Verkehr Eschebach Hinzert 11_2015

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Der vorliegende Beitrag ist veröffentlicht in: Insa Eschebach (Hg.), Das Frauen-Konzentrationslager
Ravensbrück. Neue Beiträge zur Geschichte und Nachgeschichte. Forschungsbeiträge und Materialien der
Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten Bd. 12, Berlin 2014, S. 154-171.
Insa Eschebach
„Verkehr mit Fremdvölkischen“.
Die Haftgruppe der wegen „verbotenen Umgangs“ im KZ Ravensbrück inhaftierten
Frauen
Aus der Zeit des „Dritten Reiches“ sind zahlreiche Fotografien überliefert, auf denen Frauen,
denen der „Umgang“ mit ausländischen Arbeitskräften oder Kriegsgefangenen vorgeworfen
wurde, abgelichtet sind. Bevor man sie der Polizei auslieferte, sollten diese Frauen öffentlich
angeprangert und stigmatisiert werden, indem man ihnen die Haare schnitt und sie - mit einem
umgehängten Schild – durch die Straßen führte. Nach einer mehr oder minder langen Haft im
lokalen Gefängnis wurden die Betroffenen häufig in ein Konzentrationslager überstellt. In
Ravensbrück waren etwa 3500 Frauen wegen „Verkehrs mit Fremdvölkischen“ inhaftiert.
Wie kam es zur Kriminalisierung der Beziehungen von Deutschen und Ausländern? Welche
Stereotypen strukturierten den Diskurs über die Frauen und ihre „Vergehen“? In Ravensbrück
waren die Betroffenen mit erneuten Akten der Diskriminierung und Demütigung konfrontiert.
Zu fragen ist deshalb auch nach den Haftbedingungen dieser Gruppe von Frauen, die in der
öffentlichen Erinnerung an die Konzentrationslager jahrzehntelang so gut wie keine
Erwähnung gefunden haben. Obwohl zu den Umgangsdelikten mittlerweile eine Reihe
wissenschaftlicher Arbeiten1 und biografischer Berichte2 vorliegen, bleibt das Phänomen
insgesamt doch noch erklärungsbedürftig
Die Fiktion volkstumspolitischer Gefahren
1
Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten
Reichs. Berlin Bonn 1985, insbesondere S. 122 ff., Birthe Kundrus, „Verbotener Umgang“. Liebesbeziehungen
zwischen Ausländern und Deutschen 1939-1945, in: Katharina Hoffmann und Andreas Lembeck (Hg.),
Nationalsozialismus und Zwangsarbeit in der Region Oldenburg, Oldenburg 1999, S. 149-170; Gisela
Schwarze, Es war wie Hexenjagd... Die vergessene Verfolgung ganz normaler Frauen im Zweiten Weltkrieg,
Münster 2009; Gunnar Richter, Das Arbeitserziehungslager Breitenau (1940-1945). Ein Beitrag zum
nationalsozialistischen Lagersystem, Kassel 2009, insbesondere S. 320-416, Eginhard Scharf, Die Verfolgung
pfälzischer Frauen wegen „verbotenen Umgangs“ mit Ausländern, in: Hans Georg Meyer und Hans Berkessel
(Hg.), „Unser Ziel – die Ewigkeit Deutschlands“. Die Zeit des Nationalsozialismus in Rheinland-Pfalz, Bd. 3,
Mainz 2001, S. 79-88; Silke Schneider, Verbotener Umgang. Ausländer und Deutsche im Nationalsozialismus.
Diskurse um Sexualität, Moral, Wissen und Strafe, Baden Baden 2010 sowie Christine Schoenmakers“Der
Schutz der Volksgemeinschaft […] verlangt die schwerste Strafe“. „Fremdvölkische vor Gericht“ 1940-1945, in:
Jochen Oltmer (Hg.), Nationalsozialistisches Migrationsregime und „Volksgemeinschaft“, Paderborn u.a. 2012,
S. 91-108.
2
Thomas Muggenthaler, Verbrechen Liebe. Von polnischen Männern und deutschen Frauen: Hinrichtungen und
Verfolgung in Niederbayern und der Oberpfalz während der NS-Zeit, Viechtach 2010, siehe auch den Roman
von Gudrun Pausewang: Au Revoir, bis nach dem Krieg. Hildesheim 2012 sowie den autobiografischen Roman
von Anna Maria Wrzesinski, Es darf nicht sein! Der Bericht einer Allgäuer Magd über eine lebensgefährliche
Liebe (aufgezeichnet von Erdmuthe von Baudissin), Augsburg 2008.
Etwa sieben Millionen Ausländerinnen und Ausländer, unter ihnen 1,9 Millionen
Kriegsgefangene, sind im Lauf des Zweiten Weltkrieges ins Deutsche Reich verbracht
worden, um sie hier optimal ökonomisch ausbeuten zu können. Die Präsenz der
„Fremdvölkischen“, die in diesem Umfang historisch ein Novum war, wurde indes von
Nationalsozialisten zu einer „volkstumspolitische Gefahr“, zu einer „Belastungsprobe“ des
deutschen Volkes stilisiert,3 weshalb die NS-Führung nach Möglichkeiten zu suchen begann,
sexuelle Beziehungen zwischen Deutschen und Ausländern zu verhindern.
