Kapitel III. Aufbau des Zahlensystems

Werbung
Kapitel III.
Aufbau des Zahlensystems
§1 Addition und Multiplikation natürlicher
Zahlen
Wir wollen erklären, wie man natürliche Zahlen addiert und multipliziert und
dabei nur den Begriff das Zählens verwenden.
Heuristische Überlegung. Die natürlichen Zahlen entstehen durch fortschreitendes Zählen. Man kann diesen Vorgang beispielsweise anhand einer
Strichliste dokumentieren:
leer, |, ||, |||, . . . , n, n0 , (n0 )0 , . . .
Anstelle von Strichfolgen kann man die Zahlen etwa durch arabische oder
römische Zifferen ausdrücken:
0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11 . . .
I, II, III, IV, V, V I, V II, V III, IX, X, XI, . . .
Beim Zählen folgt auf eine Zahl genau eine nächste. Nenne diese den Nachfolger; schreibe n0 für den Nachfolger von n. Es gilt:
(α) Verschiedene natürliche Zahlen haben auch verschiedene Nachfolger.
(β) 0 ist kein Nachfolger einer natürlichen Zahl.
(γ) Jede natürliche Zahl wird erreicht, wenn man lange genug“ zählt.
”
In der Sprache der Mengenlehre bedeutet dies:
Definition. Die natürlichen Zahlen bilden eine Menge N, zusammen mit
(1) einem ausgezeichneten Element 0, und
(2) einer Abbildung
S : N −→ N
n 7−→ S(n) =: n0
Es soll gelten (Axiome der natürlichen Zahlen.)
(A) S ist injektiv, d.h.: Aus n 6= m folgt n0 6= m0 .
1
(B) 0 6∈ S(N), d.h.: Für alle n ∈ N ist n0 6= 0.
(C) (Induktionsaxiom.) Sei M ⊆ N eine Menge mit den Eigenschaften
(i) 0 ∈ M ; (ii) Aus x ∈ M folgt x0 ∈ M
Dann ist M = N.
n0 wird als Nachfolger von n bezeichnet.
Alle weiteren Aussagen über natürliche Zahlen und deren Beweise lassen
sich einzig und allein auf diese drei Axiome gründen. Wir werden diese
Rückführung auf die Axiome an Beispielen demonstrieren.
1.1 Satz. Jede von 0 verschiedene Zahl ist Nachfolger einer natürlichen Zahl.
Beweis. Sei M = {0} ∪ S(N). Zeige, daß M = N ist. Es gilt
(i) 0 ∈ M
(ii) Sei x ∈ M ; dann ist x0 = S(x) ∈ S(N) ⊆ M , also x0 ∈ M .
Nach Axiom (C) ist M = N.
I. Addition natürlicher Zahlen.
1.2 Satz. Zu jedem x ∈ N existiert genau eine Funktion ax : N −→ N mit
folgenden Eigenschaften:
(1) ax (0) = x
(2) ax (y 0 ) = ax (y)0 für alle y ∈ N.
Schreibe x + y := ax (y) für alle x ∈ N.
Wegen (1) und (2) gilt: x + 0 = x und x + y 0 = (x + y)0 für alle x, y ∈ N.
Definition. Die gemäß 1.2 eindeutig existierende Verknüpfung
+ : N × N −→ N, (x, y) 7−→ x + y
mit den Eigenschaften x + 0 = x und x + y 0 = (x + y)0 heißt Addition
natürlicher Zahlen.
Beweis von 1.2. Halte x fest. Seien ax , bx : N −→ N Funktionen mit den
Eigenschaften (1) und (2), d.h.
(1) ax (0) = bx (0) = x,
2
(2) ax (y 0 ) = ax (y)0 und bx (y 0 ) = bx (y)0 für alle y, x ∈ N.
Sei M = {y ∈ N | ax (y) = bx (y)}. Zu zeigen: M = N.
(i) ax (0) = x = bx (0), also 0 ∈ M (wegen (1)).
(ii) Sei y ∈ M , d.h. ax (y) = bx (y). Es folgt mit (2):
ax (y 0 ) = (ax (y))0 = (bx (y))0 = bx (y 0 ) also y 0 ∈ M
Nach (C) ist M = N.
Existenz. Sei M = {x ∈ N | Es existiert eine Funktion ax : N −→ N mit
den Eigenschaften (1) und (2) }. Zu zeigen: M = N.
(i) Setze a0 (y) := y. Dann gilt (1) a0 (0) = 0
Also ist 0 ∈ M .
