Vortrag zur Geschichte der Wissenschaft im Islam 2010

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Al-Gazali und seine Zeit1
Der Islam macht von sich reden und der Westen ist
fasziniert, nicht zuletzt von dessen Selbstbewusstsein und Dynamik.
Ob das grosse Interesse der westlichen Welt am
Islam auch Ausdruck von Sinnsuche, Toleranzbedürfnis oder Ängsten ist, vielleicht auch der absehbaren demographischen Entwicklung geschuldet ist,
sei dahingestellt.
Für mich ist dieses Interesse Anlass, mich etwas
sorgfältiger mit dem Islam zu beschäftigen, allein
schon, um mir ein eigenes Bild von den Dingen
machen zu können, sind doch einschlägige
Betrachtungen und Meinungsäusserungen oft arg
interessensgeleitet und ideologiebefrachtet.
Weshalb interessiere ich mich nun gerade für Abu
Hamid Muhammad al-Gazali, einen islamischen
Theologen aus dem 11./12. Jahrhundert ?
Weil al-Ghazali der bedeutendste, wirkungsmäch1
Vortrag im Paul-Drude-Institut, Berlin, am 11.5.2010
Autor: Harald Böttger, e-mail: [email protected]
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tigste islamische Gelehrte des Mittelalters ist, der
die islamische Geistes- und Wissenschaftsgeschichte, die islamische Gesellschaft ganz wesentlich
mitgeprägt hat, bis heute.
So ist die orthodoxe Richtung des heutigen ReformIslam, dessen Ziel das Wiedererstarken des Islam
durch Wiederbelebung des religiösen Denkes ist,
wesentlich Ideen al-Ghazalis verpflichtet.
Angemerkt sei, dass der heutige Neokreationismus
sich auch mit auf al-Ghazali beruft, z.B. bei der Beweisführung ( William Lane Craig, amerikanischer
Philosoph) für einen zeitlichen Anfang der Welt.
Mein Vortrag über „Al-Ghazali und seine Zeit“
besteht aus zwei Teilen:
1.Al-Ghazalis Denken und Werk
2.Geistige und politische Situation zur Zeit al-Gazalis
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1.Al-Ghazalis Denken und Werk
Al-Ghazali war überzeugt von der buchstäblichen
Gültigkeit des Koran und lehnte es ab,die koranische
Offenbarung durch Denken zu problematisieren, befürchtete er doch, dass der Gelehrten Erörterung den
frommen Moslem in seinem Glauben verunsichern
könnte.
In seiner berühmten Schrift „Widerlegung der Philosophen“ („Tahafut al-falasifah“) versucht er,mit Hilfe
der Methoden der Philosophen nachzuweisen, dass
in den Koran betreffenden Fragestellungen, die Vernunft, die Philosophie, ein untaugliches Mittel zum
Finden der Wahrheit sei, kann sie doch bestimmte
Fragen nicht beantworten und führt sie in manchen
Fällen gar zu direkten Irrtümern.
In seinem Spätwerk , „Der Erretter aus dem Irrtum“,
seiner Autobiographie, beschreibt al-Ghazali,wie er
nach sorgfältigem Studium von Philosophie und mit
rationaler Argumentation arbeitender Theologie,
schliesslich zu der Überzeugung kam, dass zweifelsfreie metaphysische Erkenntnis nicht durch Sinneserfahrung und Vernunft gewonnen werden kann ,
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sondern allein durch intuitive, mystische Erkenntnis,
durch Gotteserfahrung, göttliche Erleuchtung.
Der Weg al-Ghazalis, weg vom Rationalen hin zum
Mystischen, Sprirituellen beförderte, vielleicht gar bewirkte den Niedergang von Philosophie und Wissenschaft im Islam, von dem sich der Islam bis heute
nicht wieder erholt hat.
Worauf gründete sich al-Ghazalis grosser
Einfluss?
Al-Ghazali war von 1091 bis 1095 Professor der
Theologie an der berühmten Nizamijah Medrese in
Bagdad und „erwarb sich in dieser Stellung als
höchstrangiger Lehrer der islamischen Gemeinschaft in Bagdad grösstes Ansehen und war auch
als politischer Berater gefragt“ (Wikipedia).
