommt. Die Patienten weisen einen progredienten Hemineglect oder ein Bálint-Syndrom auf, die meist von
einer Apraxie beim Ankleiden und beim Aufbau von Objekten begleitet sind. Auch das kortikobasale Syndrom, das durch eine Demenz
vom Alzheimer-Typ oder eine frontotemporale Demenz entstehen
kann, geht oft mit einem progredienten linksseitigen Hemineglect
einher. Beide Syndrome können die räumliche Orientierung beeinträchtigen.
DAS OKZIPITOTEMPORALE NETZWERK ZUR GESICHTS- UND OBJEKTERKENNUNG
Der Patient mit Prosopagnosie kann bekannte Gesichter nicht erkennen – gelegentlich einschließlich seines eigenen Spiegelbildes. Es handelt sich nicht um ein Defizit basaler Wahrnehmungsfähigkeiten, da
prosopagnostische Patienten leicht sagen können, ob zwei Gesichter
identisch sind oder nicht. Außerdem können prosopagnostische Patienten, die ihnen bekannte Gesichter visuell nicht erkennen, auditorische Signale verwenden, um die Person anhand ihrer Stimme zu erkennen. Das Defizit bei der Prosopagnosie ist daher modalitätsspezifisch und spiegelt das Vorliegen einer Läsion wider, die die Aktivierung eines sonst intakten multimodalen Musters durch visuellen
Input verhindert. Prosopagnostische Patienten haben charakteristischerweise keine Schwierigkeiten mit der generischen Identifizierung
von Gesichtern als Gesicht oder von Autos als Auto, sie können jedoch nicht die Identität eines individuellen Gesichtes oder eines individuellen Autos erkennen. Dies spiegelt ein visuelles Defizit bei der
Erkennung spezieller Eigenheiten wider, die individuelle Bestandteile
einer Objektklasse charakterisieren. Wird das Erkennungsproblem
generalisierter und breitet sich auf die generische Identifizierung allgemeiner Objekte aus, so wird dieser Zustand als visuelle Objektagnosie bezeichnet. Der Patient mit einer Anomie kann Objekte nicht
benennen, kann aber ihre Verwendung beschreiben. Im Gegensatz
dazu kann ein Patient mit einer visuellen Agnosie visuell gezeigte Objekte weder benennen noch ihre Verwendung beschreiben. Störungen
der Gesichts- und Objekterkennung können auch durch eine Simultanagnosie beim Bálint-Syndrom entstehen. In diesem Fall spricht
man von einer apperzeptiven Agnosie, im Gegensatz zur assoziativen
Agnosie bei Läsionen des inferioren Temporallappens.
& URSACHEN
Die charakteristischen Läsionen bei akuter Prosopagnosie und visueller Objektagnosie sind bilaterale Infarkte im Gebiet der Aa. cerebri
posteriores. Assoziierte Defizite können Gesichtsfelddefekte sein (besonders obere Quadrantenanopsie) oder eine zentral betonte Farbblindheit, die als Achromatopsie bezeichnet wird. Selten handelt es
sich um eine einseitige Läsion. In solchen Fällen ist eine Prosopagnosie mit Läsionen in der rechten Hemisphäre und eine Objektagnosie
mit Läsionen in der linken Hemisphäre verbunden. Degenerative Erkrankungen des anterioren und inferioren temporalen Kortex können
220
eine progrediente assoziative Prosopagnosie und Objektagnosie verursachen. Die Kombination aus progredienter assoziativer Agnosie
und Aphasie mit Störung des Sprachflusses wird als semantische Demenz bezeichnet. Patienten mit semantischer Demenz können Gesichter und Objekte nicht erkennen und die Bedeutung von Begriffen
nicht erfassen. Dies muss von der semantischen Variante der PPA abgegrenzt werden, bei der das Verständnis von Wörtern, die Objekte
bezeichnen, ebenso stark gestört ist wie das Benennen von Gesichtern
und Objekten, während die Erkennung von Gesichtern und Objekten
relativ erhalten ist.
