Über die Bedeutung von sozialräumlichen Konzepten ... 27 Oliver Frey Über die Bedeutung von sozialräumlichen Konzepten im Kontext zunehmend polarisierter Stadtentwicklung Sozialräumliche Konzepte haben Konjunktur! Dieser Bedeutungszuwachs von sozialraumorientierten Konzepten soll im Folgenden in den Kontext einer zunehmend polarisierten Stadtentwcklung gestellt werden. These dabei ist, dass das Leitbild der Sozialräumlichkeit mit den Vorgaben „integrativer Stadtteilkonzepte“ übereinstimmt, die unter dem Druck wachsender sozio-ökonomischer Probleme in benachteiligten Stadtquartieren entwickelt wurden. Sozialräumliche Konzepte werden heute als eine Antwort auf die Verräumlichung von Armut in benachteiligenden und ausgegrenzten Stadtquartieren gesehen. Seit einiger Zeit wird von der Sozialarbeit und Sozialpädagogik die Sozialraumorientierung sozialen Handelns und Planens eingefordert. Im Zuge zunehmender Polarisierungen zwischen arm und reich und einer Verräumlichung von Armut in benachteiligten Stadtquartieren kommt der Sozialarbeit oftmals eine Feuerwehrfunktion zuteil. Dabei soll das Konzept einer sozialräumlich ausgerichteten Sozialarbeit auf diese neuen Herausforderungen reagieren. Auch auf anderen Ebenen wird mit Sozialraumorientierung in Kombination mit sozialräumlichen Budgets experimentiert: Im Bereich der sozialen Stadterneuerung werden neue Formen des Quartiersmanagement erprobt, Strategien des Empowerments mit milieu- und quartiersorientierten Interventionsprogrammen verknüpft (Alisch 2002). Dabei wird auf Prinzipien der Sozialraumorientierung gesetzt: Dezentralität, Ressourcenverantwortung, Infrastrukturentwicklung, Beteiligung, Selbststeuerung, Überwindung der Einzelfallorientierung und Kooperation verschiedener Akteure und Institutionen. Die neue Sozialraumorientierung in der sozialen Arbeit und die Finanzierung sozialer Dienste mittels Sozialraumbudgets entsprechen den Zielsetzungen einer integrativen Stadtentwicklungspolitik. Das von der Bundesregierung 1999 aufgelegte Bund-Länder Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt“ und das Programm „Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten“ 28 Oliver Frey wurden als ressortübergreifende, sozialräumlich orientierte Programme entwickelt, die bestimmte Förderungen in genau definierten geographisch abgegrenzten Quartieren beinhalten. Im Grunde sind in diesen beiden staatlichen Programmen die von der Gemeinwesenarbeit schon in den 70er Jahren formulierten Prinzipien aufgenommen: Der Raumbezug sozialer Arbeit, das Ziel der Verbesserung von Lebensbedingungen durch Aktivierung, Vernetzung, Partizipation und Prozessorientiertheit. Doch was wird unter den Konzepten der Sozialraumorientierung in der sozialen Arbeit verstanden? Ist Sozialraumorientierung mit einer Teilnahme am „Stadtteil-Arbeitskreis“ gleichzusetzen? Erschöpft sich die Sozialraumorientierung in der Zielsetzung einer verstärkten Vernetzung unterschiedlicher Akteure und Institutionen? Oder ist damit eher die Überwindung der Einzellfallarbeit gemeint? Lässt sich Sozialraumorientierung auf die Devise „Vom Fall zum Feld“ reduzieren? Oder besteht die Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit darin, mit anderen Institutionen wie z.B. Schulen zusammenzuarbeiten? Sozialraumorientierung wird im Blickwinkel eines Sozialarbeiters anders aussehen, als sie eine Quartiersmanagerin in der Stadtentwicklung definiert. Oftmals ist es auch nur ein Modebegriff. Mit den Konzepten der Sozialräumlichkeit geht also eine „neue Unübersichtlichkeit“ einher. Einige beklagen, dass die sozialräumliche Orientierung in der Kinder- und Jugendarbeit zu einem sozialgeografischen Muster verkürzt wird (Wohngebiet, eingrenzbarer Sozialraum, Planungsraum etc.) (Deinet:1999, Deinet:2001). Deinet sieht das sozialräumliche Konzept der Kinder- und