Etwa um den 10. September 1939 herum hat Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei
Himmler „den Führer über die Frage der Behandlung von Fällen, in denen Kriegsgefangene
mit deutschen Frauen und Mädchen freundschaftlich oder gar geschlechtlich verkehren und
deutsche Frauen und Mädchen sich mit Kriegsgefangenen einlassen, um seine Meinung
gebeten. Der Führer hat angeordnet, daß in jedem Fall ein Kriegsgefangener, der sich mit
einer deutschen Frau oder einem deutschen Mädel eingelassen hat, erschossen wird und daß
die Frau bzw. das Mädel in irgendeiner Form öffentlich angeprangert werden soll und zwar
durch Abschneiden der Haare und Unterbringung in ein Konzentrationslager. Bei der
erzieherischen Auswirkung solcher Maßnahmen muß die Partei weitestgehend eingeschaltet
werden.“4
Nach diesem sogenannten „Führerbefehl“ verhandelte Heydrich Anfang Januar 1940 mit dem
Oberkommando der Wehrmacht (OKW) dieses Thema, mit dem Resultat, daß das OKW am
10. Januar einen Erlaß herausgab, wonach Kriegsgefangene bei intimen Verkehr mit
deutschen Frauen mit Gefängnis bis zu 10 Jahren und „unter Umständen (...) mit dem Tod
bestraft werden.“5 Die Rechtsgrundlage für das Vorgehen gegen deutsche Frauen war schon
im November 1939 festgelegt worden. Danach konnte ein „verbotener Umgang mit
Kriegsgefangenen“ mit Zuchthaus bestraft werden.6 Ein Erlaß Himmlers vom 31. Januar 1940
präzisiert zweierlei: Erstens seien die betroffenen Frauen „für mindestens ein Jahr einem
Konzentrationslager zuzuführen“. Zweitens geht es um die öffentliche Diffamierung, zu der
bereits Hitler angeregt hatte: „Beabsichtigen die Frauen und Mädchen eines Ortes, die
betreffende Frau vor ihrer Überführung in ein Konzentrationslager öffentlich anzuprangern
oder ihr die Haare abzuschneiden, so ist dies polizeilich nicht zu verhindern.“7
In Hitlers Stellungnahme gegenüber Himmler hatte es geheißen, daß „bei der erzieherischen
Auswirkung dieser Maßnahmen“ die Partei eingeschaltet werden müsse. In dem eben
zitierten Erlaß Himmlers ist hingegen davon die Rede, dass es „die Frauen und Mädchen eines
Ortes“ seien, die die öffentliche Anprangerung vornehmen. Den überlieferten Fotografien
zufolge sind es aber in erster Linie Männer in Uniform oder auch Zivil, die die öffentliche
Anprangerung durchführten. Im Fall von Martha Wölkert, von der im folgenden noch die
Rede sein wird, wurde der Akt gar von einem Spielzug begleitet.
3
Vgl. u.a. Erläuterungen zu den grundsätzlichen Bestimmungen über die Behandlung polnischer Arbeiter im
Reich im Kontext der sogenannten Polen-Erlasse vom 8. 3. 1940, in: Documenta Occupationis Bd. X, hrsg.
Instytut Zachodni, Posan 1976, S. 8-11.
4
Aktenvermerk Himmlers vom 20.11.1939, zit. nach Herbert a.a.O., S. 79.
5
Erlaß des OKW, zit. nach Herbert ebd.
6
Verordnung zur Ergänzung der Strafvorschriften zum Schutz der Wehrkraft des Deutschen Volkes vom
25.11.1939, zit. nach Herbert, S. 381, Anm. 63. Zur Aburteilung deutscher Frauen wegen „Verkehrs“ zogen die
Sondergerichte diese Verordnung in Verbindung mit der „Verordnung über den Umgang mit Kriegsgefangenen“
vom 11.5. 1941 heran. Unerwünschte Beziehungen zu Ausländern sanktionierten die Gerichte auch nach der am
4.12.1941 ergangenen Polenstrafrechtsverordnung. Vgl. Schwarze a.a.O., S. 155.
7
Himmler, Schreiben a) an die Staatspolizei(leit)stellen b) die Kommandeure der Sicherheitspolizei und des SD
vom 31. Januar 1940, betr. Umgang mit Kriegsgefangenen
Für die betroffenen Männer hat das NS-Regime eigene spezifische Verordnungen erlassen. So
heisst es beispielsweise in den „Polen-Erlassen“ des Reichsssicherheits-Hauptamtes vom 8.
März 1940: „Wenn ein Pole mit einer Deutschen verkehrt, ich meine jetzt also, sich
geschlechtlich abgibt, dann wird der Mann gehängt, und zwar vor seinem Lager. Dann tun’s
nämlich die anderen nicht.“8 Zugleich gab es für Polen die Möglichkeit einer
„Eindeutschung“, in welchem Fall die Betroffenen eine „rassische Musterung“ über sich
ergehen lassen mussten. Das Spektrum des Strafregisters für die betroffenen
„fremdvölkischen“ Männer reichte also von der öffentlichen Hinrichtung über Haftstrafen
beziehungsweise Einweisung in ein „Arbeitserziehungslager“ bis hin zu der eben erwähnten
Option einer sogenannten Eindeutschung, die im Fall, das die deutschen Frauen schwanger
geworden waren, geprüft und gegebenenfalls vollzogen wurde.
Die Fiktion „volkstumspolitischer Gefahren“ speist sich aus der Angst vor Macht- und
Kontrollverlust, vor der Möglichkeit einer „Rassenvermischung“, die letztlich zu einer
Degeneration, zum Niedergang der eigenen Bevölkerung führen würde. Das Phantasma eines
rassisch begründeten Niedergangs war bereits im 19. Jahrhundert weit verbreitet. Es basiert
auf der Vorstellung, die Gesellschaft sei ein „Leib“, ein Körper, der vor schädlichen
Einflüssen geschützt werden müsse. Diesem Konzept liegt eine Heilsvorstellung zugrunde:
Die Degeneration soll abgeschafft werden, soziale und biologische Entwicklungen müssen um
jeden Preis zur Deckung gebracht werden.