DAS LIMBISCHE NETZWERK FÜR DAS GEDÄCHTNIS: AMNESIEN
Die limbischen und paralimbischen Gebiete (Hippokampus, Amygdala, entorhinaler Kortex), der vordere und mittlere Thalamuskern,
der mittlere und basale Anteil des Striatums und der Hypothalamus
stellen zusammen das verzweigte Netzwerk des limbischen Systems
dar. Dieses Netzwerk koordiniert Emotion, Motivation, autonomen
Tonus und endokrine Funktionen. Eine zusätzliche Spezialisierung
des limbischen Netzwerks mit größter Relevanz für die klinische Praxis ist das bestimmende (bewusste) Gedächtnis für kürzliche Ereignisse und Erfahrungen. Eine Schädigung dieser Komponenten des limbischen Netzwerkes bewirkt einen amnestischen Zustand. Sind Motivation, Aufmerksamkeit, Sprache oder visuospatiale Funktion erhalten,
so ist die Diagnose eines andauernden globalen amnestischen Zustandes immer mit bilateralen Läsionen im limbischen Netzwerk verbunden, in der Regel im hippokampoentorhinalen Komplex oder Thalamus. Eine Schädigung des limbischen Netzwerkes zerstört nicht notwendigerweise Erinnerungen, beeinträchtigt aber ihren bewussten
Abruf in zusammenhängender Form. Die einzelnen Fragmente einer
Information bleiben trotz einer limbischen Läsion erhalten, was als
implizites Gedächtnis bezeichnet wird. So können Patienten mit einer
Amnesie neue motorische oder wahrnehmende Fähigkeiten erwerben, obwohl sie selbst kein bewusstes Wissen haben, wie sie dazu gekommen sind.
Die Gedächtnisstörung bei der Amnesie ist multimodal und hat eine retro- und anterograde Komponente. Die retrograde Amnesie betrifft die Unfähigkeit, sich an Erfahrungen zu erinnern, die sich vor
Auftreten des amnestischen Zustandes ereignet haben. Relativ aktuelle Ereignisse sind mehr von der retrograden Amnesie betroffen als
weiter zurückliegende und besser verankerte Ereignisse. Ein Patient,
der zur Notaufnahme kommt und beklagt, dass er sich nicht an seine
Identität, wohl aber an Ereignisse des Tages erinnern kann, leidet fast
sicher nicht an einer neurologischen Ursache der Gedächtnisstörung.
Die zweite und wichtigste Komponente des amnestischen Zustandes
ist die anterograde Amnesie, nämlich die Unfähigkeit, neues Wissen
zu speichern, zu erhalten und abzurufen. Patienten mit einem amnestischen Zustand sind vollkommen wach und motiviert, können sich
aber nicht erinnern, was sie einige Minuten zuvor gegessen haben
oder an Details eines wichtigen Ereignisses, das sie einige Stunden zuvor erlebt haben. Im akuten Stadium kann die Tendenz bestehen, Erinnerungslücken mit falschen, erfundenen und oft unpassenden Informationen zu füllen. Dies wird als Konfabulation bezeichnet. Patienten mit amnestischen Syndromen vergessen, dass sie vergessen
und neigen dazu, die Existenz eines Gedächtnisproblems zu verleugnen, wenn sie danach gefragt werden. Konfabulationen sind häufiger,
wenn die auslösenden Läsionen auch Teile des frontalen Netzwerks
betreffen, wie es beim Wernicke-Korsakoff-Syndrom und traumatischen Hirnschäden der Fall ist.
& KLINISCHES BILD
Patienten mit neurodegenerativen Erkrankungen zeigen oft eine
Frühphase ihrer Erkrankung, bezeichnet als milde kognitive Beeinträchtigung (MCI = Mild Cognitive Impairment), welche in formalen
kognitiven Tests kognitive Beschwerden oder Defizite ohne funktionale Einschränkungen aufweist. Es ist allgemein bekannt, dass sich bei
der Autopsie von MCI-Patienten typischerweise pathologische Veränderungen der Alzheimer-Erkrankung oder anderer Demenz-Erkrankungen zeigen.