Jugendarbeit vielmehr als eine inhaltliche Orientierung, die die subjektiven Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen in ihr Blickfeld nimmt und damit auch in einem politischen Sinne Fragen nach Aneignungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum stellt. Andere Autoren sehen als wesentliches Merkmal einer Sozialraumorientierung die Verteilung finanzieller Ressourcen in Sozialraumbudgets. Als Planungsgröße verstanden ist der Sozialraum ein geographisch beschreibbares Gebiet, für dessen BewohnerInnen charakteristische und besondere sozialstrukturelle Merkmale bestimmbar sind. Es ist im sozialgeografischen Sinn dann vielfach ein mit „Eigenidentität“ von BewohnerInnen ausgezeichneter Raum. Das Problem besteht darin, dass es keinen einheitlichen, allgemein anerkannten Sozialraumbegriff gibt. Der Sozialraum ist durch unterschiedliche Inhalte des Raumbezugs und der räumlichen Zuordnung charakterisiert. Auf der anderen Seite existieren unterschiedliche Inhalte einer sozialräumlich ausgerichteten Arbeit. Aus diesem Grund soll zunächst Über die Bedeutung von sozialräumlichen Konzepten ... 29 auf die geschichtliche Wurzel der Sozialraumorientierung eingegangen werden. Die Sozialräumlichkeit als Leitbild Die theoretische Wurzel der Sozialraumanalyse liegt in der Sozialökologie der 20er Jahre, geprägt von der Chicagoer Schule (Park, Burgess, McKenzie). Die Sozialökologische Theorie hat verdeutlicht, dass soziale Ungleichheit von räumlichen Faktoren beeinflusst wird. Die Bedeutung von Sozialräumen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen wurde insbesondere von den Vertretern der systemtheoretischökologischen Sozialisationstheorie herausgestellt (Bronfenbrenner:1976). Die jeweilige soziale Beschaffenheit von Räumen prägt die spezifischen sozialen Problemlagen von jungen Menschen, da bei ihnen die aktive Aneignung der Umwelt immer raumbezogen geschieht. (vgl. Institut für soziale Arbeit e.V: Expertise:2001) Sozialraumorientierung beruht auf einer Entwicklung, an deren Beginn die Gemeinwesenarbeit steht. Ihr Ansatz bestand darin, die soziale Infrastruktur von Stadtquartieren zu verbessern. Ihre Prinzipien einer stadtteilorientierten Handlungsstrategie sehen die Vertreter der Gemeinwesenarbeit in der Betonung des Aktivierungs- anstelle des Betreuungsgedanken. Man will an vorgefundene sozialräumlich verankerte Netzwerkstrukturen und Selbsthilfefähigkeit anknüpfen und die Einzelfallfixierung Sozialer Arbeit überwinden. Zu den Perspektiven stadtteilbezogener Sozialarbeit, die auf den GWA-Ansätzen beruht, gehört die Orientierung an der Wohnbevölkerung, also eine offene, aktivierende Suche nach den Interessen und Problemlagen der BewohnerInnen, die Nutzung der Stadtteilressourcen und die Einbeziehung von örtlichen Initiativgruppen. Sozialarbeit wird als zielgruppenübergreifend verstanden, wobei der gesamte Stadtteil das Arbeitsfeld bildet. Gemeinwesenarbeit wird als ein Konzept zur Förderung der Eigeninitiative von Menschen mit gleichen Problemlagen angelegt. In den klassischen GWA-Ansätzen wird hierin eine Chance zur Organisation von Gegenmacht und einem „Widerstand von unten“ gesehen. Der Klassische GWA-Ansatz versteht sich als ein politisch, gesellschaftskritischer emanzipatorischer Ansatz. (Hinte/Karras:1989). Eingeflossen in die Konzepte der Sozialraumorientierung ist auch der Lebensweltansatz. Die GWA nach Oelschlägel setzt an dem Ort an (Quartier, Institution), wo die Menschen und deren Probleme zu finden 30 Oliver Frey sind. Die Lebensverhältnisse, Lebensformen und Lebensumstände rücken ins Blickfeld. Die subjektiven Deutungsmuster und Handlungsweisen der Handelnden selbst treten in den Vordergrund. Die Bedeutung präventiver, ambulanter, offener Angebote nimmt einen zentralen Platz ein. (Oelschlägel:1992) Die Ansätze der Gemeinwesenarbeit haben viel zu den sozialräumlichen Konzepten in der Jugend- und Sozialarbeit beigetragen. 