Entsprechend gestaltete sich der öffentliche Diskurs des „Dritten Reichs“ zum Thema der
polnischen Zivilarbeiter und Kriegsgefangenen: Der Eindruck entsteht, als sei hier nicht von
Menschen, sondern von Gefahrenherden, von ansteckenden Krankheiten, von Viren und
Bakterien die Rede, vor denen der deutsche Volkskörper geschützt werden müsse. In den
„Polen-Erlassen“9 ist beispielsweise von einem „unkontrollierbaren Umherschweifen der
Polen im Reich“ die Rede, von einem „unerträglichen Verhalten gegenüber der deutschen
Bevölkerung“. Stets erneut wird den „arbeitsscheuen Elementen“ „Arbeitsunlust“ und
“Widersetzlichkeit“ unterstellt. In einem Merkblatt des Gaupropagandaamtes in Oldenburg
heisst es: „Verachtet die tierische Triebhaftigkeit dieser Rasse“!10 Deutlich wird auch hier die
Strategie der Sexualisierung von Menschen mit dem Ziel der Abwertung und
Diskriminierung.
Der „volkstumspolitischen Gefahr“ ist also nur durch das Einhalten eines „notwendigen
Abstandes“, durch eine „scharfe Trennung“ zu begegnen, jede „Berührung“ mit dem
Gefahrenherd ist sozusagen vom Teufel. Die Polen, für die ein nächtliches Ausgehverbot galt,
seien in „geschlossenen Unterkünften“ unterzubringen. Die Nutzung öffentlicher
Verkehrsmittel sei ihnen ebenso zu verbieten wie der Besuch deutscher Veranstaltungen und
Gaststätten. Das Baden sei ihnen nur in „getrennten Seen“ gestattet. Die Benutzung von
Plätzen und Parkanlagen durch Polen kann bei Bedarf reglementiert werden. Auch die
Möglichkeit einer Begegnung deutscher und polnischer Katholiken in Kirchen und auf
Friedhöfen wurde penibel geregelt: So durfte die Beichte nur in deutscher Sprache
abgenommen werden, Kindstaufen sollten getrennt und ohne deutsche Gäste stattfinden, sogar
die Beisetzung von Deutschen und Polen sollte in getrennten Bereichen des Friedhofs
erfolgen.
8
Zit. nach Herbert, a.a.O. S. 80.
Vgl. hier und im Folgenden: Einführung einheitlicher Bestimmungen über die Behandlung polnischer Arbeiter
im Reich, hrsg. von Ministerpräsident Generalfeldmarschall Göring am 8. 3. 1940, in: Documenta Occupationis
a.a.O., S. 7 ff. Zu den „Polen-Erlassen“ siehe ausführlich Herbert, a.a.O., S. 76.
10
Vgl. Reproduktion in Kundrus, a.a.O., S. 152f.
9
Um den Begegnungs- und Berührungsmöglichkeiten grundsätzlich vorzubeugen, heisst es in
den Polen-Erlasse vom März 1940, die „Arbeiter und Arbeiterinnen polnischen Volkstums“
hätten ein “mit ihrer jeweiligen Kleidung fest verbundenes Kennzeichen stets sichtbar zu
tragen“. Dieses Kennzeichen bestand aus einem „auf der Spitze stehenden Quadrat mit 5
Zentimeter langen Seiten“, dass bei 0,5 Zentimeter breiter violetter Umrandung auf gelbem
Grunde ein 2,5 Zentimeter hohes violettes P“ zeigte.11 Bei dieser Kennzeichnung handelt es
sich um die erste öffentliche Kennzeichnung von Menschen im „Dritten Reich“, nach deren
Muster ein Jahr später, im September 1941, der Judenstern eingeführt wurde.12
Die NSDAP begann in den ersten Monaten des Jahres 1940, die Umgangsverbote zu
popularisieren. In Zeitungen und Parteiversammlungen wurde ausdrücklich auf die richtige
Haltung gegenüber den Polen hingewiesen; erste Urteile gegen Frauen wurden bekannt
gemacht.13 Für die Praxis der öffentlichen Anprangerung warben auch die „Polen-Erlasse“.
Dort heisst es:
„Unter anderem habe ich hierbei angeordnet, dass deutsche Volksgenossen, die mit Arbeitern
oder Arbeiterinnen polnischen Volkstums Geschlechtsverkehr ausüben, sonstige unsittliche
Handlungen begehen oder Liebesverhältnisse unterhalten, umgehend festzunehmen sind.