Ein Patient mit Amnesie ist fast immer zumindest in Teilen desorientiert, besonders zeitlich, und kennt die aktuellen Nachrichten nicht.
Die anterograde Komponente eines amnestischen Zustandes kann
mithilfe einer Liste von vier oder fünf Wörtern getestet werden, die
vom Untersucher bis zu fünfmal laut vorgelesen wird oder bis der Patient die gesamte Liste ohne Verzögerung aufsagen kann. Die nächste
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Aphasien und andere umschriebene zerebrale Störungen
Phase des Testens betrifft eine Erinnerungsperiode von 5–10 Minuten, während der der Patient mit anderen Aufgaben beschäftigt wird.
Amnestische Patienten versagen in dieser Phase der Aufgabe und
können sogar vergessen, dass ihnen eine Wortliste zum Merken gegeben worden ist. Wenn ein Patient die Wörter nicht erinnern, sie jedoch durch Multiple-Choice-Abfrage erkennen kann, liegt ein geringerer Grad einer Gedächtnisstörung vor, der überwiegend die Abrufebene betrifft. Die retrograde Komponente einer Amnesie kann durch
Fragen zur Biografie oder nach historischen Ereignissen eingeschätzt
werden. Der anterograde Anteil einer Amnesie ist meist viel deutlicher ausgeprägt als der retrograde. Nur selten, meist bei Temporallappenepilepsie oder Herpes-simplex-Enzephalopathie, kann die retrograde Komponente dominieren. Verwirrtheitszustände bei toxischmetabolischen Enzephalopathien und bei bestimmten Frontalhirnschäden führen sogar bei fehlender Schädigung des limbischen Systems zu sekundären Gedächtnisstörungen insbesondere des Kodierens und Abrufens. Diese Form der Gedächtnisstörung kann von einem amnestischen Zustand durch den Nachweis zusätzlicher Fehler
bei den Aufmerksamkeitstests differenziert werden, die weiter unten
im Abschnitt über das Frontalhirn beschrieben werden.
& URSACHEN, EINSCHLIEßLICH ALZHEIMER-KRANKHEIT
Zu den neurologischen Erkrankungen, die einen amnestischen Zustand hervorrufen können, gehören Tumoren (des Os sphenoidale,
des hinteren Corpus callosum, des Thalamus oder des mittleren Temporallappens), Infarkte (in den Gebieten der Aa. cerebri anteriores
und posteriores), Schädelhirntraumen, Herpes-simplex-Enzephalitis,
Wernicke-Korsakow-Enzephalopathie, paraneoplastische limbische
Enzephalitis und degenerative Demenzen wie Alzheimer-Krankheit
und Pick-Krankheit. Diesen Erkrankungen ist gemeinsam, dass sie zu
einer bilateralen Beeinträchtigung eines oder mehrerer Komponenten
des limbischen Netzwerkes führen. Gelegentlich kann eine einseitige
linksseitige Läsion des Hippokampus eine Amnesie hervorrufen, die
Gedächtnisstörung ist dann jedoch meist vorübergehend. In Abhängigkeit von der Art und dem Verteilungsmuster der zugrunde liegenden neurologischen Erkrankung können die Patienten zudem auch
Gesichtsfelddefekte, Augenbewegungsstörungen oder zerebelläre
Symptome haben. Die Alzheimer-Krankheit und ihre Vorstadien mit
leichter kognitiver Beeinträchtigung sind die häufigste Ursache einer
zunehmenden Gedächtnisschwäche. Zu den Frühmanifestationen
zählen eine Störung der zeitlichen Orientierung und eine schlechte
Erinnerung an kurz zurückliegende Gespräche. Die Prädilektion der
Erkrankung für eine Degeneration von Neurofibrillen im entorhinalen Kortex und Hippokampus ist für die selektive Störung des episodischen Gedächtnisses verantwortlich. Mit der Zeit entwickelt sich
durch die Ausbreitung der neurofibrillären Degeneration auf andere
neokortikale Areale eine vollständige Amnesie, die zusätzlich mit einer Störung des Sprachverständnisses und der zeitlich-räumlichen
Orientierung einhergeht.