1990/91 wurden der „Lebensweltbezug“ und die „Beteiligung“ sowie ein Sozialraumbezug im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJGH) festgeschrieben. Im 8. Jugendbericht von 1990 beschreibt die handlungsleitenden Strukturprinzipien der Jugendhilfeplanung: Sozialraumorientierung statt quantitativer Flächendeckung, Lebensweltorientierung statt Einrichtungsplanung und offensive Prozessplanung statt statischer Festschreibung. Diese Konzepte gewannen durch die sozialräumliche Spaltung und die Zunahme sozialer Ungleichheit an Bedeutung. Diese Entwicklung soll im Folgenden nachgezeichnet werden. Modernisierung und soziale Ungleichheit - Strukturierung der Gesellschaft Jede Gesellschaft ist strukturiert in ihrer inneren und äußeren Ordnung durch Institutionen , Regeln, Normen und Werte sowie durch gelernte Verhaltensweisen der Individuen. Diese Strukturierung sorgt für die Integration der Individuen in die Gesellschaft. Jede Gesellschaft hat immer einen Kontext der sich in einem Orts- und Zeitbezug ausdrückt. Das bedeutet, dass die Strukturierung zwischen den (nationalen) Gesellschaften variiert und über die Zeit angepasst werden muss. Auch jeder Mensch ist sozial strukturiert und durch mehrere Ebenen geprägt: Zuerst stehen objektive Lebens- und Handlungsbedingungen, welche das Ausmaß der Ressourcen und der Beschränkungen festlegen. Die Stellung im Erwerbsleben oder der Wohnort, sowie Freizeitmöglichkeiten können den individuellen Handlungsspielraum des Individuums begrenzen oder erweitern. Dabei spielen zentrale Werte, Normen und Handlungsziele des Individuums eine Rolle. Im Habitus des Individuums drückt sich sowohl die objektive gesellschaftliche Struktur wie auch die individuellen Wertsetzungen des Menschen aus. Die Wahrnehmungen und Interpretationen der Lebenswelt sind kognitive Einstellungen, die die Handlungsweisen und Aktivitäten in der Praxis strukturieren. (Bourdieu:1995) Über die Bedeutung von sozialräumlichen Konzepten ... 31 Industriegesellschaftliche Strukturen sozialer Ungleichheit In der Industriegesellschaft legte die Stellung im Produktionssystem das Ausmaß der Ressourcen und damit die Lebensbedingungen fest. In der Soziologie wird diesbezüglich von Klassen- und Schichtzugehörigkeit gesprochen. Der Sozialstaat intervenierte zu Gunsten der Benachteiligten mit dem Ziel einer allgemeinen Integration in die Gesamtgesellschaft. Die Klasse bzw. Schicht determiniert die maßgeblichen individuellen Leitvorstellungen und Kulturmuster. Diese Leitvorstellungen drücken sich in sog. Klassen- bzw. Schichtmentalitäten aus. Diese wiederum prägen die zentralen politischen Interessen und Präferenzen. Diese Klassen- und Schichtmentalitäten sowie die Präferenzen bestimmen ebenfalls die Alltagshandlungen der Individuen. Für die Übergangsgesellschaft von der Industriegesellschaft zur postfordistischen Gesellschaft wird von einer Heterogenisierung und Pluralisierung von Lebensstilen gesprochen. Dabei verlieren, so die These, die Klassen- bzw. Schichtprägungen für die Bestimmung der Sozialen Ungleichheit an Bedeutung. Es entstehen „neue“ Dimensionen sozialer Ungleichheit. Darunter sind die Arbeitsund Freizeitbedingungen, die Wohn- und Wohnumweltbedingungen sowie die soziale Sicherheit zu verstehen. In der Soziologie wird von neuen Zuweisungsmerkmalen gesprochen, die die Stellung des Individuums in der Gesellschaft strukturieren. Das Geschlecht, die Herkunftsregion, die Familienverhältnisse, das Alter und die Nationalität werden neue Merkmale sozialer Ungleichheit. Die Strukturen sozialer Ungleichheit im Post-Fordismus Im Post-Fordismus entfaltet das Produktionssystem wieder seine polarisierende Wirkung. Das Risiko den Arbeitsplatz zu verlieren nimmt zu und damit auch die