PflegeKolleg Der ältere Patient Psychische Erkrankungen im Alter Medikamentenmissbrauch, Depression, Angststörung Das Alter wird generell mit zunehmenden Beschwerden und Krankheiten gleich gesetzt. Dabei sind körperlichen Erkrankungen in ihrer Ausprägung oft so stark vorhanden, dass begleitende psychische Komorbiditäten unerkannt bleiben. Das ist problematisch, denn psychische Begleiterkrankungen beeinflussen den Verlauf einer körperlichen Erkrankung negativ. Auch das Risiko einer suizidalen Handlung ist dadurch deutlich erhöht. P Spezielle psychische Erkrankungen Die Gerontopsychiatrie ist eine psychiatrische Disziplin, die sich in Zusammenarbeit mit anderen geriatrischen Fächern um eine adäquate Diagnose, Therapie und Erforschung von psychischen Störungen älterer Menschen, d. h. Menschen über 65 Jahre, bemüht. Repräsentative Studien konnten zeigen, dass mehr als zwei Drittel der über 65-Jährigen unter einer oder mehreren klinisch bedeutsamen psychischen Störungen leiden. Die häufigsten psychischen Störungen im Alter sind: Demenzen (Prävalenz stark altersabhängig), Depressionen (7%), AngsterkranHeilberufe / Das Pflegemagazin 2014; 66 (3) DOI: 10.1007/s00058-014-0339-x © Getty Images sychische Störungen kommen in jeder Altersklasse vor, wobei jedoch die Prävalenzraten sowohl vom Alter als auch vom Geschlecht abhängig sind. Bestimmte psychische Störungsbilder, wie Demenz, Depression und Angststörungen, sind für ältere Menschen typisch. Andere treten wiederum seltener als in anderen Altersgruppen auf (z.B. Schizophrenie, psychosomatische Störungen). Mit zunehmendem Alter nehmen psychische Störungen ab, während körperliche Probleme deutlich zunehmen. Die Prävalenzraten von psychischen Störungen sind bei Frauen in jedem Lebensalter höher als bei Männern. Es stellt sich aber die Frage, ob die unterschiedlichen Prävalenzraten zwischen den Geschlechtern die Realität oder eher die Akzeptanz psychischer Störungen widerspiegeln. Psychische Störungen werden von vielen Männern immer noch als typische Frauenkrankheiten gesehen und abgewehrt, weil sie dem Männlichkeitsideal der Gesellschaft widersprechen. Auch Ärzte tendieren dazu, bei gleichen Symptomen den Frauen mehr psychische Diagnosen und den Männern mehr somatische Diagnosen zu geben. Dadurch bleiben psychische Störungen bei Männern oft unerkannt und unbehandelt. kungen (14%), Schlafstörungen (7%) und Substanzmissbrauch (4%). Es zeigten sich in den letzten Jahren keine Veränderungen in den Prävalenzraten der psychischen Störungen im Alter. Es hat sich aber auch nichts an den extrem niedrigen Behandlungsraten dieser Störungen bei den älteren Menschen geändert. Demenzielle Störungen: Multiple kognitive Defizite Das Hauptmerkmal einer Demenz ist die Entwicklung multipler kognitiver Defizite, wobei eine Gedächtnisstörung und mindestens eine der folgenden kognitiven Defizite vorhanden sein müssen: Aphasie, Apraxie, Agnosie oder Beeinträchtigung der Exekutivfunktionen. Es gibt verschiedene Formen der Demenz. Die bekanntesten sind die Alzheimer-Demenz und die vaskuläre Demenz. Die Suche nach Faktoren, die das Risiko vermindern, an einer Alzheimer-Demenz zu erkranken, erfolgt intensiv und die erzielten Ergebnisse haben derzeit nur eine begrenzte prognostische Aussagekraft. Als Risikofaktoren für die Entwicklung einer Demenz haben sich herausgestellt: ▶ Diabetes ▶ Lange bestehende Hypertonie ▶ Übergewicht ▶ Rauchen ▶ Depression ▶ Geistige Inaktivität ▶ Geringe geistige Leistungsfähigkeit ▶ Körperliche Inaktivität Die Prävalenzraten der Demenz sind bei beiden Geschlechtern etwa gleich hoch und sind vor allem altersabhängig. Frauen weisen eine etwas höhere Prävalenz der Alzheimer-Demenz als Männer auf. Während in der Altersgruppe der 65–70-Jährigen etwa 0,8% der Frauen und 0,6% der Männer betroffen sind, steigen diese Zahlen bei den 85–90-Jährigen auf 14% bei den Frauen und 11% bei den Männern. Bei 90-Jährigen steigt die Prävalenz auf 21% bei Männern und 25% bei Frauen. Dagegen lässt sich die vaskuläre Demenz häufiger bei Männern