(2) a0 (y 0 ) = y 0 = (a0 (y))0
(ii) Sei x ∈ M und ax : N → N die wegen x ∈ M in der (bereits bewiesenen) Eindeutigkeitsaussage eindeutig bestimmte Abbildung mit (1),
(2). Dann ist ax (0) = x und ax (y 0 ) = (ax (y))0 für alle y ∈ N.
Setze ax0 (y) := (ax (y))0 für alle y ∈ N.
Da ax die Bedingungen (1) und (2) erfüllt, folgt
ax0 (0) = (ax (0))0 = x0
und
0
0
0
ax0 (y ) = (ax (y )) = (ax (y)0 )0 = (ax0 (y))0
Also erfüllt auch ax0 (1) und (2), d.h. x0 ∈ M .
Nach (C) ist (wegen (i) und (ii)) M = N.
1.3 Satz. Für alle x, y, z ∈ N gilt
(x + y) + z = x + (y + z)
x+y = y+x
(Assoziativgesetz)
(Kommutativgesetz)
Beweise nur das Assoziativgesetz. Halte x, y fest. Sei M = {z | (x + y) + z =
x + (y + z)}. Zu zeigen: N = M .
(1)
(1)
(i) (x + y) + 0 = x + y = x + (y + 0), also 0 ∈ M .
3
(2)
(ii) Sei z ∈ M , d.h. (x + y) + z = x + (y + z). Dann ist (x + y) + z 0 =
(2)
(2)
((x + y) + z)0 = (x + (y + z))0 = x + (y + z)0 = x + (y + z 0 ), also z 0 ∈ M .
Nach (C) folgt M = N.
(2)
(1)
Schreibe 1 für 00 . Dann gilt: x + 1 = x + 00 = (x + 0)0 = x0 .
II. Multiplikation natürlicher Zahlen.
1.4 Satz. Zu jedem x ∈ N gibt es genau eine Funktion mx : N → N mit den
Eigenschaften
(3) mx (0) = 0
(4) mx (y 0 ) = mx (y) + x für alle y ∈ N.
Der Beweis verläuft analog zum Beweis von 1.2 und wird daher weggelassen.
Setze x · y := mx (y) für alle x, y ∈ N.
(3) und (4) bedeuten somit
x · 0 = 0 und x · (y + 1) = (x · y) + x für alle x, y ∈ N.
Ferner ist x · 1 = x · (00 ) = x · 0 + x = 0 + x = x + 0 = x.
Definition. Die Verknüpfung
· : N × N −→ N, (x, y) 7−→ x · y
heißt Multiplikation natürlicher Zahlen.
1.5 Satz Für alle natürlichen Zahlen x, y, z gilt
x·y = y·x
(Kommutativgesetz)
x · (y + z) = (x · y) + (x · z) (Distributivgesetz)
x · (y · z) = (x · y) · z
(Assoziativgesetz)
Beweise nur das Distributivgesetz. Halte x, y fest und setze
M := {z | x · (y + z) = (x · y) + (x · z)}. Zu zeigen: M = N
(i) x · (y + 0) = x · y = (x · y) + 0 = (x · y) + (x · 0), also 0 ∈ M.
(ii) Sei z ∈ M , d.h. x · (y + z) = (x · y) + (x · z). Es folgt
x · (y + z 0 ) = x · ((y + z)0 ) = (x · (y + z)) + x = ((x · y) + (x · z)) + x =
(x · y) + ((x · z) + x) = (x · y) + (x · z 0 ), also z 0 ∈ M .
4
Nach (C) gilt daher M = N.
Konvention. Wir lassen künftig den Malpunkt weg und schreiben kurz
x+y+z
xyz
xy + z
z + xy
für
für
für
für
x + (y + z) = (x + y) + z,
x(yz) = (xy)z;
(xy) + z
z + (xy) (Punktrechnung vor Strichrechnung).
III. Der Rekursionssatz.
Bei der Definition von Addition und Multiplikation sind wir nach dem folgenden Schema vorgegangen:
(i) Man definiert ax (0) bzw. mx (0).
(ii) Man gibt an, wie ax (y 0 ) bzw. mx (y 0 ) aus ax (y) bzw. mx (y) zu berechnen
ist.
Diese Vorgehen nennt man rekursive (induktive) Definition. Sie funktioniert ganz allgemein:
1.6 Rekursionssatz. (ohne Beweis.) Sei A eine Menge, g : A −→ A eine
Abbildung und α ∈ A ein Element. Dann gilt es genau eine Funktion
f : N −→ A mit folgenden Eigenschaften:
(i) f (0) = α; (ii) f (n0 ) = g(f (n)) für alle n ∈ N.