Unsicherheiten für eine geplante abgesicherte ökonomische Zukunft. Die Dominanz des ökonomischen Sektors über den politischen Sektor ist allenthalben zu beobachten. Gerade bei der Stadtentwicklung steht die kommunale Steuerung oft hinter ökonomischen Interessen von Investoren im Hintergrund. Durch den Begriff der „De-Regulierung“ wird die flexiblere Handhabung von staatlichen Steuerungen bezeichnet. Der Staat verlagert Kompetenzen nach oben (supra-staatlich) und unten (Region) . Die Verwaltungsmodernisierung steht unter einem Druck leerer Kassen und einer geforderten Effizienzsteigerung. Auch das Konzept 32 Oliver Frey der Sozialraumorientierung wird unter diesen Rahmenbedingungen oftmals als ein Mittel zur Einsparung angesichts angespannter Haushalte gesehen. Im Post-Fordismus werden die Klassenverhältnisse wieder sichtbar. Zusätzlich entwickeln die Strukturmerkmale „Geschlecht“ und „Herkunftsnationalität“ an Prägekraft. Die Polarisierung der städtischen Teilräume nimmt zu. In der Stadtsoziologie wird von der „zweigeteilten“ oder „viergeteilten“ Stadt gesprochen, eine Spaltung in arme und reiche Quartiere. Außerdem sind erneute Schließungsmechanismen zu beobachten, insbesondere in der Hierarchie sehr weit oben („neue Dienstleistungsklasse“) und unten („urban underclass“). Klassenspezifische Habitusformen („culture of poverty“ vs. „Yuppie-Mentalitäten“) besitzen eine neue Konjunktur meist einhergehend mit einer Entsolidarisierung. Das Ende der „Arbeitnehmer- und Industriegesellschaft“ Das Buch von Robert Castel (2000) „Die Metamorphosen der sozialen Frage“ steht exemplarisch für eine Perspektive auf die Ausgrenzung, die das Ende der „Arbeitnehmergesellschaft“ und ein langsames Zerfallen des Arbeitnehmerstatus mit seinen Rechten, Pflichten sowie Absicherungen konstatiert. Die Industrialisierung hat die Arbeitnehmerschaft zum zentralen Motor der sozialen Integration gemacht. Der wirtschaftliche Wandel wirkt auf die durch Lohnarbeitsverhältnisse strukturierten sozialen Beziehungen ein. Das Phänomen der Exklusion wird erklärt als ein Prozess der langsamen Ablösung einzelner Personen aus der Welt der Arbeit und ein damit einhergehender Verlust sozialer sowie familiärer Bindungen. Die abnehmende Stabilität von Erwerbsverhältnissen geht mit dem Risiko der Verarmung an sozialen Beziehungen einher. Das Buch von Lapeyronnie/Dubet (1994): Im Aus der Vorstädte steht dabei exemplarisch für den Befund vom „Ende der Industriegesellschaft“. Der Kern der sozialen Integration wird im Konflikt zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gesehen. Im Zentrum des Phänomens der Exklusion steht die abnehmende Bedeutung der Arbeiterbewegung. In der Industriegesellschaft hat die Arbeiterbewegung Arme und Ausgegrenzte in sich integrieren können und die Lebenswelten in den banlieues rouges, den roten Vorstädten, symbolisierten ein Klassenbewusstsein als eine kulturelle und soziale Bewegung. Exklusion erscheint damit als Problem dort, wo die Armen und Ausgegrenzten sich nicht mehr zu einem kollektiven Akteur der Gesellschaft formieren können. Über die Bedeutung von sozialräumlichen Konzepten ... 33 Hier wird die Verräumlichung der sozialen Frage konstatiert. Die Vorstadt (la banlieue) wird zum Ort, an dem tagtäglich Ausgrenzung erfahren wird, weil BewohnerInnen am stärksten vom Wandel des Arbeitsmarktes betroffen sind. Die soziale Frage geht über den Produktionsbereich hinaus und verbindet sich in den Vorstädten mit kulturellen Fragestellungen der Migration. Die soziale Frage verlagert sich in den Raum. Die Verräumlichung der sozialen Frage Mit der ökonomischen Umstrukturierung und der gesellschaftlichen Polarisierung und Heterogenisierung hat sich die residentielle Segregation in Großstädten verschärft. Es haben sich - lange kaum beobachtet – „pockets of poverty“ unmittelbar neben