Kapitel 4 Reelle Zahlen

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Kapitel 4
Reelle Zahlen
4.1
Die reellen Zahlen
(Schranken von Mengen; Axiomatik; Anord-
nung; Vollständigkeit; Überabzählbarkeit und dichte Mengen)
Als typisches Beispiel für die reellen Zahlen dient die kontinuierlich
ablaufende Zeit.
Es geht hier aber nicht um die philosophische Frage Was ist die Zeit?”,
”
sondern darum, welchen grundsätzlichen Gesetzmäßigkeiten die Zeit
gehorcht, d.h. nach welchen Spielregeln kann man mit der Zeit operieren?
Diese Spielregeln sollten möglichst
i) knapp,
ii) vollständig,
iii) widerspruchsfrei
sein, um anschließend Vorhersagen für die Zukunft abzuleiten.
Man nennt sie Axiome.
Die Axiome sind nicht herzuleiten. Es handelt sich vielmehr um
grundlegende Aussagen, die als wahr angenommen werden.
Beispiel. Man betrachte die Weg- Zeitabhängigkeit des freien Falls, d.h.
Weg =
1
· Erdbeschleunigung · Zeit2 .
2
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Kapitel 4. Reelle Zahlen
Diese quadratische Gleichung als Modell eines einfachen natürlichen
Vorgangs ist, wie schon im Übungskapitel 0.2 gesehen, nicht auf den
Körper Q der rationalen Zahlen zugeschnitten.
Deshalb müssen geeignete Axiome mehr als nur die Eigenschaften der rationalen Zahlen widerspiegeln.
Intervalle und Schranken.
Zum Verständnis der folgenden Axiomatik wird hier ein letztes Mal mit
der heuristischen Vorstellung der reellen Zahlen R argumentiert, mit deren
Hilfe nun Intervalle eingeführt werden.
Man unterscheidet (a, b ∈ R fixiert)
abgeschlossene Intervalle
[a, b] := {x ∈ R : a ≤ x ≤ b} ,
offene Intervalle
(a, b) := {x ∈ R : a < x < b} ,
halboffene Intervalle
(a, b] := {x ∈ R : a < x ≤ b} ,
[a, b) := {x ∈ R : a ≤ x < b} ,
verallgemeinerte Intervalle
[a, ∞) := {x ∈ R : a ≤ x} ,
(a, ∞) := {x ∈ R : a < x} ,
(−∞, b] := {x ∈ R : x ≤ b} ,
(−∞, b) := {x ∈ R : x < b} .
Anhand dieser vertrauten Intervallbegriffe wird recht einfach verständlich,
wie so genannte beschränkte Teilmengen der reellen Zahlen charakterisiert
sind.
Kapitel 4. Reelle Zahlen
Definition 4.1.
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Beschränkte Mengen
Es sei A ⊂ R eine nicht-leere Teilmenge der reellen Zahlen.
Dann heißt
i) A nach oben beschränkt, falls es eine Konstante K ∈ R (eine obere
Schranke) gibt, sodass
x≤K
für alle x ∈ A ;
ii) A nach unten beschränkt, falls es eine Konstante K ∈ R (eine untere
Schranke) gibt, sodass
K≤x
für alle x ∈ A ;
iii) A beschränkt, falls A nach oben und nach unten beschränkt ist;
iv) im Fall einer nach oben beschränkten Menge die kleinste obere Schranke, d.h. eine obere Schranke k ∈ R von A mit
k≤K
für alle oberen Schranken K von A ,
das Supremum von A, sup A – ist k ∈ A, so heißt das Supremum auch
Maximum, max A;
v) im Fall einer nach unten beschränkten Menge die größte untere
Schranke d.h. eine untere Schranke k ∈ R von A mit
K≤k
für alle unteren Schranken K von A ,
das Infimum von A, inf A – ist k ∈ A, so heißt das Infimum auch
Minimum, min A.