Er war der führende Vertreter der Ascharia-Schule,
der orthodoxen Richtung der rationalen islamischen Theologie (Kalam).
Seine Schriften zeugen von gründlicher Kenntnis in
griechischer und islamischer Philosophie, islamischem Recht, Logik, islamischer Mystik.
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Er verfasste über 400 Schriften, davon sind noch ca.
70 erhalten.
In „Islamic Philosophy Online“ sind über 80 Dissertationen über al-Ghazali aufgelistet.
Unter „amazon.com“ kann man über 2000 Bücher
von/über al-Ghazali finden.
Nach dem „Kirchenlexikon“ war al-Ghazali
grösste Denker des Islam.
der
Al-Ghazali und die Wissenschaft im Islam
Geschichte der Wissenschaft im Islam nach Abdus
Salam (Physiker, Nobelpreisträger):
„Von 750 bis 1100 war die muslimische Umma
(Weltgemeinschaft) auf dem Gebiet der Wissenschaft in der Welt absolut führend.
Von 1100 bis 1350 teilten wir diese Führungsrolle mit
dem aufstrebenden Westen.
Seit dem 15.Jahrhundert befindet sich unsere Wissenschaft in einem steten Niedergang.
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Heute ist die Wissenschaft am schwächsten in den
islamischen Ländern.“
Und nun,exemplarisch,Stimmen zweier Physiker zu
al-Ghazalis verderblichem Einfluss auf die Wissenschaft im Islam:
Steven Weinberg (Nobelpreisträger) in „The Times“
(2007):
„…Auf Grund des Einflusses religiöser Führer wie
al-Ghazali hat die islamische Gesellschaft auf dem
Gebiet der Wissenschaft nach dem 12. Jahrhundert
nichts Bedeutendes mehr hervorgebracht…“
„…Im 12.Jahrhundert wandte sich der Islam gegen
die Wissenschaft. Die einflussreichste Figur, der
Philosoph al-Ghazali,bestritt die Existenz von Naturgesetzen, würden diese doch Gott die Hände binden…“.
Pervez Hoodbhoy ( pakistanischer Kernphysiker )
in seinem Buch „Islam and Science“ (1991) ( vgl.
auch Hoodbhoys Plenarvortrag auf der Physikertagung,Regensburg,2007 ( nachlesbar im Internet )):
„… Al-Ghazali stellte Offenbarung über Vernunft,Vorsehung über freien Willen.Er bestritt das Kausalitätsprinzip und lehrte, dass man nicht wissen bzw. nicht
vorhersagen könne,was sich ereignen wird. Nur Gott
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allein könne dies. Er verdammte die Mathematik als
gegen den Islam gerichtet, als Gift für den Geist, das
den Glauben schwächt.“
Meinungsäusserungen von der Art Weinbergs und
Hoodbhoys bleiben von islamischer Seite nicht unwidersprochen . So lautet eine von Ahmad Shafaat
( Mathematiker, Montreal ) an Hoodbhoy geäusserte
Kritik:
„Hoodbhoys Perspektive in „Islam and Science“ ist
bestimmt durch Verlust des Glaubens und unausgegorene Rationalität“.
Wissenschaft aus der Perspektive der
ascheritischen Theologie, der islamischen
Orthodoxie
Nach al-Ascheria (873-935) sind „alle Geschehnisse
Taten Gottes, beruhend auf seiner Wahl, seiner Lenkung und Massgabe …“.
Die von al-Ascharia begründete orthodoxe Richtung
der rationalen islamischen Theologie wurde von alGhazali zur führenden Schulrichtung im sunnitischen
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Islam entwickelt, deren Lehren noch heute Gehör
finden.
Nach der Lehre der Ascheriten ist die koranische
Offenbarung ,das Wort Gottes, die höchste Form des
Wissens. Die fremde ( griechische ) Wissenschaft
bietet nur Wissen einer minderwertigereren Form.