Inseln des Wohlstandes gebildet (Dangschat:1999). Die Segregationstendenzen und gesellschaftliche Abspaltungen scheinen sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu verstärken. Auch konstatieren wir eine schwindende Integrationskraft der „Integrationsmaschine Stadt“. Diese schwindende soziale Integrationskraft der Stadt bedeutet mit Blick auf sozialräumliche Entwicklung, dass sich soziale Ungleichheit bei einer wachsenden Heterogenität der Bevölkerung als zunehmende soziale Segregation ausbildet. Es entstehen Prozesse sozialer Selektion an deren Ende Quartiere mit einer kumulativen Abwärtsentwicklung stehen. Im Laufe dieser Abwärtsspirale von Wohnquartieren ziehen Haushalte mit Wahlmöglichkeiten aus dem Quartier weg. Auch die bessergestellten ausländischen Familien suchen sich einen Wohnort außerhalb der benachteiligten und ausgegrenzten Quartiere. Am Ende des Prozesses steht eine Konzentration und Dichte sozialer Problemlagen. Diese ausgegrenzten Quartiere werden selbst zur Ursache sozialer Ungleichheit. Aufgrund mangelnder Infrastruktur, fehlenden Verkehrsanschlüssen an die prosperierenden Stadtregionen, aufgrund von Stigmatisierungen ganzer Quartiere und Wohnadressen und nicht zuletzt aufgrund schlechter Schulen und Lernorte verlieren diese Stadtquartiere den Anschluss an die Gesamtstadt. Die Vorstadt wird zum Ort, an dem tagtäglich Ausgrenzung erfahren wird, weil BewohnerInnen am stärksten vom Wandel des Arbeitsmarktes betroffen sind. Die soziale Frage geht über den Produktionsbereich hinaus und verbindet sich mit kulturellen Fragen. So lebt meistens in diesen Quartieren eine signifikant höhere MigrantInnenbewohnerschaft. Die soziale Frage verlagert sich in den Raum: statt zentraler staatlicher Finanzierung von sozialer Hilfe müssen Verträge in bezug auf Projekte mit „Verantwortungsgemeinschaften“ in den einzelnen Quartieren geschlossen werden. Diese vertragliche Konzeption sozialer Absicherung fließt in eine soziale Stadtpolitik ein. 34 Oliver Frey In den ausgegrenzten und ausgrenzenden Quartieren geht das Bewusstsein der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen verloren. Die vorherrschenden subkulturellen Normen und Verhaltensmuster in den Quartieren bringen eine hohe Distanz zu den sozial vorherrschenden erwarteten Normen. Daraus folgt, dass die Lebensführung und Handlungsmöglichkeiten objektiv eingeschränkt sind. Das negative Image dieser Quartiere entfaltet Stigmatisierungseffekte nach innen und außen, die Handlungs- und Darstellungsmöglichkeiten der BewohnerInnen ebenfalls einschränken. „Die Soziale Stadt“ – ein Programm gegen die sozialräumliche Spaltung in den Städten Das 1999 von der Bundesregierung auf den Weg gebrachte BundLänder Programm mit dem Titel „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt“ versucht auf diese Situation zu reagieren und eine strategische Neuorientierung der Städtebauförderung einzuleiten: Aufgrund der Erfahrungen mit der klassischen Städtebausanierung nach dem Städtebauförderungsgesetz und den verschiedenen Programmen auf Länderebene zur sozialen Stadtentwicklung, wird mit dem neuen Forschungs- und Handlungsfeld „Soziale Stadt“ versucht, investive und nicht-investive Vorhaben zu fördern und zu verknüpfen. Dabei wird im Kontext einer wachsenden sozio-ökonomischen Polarisierung in benachteiligten Stadtquartieren die Notwendigkeit von „integrativen Handlungsansätzen“ auf Stadteilebene erkannt. Die Schwäche von sektoralen Politikansätzen verdeutlichte die Notwendigkeit zur Anwendung integrativer Handlungsansätze, was auch für die Sozial- und Jugendhilfe erkannt wurde. Der 8. Jugendbericht konstatiert 1990, dass die Lebenswelt von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien „zunehmend von Entwicklungen in anderen Bereichen“ strukturiert wird, „auf die die Jugendhilfe bisher keinen