Beispiele.
i) Das Intervall A = [1, 2] ist nach oben beschränkt (z.B. ist K = 5 eine
obere Schranke) und es ist nach unten beschränkt (z.B. ist K = 0 eine
untere Schranke), also ist das Intervall beschränkt.
Es ist sup A = 2 = max A und inf A = 1 = min A.
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Kapitel 4. Reelle Zahlen
ii) Das Intervall B = (1, 2) ist ebenfalls nach oben und nach unten beschränkt und somit beschränkt.
Wie oben gilt sup B = 2 und inf B = 1.
Man beobachtet in dem Beispiel, dass das Supremum und das Infimum einer Menge existieren können, obwohl sie selbst nicht zur Menge
gehören.
Mit anderen Worten: Maximum und Minimum von B existieren nicht.
iii) Das verallgemeinerte Intervall C = (−1, ∞) ist nach unten beschränkt, aber nicht nach oben beschränkt, demnach nicht beschränkt.
Das Infimum ist −1, ein Supremum existiert nicht.
Maximum und Minimum existieren ebenfalls nicht.
Die Axiome der reellen Zahlen.
Nach diesen Vorbereitungen wird nun endgültig festgelegt, was im Folgenden unter den reellen Zahlen zu verstehen ist.1
Axiomatik 4.1.
Axiome der reellen Zahlen
Es gibt eine Menge R, genannt die reellen Zahlen, die der folgenden Axiomatik gehorcht.
i) (Algebraische Axiome) Die reellen Zahlen sind ein Körper.
ii) (Anordnungsaxiome) Es existiert eine Ordnungsrelation <′′ (vgl. Pa”
ragraph 2.1) mit den Eigenschaften
(a) Aus x < y und y < z folgt x < z (Transitivität).
(b) Aus x < y folgt x + z < y + z für alle z ∈ R (Verträglichkeit mit
der Addition).
(c) Aus x < y und z > 0 folgt x · z < y · z (Verträglichkeit mit der
Multiplikation).
1
Die erste systematisch strenge Einführung der reellen Zahlen geht auf Dedekind zurück.
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iii) (Vollständigkeitsaxiom) Jede nicht-leere, nach oben beschränkte Teilmenge A der reellen Zahlen besitzt ein Supremum in den reellen Zahlen, sup A ∈ R.
Vergleich mit Q.
Die rationalen Zahlen Q sind ebenfalls ein angeordneter Körper2 , der aber
nicht vollständig ist.
√
Beispielsweise hat die Menge {q ∈ Q : q < 2} keine kleinste
obere
√
Schranke in Q. Eine solche kleinste obere Schranke (nämlich 2) existiert
aber nach dem Vollständigkeitsaxiom als reelle Zahl.
Anschaulich sieht man das am Zahlenstrahl3 (vgl. Abbildung 4.1).
Abbildung 4.1: Zum Vollständigkeitsaxiom.
Mit anderen
√ Worten: Das Vollständigkeitsaxiom schließt die Lücken (im
Beispiel 2), die Q auf der Zahlengeraden lässt.
Diese Lücken sind aber nicht nur Wurzeln, im Vergleich zu Q umfasst
R auch die transzendenten Zahlen, die nicht Lösungen von so genannten
algebraischen Gleichungen sind.4
Die reellen Zahlen umfassen die rationalen Zahlen, R \ Q heißt die Menge
der irrationalen Zahlen.
2
Es handelt sich hier um Archimedisch angeordnete Körper, d.h. zu jedem x ∈ R (Q) gibt es ein n ∈ N
mit x < n.
3
Die Richtung des Pfeils auf dem Zahlenstrahl symbolisiert die Anordnungsrelation.
4
So zeigte etwa von Lindemann die Transzendenz von π.
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Kapitel 4. Reelle Zahlen
Die Vorstellung, dass der Zahlenstrahl keine Löcher” hat, entspricht dem
”
Intervallschachtelungsprinzip, welches aus dem Vollständigkeitsaxiom folgt
und dessen Idee in Abbildung 4.2 verdeutlicht ist.