Eine transiente globale Amnesie (TGA) ist ein charakteristisches
Syndrom, das gewöhnlich im späten mittleren Erwachsenenalter vorkommt. Die Patienten werden akut verwirrt, fragen wiederholt, wer
sie sind, wo sie sind, was sie gerade tun. Die Episode ist gekennzeichnet durch eine anterograde Amnesie (Unfähigkeit, neue Informationen zu behalten) und eine retrograde Amnesie für kurz zurückliegende Ereignisse, die unmittelbar vor Beginn der Episode geschahen. Das
Syndrom bildet sich gewöhnlich innerhalb von 24–48 Stunden zurück; danach wird die Periode der retrograden Amnesie verbal ausgefüllt, obwohl für die Ereignisse in dieser Zeit eine komplette Erinnerungslücke besteht. Bei etwa 20 % der Patienten treten transiente globale Amnesien wiederholt auf. Migräneartige „spreading-depression“,
Temporallappenepilepsie und transiente arteriell-ischämische Attacken im Versorgungsgebiet der A. cerebri posterior können eine
TGA-Symptomatik verursachen. Als Ursache des klassischen Syndroms ohne Nachweis einer arteriellen oder epileptischen Genese
werden zerebrale venöse Stauungsphänomene diskutiert. Das Fehlen
zusätzlicher neurologischer Befunde kann gelegentlich zur Fehldiagnose einer psychiatrischen Erkrankung führen.
DAS PRÄFRONTALE NETZWERK FÜR EXEKUTIVFUNKTIONEN UND VERHALTEN
Die Frontallappen können in motorisch-prämotorische, dorsolateralpräfrontale, medial-präfrontale und orbitofrontale Komponenten unterteilt werden. Die Begriffe Frontallappensyndrom und präfrontaler
Kortex beziehen sich nur auf die letzten drei dieser vier Komponen-
36
ten. Dies sind die Teile des zerebralen Kortex, die die größte phylogenetische Ausdehnung bei Primaten und besonders beim Menschen
zeigen. Die dorsolateral-präfrontalen, medial-präfrontalen und orbitofrontalen Gebiete und die subkortikalen Strukturen, mit denen sie
verbunden sind (z. B. Kopf des Nucleus caudatus und dorsomedialer
Nukleus des Thalamus), bilden zusammen ein ausgedehntes präfrontales Netzwerk, das die extrem komplexen Aspekte des menschlichen
Erkennens und Verhaltens koordiniert.
Das präfrontale Netzwerk spielt eine wichtige Rolle beim gleichzeitigen Ausführen mehrerer Aufgaben („Multitasking“) und bei der Integration von Gedanken und Gefühlen. Kognitive Prozesse, die durch
präfrontale Kortexläsionen beeinträchtigt sind, werden oft als Exekutivfunktionen bezeichnet. Die häufigsten klinischen Manifestationen einer Schädigung des präfrontalen Netzwerkes sind zwei relativ
klar umschriebene Syndrome. Beim frontalen abulischen Syndrom
zeigt der Patient einen Verlust an Initiative, Kreativität und Neugierde, eine zerstreute emotionale Flachheit, Apathie und fehlende Empathie. Beim frontalen Disinhibitionssyndrom wird der Patient sozial ungehemmt und zeigt eine schwere Beeinträchtigung von Urteilsfähigkeit, Einsicht und Voraussicht und die Unfähigkeit, Verfahrensregeln
zu beachten. Die Dissoziation zwischen intakter intellektueller Funktion und einem totalen Verlust des „gesunden Menschenverstandes“
ist bemerkenswert. Trotz des Erhalts aller essenziellen Gedächtnisfunktionen kann der Patient nicht aus Erfahrung lernen und zeigt
fortwährend ein unangemessenes Verhalten, scheinbar ohne Schmerz,
Schuld oder Bedauern zu empfinden, auch wenn solches Verhalten
wiederholt zu dramatischen Konsequenzen führt. Die Auffälligkeiten
treten oft nur in Alltagssituationen auf, wenn das Verhalten kaum
von außen kontrolliert ist, und können in der strukturierten Umgebung einer Arztpraxis unter Umständen nicht offensichtlich sein. Eine
Testung der Urteilsfähigkeit der Patienten durch die Frage, was sie
tun würden, wenn sie ein Feuer in einem Theater entdeckten oder einen gestempelten und adressierten Briefumschlag auf der Straße finden würden, ist nicht sehr informativ, da Patienten diese Fragen in
der Arztpraxis möglicherweise klug beantworten und dennoch im
komplexeren Alltag töricht reagieren. Der Arzt muss deswegen davon
ausgehen, dass er die Diagnose einer Frontallappenerkrankung allein
auf der Grundlage anamnestischer Informationen stellen muss, selbst
wenn der aktuelle mentale Status relativ intakt scheint.
