Endlich Staatsbürgerinnen! 90 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland

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1921
Thema
Zeichen-Schreib-Lesefibel von Heinrich Böttcher. Gahl-Verlag, Berlin, 3. Auflage, S. 6
Endlich
Staatsbürgerinnen!
90 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland
von Elke Schüller
»Eine übergangslose Erhebung aus gänzlicher politischer Rechtlosigkeit zu voller
staatsbürgerlicher Freiheit«, so bejubelte die Stimmrechtlerin Marie Stritt im November
1918 die Proklamation des aktiven und passiven Frauenwahlrechts durch die Arbeiterund Soldatenräte. Auf dem Weg zur Gleichstellung war das Frauenwahlrecht ein
wichtiger Schritt – auch wenn radikale Veränderungen der politischen Verhältnisse
ausblieben.
J
ahrzehntelang hatten die Stimmrechtsbewegung innerhalb der
bürgerlichen Frauenbewegung und
auch die proletarische Frauenbewegung gemeinsam mit der SPD gegen
breiten Widerstand für das Frauenwahlrecht gekämpft – zunächst von
verschiedenen Standpunkten aus und
mit unterschiedlichen Zielsetzungen,
ab 1917 vereint. Mit der durch die
Novemberrevolution unerwartet und
für viele betäubend rasch erfolgten
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politischen Gleichberechtigung errangen die deutschen Frauen ihren bis
dahin größten politischen Erfolg.
Gleichzeitig war es nichts anderes
als die Beseitigung eines Skandals:
Schließlich gab es zu diesem Zeitpunkt eine mehr als hundertjährige
Geschichte bürgerlicher Gesellschaften in Europa, in denen Frauen
alle fundamentalen Rechte entbehrten
– obwohl das Frauenwahlrecht ein
Menschenrecht ist und die unabding-
bare Verwirklichung und Voraussetzung demokratischer Verhältnisse.
Zünglein an der Waage?
S
eit Frauen wählen dürfen, können
sie entscheidenden Einfluss auf
den Wahlausgang nehmen, denn sie
stellen mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung – und damit auch
den größten Teil der Wahlberechtigten.
Thema
Bei der Wahl zur Nationalversammlung im Januar 1919 nahmen sie
ihr neues Recht rege in Anspruch:
Über achtzig Prozent gingen zur
Wahlurne; ihre Wahlbeteiligung lag
damit genauso hoch wie die der
Männer. Der Wahleifer der Frauen
ließ jedoch bald schon wieder nach,
und die weibliche Wahlbeteiligung
lag durchgängig niedriger als die
männliche. Erst bei den letzten Bundestagswahlen glich sie sich immer
mehr an; bei der Bundestagswahl des
Jahres 2005 war die Wahlbeteiligung
mit jeweils fast achtzig Prozent dann
wieder paritätisch.
Hoffnungen oder Befürchtungen
bezüglich einer radikalen Veränderung der politischen Landschaft durch
wählende Frauen haben sich nicht
bestätigt. Frauen bevorzugten jahrzehntelang die christlichen und konservativen Parteien, während sie nach
links Zurückhaltung übten – der SPD
hat somit ihr jahrzehntelanger Einsatz für das Frauenwahlrecht keineswegs Vorteile bei den Wählerinnen
gebracht. Erst mit Beginn der Siebzigerjahre rückten die Wählerinnen
tendenziell nach links, die Männer
dagegen eher nach rechts. Bei der
letzten Bundestagswahl gaben etwas
mehr als die Hälfte der Wählerinnen
ihre Stimme einer Partei des linksökologischen Spektrums. Entschieden
abgelehnt wurden von den Frauen
die radikalen Parteien sowohl des
linken als auch des rechten Lagers.
Auch die NSDAP wurde von wesentlich weniger Frauen als Männern
gewählt; dem Mythos, Frauen hätten
Hitler an die Macht gebracht, ist deshalb vehement zu widersprechen.
Unterrepräsentiert in Parlament
und Regierung
D
ie Parlamente blieben in Deutschland auch nach Einführung des
Frauenwahlrechtes Männerparlamente, in denen Frauen lange Zeit
eine Quantité négligeable bildeten.