Abbildung 4.2: Zum Intervallschachtelungsprinzip.
Dabei werden abzählbar unendlich viele (siehe Definition 3.2) abgeschlossene Intervalle In betrachtet, die sich im Sinne von In+1 ⊂ In für alle n ∈ N
enthalten. Werden die Intervalle für große n beliebig klein”, so existiert
”
genau eine reelle Zahl x im Durchschnitt all dieser Intervalle (vgl. wieder
Abbildung 4.2).
Beim Vergleich rationaler und reeller Zahlen führt das Bild des Auffüllens
von Lücken in der Zahlengeraden allerdings leicht zu einem Missverständnis bezüglich der Größenverhältnisse.
Die Menge der irrationalen Zahlen ist erheblich größer als die der rationalen, trotzdem kann man einer irrationalen Zahl mit einem Bruch beliebig
nahe kommen.
Satz 4.1.
Überabzählbare und dichte Mengen
i) Die rationalen Zahlen liegen dicht in R, d.h. sind x, y ∈ R beliebig
mit x < y gegeben, so gibt es eine rationale Zahl q ∈ Q mit x < q < y.
ii) Die Menge der reellen Zahlen R ist überabzählbar, was bedeutet, dass
es keine bijektive Abbildung wie in Definition 3.2 gibt.
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Bemerkungen.
i) Nach dem zweiten Teil des Satzes ist die Größe der Menge der reellen
Zahlen sogar von einer ganz anderen Qualität als die der Brüche.
ii) Trotzdem können reelle Zahlen nach dem ersten Teil des Satzes beliebig gut mit einem Bruch approximiert werden. Dementsprechend
können die reellen Zahlen als Dezimalzahlen im Sinne von
R = {nicht-abbrechende Dezimalzahlen}
dargestellt werden.
4.2
Das Rechnen mit Ungleichungen und Beträgen
(Längenmessung und Abstände; Betragsfunktion)
Für das Rechnen mit Ungleichungen reeller Zahlen gelten die folgenden
elementaren Regeln, die aus der Axiomatik 4.1 abgeleitet werden können
(Übungsaufgabe) und die man sich leicht anhand von Beispielen klar
machen kann.
Vorsicht. Bei der Herleitung der Regeln mithilfe der Axiomatik dürfen
nur die in Axiomatik 4.1 aufgeführten Eigenschaften benutzt werden
und nichts weiter. Bei der so trivial aussehenden ersten Eigenschaft der
folgenden Regeln ist also formal das Produkt des neutralen Elementes
bzgl. der Addition mit einem beliebigen Element aus R zu betrachten und
zu zeigen, dass dies stets das neutrale Element bzgl. der Addition ergibt.
Rechenregeln. Für alle x, y ∈ R gilt:
i) x · 0 = 0;
ii) x ≤ y ⇒ −x ≥ −y;
iii) x ≤ y (x, y ̸= 0) ⇒
1
1
≥ ;
x y
iv) (x ≤ y) ∧ (z ≤ 0) ⇒ x · z ≥ y · z;
v) x2 ≥ 0;
vi) (x ≤ y) ∧ (u ≤ v) ⇒ x + u ≤ y + v;
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Kapitel 4. Reelle Zahlen
vii) (0 ≤ x ≤ y) ∧ (0 ≤ u ≤ v) ⇒ x · u ≤ y · v.
Das Messen von Längen und Abständen.
Das geeignete Werkzeug hierzu ist die Betragsfunktion, die in Abbildung
4.3 skizziert ist.
Abbildung 4.3: Die Betragsfunktion.
Definition 4.2.
Betrag
i) Der Betrag (oder Absolutbetrag) einer reellen Zahl x ist definiert als

 x , falls x ≥ 0 ,
|x| :=
 −x , falls x < 0 .
ii) Der Abstand zweier reeller Zahlen x, y auf dem Zahlenstrahl ist |x−y|.