& KLINISCHES BILD
Das Auftreten von entwicklungsgeschichtlich primitiven Reflexen,
auch als frontale Enthemmungszeichen bezeichnet, wie Greifen
(durch Bestreichen der Handfläche ausgelöst) und Saugen (durch Bestreichen der Lippen ausgelöst), wird vor allem bei Patienten mit großen strukturellen Läsionen gesehen, die sich in die prämotorischen
Komponenten des Frontallappens ausbreiten, oder auch im Zusammenhang mit metabolischen Enzephalopathien. Die große Mehrheit
der Patienten mit präfrontalen Läsionen und Frontallappen-Verhaltenssyndromen zeigt diese Reflexe nicht. Eine Schädigung des Frontallappens unterbricht zahlreiche aufmerksamkeitsabhängige Funktionen einschließlich des Arbeitsgedächtnisses (die vorübergehende
Abrufbarkeit und Manipulation von Informationen), der Konzentrationsspanne, der Prüfung und Abrufbarkeit gespeicherter Informationen, der Hemmung sofortiger, aber unangemessener Antworten und
der mentalen Flexibilität. Die Fähigkeit, sich auf eine Gedankenkette
zu konzentrieren, kann ebenso gestört sein wie das Vermögen, die
Aufmerksamkeit von einem Gedanken oder Stimulus auf einen anderen zu verlagern. Die Zahlenspannweite (welche sieben vorwärts und
fünf rückwärts sein sollte) ist vermindert (Störung des Arbeitsgedächtnisses). Das Aufsagen der Monate des Jahres in umgekehrter
Reihenfolge (was weniger als 15 Sekunden dauern sollte) ist als weiteres Zeichen für eine Störung des Arbeitsgedächtnisses verlangsamt.
Die Flüssigkeit der Bildung von Wörtern, die mit „A“, „F“ oder „S“
beginnen und die in 1 Minute aufgesagt werden können (normal 12
oder mehr pro Buchstabe), ist sogar bei nicht aphasischen Patienten
vermindert und zeigt eine Einschränkung beim Suchen und Abrufen
von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis. Bei Go/No-go-Aufgaben (z. B. der Anweisung, den Finger bei Hören eines Klopfens zu
heben, ihn jedoch bei Hören von zweimaligem Klopfen stillzuhalten)
wird der Patient bei dem Handle-nicht-Stimulus charakteristischerweise nicht stillhalten können. Die mentale Flexibilität (getestet anhand der Fähigkeit, bei Sortier- oder Paarbildungsaufgaben von einem Merkmal zu einem anderen zu wechseln) ist verarmt, die Ablen-
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Teil 2
Leitsymptome von Krankheiten
kung durch unwichtige Stimuli ist erhöht und es gibt eine deutliche
Tendenz zu Impersistenz und Perseveration. Ebenfalls gestört ist die
Fähigkeit zum Abstrahieren von Ähnlichkeiten und zur Interpretationen von Sprichwörtern.