(f (0) = α, f (1) = g(f (0)) = g(α), f (2) = g(f (1)) = g(g(α), f (3) = g(g(g(α))), . . .).
Beispiele.
a) A = N, g(a) = a0 , α ∈ N : f (n) = aα (n) = α + n
b) A = N, g = ax , α = 0 : f (n) = mx (n) = x · n
Rekursive Folgen. Man nennt eine Abbildung f : N → A auch eine Folge
von Elementen aus A und schreibt auch fn für f (n), (fn )n∈N oder f0 , f1 , f2 , . . .
für f .
Beispiele. f = c : N → N n 7→ c ist die konstante Folge c, c, c, . . ..
f : N → N, n 7→ 2n ist die Folge 1, 2, 4, 8, 16, 32, . . .
Eine Folge f , die wie in 1.6 definiert ist, nennt man eine rekursive Folge.
5
Es wird in diesem Fall eine Abbildung g : A → A und ein α ∈ A vorgegeben
und erklärt
(i) f0 = α ; fn+1 = g(fn )
Man nennt α das Anfangsglied und g eine Rekursionsgleichung für die
Folge f .
1
Beispiel. Sei g : R → R, g(x) = 1+x
; α = 1. Dann ist f0 = 1, fn+1 =
Die Folgenglieder berechnen sich nacheinander als
f0 = 1, f1 =
1
1
1
= , f2 =
1+1
2
1+
1
2
2
1
= , f3 =
3
1+
2
3
1
.
1+fn
3
= ,...
5
Allgemeiner kann man rekursive Folgen definieren, indem man angibt, wie
ein Folgenglied aus den k vorangegangenen berechnet werden soll (k–fache
Rekursion):
(1.6)’Satz. Sei g : Rk → R eine Funktion in k Variablen. Dann wird durch
Vorgabe von f0 , . . . , fk−1 und die Rekursionsvorschrift
fn+k = g(fn , . . . , fn+k−1 ) für n = 0, 1, 2, . . .
eine eindeutig bestimmte Folge definiert.
Beispiel. k = 2, g(x, y) = x + y;
f0 = 0, f1 = 1 : fn+2 = g(fn , fn+1 ) = fn + fn+1 = Summe der beiden
vorangegangenen Folgenglieder. Die Folge beginnt mit
0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144, . . .
Es handelt sich um die berühmte Fibonacci–Folge.
Das Induktionsaxiom (C) läßt sich auch etwas anders formulieren:
(V) Beweisprinzip der vollständigen Induktion. Sei A = A(n) eine
Aussage über natürliche Zahlen. Es sei bekannt:
(a) (Induktionsbeginn) A(0) ist richtig.
(b) (Induktionsschluß) Aus der Gültigkeit von A(x) (Induktionsannahme)
folgt stets die Gültigkeit von A(x + 1). Dann ist A allgemein (d.h. für
alle n ∈ N) richtig.
Beweis. Sei M := {x | x ∈ N und A(x) gilt}. Zu zeigen: M = N.
6
(i) 0 ∈ M , da A(0) gilt.
(ii) Sei x ∈ M , dann gilt A(x). Nach Voraussetzung gilt dann auch A(x+1).
Also ist x + 1 ∈ M .
Nach (C) ist daher M = N.
IV. Die Anordnung der natürlichen Zahlen.
1.7 Satz. Für alle x, y, z ∈ N gilt:
a) Aus x + y = x + z folgt y = z ( Kürzungsregel“).
”
b) Aus x + y = 0 folgt: x = 0 und y = 0.
Beweis.
a) Zu zeigen: Aus y 6= z folgt x + y 6= x + z.
Halte y, z mit y 6= z fest; setze M = {x | x + y 6= x + z}
Zeige mit Hilfe von (C), daß M = N.
(i) 0 + y = y 6= z = 0 + z, also 0 ∈ M .
(ii) Sei x ∈ M , d.h. x + y 6= x + z =⇒ (x + y)0 6= (x + z)0 nach (A).
Aber (x + y)0 = (y + x)0 = y + x0 und (x + z)0 = (z + x) = z + x0 ;
also ist y + x0 6= z + x0 und somit x0 ∈ M .
Nach (C) folgt M = N.
b) Aus y 6= 0 folgt y = w0 mit w ∈ N nach 1.1, und x + y = x + w0 =
(x + w)0 6= 0 nach (B). Analog schließt man, wenn x 6= 0 ist.
