Die Distanz zur Quelle bei der Musterbildung im Embryo

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Die Distanz zur Quelle bei der Musterbildung im
Embryo
In embryonalen Entwicklungsstadien von Fliege, Zebrafisch oder Mensch sind es wenige
Moleküle, die gerichtete Zellwanderungen steuern, Zellteilungen anregen oder festlegen,
welche Zelle welches Gewebe bilden wird. Einer dieser sogenannten Master-Regulatoren
steht im Fokus der Forschungsgruppe um Dr. Giorgos Pyrowolakis von der Universität
Freiburg. Wie entstehen verschieden gemusterte Gradienten des als BMP bezeichneten
Moleküls im Ei, im Embryo oder in der Larve der Fruchtfliege Drosophila melanogaster? Und
wie regulieren sie sich selbst, damit sich zum Beispiel der Flügel der Fliege korrekt bilden
kann? Die Evolution erfindet das Rad jedenfalls nicht immer neu, und das hat auch
Implikationen für den Menschen.
Jede Zelle in einem Organismus hat genau die gleiche genetische Ausstattung – wie kann es
sein, dass trotzdem so viele unterschiedliche Gewebe wie Leber, Haut, Gehirn oder Lunge
entstehen? Das ist für Dr. Giorgos Pyrowolakis vom Institut I für Biologie an der Universität
Freiburg eine der spannendsten Fragen in der Biologie, wenn nicht sogar überhaupt die
spannendste. Der Forscher, eigentlich aus der Biochemie kommend, hat sich schon in seiner
Postdoc-Zeit einer Gruppe von Proteinen zugewandt, von der bekannt ist, dass sie an der
Kontrolle von so gut wie allen Entwicklungsvorgängen in allen Modellorganismen maßgeblich
beteiligt ist: der BMP-Superfamilie. BMP steht für Bone Morphogenetic Protein und ist bekannt
dafür, dass es die Regeneration von Knochen fördern kann. Aber es hat auch andere
Funktionen. In Fliege, Zebrafisch, Wurm, Maus oder im Menschen gibt es BMPs, die strukturell
und funktionell eng verwandt sind. „Es ist sogar in der Zellkulturschale möglich, BMP aus der
Taufliege Drosophila melanogaster, das hier Decapentaplegic oder kurz Dpp genannt wird, auf
humane Knochenfragmente zu träufeln und damit neues Knochengewebe wachsen zu lassen“,
sagt Pyrowolakis.
Regulation auf allen Ebenen
Im Labor des Griechen Pyrowolakis in der Abteilung für Entwicklungsbiologie ist die kleine
Fliege das Modellsystem der Wahl, um die stark in der Evolution konservierten molekularen
Signalnetzwerke um die Familie der BMPs zu studieren. Rund 1.000 verschiedene Fliegenlinien,
bei denen unterschiedliche Gene gezielt manipuliert worden sind, befinden sich im Kellerraum
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Die Forschungsgruppe von Dr. Giorgos Pyrowolakis (dritter von Rechts) von der Abteilung für Entwicklungsbiologie
der Universität Freiburg. © Dr. Giorgos Pyrowolakis
des Instituts für Biologie I, in einem 5-Quadratmeter-Raum. Ein enormes Arsenal an
genetischen Methoden steht Forschern inzwischen für die Arbeit mit Drosophila zur Verfügung.
„Die Arbeit mit der Maus ist im Vergleich viel problematischer“, sagt Pyrowolakis. Eine der
bekannten und inzwischen gut untersuchten Rollen von BMPs bei der Fliegenentwicklung ist
die frühe Entscheidung, auf welcher Seite der Zellkugel des frühen Embryo später oben und wo
unten sein wird, wo also Bauch und wo Rücken entstehen werden. Eine etwas komplexere
Musterbildung findet hingegen in der sogenannten Flügelscheibe in der Fliegenlarve statt. In
dieser Anlage für den späteren Fliegenflügel nämlich werden zum Beispiel die Zellgruppen
definiert, die später die fünf Flügelvenen bilden werden.