Kapitel 4. Reelle Zahlen
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Für das Rechnen mit Beträgen implizieren die obigen Regeln:
Eigenschaften und Rechenregeln. Für alle x, y ∈ R ist
i) |x| ≥ 0;
ii) |x| = 0 ⇔ x = 0;
iii) |x · y| = |x||y|;
iv) |x + y| ≤ |x| + |y| (Dreiecksungleichung);
v) |x| − |y| ≤ |x − y| (umgekehrte Dreiecksungleichung).
Beweis. Die ersten vier Aussagen sind direkt einsichtig.
Zum Beweis von v) beobachtet man (nach iv)):
|x| = |x − y + y| ≤ |x − y| + |y| ⇒ |x| − |y| ≤ |x − y| .
Ebenso gilt
|y| = |y − x + x| ≤ |x − y| + |x| ⇒ |y| − |x| ≤ |x − y| ,
d.h. v) ist richtig.
4.3
Übungsaufgaben zu Kapitel 4
Aufgabe 1. Vergleichen Sie die Axiomatik 4.1 mit Ihrer Vorstellung von
der Zeit.
Aufgabe 2. Bestimmen Sie (falls existent) Supremum, Maximum, Infimum und Minimum der Mengen
i) M1 = (a, b], a, b ∈ R,
{
}
ii) M2 = n1 : n ∈ N ,
{
iii) M3 = x ∈ R − {0} :
1
x
>
1
x2 },
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Kapitel 4. Reelle Zahlen
iv) * M4 = {x ∈ R : |x − 2| ≥ |x − 1|}.
Lösen Sie dabei die Ungleichung in M4 sowohl analytisch als auch mithilfe
eines Computeralgebrasystems nach x auf.
Aufgabe 3.* Zeigen Sie die Regeln aus Abschnitt 4.2 für das Rechnen mit
Ungleichungen.
Aufgabe
√ 4.* Zeigen Sie für a, b ≥ 0 die Ungleichung für das geometrische
Mittel ab und das arithmetische Mittel (a + b)/2
√
a+b
ab ≤
.
2
Lösungshinweise zu den Übungsaufgaben.
Aufgabe 2. iv) Nach der Definition 4.2 des Betrages ist

 |x − 2| = x − 2 ,
x≥2:
 |x − 1| = x − 1 ,

 |x − 2| = 2 − x ,
1≤x<2:
 |x − 1| = x − 1 ,

 |x − 2| = 2 − x ,
x<1:
 |x − 1| = 1 − x .
Es ist also
M4 ∩ {x : x ≥ 2}
M4 ∩ {x : 1 ≤ x < 2}
M4 ∩ {x : x < 1}
M4
=
=
=
=
∅,
{x : 1 ≤ x ≤ 3/2} ,
{x : x < 1} ,
{x : x ≤ 3/2} .
Kapitel 4. Reelle Zahlen
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Supremum und Maximum sind 3/2, Infimum und Minimum existieren
nicht.
Aufgabe 3. Exemplarisch seien nur die erste und die zweite Regel
bewiesen:
i) Die Null ist das neutrale Element der Addition, und aus dem Distributivgesetz folgt
x · 0 = x · (0 + 0) = x · 0 + x · 0 .
Das inverse Element bzgl. der Addition zu x · 0 ist −x · 0 und man erhält
mit dem Assoziativgesetz:
0 = x · 0 − x · 0 = (x · 0 + x · 0) − x · 0 = x · 0 + (x · 0 − x · 0) = x · 0 .
ii) Gilt in der Voraussetzung die Gleichheit, so ist die Aussage sicher richtig.
Es sei also x < y. Aus dem Anordnungsaxiom (b) folgt (Assoziativität und
Kommutativität beachten):
−y = (x − x) − y = x + (−x − y) < y + (−x − y)
= y + (−y − x) = (y − y) − x = −x ,
also die Behauptung. Die weiteren Regeln sind ähnlich zu zeigen.
Aufgabe 4. Die Ungleichung folgt unmittelbar aus
√
√
( a − b)2 ≥ 0 .
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