1.8 Korollar. Für x, y ∈ N tritt genau einer der folgenden Fälle ein:
(1) x = y
(2) Es gibt ein u 6= 0 in N mit x = y + u
(3) Es gibt ein v 6= 0 in N mit y = x + v
Beweis. Unvereinbarkeit: Wegen 1.7a) ist y + u 6= y für u 6= 0. Also sind
(1) und (2) unvereinbar. Entsprechend zeigt man dies für (1) und (3). Aus
(2) und (3) folgt x = y + u = (x + v) + u = x + (v + u), also v = u = 0 nach
1.7a) und b); Widerspruch.
7
Eintreffen eines der drei Fälle: Halte x fest, zeige induktiv die Aussage
A(y) : Für x, y gilt (1), (2) oder (3).
Induktionsbeginn: y = 0 : x = y + x =⇒ (1) oder (2) gilt für x, y
Induktionsannahme: Für x, y gilt (1), (2) oder (3).
Schluß von y auf y + 1: Wir unterscheiden zwei Fälle:
a) (1) oder (3) gilt für x, y =⇒ y = x+v, v ∈ N =⇒ y +1 = x+(v +1) =⇒
v + 1 6= 0 nach 1.7b) und (3) gilt für x, y + 1.
1.1
b) (2) gilt für x, y =⇒ x = y + u, u 6= 0 =⇒ u = w0 = w + 1, w ∈ N =⇒
x = (y + 1) + w, w ∈ N =⇒ (1) oder (2) gilt für x, y + 1.
Definition. x < y := y = x + v mit v 6= 0
(Fall (3))
Im Fall (2) ist daher y < x. Aus 1.8 ergibt sich
1.9 Korollar. Für x, y tritt genau einer der Fälle x = y, x < y oder y < x
ein.
Im Fall x < y (sprich x kleiner als y“) schreibt man auch y > x (sprich y
”
”
größer als x“).
Definition.
x ≥ y := x > y oder x = y
x ≤ y := x < y oder x = y
1.10 Korollar. Die Relation ≤“ ist eine lineare Ordnung (oder Total”
ordnung) auf N, d.h.:
(1) x ≤ x
(Reflexivität)
(2) Aus x ≤ y und y ≤ x folgt x = y (Antisymmetrie)
(3) Aus x ≤ y und y ≤ z folgt x ≤ z (Transitivität)
Ist dabei x 6= y oder y 6= z, so ist auch x 6= z.
(4) Es gilt x ≤ y oder y ≤ x.
Beweis. (1), (2) und (4) sind klar nach 1.9.
Zu (3): y = x + v, z = y + w =⇒ z = x + (v + w) =⇒ x ≤ z.
1.7b)
Dabei: v 6= 0 oder w 6= 0 =⇒ v + w 6= 0 =⇒ x < z.
1.11 Korollar. (Monotonie) Für alle x, y, z ∈ N gilt
8
a) Aus x ≤ y folgt x + z ≤ y + z
b) Aus x ≤ y folgt x · z ≤ y · z
Beweis.
a) y = x + u =⇒ y + z = x + u + z = (x + z) + u
b) y = x + n =⇒ yz = (x + u)z = xz + uz
Definition. Sei A ⊆ N nicht leer. Ein Element a0 ∈ A heißt Minimum von
A (oder kleinstes Element von A) wenn a0 ≤ a für alle a ∈ A (Schreibe dann
a0 = MinA).
1.12 Prinzip vom kleinsten Element. Jede nicht leere Menge natürlicher
Zahlen besitzt ein Minimum. Dieses ist eindeutig bestimmt. Die Eindeutigkeit
folgt aus 1.10 (2).
Beweis. 0 ∈ A =⇒ 0 = Min A, denn 0 ≤ n für alle n ∈ N (wg. n = 0 + n).
Sei nun 0 6∈ A. Angenommen A besitze kein Minimum. Setze B := {n | n ∈ N
und n < x für alle x ∈ A}. Es folgt B ∩ A = ∅. Wegen A 6= ∅ folgt B 6= N.
Zeige, daß auch B = N, Widerspruch.
(i) Wegen 0 6∈ A ist 0 < x für alle x ∈ A, also 0 ∈ B.
(ii) Sei n ∈ B. Dann ist n < x für alle x ∈ A. Es folgt n + 1 ≤ x für alle
x ∈ A.
Da A kein Minimum besitzt ist n + 1 6∈ A. Also gilt n + 1 < x für alle x ∈ A,
d.h. n + 1 ∈ B.
Nach (C) gilt daher B = N.
1.13 Satz. N ist nullteilerfrei, d.h.
Aus x 6= 0 und y 6= 0 folgt: x · y 6= 0
Beweis. y = z 0 , z ∈ N (nach 1.1). Also gilt wegen x 6= 0
xy = xz 0 = xz + x 6= 0 nach 1.7b).
9
Herunterladen