Durch diese Maßnahme will ich nicht die Auswirkungen einer berechtigten Empörung der
deutschen Bevölkerung über ein derartiges schändliches Verhalten verhindern. Ich halte
vielmehr die Wirkung öffentlicher Diffamierung für außerordentlich abschreckend und habe
keine Bedenken, wenn man z.B. deutschen Frauen wegen ihres ehrlosen Verhaltens in
Gegenwart etwa der weiblichen Jugend des Dorfes die Kopfhaare abschneidet oder sie mit
einem das Vergehen kennzeichnenden Schild durch das Dorf führt.“14
Akte öffentlicher Demütigung
Mit der Forderung nach öffentlicher Anprangerung von Frauen entfernten sich die
Nationalsozialisten fundamental von allen im modernen, bürgerlichen Rechtsstaat
entwickelten Prinzipien. Mit der Anprangerung griffen sie zurück auf eine seit Jahrhunderten
tradierten Strafpraxis: „Der Pranger hatte sich als Strafinstrument im Mittelalter heraus
gebildet,“ so Richard van Dülmen. Er „erreichte im 15. Jahrhundert große Verbreitung und
hielt sich über das Zeitalter der Aufklärung bis ins 19. Jahrhundert hinein.“ Sowohl das
Umhängen einer „Schandtafel“, auf der das Delikt geschrieben stand, als auch das
Abschneiden der Haare waren üblich, wobei diese Akte der Anprangerung eine doppelte
Funktion erfüllten: Zum einen sollte eine öffentliche Abscheu vor dem Verbrechen als solches
erzeugt werden. Zum anderen sollte aber auch „ein Exempel dafür statuiert werden, wie ein
Vergehen gesühnt wurde.“15 Wichtig war auch der Umstand, dass „das Volk“ zur Teilhabe an
der Aktion aufgefordert wurde, es sollte die Rechtsgültigkeit der Anprangerung gleichsam
bezeugen und bestätigen. In der Tat galten Anprangerungen - wie beispielsweise auch
öffentliche Hinrichtungen - Jahrhunderte lang als gesellschaftliches Ereignis. Sie fanden vor
dem Rathaus oder auch dem Marktplatz statt und wurden als Festivität, zumindest als
Spektakel wahrgenommen. Die Praxis öffentlicher Demütigung ist von den
Nationalsozialisten gleich 1933 wieder eingeführt worden. Anfangs scheint sich die
11
Polizeiverordnung über die Kenntlichmachung im Reich eingesetzter Zivilarbeiter und –arbeiterinnen
polnischen Volkstums vom 8. März 1940, in: Documenta Occupationis, aa.a.O., S. 17.
12
Vgl. Herbert a.a.O. S. 76.
13
Ebenda S. 80.
14
Himmler an den Stellvertreter des Führers, betr. Arbeitseinsatz von Zivilarbeitern und –arbeiterinnen
polnischen Volkstums im Reich, in: Documenta Occupationis a.a.O., S. 24.
15
Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, München
1995, S. 72 und 144.
Anprangerung vor allem gegen Männer gerichtet zu haben, sei es, weil sie beim Referendum
über den Austritt Deutschlands aus dem Genfer Bund am 12.11.1933 mit „Nein“ gestimmt,
sei es, weil sie sich öffentlich kritisch über das NS-Regime geäußert hatten.16
Die Praxis, Menschen mit einer umgehängten „Schandtafel“ zur Schau zu stellen und ihnen
zugleich die Haare abzuschneiden, war zur Zeit des „Dritten Reichs“ offenbar in erster Linie
für Frauen vorgesehen.17 Zumindest sehen die „Umgangsdelikte“ betreffenden Erlasse das
öffentliche Scheren der Haare ausdrücklich nur für Frauen vor. Warum ist das so? Das
Kopfhaar von Frauen galt bereits im Neuen Testament als Skandalon. In Paulus erstem Brief
an die Korinther heisst es vom unverhülltem Haupt der Frau, das es „ein und dasselbe sei wie
die Geschorene“. Und weiter:
„Denn wenn sich eine Frau nicht verhüllt, dann soll sie sich doch (gleich) die Haare
abschneiden lassen! Wenn es aber für eine Frau schändlich ist, sich die Haare abschneiden
oder sich scheren zu lassen, so soll sie sich verhüllen. Denn ein Mann braucht sich zwar nicht
das Haupt verhüllen, weil er Bild und Abglanz Gottes ist; die Frau aber ist ein Abglanz des
Mannes.“18
Das offen getragene weibliche Haar ist skandalös, weshalb die Verhüllung bzw.
Verschleierung empfohlen wird. Rechtens ist also nur das verhüllte Haar. Wenn es offen
getragen würde, solle man es doch besser gleich abschneiden – ein Akt, der indes schon bei
Paulus als „schändlich“ beschrieben wird. Es scheint, dass es sich beim öffentlichen
Abschneiden der Haare von Frauen in der Tat um eine lang tradierte Strategie der
Disziplinierung handelt. Im Fall der öffentlichen Rasur wegen „verbotenen Umgangs“ tritt die
implizite Verknüpfung zwischen weiblichen Haupthaar und der Vorstellung ungezügelter und
unkontrollierter Sexualität besonders deutlich zutage. Das, was auf eine illegitime sexuelle
Aktivität zu verweisen scheint, muß abgeschnitten, aus der Welt geschafft und so die Ordnung
wieder hergestellt werden. Perfide scheint mir die dem Akt der Anprangerung voraus gehende
Sexualisierung der Betroffenen: Was immer sie getan oder nicht getan hat - jetzt geht es
erstens darum, sie als sexuell deviant und damit als „Andere“ zu inszenieren, um sie zweitens
zum Objekt ungehemmter Kontrolllust zu machen. Deutlich wird, um einen Begriff von
Sander L. Gilman aufzunehmen, ein „Bedürfnis nach Aufsicht“, ein Bedürfnis, die Sexualität
der zuvor sexualisierten Frau zu kontrollieren.19 Birthe Kundrus stellt in diesem
Zusammenhang die berechtigte Frage, ob es sich bei den kriminalisierten Kontakten zwischen
deutschen Frauen und „fremdvölkischen“ Männern nicht auch häufig „um grell überzeichnete
Vermutungen“ gehandelt habe, „die von erotischen Phantasien, Sexualneid und Voyeurismen
gespeist wurden.“20
Martha Wölkert
Martha Wölkert war eine der 3500 wegen „Verkehrs“ in Ravensbrück inhaftierten Frauen.