Die Aufmerksamkeitsdefizite unterbrechen die Registrierung und
den Abruf neuer Informationen und führen zu sekundären Gedächtnisstörungen. Die Unterscheidung des zugrunde liegenden neuralen
Mechanismus wird durch die Beobachtung veranschaulicht, dass
schwer amnestische Patienten, die sich nicht an unmittelbar vorangegangene Ereignisse erinnern können, möglicherweise ein intaktes,
wenn nicht sogar überlegenes Arbeitsgedächtnis haben, wie im Test
der Zahlenspannbreite nachweisbar.
& URSACHEN: TRAUMA, NEOPLASIE UND FRONTOTEMPORALE DEMENZ
Das abulische Syndrom ist meist mit einer Schädigung des dorsolateralen präfrontalen Kortex verbunden, das Disinhibitionssyndrom mit
Schäden am orbitofrontalen oder ventromedialen Kortex. Diese Syndrome entstehen fast ausschließlich nach bilateralen Läsionen. Einseitige Läsionen, die auf den präfrontalen Kortex beschränkt sind, können stumm bleiben, bis der pathologische Prozess sich auf die andere
Seite ausdehnt. Dies erklärt, warum ein thromboembolischer Schlaganfall nur selten zu einem Frontallappensyndrom führt. Häufige Ursachen sind hingegen Traumata, Schlaganfälle, rupturierte Aneurysmen, Hydrozephalus, Tumoren (einschließlich Metastasen, Glioblastomen und Falx- oder Olfactorius-Schlitzmeningiomen) oder fokale
neurodegenerative Erkrankungen. Eine wichtige klinische Form der
frontotemporalen Degeneration, die als behaviorale Variante der
frontotemporalen Demenz (bvFTD) bezeichnet wird, verursacht ein
progressives Frontallappensyndrom. Die Verhaltensänderungen reichen von der Apathie bis zu Kleptomanie, Spielsucht, sexueller Enthemmung, einem bemerkenswerten Fehlen von gesundem Menschenverstand, neuen ritualistischen Verhaltensformen und Veränderungen
der Ernährungsgewohnheiten, meist mit vermehrtem Appetit auf etwas Süßes oder mit starrer Fixierung auf bestimmte Nahrungsmittel.
Bei vielen Alzheimer-Patienten befällt die neurofibrilläre Degeneration auch den präfrontalen Kortex und kann so zu einer ähnlichen
Symptomatik führen. Fast immer steht allerdings die Gedächtnisstörung im Vordergrund. Selten entsteht die behaviorale Variante der
frontotemporalen Demenz isoliert bei einer atypischen Form der Alzheimer-Krankheit.
Auch Läsionen im Nucleus caudatus oder im dorsomedialen Kern
des Thalamus (subkortikale Komponenten des präfrontalen Netzwerkes) können zu einem Frontallappensyndrom führen. Deswegen können Veränderungen des mentalen Status in Verbindung mit degenerativen Basalganglienerkrankungen, wie Parkinson-Krankheit oder
Chorea Huntington, die Form eines Frontallappensyndroms annehmen. Bilaterale multifokale Läsionen der zerebralen Hemisphären,
von denen keine einzige allein groß genug ist, um spezifische kognitive Defizite wie eine Aphasie oder ein Neglect zu verursachen, können
gemeinsam die Verbindungen und die integrierenden (exekutiven)
Funktionen des präfrontalen Kortex beeinträchtigen. Ein Frontallappensyndrom ist das häufigste Verhaltensprofil bei bilateralen multifokalen Hirnerkrankungen einschließlich metabolischer Enzephalopathien, Multipler Sklerose, Vitamin-B12-Mangel und anderen. Tatsächlich hat die Mehrheit der Patienten mit der klinischen Diagnose
eines Frontallappensyndroms eine Läsion, die nicht den präfrontalen
Kortex, sondern eher subkortikale Komponenten des präfrontalen
Netzwerkes oder seine Verbindungen mit anderen Teilen des Gehirns
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betrifft. Um das Paradoxon der Diagnose „Frontallappensyndrom“
bei einem Patienten ohne Hinweise auf eine Erkrankung des frontalen
Kortex zu vermeiden, ist es ratsam, den diagnostischen Begriff „frontal network syndrome“ zu verwenden, denn die verantwortlichen Läsionen können irgendwo in dem verzweigten Netzwerk liegen.