nachweisen, weil die typischen Risikofaktoren für diese Demenzform (z. B. koronare Herzkrankheit, Rauchen, Alkoholmissbrauch) häufiger vorkommen. Depressionen: Von gedrückter Stimmung bis zum Suizid Depressionen sind neben einer gedrückten Stimmungslage, Interesse- und Freudlosigkeit durch Schlafstörungen, Antriebslosigkeit, Sinnlosigkeitsgefühle und Suizidideen gekennzeichnet. Depressionen zählen nicht nur zu den häufigsten psychischen Störungen generell, sondern sie gehören auch zu den häufigsten Gründen für Berufsunfähigkeit. Während die Depression wie sie in den diagnostischen Klassifikationssystemen beschrieben wird, eher dem Krankheitsbild depressiver Frauen entspricht, ist die Depression beim Heilberufe / Das Pflegemagazin 2014; 66 (3) Mann oft durch impulsives Verhalten wie Aggression, vermehrten Alkoholkonsum und suizidales Verhalten maskiert. Als prädisponierende Faktoren für das Auftreten von Depressionen im Alter gelten: ▶ Weibliches Geschlecht ▶ Frühere depressive Phasen ▶ Biopsychosoziale Faktoren wie Partnerverlust, Krankheiten, Entwurzelung, sozialer Abstieg, Konflikte ▶ Persönlichkeitsstörungen ▶ Weitere negative Lebensereignisse Die meisten Menschen, die im Alter eine Depression aufweisen, haben schon in jüngerem Alter depressive Episoden erlebt. Leichtere Formen können aber auch jenseits des 65. Lebensjahres, vor allem bei Vorliegen vielfacher Belastungen, erstmals auftreten. Die Prävalenzraten von Depressionen liegen bei den über 65-jährigen Personen bei 5-10%, wobei die Häufigkeitsraten für schwere depressive Episoden beim weiblichen Geschlecht etwa doppelt so hoch sind wie bei Männern. Die Depressionen im Alter, die meist multifaktoriell bedingt sind, sind häufig ängstlich agitiert und hypochondrisch gefärbt. Daneben sind ein vermehrtes Jammern und eine erhöhte Somatisierungstendenz (Schmerzen) zu finden. Auch wenn körperliche Erkrankungen für einen Großteil der Symptome verantwortlich sind, darf die begleitende Depression nicht übersehen werden, da sie – besonders bei Männern – mit einem erhöhten Suizidrisiko einhergeht. Die häufig verminderten kognitiven Fähigkeiten und die Einschränkungen (vor allem der Leistungen der Sinnesorgane) begünstigen die Entwicklung psychotischer Symptome – insbesondere Wahnsymptome wie Verfolgungswahn. Zur Entstehung einer Depression im Alter können auch verschiedene Medikamente (z.B. Antihypertensiva) beitragen. Nicht immer leicht ist die klinische Abgrenzung einer Depression von einer beginnenden Demenzerkrankung. Neben der genauen Erhebung des psychopathologischen Status sind die exakte Erfassung von Komorbiditäten und Medikamenten sowie eine zusätzliche Außenanamnese bei Angehörigen zur Erhebung eines veränderten Alltagsverhaltens erforderlich. Die Depression zeigt sich im Alter nicht selten in Form einer dysthymen Störung, d.h. einer lang andauernden, weniger stark ausgeprägten depressiven Verstimmung mit Schlaflosigkeit, Energiemangel, Störungen im Essverhalten, Entscheidungsschwäche und Störungen der Vitalgefühle. Sinnlosigkeitsgefühle oft verbunden mit dem Gefühl der Wertlosigkeit und Suizidideen sind häufig bei depressiven Menschen. Eine repräsentative kanadische Studie bei älteren Menschen konnte zeigen, dass Suizidideen bei beiden Geschlechtern gehäuft zu finden sind, wenn diese Personen alleinstehend oder verwitwet sind und an einer Depression leiden. Dabei sind Frauen eher jüngeren Alters, Männer dagegen in einem höheren Alter betroffen. KEYWORDS Psychologische Prozesse Psychotherapie Medikamentöse Therapie Multiple kognitive Störung Höhere Prävalenzraten der Alzheimer-Demenz bei Frauen hängen vor allem mit der höheren Lebenserwartung zusammen. Eine Erstmanifestation einer schweren affektiven Störung nach dem 65. Lebensjahr ist selten. 