Ihre öffentliche Demütigung fand am 16. Juni 1941 auf dem Marktplatz ihres Heimatortes,
16
Vgl. entsprechende Abbildungen in: Berlin 1933. Der Weg in die Diktatur, hrsg. Stiftung Topographie des
Terrors. Ausstellungskatalog, Berlin 2913, S. 174-181.
17
Es gibt Beispiele dafür, dass auch Männern die Haare öffentlich geschnitten wurden. Indes ist diese Praxis
keineswegs so häufig dokumentiert wie im Fall der wegen „Umgangs“ verfolgten Frauen. Diese Differenz mag
in der Tatsache begründet sein, dass kurzes oder auch fehlendes Haupthaar männlich-militärisch tradiert ist und
dem Scheren der Haare deshalb kein Strafcharakter anhaftet.
18
Paulus 1 Kor 11,2-16,2.
19
Sander L. Gilman, Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur, Reinbek
bei Hamburg, S. 147f.
20
Kundrus a.a.O. S. 158.
der Stadt Ahrendsee in der Altmarkt, statt. Das Schild, dass Frau Wölkert umgehängt wurde,
trägt die Aufschrift: „Ich bin eine Sau, war deutsche Frau. Ich verkehre mit Polen.“ Auf den
überlieferten Aufnahmen ist Martha Wölkert, umringt von drei uniformierten Männern, zu
sehen. Ein Zivilist schneidet ihr die Haare. Wie bereits erwähnt begleitet ein Spielmannszug
die öffentliche Demütigung musikalisch. Anschließend führen die Uniformierten die in ein
kariertes Kostüm gekleidete Frau durch die Straße, Kinder und Passanten mit Fahrrädern
stehen und schauen.
Die visuelle Dokumentation von Akten demütigender Zuschaustellungen von Frauen in der
NS-Zeit weit verbreitet. Möglicherweise glaubte man, dass diese Form der Popularisierung
die abschreckende Wirkung dieser Szenarien gleichsam vervielfältigen würde. Auch einige
Aufnahmen der Ahrendseer Bildsequenz sind als Postkarten reproduziert und verbreitet
worden. Eine Ausnahme bildet die letzte überlieferte Fotographie: Hier handelt es sich
definitiv um einen Schnappschuss: Abgelichtet ist ein unförmiger Polizist, von Frau Wölkert
ist nur ein Teil ihres Rockschoßes in Bewegung zu erkennen.
Wer war Martha Wölkert? Einige dürre Daten ihrer Biografie sind bekannt: Sie wurde am 23.
März 1906 in Naumburg an der Saale geboren, heiratete 1927 und gebar eine Tochter. Ihr
Ehemann wurde 1940 eingezogen. Martha Wölkert war Landarbeiterin und wurde am 16. Juni
1941 vom Felde verhaftet, erst zum Bürgermeister und dann auf dem Marktplatz geschleppt.
Sie war damals 35 Jahre alt. Es folgte eine dreimonatige Haft im Gefängnis ihrer Heimatstadt,
dann eine Gefängnisstrafe in Magdeburg. Am 20. März 1943 wurde sie in das FrauenKonzentrationslager Ravensbrück überstellt, wo sie bis zum 6. September 1944, also für 1,5
Jahre, verblieb. Neben ihrem Entlassungsschein ist ihre Häftlingskarte überliefert, der zufolge
Martha Wölkert bei der „Lagerwache“ eingesetzt und damit als Lagerpolizistin in
Ravensbrück tätig war.
Charlotte Müller, eine Mitgefangene, hat den Bericht von Martha Wölkert in ihren
Erinnerungen an Ravensbrück wiedergegeben. Dort heißt es:
„Rassenschande haben sie mir angehängt. Dabei habe ich den beiden Polen nur ein paar alte
Klamotten von meinem Mann gegeben. Der war damals schon bei den Soldaten. Diese
Zwangsarbeiter hatten doch nur noch Lumpen auf dem Leibe. Gekannt habe ich sie, weil sie
bei meinen Nachbarn, zwei alten Leutchen, manchmal für einen Teller Suppe Holz hackten.“
Und weiter: „Mitten von der Arbeit auf dem Feld haben sie mich weggeholt ins Rathaus, vor
eine Kommission.“ Sie „beschimpften mich, ich hätte mich mit den beiden Polen eingelassen.
Natürlich habe ich ihnen gesagt, das wäre eine Lüge, aber sie wollten mir nicht glauben. (...)
Vor allen Leuten haben sie mir auf dem Marktplatz die Haare scheren lassen. Vor Scham und
Schande war ich halb tot.“21
Ravensbrück: Haftgrund „Verkehr“
Bei der Ankunft im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück wurden die Namen der
Gefangenen, ihr Geburtsdatum, die Haftkategorie – z.B. „pol.“ für „politisch“, „asoz.“ für
„asozial“ – sowie die den Frauen zugeteilte Häftlingsnummer auf sogenannten Zugangslisten
notiert. Die Rubrik rechts außen ließ Raum für zusätzliche Bemerkungen. Die Zugangsliste
vom 31. August 1940 ist die erste, die als zusätzliche Bemerkung unter Punkt 16 den Begriff
„Verk. m. Polen“ nennt. Es handelt sich um die damals 27jährige Luise Schwanke, geborene
21
Zit. nach Charlotte Müller, Die Klempnerkolonne in Ravensbrück. Erinnerungen des Häftlings Nr. 10 787,
Berlin (Ost) 1987, S. 76.
Loch, die nach knapp fünfmonatiger Lagerhaft am 11. Januar 1941 wieder entlassen wurde.