BMP (oder das Fliegenanalogon Dpp) ist ein sogenanntes Morphogen. Das bedeutet, dass es
die Gestalt verschiedener Gewebe beeinflusst. Entsprechend haben Mutanten, denen
Bestandteile des Dpp-Signalnetzwerks fehlen, zum Beispiel verkümmerte Flügel. Auf
molekularer Ebene funktioniert BMP zum einen wie ein Signalmolekül: Es dockt von außen an
einen Rezeptor in der Membran einer Zelle an und löst so eine molekulare Kaskade im Inneren
der Zelle aus, bei der schließlich bestimmte Proteine in den Zellkern wandern und dort die
Ableserate von Genen regulieren. Die Produkte dieser Gene wiederum vermitteln die
Reaktionen der Zelle. Je nachdem, um welche Gene es sich handelt, teilt sich eine Zelle,
wandert aus dem festen Gewebeverbund aus oder ändert ihre Identität, wird etwa zu einem
Neuron- oder zu einem Darmzellvorläufer. „Die große Frage ist, warum mal diese, mal jene
Gene in einer Zielzelle beeinflusst werden“, sagt Pyrowolakis.
Gen-Schalter und Gradientenmuster
Vor ein paar Jahren haben Pyrowolakis und sein Team schon für die erste Überraschung
gesorgt, als sie zeigten, dass BMP Gene nicht nur aktivieren, sondern auch hemmen kann. Sie
identifizierten auf der Ebene der DNA zwei verschiedene Typen von Strukturen, die wie Schalter
funktionieren: Ist vor einem Gen eine hemmende Basensequenz, so wird die Aktivität dieses
Gens von BMP gehemmt werden. Bei einer aktivierenden Sequenz passiert das Gegenteil. Eine
erst einmal intuitiv nachvollziehbare Entdeckung; denn dieses Prinzip kennen Forscher auch
von anderen Signalsystemen. Aber im Fall des Morphogens BMP ist diese Entdeckung
entscheidend. Denn die Gene, die von BMP aktiviert oder gehemmt werden, können laut
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Pyrowolakis grob in zwei Gruppen eingeteilt werden: Die Effektoren, die das Verhalten einer
Zelle beeinflussen, sie also etwa zur Teilung anregen oder aus ihr einen neuronalen Vorläufer
machen. Und die Regulatoren, die auf das BMP-Signalnetzwerk rückwirken können, in Form
von Feedbackschleifen. Um erklären zu können, wie zum Beispiel eine Zelle in der
Flügelscheibe einer Drosophila-Larve weiß, in welcher der fünf Flügelvenen sie einmal sitzen
wird, sind eben solche Regulatoren unabdingbar.
Die in Drosophila aktivierten BMP-gesteuerten Genschalter im Fluoreszenzmikroskop. Links: im sich entwickelnden Ei.
Mitte: im Embryo. Rechts: in der Flügelanlage. Rot markiert sind die Zellen, in denen der hemmende Genschalter
aktiviert ist, grün diejenigen, in denen der aktivierende Schalter aktiv ist. © Dr. Giorgos Pyrowolakis
Denn Morphogene – und das ist ihre zweite wichtige Eigenschaft, die sie von einfachen
Signalmolekülen unterscheidet – können sich durchs Gewebe frei bewegen und bilden
räumlich und zeitlich variierende Konzentrationsgradienten. In der Flügelanlage bedeutet das:
Ein schmaler Streifen von Zellen am Ansatz des späteren Flügels schüttet BMP aus, das
daraufhin nach allen Seiten durch das Gewebe diffundiert. Zellen, die näher an der BMP-Quelle
sind, bekommen eine höhere Konzentration des Stoffs ab als Zellen, die in der Peripherie leben.
Die Empfängerzellen können die Konzentration an BMP messen, denn die Gene, die von BMP
an- oder abgeschaltet werden, sind unterschiedlich sensibel für das Signal. Aus dieser Tatsache
resultiert schließlich, dass Zellen unterschiedliche genetische Programme verwirklichen, je
nachdem, wie weit sie von der Quelle entfernt sind. Und somit auch unterschiedliche Schicksale
haben werden, während die Larvalentwicklung voranschreitet. „Dieses Prinzip der
gradientengesteuerten Regulation der Entwicklung von Geweben ist universell“, sagt
Pyrowolakis. „Sowohl bezogen auf die unterschiedlichen Stadien der embryonalen
Entwicklung, als auch auf die Organismengruppen quer durch die Evolution.“
Pentagone – Eine Flügelvene fehlt
Ein Gradient muss allerdings reguliert werden. Zum einen darf er nicht zu stark schwanken.