Der Patient mit einer Frontallappenerkrankung verursacht ein Dilemma in der Differenzialdiagnostik: Abulie und Flachheit können als
Depression und die Enthemmung als Manie oder Überreaktion fehlinterpretiert werden. Notwendige Interventionen werden unter Umständen verzögert, während sich ein behandelbarer Tumor weiter ausbreitet. Ein strukturierter Ablauf der Diagnostik bei Frontallappenerkrankungen und ihren Verhaltensauffälligkeiten kann solche Fehler
vermeiden.
BETREUUNG VON PATIENTEN MIT DEFIZITEN DER HÖHEREN KORTIKALEN
FUNKTIONEN
Eine Hirnläsion kann eine Dissoziation zwischen dem gefühlten Zustand und dem Ausdruck des Gefühls verursachen, sodass der Patient,
der oberflächlich vielleicht fröhlich erscheint, trotzdem an einer Depression leidet, die behandelt werden sollte. Werden Neuroleptika zur
Kontrolle der Agitiertheit eingesetzt, sollten atypische Neuroleptika
verwendet werden, bei denen extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen nur gering ausgeprägt sind. Die wichtigsten Substanzen sind
Clozapin, Quetiapin, Olanzapin und Risperidon. Bei der Behandlung
älterer dementer Patienten mit Neuroleptika müssen potenzielle Vorteile und mögliche schwere Nebenwirkungen abgewogen werden.
Eine spontane Besserung von kognitiven Defiziten, die als Folge
akuter neurologischer Läsionen auftreten, ist häufig. Sie ist am
schnellsten in den ersten Wochen, kann aber bis zu 2 Jahre andauern,
besonders bei jungen Patienten mit einzelner Hirnschädigung. Einige
der initialen Defizite entsprechen Fehlfunktionen in fern gelegenen
Bereichen des Gehirns (Diaschisis), die mit dem Ort der ursprünglichen Verletzung verbunden sind. Eine Verbesserung bei diesen Patienten kann zumindest teilweise eine Normalisierung dieser Fehlfunktionen in fern gelegenen Hirnabschnitten bedeuten. Andere Mechanismen können die funktionelle Reorganisation überlebender angrenzender Neurone betreffen oder eine Kompensation durch
homologe Strukturen, zum Beispiel des rechten oberen Gyrus temporalis bei Erholung von einer Wernicke-Aphasie. Kognitive Rehabilitationsverfahren wurden zur Therapie höherer kortikaler Defizite eingesetzt. Es gibt hierzu nur wenige kontrollierte Studien, einige zeigen
jedoch einen Nutzen der Rehabilitation bei der Besserung eines Hemineglects oder einer Aphasie. Eine Beurteilung der Fahreignung
kann schwierig sein, insbesondere in frühen Krankheitsstadien von
Demenzerkrankungen. Die Diagnose einer neurodegenerativen Erkrankung reicht allein nicht aus, um dem Patienten die Fahrerlaubnis
zu entziehen. Fahrtests und Berichte von Angehörigen können bei
dieser Entscheidung hilfreich sein.
Einige der in diesem Kapitel beschriebenen Defizite sind so komplex, dass sie nicht nur den Patienten und die Familie, sondern auch
den Arzt fordern. Eine systematische klinische Untersuchung ist unabdingbar, um die Art der Defizite zu charakterisieren und sie in verständlichen Begriffen dem Patienten und seiner Familie erklären zu
können. Eine kompetente Diagnostik und Behandlung von Patienten
mit einer Schädigung des Gehirns erfordert ein Verständnis der Zusammenhänge zwischen neuralen Netzwerken und höheren Hirnfunktionen sowohl bei Gesunden als auch bei Kranken.
Suttorp et al., Harrisons Innere Medizin (ISBN 978-3-940615-50-3), © 2016 ABW Wissenschaftsverlag
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