Die Haftkategorie von Luise Schwanke wird mit „politisch“ angegeben, das bedeutet, dass die
SS das Delikt „Verkehr mit...“ als primär politisch begründetes Fehlverhalten qualifizierte.
Entsprechend mussten die betroffenen Frauen auf ihrem Häftlingskleid den roten Winkel
tragen.
Spätestens ab Anfang 1942 nahm die Angabe des Haftgrundes „Verkehrs mit...“ deutlich zu.22
Beispielsweise nennt die Zugangsliste vom 8. Mai 1942 das Delikt gleich auf der ersten Seite
fünf Mal. Im Frühjahr 1942 wurde fast jede sechste Frau mit diesem Haftgrund in
Ravensbrück als Zugang registriert. Bis Ende 1944, wurden, wie Bernhard Strebel ermittelt
hat, mindestens 3500 Frauen wegen „Verkehrs“ in Ravensbrück eingeliefert. In 80 Prozent
der Fälle wurde den Betroffenen Verhältnisse zu polnischen Männern attestiert. Folgende
weitere Nationalitäten waren in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit: Russen, Ukrainer,
Tschechen, Weißrussen, Franzosen, Serben und Chinesen.23 Neben der großen Gruppe der
deutschen Frauen gab es auch eine noch unbekannte Zahl polnischer Frauen, die wegen eines
Verhältnisses zu einem deutschen Mann nach Ravensbrück deportiert worden waren. Über
diese Gruppe von Frauen, die auch im polnischen Ravensbrück-Gedächtnis so gut wie nicht
existent ist, ist bislang kaum etwas bekannt.
Bereits die Ankunft der betroffenen Frauen in Ravensbrück war mit erneuten Akten der
Diskriminierung und Demütigung verbunden. Hilde Boy-Brandt, politischer Häftling,
beschrieb in ihrem kurz nach der Befreiung verfassten Erinnerungsbericht eine solche Szene:
Neuankömmlinge mussten sich im Revier einer sogenannten Zugangsuntersuchung
unterziehen, die u. a. der SS-Standortarzt Dr. Gerhard Oskar Schiedlausky durchführte: „Nach
Entlausung und Baden begann dann die Parade der nackten Frauen – eine haarscharf hinter
der anderen stehend – vor dem Arzt, der frech und provozierend auf einer Tischecke saß“ und
sich „auf Fragen folgender Art spezialisierte: ‚Warum eingesperrt?‘ (dabei eine Musterung
von oben bis unten, die unerträglich war), wenn die Frau dann sagte, wegen Verkehrs mit
einem Ausländer, erfolgte automatisch die Frage: ‚Wie oft? ‘ und ähnliches und wenn die
Frau darauf nicht antwortete, mußte sie sich hinten noch einmal anstellen, um eine andere
Antwort zu geben.“24
Zur Geschichte der Kasernierung einer großen Anzahl von Menschen gehört – wie
beispielsweise beim Militär – das Schneiden der Haare. In den nationalsozialistischen
Konzentrationslagern gab es für das Schneiden der Kopf- , der Achsel- und Schamhaare
weitere Gründe: Gefürchtet war die Verbreitung von Fleckfieber, eine Epidemie, die unter
anderem durch Läuse und Flöhe übertragen wird. Diese zunächst medizinisch begründete
Maßnahme wurde jedoch in der Praxis ausgesprochen unterschiedlich gehandhabt: 25 Für
Ravensbrück gilt, dass etwa Russinnen generell, Französinnen und Österreicherinnen
teilweise oder gar nicht geschoren wurden. Im Frauenlager von Auschwitz-Birkenau wurden
offenbar nur Jüdinnen kahl geschoren. Es ist bekannt, dass diese Rasur eine stark
demütigende Wirkung auf die Gefangenen hatte und häufig als Schock erfahren wurde. Für
die wegen „Verkehrs“ inhaftierten Frauen gilt, dass ihnen nicht nur bei der Ankunft, sondern
alle drei Monate die Haare weg geschnitten wurden – ein Akt, der eindeutig als Bestrafung
22
Vgl. hier und im Folgenden: Bernhard Strebel, Das KZ Ravensbrück. Geschichte eines Lagerkomplexes,
Paderborn 2003, S. 117 ff.
23
Vgl. ebd. S. 120.
24
Hilde Boy-Brandt, Überblick über die Reviertätigkeit vom März 1942 – Ende April 1945. Seg. Buchmann, Bd.
15 (17), MGR/SBG, Bl. 1f.
25
Vgl. hier und im Folgenden Helga Amesberger u.a., Sexualisierte Gewalt. Weibliche Erfahrungen im
Konzentrationslager, Wien 2004, S. 79 ff.
und Stigmatisierung intendiert war.26 Mit Helga Amesberger kann man hier einen „gezielten
Angriff auf ihre weibliche Identität“ und eine „kontinuierliche Sanktionierung“ der Frauen
wegen der vermeintlichen Verletzung rassistischer Gesetze erkennen.27
Eine zweite Besonderheit der Haftgruppe der wegen „Verkehrs“ inhaftierten Frauen war die
Prügelstrafe. In einer eidesstattlichen Erklärung des bereits erwähnten Lagerarztes Dr.