Während des Nationalsozialismus war
ihnen das passive Wahlrecht sogar
wieder aberkannt worden, um sie so
ganz aus den Parlamenten ausschließen zu können. Sowohl im Reichstag
der Weimarer Republik als auch im
Bundestag der Bundesrepublik waren
bis 1987 zwischen sechs und zehn
Prozent der Abgeordneten weiblichen
Geschlechts. In der DDR-Volkskammer pendelte der Frauenanteil dagegen stets um die Dreißig-ProzentMarke.
Diesen Wert erreichen die Frauen
auch im aktuellen Bundestag, was
in erster Linie den von Parteifrauen
der SPD, der Bündnisgrünen und
der Linken erstrittenen Frauenquoten geschuldet ist. Trotzdem ist der
Bundestag noch weit von einer
geschlechterparitätischen Zusammensetzung entfernt.
Der Zugang zu Regierungsämtern
blieb Frauen lange Zeit verschlossen.
Im Reichstag, aber auch in den ersten
drei Legislaturperioden der bundesrepublikanischen Ära Adenauer gab
es reine Regierungsmannschaften.
Während in der DDR 1952 die erste
Ministerin ihr Amt antrat, blieb das
Kabinett der Bundesrepublik eine
reine Männerdomäne: Erst 1961
wurde Elisabeth Schwarzhaupt von
der CDU gegen heftige Widerstände
erste Gesundheitsministerin unter
Adenauer.
Bis heute besetzen Ministerinnen in
der Regel machtfernere Positionen;
vorrangig wird ihnen die Verantwortung für vermeintlich frauentypische
Ressorts wie Bildung, Gesundheit,
Jugend und Familie übertragen. Seit
den Neunzigerjahren waren zwar
auch einige traditionelle Männerressorts wie das Umwelt- oder das Justizministerium zeitweise in der Hand
von Frauen; eine Bundesministerin für
Außen-, Wirtschafts-, Finanz-, Innenoder Verteidigungspolitik hat es aber
noch immer nicht gegeben. Das
Eindringen von Frauen in bisherige
Männerdomänen bedeutet also keineswegs automatisch, dass sie in die
Zentren der Macht vordringen. Auch
wenn es seit dem parteipolitischen
Frauenaufbruch der Achtzigerjahre
mit seinen Quotierungsdiskussionen,
dem verstärkten weiblichen Anspruch
auf adäquate Teilhabe an der Macht
und der ersten Einrichtung eines
Frauenministeriums eher möglich
wurde, dass Frauen Spitzenpositionen
in Politik und Parteien einnehmen, so
ist dies noch lange nicht Normalität.
Daran ändert auch eine erste Bundeskanzlerin nichts Grundsätzliches,
zumal wenn ihr Kabinett nur zu
einem Drittel aus Frauen besteht.
Notwendig, aber nicht
hinreichend
D
as Frauenwahlrecht hat bis heute
die politischen Verhältnisse
nicht radikal verändert. Es hat die
Frauen formal zu Staatsbürgerinnen
gemacht; ihr Recht auf politische
Mitentscheidung konnten sie nicht
in gleichem Maße wie Männer in
politische Macht ummünzen. Zu
bedenken ist dabei zweierlei: Frauen
errangen ihr Wahlrecht fast fünfzig
Jahre später als Männer, sie kamen
als Nachzüglerinnen und zu einer
Zeit, als die Spielregeln der politischparlamentarischen Ordnung schon
unter den Männern ausgehandelt
worden waren. Der zähe Durchsetzungskampf, um im Männerbund
zu bestehen, war nicht jeder Fraus
Sache. Zudem muss bedacht werden,
dass formale staatsbürgerliche Gleichstellung nicht ausreicht, wenn sie von
gesellschaftlicher, sozialer, ökonomischer und rechtlicher Ungleichheit
begleitet wird. Als Fazit kann nach
neunzig Jahren festgehalten werden:
Das Frauenwahlrecht alleine reicht
nicht aus, um die politischen und die
Geschlechterverhältnisse zu verändern, es ist aber unabdingbare Voraussetzung dafür.
Dr. Elke Schüller ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet zzt. freiberuflich; ihre
Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte
der Frauenbewegung, politische Partizipation von Frauen, Frauenpolitik und
Biografien bedeutender Kämpferinnen für
die Interessen der Frauen.
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