15 Existenzängste stehen häufig mit somatischen Erkrankungen im Zusammenhang. Der ältere Patient Vollendete Suizide sind typisch für ältere depressive Menschen, vor allem für Männer. Dagegen kommen Suizidversuche eher bei jüngeren Frauen, vor. Die Suizidrate der über 60-Jährigen ist etwa doppelt so hoch wie bei jüngeren Erwachsenen und steigt mit zunehmendem Alter. Dabei sind etwa drei Viertel der Suizide Männern im hohen Alter zuzuordnen. Genetische und psychosoziale Faktoren begünstigen Angststörungen Auch bei den Angststörungen bei älteren Menschen wird eine multifaktorielle Genese angenommen, wobei neben genetischen Faktoren auch psychosoziale Faktoren (z.B. Verlusterlebnisse) und biologische Faktoren (z.B. koronare Herzkrankheit, Hypertonie, Emphysem, Medikamente) eine wichtige Rolle spielen. Angststörungen und Angstsyndrome sind auch im höheren Alter häufige psychische Störungen (Frauen mehr als Männer), wobei sich die Angstinhalte und Angstursachen verschieben. Besonders bedingt durch die häufig vorliegenden körperlichen Erkrankungen, die Verlusterlebnisse und die oft schwierige psychosoziale Situation, die nicht selten mit sozialer Isolation und finanziellen Problemen verbunden ist, kommt es zu einer starken Verunsicherung und zum Auftreten von Existenzängsten. Besondere Angstformen sind beim älteren Menschen die Angst vor Abhängigkeit und Hilflosigkeit Auch wenn hypochondrische Befürchtungen bei älteren Menschen nicht selten sind, ist bei dieser Altersgruppe die generalisierte Angsterkrankung die häufigste Angststörung, während den klassischen Phobien eine geringere Bedeutung zukommt. Phobische Störungen sind bei den über 65-jährigen Frauen mit 7,1% etwa doppelt so oft zu finden wie bei Männern der gleichen Altersgruppe. Schlafstörungen: Typische Begleiter Psychische Erkrankungen gehen fast immer mit Schlafproblemen einher. 25–35% der älteren Menschen leiden daran, wobei weniger über Einschlafstörungen, Durchschlafschwierigkeiten und frühzeitiges Erwachen geklagt wird. Neben der generell verkürzten Schlafdauer und dem veränderten Schlafmuster kommen viele medizinische und psychosoziale Faktoren für Schlafstörungen infrage. Dazu gehören körperliche Erkrankungen, die mit Schmerzen verbunden sind, kardiovaskuläre und respiratorische Insuffizienz, die nächtliche Nykturie (besonders bei Männern), aber auch psychische Störungen wie Depressionen und Angststörungen und Störungen im Biorhythmus mit Umkehr des Schlafwach-Rhythmus (z.B. längeres Dösen und Schlafen am Tag bei insgesamt wenig körperlicher Aktivität). Besondere Schlafstörungen bei älteren Menschen sind das Schlafapnoesyndrom, periodische Beinbewegungen im Schlaf und das Restlesslegs-Syndrom. Ältere Frauen klagen häufiger über Insomnie 16 als ältere Männer, auch wenn polysomnografische Studien zeigen, dass bei ihnen die Schlafkontinuität und der Tiefschlaf besser erhalten sind. Schlafstörungen stellen die häufigste Indikation für die Einnahme von Benzodiazepinen dar, wobei sich die medikamentöse Verordnung im Gegensatz zu den Empfehlungen in der Praxis gerade bei älteren Patienten oft über lange Zeit erstreckt. Psychosen: Monotone Symptomatik Spätschizophrenien (Erstmanifestation einer Schizophrenie nach dem 45. Lebensjahr) sind selten. Bei spätem Beginn sind mehr Frauen als Männer betroffen. Die Symptomatik der Schizophrenie im Alter ist eher monoton. Von den produktiven Symptomen dominieren paranoide Phänomene (z.B. desorganisierter Wahn). Nicht selten bestehen bei älteren Menschen schizophrene Residualzustände, gekennzeichnet durch kognitive Basisstörungen (z.B. Aufmerksamkeits- und Auffassungsstörungen, leichte Ermüdbarkeit), eine dynamische Entleerung, allgemeine Antriebsschwäche und Affektverflachung. Wahnsymptome sind bei älteren Menschen relativ häufig. Dabei können die Wahnphänomene isoliert oder als Begleitsymptome anderer psychischer Störungen, zum Beispiel einer Depression auftreten. Neben Verfolgungs- und Beeinträchtigungsideen findet man Schuld- und Verarmungsideen, aber auch hypochondrische Wahninhalte und querulatorische Tendenzen. Mitauslöser für diese psychotische Symptomatik sind: ▶ die Beeinträchtigungen der Sinnesorgane (z.B. Verschlechterung der Hör- und Sehleistung) ▶ die schwierige psychosoziale Situation (z.B. Abhängigkeit von anderen Menschen, Einsamkeit) ▶ das Vorliegen körperlicher Leiden (z.B. Demenz, Parkinson-Krankheit, Myokardinfarkt, toxischmetabolische Störungen, Antiparkinsonmittel, Antidepressiva) Auch die Prävalenz des wahnhaften Ungeziefer-Befalls (Dermatozoenwahn) nimmt im Alter zu (ca. 4% bei den über 65-Jährigen), wobei diese Form bei Frauen deutlich häufiger vorkommt als bei Männern. Missbrauch und Abhängigkeit Benzodiazepine sind die am meisten verschriebenen Anxiolytika bei älteren Menschen. Da Schlafstörungen bei älteren Frauen besonders häufig sind, ist die Verordnungs- und Einnahmepraxis bei dieser Gruppe besonders hoch, wobei der Beginn der Einnahme und der spätere Missbrauch dieser Substanzen meist im 6. Lebensjahrzehnt liegt. Häufig findet man eine „low dose dependence“ (Niedrigdosisabhängigkeit), d.h., die Betroffenen haben sich an die Einnahme der betreffenden Substanz gewöhnt, ohne dass eine Tendenz zur Dosissteigerung vorliegt. Es besteht aber ein erhöhtes Risiko des Übergangs in eine staHeilberufe / Das Pflegemagazin 2014; 66 (3) © Thinkstock PflegeKolleg bile Abhängigkeit, oft verbunden mit ernsthaften medizinischen Komplikationen. Altersabhängige Veränderungen der Pharmakokinetik und der Pharmakodynamik erhöhen das Potenzial für bestimmte Nebenwirkungen bei älteren Menschen. Häufige unerwünschte Folgen sind Stürze, die Verschlechterung der kognitiven Leistungsfähigkeit, eine Sedierung und Beeinträchtigungen beim Lenken von Fahrzeugen. Bei älteren Männern überwiegen Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit, wobei es sich meist um Problemtrinker handelt, wenn der Alkoholabusus erst nach dem 60. Lebensjahr begonnen hat. Psychopharmaka und Psychotherapie Bei vielen älteren Menschen ist die Multimorbidität und die dadurch notwendige gleichzeitige Verabreichung von mehreren Medikamenten ein großes Problem: In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass die über 65-Jährigen durchschnittlich zwei bis sechs ärztlich verordnete und ein bis zwei nichtverordnete Medikamente einnehmen. Auch wenn bei einigen älteren Menschen eine Dauertherapie notwendig ist, gibt es viele Ältere, bei denen eine Dauertherapie nicht sinnvoll ist und besonders Psychopharmaka Auslassversuche rechtfertigen. Lange Zeit herrschte bei Psychotherapeuten, bedingt durch Vorurteile und durch ein negatives Bild der Alten, aber auch durch fehlende Therapiekonzepte, die Meinung, dass ältere Menschen für eine Psychotherapie weniger geeignet sind als jüngere Menschen. In der Züricher Altersstudie gaben aber 5% der älteren Menschen an, nach dem 65. Lebensjahr eine Psychotherapie in Anspruch genommen zu haben (entweder als einzige Therapie oder kombiniert mit Psychopharmaka) und 10% nahmen eine therapeutische Maßnahme für psychische Probleme in Anspruch. Auch wenn die FA Z IT FÜ R D I E PFLEG E ▶ Körperliche Erkrankungen treten bei älteren Men- schen gehäuft auf, während psychische Störungen im Alter eher leicht abnehmen. ▶ Bei psychischen Störungen im Alter zeigen sich zum Teil deutliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern. ▶ Psychische Störungen zeigen bei älteren Men- schen oft eine atypische Symptomatik und sind deswegen nicht immer leicht zu erkennen. Pflegende sollten die Symptome kennen. Wahnphänomene treten isoliert oder als Begleitsymptome auf. ▶ Besonders bei Depressionen, Ängsten und An- passungsstörungen ist in vielen Fällen eine zusätzliche psychotherapeutische Behandlung angezeigt. Psychotherapie in der Geriatrie noch nicht vollständig etabliert ist, haben zunehmende Erfahrungen mit Psychotherapien bei Älteren gezeigt, dass diese sehr wohl von den spezifischen und unspezifischen Effekten einer Psychotherapie profitieren, wenn die Psychotherapie den Bedürfnissen, Möglichkeiten und Grenzen des älteren Menschen angepasst ist. Dabei kommt dem Zuhören und dem Verständnis ein besonderer Stellenwert zu. Prof. Dr. med. Johann F. Kinzl Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin Medizinische Universität Innsbruck Anichstr. 35, A-6020 Innsbruck [email protected] Anzeige