Schiedlausky vom 4. März 1947 heißt es, es habe in Ravensbrück „Strafen bis zu 3 mal 25
Stockhieben (gegeben), die bei deutschen Frauen wegen besonders schwerer Vergehen mit
Ausländern angeordnet wurden.“28 Von Martha Wölkert ist eine Schilderung dieser
Bestrafung überliefert, die mit folgenden Worten schließt: „Noch heute spüre ich die Nachwehen dieser Prügelstrafe. Im Sommer geht es. Aber im Winter bekomme ich dieselben
Schmerzen an den Nieren wie damals.“29
Ein dritter Punkt betrifft die Abtreibungen, die in den Fällen, in denen den NS-Behörden der
„fremdvölkische“ Partner nicht „eindeutschungsfähig“ erschien, in Ravensbrück an den
Frauen vorgenommen wurden. Zu diesem Punkt äußerte sich Schiedlausky am 22. November
1946 im Rahmen der Nürnberger Prozesse wie folgt:
„Abtreibungen wurden auf höherem Befehl an schwachsinnigen deutschen Mädchen
vorgenommen, die intime Beziehungen zu solchen nicht-eindeutschungsfähigen Polen gehabt
haben und die nicht ohne Folge geblieben waren. (...) Normalerweise wurden diese
Abtreibungen zwischen dem dritten und fünften Monat vorgenommen, aber in einzelnen
Fällen auch später bis zum achten Monat. Für jeden Einzelfall erhielt ich ein Fernschreiben
des RSHA mit dem Namen des Mädchens und mußte nach vollzogener Operation, nach der
Unterbrechung der Schwangerschaft, Vollzug melden.“30
Es ist offensichtlich, dass die Qualifizierung der „deutschen Mädchen“ als „schwachsinnig“
die Abtreibung gegenüber den britischen Vernehmern plausibilisieren sollte. Die bereits
zitierte Hilde Boy Brandt präzisiert, dass es „Mitte 1942 bis zum Schluss des
Konzentrationslagers (...) an der Tagesordnung (war), schwangeren Frauen, die wegen
Verkehrs mit Ausländern eingesperrt waren, das Kind abzunehmen. Dazu muss eine
Reichsanordnung vorgelegen haben, denn die Frauen kamen schon mit diesem Vordruck ins
Lager und wurden oft hochschwanger vom Bad – wo die Zugänge badeten – direkt ins Revier
gebracht.“31
Ein viertes Charakteristikum der Gruppe der wegen „Verkehrs“ inhaftierten Frauen war die
Missachtung, die sie von ihren Mitgefangenen erfuhren. Dazu beigetragen haben mag der
bereits erwähnte Umstand, dass sie, wie die aus politischen Gründen inhaftierten Frauen, den
roten Winkel trugen. Diejenigen aber, die aufgrund ihres politisch begründeten Widerstandes
gegen das NS-Regime inhaftiert waren, wollten sich nicht gemein machen mit jenen, die
„nur“ aufgrund der Beziehung zu einem Ausländer nach Ravensbrück überstellt worden
waren. Unter den Extrembedingungen des Lebens in einem Konzentrationslager – und das
26
„Drei Tage später war bereits eine Liste in der Revierschreibstube mit Namen all der Zugänge, die wegen
Verkehr mit Ausländern da waren und sofort geschoren werden sollten. Dabei spielte sich auch so manche
Tragödie ab. Das Scheren erfolgte in Abständen von 3 Monaten drei mal hinter einander.“ Boy-Brandt, a.a.O.,
Bl. 2.
27
Amesberger a.a.O., S. 81.
28
Eidesstattliche Erklärung Dr. Schiedlausky, gegeben in Dachau am 4. März 1947; MGR/SBG Bestand
Buchmann, Bd. 44 Bericht 1052.
29
Zit. nach Müller a.a.O. S. 81.
30
Aussage von Dr. Gerhard Schiedlausky, 22.10.1946, The National Archives, Kew WO 235/309.
31
Hilde Boy Brandt, a.a. O. Bl. 6.
heisst auch: unter den Bedingungen einer erzwungenen Uniformierung – scheint der Wunsch
nach Distinktion, nach Ausweis der eigenen Überlegenheit und Intaktheit für viele Häftlinge
besonders wichtig gewesen zu sein. Unter dem Druck des Lagerlebens habe sehr viele scharfe
Trennungslinien gezogen zwischen der eigenen Gruppe und den verachtungswürdigen und
deshalb auszuschließenden Anderen. Um die eigentlich „Politischen“ auch sprachlich von den
wegen Verkehrs inhaftierten Frauen zu trennen, wurden letztere in Ravensbrück auch als
„Bettpolitische“ bezeichnet und diffamiert.
Die Tirolerin Carmella Flöck, die sich vor ihrer Haft in einer katholischen Widerstandsgruppe
engagiert hatte, erinnert sich, dass beim Ausmaschieren einer Häftlingskolonne auf Befehl der
SS-Kommandantur stets gesungen werden sollte. „Das ging mir gewaltig gegen den Strich!
Ich führte einen langwierigen Kampf mit den deutschen Frauen unserer Kolonne – (denn) ich
wollte das Singen einstellen. Die Frauen (waren) aber nicht dazu zu bewegen, der SS zum
Trotz mit dem Gesang aufzuhören. Im Herzen waren die meisten Nationalsozialistinnen und
fanden es in Ordnung, daß Hitler Schwarzhören, Schwarzschlachten und Verkehr mit
Ausländern (...) bestrafte.“32
Der Haftgrund: Verkehr mit Fremdvölkischen war und blieb mit dem Ruch verbotener
Sexualität und auf diese Weise mit dem Stigma des Asozialen verknüpft. Das bedeutet, dass
die nationalsozialistische Diffamierungskampagne gegen die betroffenen Frauen auch in
Ravensbrück noch fortgesetzt wurde. Einen geringen Vorteil erfuhr diese Häftlingsgruppe
einzig durch die befristete Dauer der Haft: Während eine Rückkehr für die Mehrheit der
Häftlinge nicht vorgesehen war, wurden die wegen Verkehrs inhaftierten Frauen spätestens
nach 1,5 Jahren entlassen.