Zum anderen muss er mit dem Wachstum des Embryos mitexpandieren, relativ zur Größe des
wachsenden Gewebes. Und schließlich sind auch zeitliche Veränderungen des Gradienten oder
sein räumliches Aussehen bisweilen entscheidend. Je nach entstehendem Gewebetyp muss ein
Gradient zum Beispiel von der Quelle aus gesehen asymptotisch abnehmen. Oder mit einer
scharfen Kante aufhören, wie das etwa bei der Entwicklung der Körpersegmente bei einem
Insekt der Fall ist. Woher weiß also der Gradient, wie er beschaffen ist?
Um diese Frage zu beantworten, haben Pyrowolakis und sein Team in den letzten Jahren die
von ihnen gefundenen Schalter für die Aktivierung oder Hemmung der von BMP regulierten
Gene als Werkzeuge eingesetzt. Denn mit dem Wissen um die Basensequenz dieser Schalter ist
es umgekehrt möglich, im Genom der Fliege und anderer Organismen mit Hilfe von
Bioinformatik-Tools nach Genen zu suchen, vor denen solche Sequenzen sitzen. Diese Gene
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sind wahrscheinlich von BMP reguliert. Und tatsächlich gelang es den Freiburger Forschern auf
diese Weise, ein Gen zu finden, dessen Produkt ein Regulator des BMP-Signalnetzwerks ist. Weil
es für die korrekte Bildung der fünf Flügelvenen unabdingbar ist, haben die Forscher es
"pentagone" genannt. (Bei einem Defekt fehlt die fünfte Flügelvene – „pent is gone“.)
Die Produktion des Pentagone-Proteins wird von BMP gehemmt. Je mehr BMP eine Zelle in der
Nähe der Quelle abbekommt, desto weniger Pentagone produziert sie demzufolge, und je
schwächer umgekehrt das BMP-Signal in der Peripherie der Quelle ist, desto mehr Pentagone
entsteht. Pentagone selbst kann wiederum in einer Feedbackschleife die Stärke des BMPSignals erhöhen, indem es BMP-hemmende Proteine hemmt. „Pentagone ist damit ein
sogenannter Expander, denn es erhöht das BMP-Signal in Zellen, die weit weg von der Quelle
sitzen und in denen dieses Signal schwach ist, und zieht damit den von der Quelle räumlich
ausstrahlenden Gradienten auseinander“, sagt Pyrowolakis. Bei einer Pentagone-Mutante
bleibt der Gradient zu schmal, und die fünfte, in der Peripherie des Flügels angelegte
Flügelvene bildet sich nicht aus, weil dort das BMP-Signal zu schwach ist.
Fehlt das Gen pentagone (linkes Bild unten), dann bleibt der BMP-Gradient in der Flügelanlage der Drosophila-Larve
schmal (mittleres Bild unten) und dem Flügel des erwachsenen Tiers fehlt die unterste Flügelvene (Bild rechts unten).
© Dr. Giorgos Pyrowolakis
Theoretisch muss es noch viele solche Regulatoren geben. Die Freiburger Forscher sind
momentan auf der Suche nach ihnen. Und dabei ist auch die evolutionäre Perspektive relevant,
denn Vergleiche zwischen den Genomen von Fliege, Maus, Fisch und Co. enthüllen verwandte
Basenabfolgen, die in der Evolution konserviert worden sind. Konservierte Sequenzen
wiederum müssen eine Funktion haben und deuten auf wichtige Gene hin. „Erkenntnisse in
anderen Organismen sind außerdem für die klinische Perspektive wichtig, denn Defekte in den
Genen des BMP-Signalnetzwerks können beim Menschen zu Fehlentwicklungen und zu
Krankheiten wie etwa Krebs führen“, sagt Pyrowolakis. „Je besser man die Prozesse in frühen
Entwicklungsstadien und bei verschiedenen Organismengruppen versteht, desto besser
versteht man sie auch beim Menschen.“
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Fachbeitrag
27.08.2012
mn
BioRegion Freiburg
© BIOPRO Baden-Württemberg GmbH
Weitere Informationen
Giorgos Pyrowolakis, PhD
Institut für Biologie I
Universität Freiburg
Hauptstraße 1
79104 Freiburg
Tel.: 0761/ 20 38 459
Labor: 0761/ 20 32 541
Fax: 0761/ 20 32 597
E-Mail: g.pyrowolakis(at)biologie.uni-freiburg.de
Der Fachbeitrag ist Teil folgender Dossiers
Evo-Devo, die Synthese von Entwicklungs- und Evolutionsbiologie
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