Einfluss hat“. Aus diesem Grund würden „Ansätze zur Kooperation und Kommunikation mit anderen Politikfeldern“ benötigt, und es komme darauf an, „in aufgabenbezogenen, offenen und vernetzten Arrangements Räume und Gestaltungsmöglichkeiten zu sichern“. Auch im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) wird der Auftrag an die Jugendhilfe erteilt, „positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen“. Damit tritt der Sozialraum als Aufgabenfeld in den Vordergrund. Für die Jugendhilfe erscheint eine Übereinstimmung mit dem Programm „Soziale Stadt“ in den Bereichen, wo der Sozialraum stärker in das Blickfeld gerät und die Kooperation mit anderen Akteuren und Institutionen zur Zielsetzung wird. (Be- Über die Bedeutung von sozialräumlichen Konzepten ... 35 cker/Löhr:2000) Das Bund-Länder Programm „Soziale Stadt“ versucht die Ressourcen auf der Quartiersebene zu bündeln und zu vernetzen. Das wesentliche Ziel ist eine Verbesserung der Lebensbedingung in den benachteiligten Stadtquartieren durch eine aktive und integrative Stadtentwicklungspolitik. Neben Aktivierung und Beteiligung von Bürgern soll insbesondere die Integration und Vernetzung bislang nebeneinander stehender politischer Handlungsfelder erfolgen. Die Entwicklung sozialraumbezogener Handlungsansätze in der sozialen Arbeit ist anschlussfähig an die Handlungsgrundsätze des Programms „Soziale Stadt“ und sollte im Hinblick auf eine enge Kooperation mit den lokalen Strukturen eines Quartiers und den dortigen Akteuren wie z.B. dem Quartiersmangement erfolgen. „Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten“ E&C Das Programm E&C ist im Sinne einer ressortübergreifenden Bündelung von Ressourcen und Aktivitäten in jenen Stadtquartieren angesiedelt, die im Rahmen des Bund-Länder Programms „Soziale Stadt“ des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen gefördert werden. Das Programm, ein Programm für benachteiligte Kinder und Jugendliche in sozialen Brennpunkten und strukturschwachen ländlichen Regionen, (E&C) wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jungend (BMFSFJ) initiiert. Es soll Ressourcen und Maßnahmen für diese benachteiligten Sozialräume qualifizieren und weiterentwickeln. Ziel des Programms ist es die vorhandenen Mittel und Fördermöglichkeiten sowie Ressourcen gebietsbezogen und gebietsspezifisch für die Sozialräume zu nutzen. Dabei soll der Blick in der Kinderund Jugendhilfe stärker als bisher auf die Probleme und Schwierigkeiten junger Menschen in diesen Sozialräumen gerichtet werden. Die Einzelmaßnahmen und Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe sollen zu einem Gesamtpaket verknüpft werden. Dabei sollen Bedarfslücken durch neue Maßnahmen und Angebote gedeckt werden. Im Zentrum des Programms stehen die unterschiedlichen Lebenslagen der hier geborenen und zugewanderten Mädchen und Jungen. Die Eröffnung gleicher Chancen für diese junge Bevölkerung ist Anspruch des Programms. (vgl.: Stiftung SPI, DJI: Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten, Oktober 2000) 36 Oliver Frey Wie haben die Programme „Soziale Stadt“ und „E&C“ die räumliche Frage auf die Tagesordnung gestellt? Die Pioniere der sozialen Stadt haben durch die zahlreichen Länderund Städteinitiativen das Quartier neu entdeckt. Die Probleme der Quartiere (sozial, baulich, infrastrukturell) wurden für die Augen der Entscheidungsträger sichtbar und das Quartiers als Handlungs- und Wohnort anerkannt. Insofern entstand auch durch diese beiden Programme eine neue Konjunktur für sozialräumliche Handlungsansätze im Kontext einer zunehmend polarisierten Gesellschaft: Die soziale Frage wurde auf der Quartiersebene verortet, wobei immer die Besonderheit und Unterschiedlichkeit des Lokalen im Vordergrund steht. Es wurde in den Programmen die Leitidee einer „aktivierenden Staates“ entwickelt, der durch eine übergreifende Kooperation staatlicher, halbstaatlicher oder privater Akteure ein integriertes Handlungskonzept vor Ort entwickelt. Durch die beiden Programme erfolgte eine neue „positive Diskriminierung“, die die in den benachteiligten Quartieren lebende Bevölkerung zu Trägern besonderer Förderungen und Programmstellungen machte. Auf Quartiersebene wurde versucht eine neue Kommunikationskultur zwischen unterschiedlichen Akteuren zu etablieren, die meist durch sogenannte Quartiersmanagementstrukturen institutionalisiert wurde. Die Sozialräumlichkeit der Programme drückt sich auch in dem Versuch ein bestimmtes geographisch abgrenzbares Gebiet zu zonieren, das in den Einflussbereich staatlicher Förderprogramme kommt. Schlussfolgerungen für die Jugendhilfe Die sozio-ökonomische Polarisierung in städtischen Gebieten wächst. Folge ist eine Verräumlichung von Armut in benachteiligten Quartieren. Insbesondere die Kinder- und Jugendarmut nimmt in diesen Armutsgebieten zu. Die Sozialarbeit soll diesem Trend, der die soziale Integrationskraft der Städte gefährdet, entgegenwirken. Doch sie ist alleine auf sich gestellt damit überfordert und kann nur eine Feuerwehrpolitik betreiben. Um nicht nur kurzfristige Verbesserungen zu erreichen, muss die Jugendhilfe sich mit anderen Akteuren und Institutionen im Stadtteil zusammenschließen. Die Konzepte einer sozialräumlich orientierten Jugendarbeit bieten hierfür eine Chance. Gleichzeitig wächst die Bedeutung von interkulturellen Ansätzen in der Jugendarbeit, da in den sozialräumlich benachteiligten Quartieren meist ein hoher Ausländeranteil lebt. Auch stellt sich die Frage, ob eine Partizipation von Jugendlichen an der Stadtentwicklung ein Mittel zur Bekämpfung von Ausgrenzung darstellen kann. Über die Bedeutung von sozialräumlichen Konzepten ... 37 Der Autor sieht eine gesellschaftliche Aufgabe darin, die bestehenden sozialräumlichen Konzepte zu politisieren. Die Wirkungsmechanismen zwischen unterschiedlich nebeneinander existierenden Sozialräumen sind vermehrt zu hinterfragen: Der Zusammenhang von Wohlstandsinseln und Armutsgebieten sollte thematisiert sein. Anhand des Stichwortes "Armut durch Reichtum" wird verdeutlicht, dass isolierte Strategien zur Bekämpfung von Armut nicht ausreichend greifen, sondern die Frage der Umverteilung lösungsorientiert untersucht werden muss. Literatur Alisch, Monika: Soziale Stadtentwicklung. Widersprüche, Kausalitäten und Lösungen, Opladen 2002 Becker, Heidede/Löhr, Rolf-Peter: Soziale Stadt. Ein Programm gegen die sozialräumliche Spaltung in den Städten. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 11/2000 Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und Klassen, Suhrkamp 1995 Bronfenbrenner, U.: Ökologische Sozialisationsforschung, Stuttgart 1976 Castel, Robert: Die Metamorphosen der sozialen Frage, 2000 Dangschat, Jens: Modernisierte Stadt. Gespaltene Gesellschaft. Ursachen von Armut und Ausgrenzung, Opladen 1999 Deinet, Ulrich: „Sozialräumliche Orientierung – mehr als Prävention!“, in der Zeitschrift „deutsche Jugend“, 3/2001, S. 117-124 Deinet, Ulrich: Sozialräumliche Jugendarbeit. Eine praxisbezogene Anleitung zur Konzeptentwicklung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, Opladen 1999 Hinte, Wolfgang; Karas, Fritz: Studienbuch Gruppen- und Gemeinwesenarbeit, Frankfurt u. Neuwied 1989 Institut für soziale Arbeit e.V. im Auftrag der Regiestelle E&C der Stiftung SPI: Expertise. Sozialraumorientierte Planung. Begründungen, Konzepte, Beispiele, Münster 2001 38 Oliver Frey Lapeyronnie, D.; Dubet F. : Im Aus der Vorstädte, 1994 Oelschlägel, Dieter: Gemeinwesenarbeit im Armutsquartier. In: Johannes Boettner (Hg.): Von der Hand in den Mund, Essen 1992 Stiftung SPI, DJI: Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten, Oktober 2000