Einige Schlussbemerkungen
Dass Frauen öffentlich gedemütigt werden, weil sie angeblich mit den falschen Männern
geschlafen haben, war bekanntlich nicht nur im „Dritten Reich“ der Fall. Nahezu zeitgleich –
von Ende Juli 1944 bis etwa September 1944 – wurden im soeben befreiten Frankreich etwa
20 000 Frauen öffentlich angeprangert, weil sie Verhältnisse mit deutschen Soldaten
unterhalten hatten.33 „ Der Akt des Haare-Rasierens symbolisierte“, so Martina Gugglberger,
„ eine Art hygienischer Maßnahme, die stellvertretend die nationale Nestbeschmutzung
ahndete und somit beseitigte.“34 So gesehen handelt es sich um eine „Art von Exorzismus“,
der den sozialen Zusammenhang der Gesellschaft wieder herstellte, indem dem
Verachtungswürdigen und Schändlichen gewissermaßen ein Gesicht gegeben wurde.35
Erstaunlich ist, dass die öffentliche Anprangerung von Frauen im Europa des 20. Jahrhunderts
in völlig unterschiedlichen politischen Systemen stattfinden konnte: Die öffentliche
Demütigung von Frauen wurde einerseits von faschistischen Parteien wie den spanischen
Falangisten und der NSDAP durchgeführt, fand aber andererseits auch in demokratisch
regierten Ländern statt wie Frankreich, Norwegen und Dänemark.36
32
Carmella Flöck, „... und träumte, ich wäre frei“. Eine Tirolerin im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück.
Erinnerungen an Widerstand und Haft 1938-1945. Innsbruck 2012, S. 111.
33
Vgl. Fabrice Virgili: La France ‚virile‘. Des femmes tondue à la Liberation. Paris 2000.
34
Martina Gugglberger, Den Feind lieben. Geschorene Frauen in Frankreich 1944-45, in: Ingrid Bauer, Christa
Hämmerle, Gabriella Hauch (Hg.), Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen.
L’Homme Schriften. Reihe zur Feministischen Geschichtswissenschaft Bd. 10, Wien, Köln, Weimar 2005, S.
362-278, hier S. 373; dort auch weitere Literaturhinweise.
35
Alain Brossat, zit. nach Gugglberger, ebd. S. 373, Anm. 39.
36
Gugglberger, ebd. S. 363.
Gugglberger konstatiert, dass die Figur der kahl geschorenen Frau in Frankreich Eingang in
das kollektive Gedächtnis gefunden habe: Für viele Franzosen verdichtet sich in diesem Bild
die Erinnerung an die Befreiung durch die Alliierten. In Deutschland scheint der vielfach
vollzogene Akt der öffentlichen Demütigung während der NS-Zeit vergleichsweise wenig
präsent zu sein.
Um abschließend noch einmal auf Martha Wölkert zurück zu kommen:37 1945 nahm sie ihren
Wohnsitz in der Sowjetischen Besatzungszone und trat in die KPD ein. Sie wurde als
„Verfolgte des Nazi-Regimes“ anerkannt und heiratete den querschnittsgelähmten Genossen
Grimm, der 1970 verstarb. Kurz vorher wurde Martha Wölkerts Status als „Verfolgte des
Nazi-Regimes“ aberkannt, weil man herausgefunden hatte, dass sie in Ravensbrück als
„Polen-Liebchen“ – so der wörtliche Ausdruck der Akte – inhaftiert war. Aufgrund dieser
Aberkennung verlor sie den Anspruch auf ihre Rente. Martha Wölkert blieb nur noch die
Hinterbliebenenrente ihres Mannes, ihr eigenes Todesdatum ist unbekannt.
In der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen ist am 26. Mai 2002 ein Gedenkstein für Rosa
Broghammer errichtet worden. Der Widmungstext lautet:
„Zur Erinnerung an meine Mutter Rosa Broghammer (26. Mai 1923 – 20. Juli 1945), die
wegen ihr Liebe zu meinem Vater, dem französischen Zwangsarbeiter Marcel Sebat, ins KZ
verschleppt wurde und im Krankenrevier des KZ-Sachsenhausen Wochen nach der Befreiung
an den Folgen der Haft starb. Peter Broghammer“.
Rosa Broghammer ist am 4. Dezember 1944 im Alter von 21 Jahren in ihrem Heimatort
Hornberg/Schwarzwald verhaftet worden, kurz nachdem man den Vater ihres gemeinsamen
Sohnes Peter, den Franzosen Marcel Sebat, abgeholt hatte. Wenige Tage später wurde sie in
das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück überstellt, von wo sie über das Außenlager
Berlin-Haselhorst in das KZ Sachsenhausen gebracht wurde. Dort starb die junge Frau drei
Monate nach der Befreiung an den Folgen ihrer Haft. Marcel Sabat ist am 17. April 1945
erschossen worden.
Dieser Gedenkstein ist einer der wenigen Gedenkzeichen, die den wegen „Verkehrs“
inhaftierten Frauen gewidmet sind. Hier bleibt noch viel zu tun.
37
Vgl. im Folgenden den Lebenslauf von Martha Wölkert-Grimm vom 2.1.1987, verfasst von Charlotte Müller,
MGR/SBG NL5/2-12. Die hier ermittelten Daten weisen Lücken auf. Die im Nachlass von Charlotte Müller
erhaltenen Briefe von Martha Wölkert-Grimm wären Anlass für eine eigene Studie.
.
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