Alles Wissen , alles Wissbare und damit auch alles
wissenschaftliche Wissen ist schon im Koran angelegt und kann, wenn nötig,durch Verstandesschlüsse
erhellt werden. ( Koranische ) Wissenschaft soll den
Koran bestätigen, nicht aber Wissen schaffen.(Nichtkoranische ) Wissenschaft ist Sünde, da sie den
Unglauben fördert. Es gibt keine Kausalität, da alles
Geschehen in Gottes Hand liegt. Gott ist die einzige
Ursache. Was uns als Gesetz erscheint, ist nur die
Gewohnheit Gottes.
Moslemische Stimmen aus heutiger Zeit zur
Wissenschaft im Islam
George Saliba (arabischer Islamwissenschaftler,New
York): „Alle islamischen Wissenschaftler waren gottesfürchtig… Al-Ghazali hat der Wissenschaft nicht
geschadet, gibt es doch im Islam keinen Konflikt
zwischen Wissenschaft und Religion...“.
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Seyyed Hossein Nasr ( iranischer Islamwissenschaftler, Washington D.C):
„Nur durch Integration einer spirituellen Perspektive
kann eine Wissenschaft erzeugt werden,die mit dem
Islam vereinbar ist …“.
Mahmoud Zakzouk ( ägyptischer Theologe und Religionsminister):
„Die Freiheit des Denkens und der wissenschaftlichen Forschung wird durch den Islam garantiert,
aber nur so lange, wie damit die Heiligkeit des Koran
und der Überlieferungen des Propheten nicht angetastet wird…“.
Bassam Tibi (syrischer Politikwissenschaftler,Göttingen):
„Wenn Muslime von Wissenschaft sprechen, dann
meinen sie Koran-Exegese und nicht was Europäer
unter Wissenschaft verstehen…“
„Da die islamische Theologie die beste ist, die Gott
geschaffen hat… besteht bei den Muslimen ein physisches Hindernis, von anderen Kulturen zu lernen,
fühlen sie sich doch diesen überlegen…“.
Und jetzt noch eine nicht-moslemische Stimme: Johann Christoph Bürgel (Islamwissenschaftler,Bern):
„Das „Aus“ für die griechische Philosophie war … in
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der islamischen Denkstruktur wohl vom Ursprung
her angelgt, wurde aber ganz wesentlich gefördert
durch al-Ghazali, der zu den einflussreichsten Lehrern des islamischen Mittelalters zählt, der in seinem
Werk „Widerlegung der Philosophen“ der aristotelischen Philosophie einen tödlichen Stoss versetzt
hat…“.
Al-Ghazalis Schrift „Widerlegung der Philossophen“ („Tahafut al-falasifah“)
Mit dieser Schrift wollte al-Ghazali zeigen, dass in
grundsätzlichen theologischen Fragen Vernunftserkenntnis versagen, ja gar zu falschen Aussagen führen kann, dass somit der Anspruch der Philosophen,
philosophische Erkenntnis sei jeder anderen Form
der Erkenntnis überlegen, haltlos ist.
Mit diesem Angriff auf die Glaubwürdigkeit der Philosophen hoffte er,deren Einfluss auf die moslemische
Gesellschaft schwächen und so die Rolle der gefühlsbetonten Religiosität, der spirituellen Dimension
der Religion, stärken zu können.
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Er sah in den Philosophen eine Gefahr, dass reine
Verstandesbeweise Urteile auf der Grundlage der
Scharia ( Gottes Gesetz, Quelle der moslemischen
Identität ) erübrigen könnten.
Und er befürchtete, dass der fromme Moslem durch
den wissenschaftlichen Diskurs der Philosophen im
Glauben und in der Befolgung der Glaubensvorschriften verunsichert werden könnte.
In seiner Schrift begnügt er sich nicht, zu den strittigen Punkten Koranverse zu zitieren, die zeigen,
dass die Ansichten der Philosophen im Widerspruch
zum Koran stehen.
Sondern er benutzt die Sprache der Philosophen,bedient sich rationaler logischer (skeptizistischer) Argumentation, ist doch seine Schrift vornehmlich an Philosophen gerichtet.
Die Gesamtheit der Irrtümer der Philosophen fasst er
in 20 Thesen zusammen.
Drei Thesen hält er für so schwerwiegend, dass er
demjenigen, der sie vertritt, die Sünde des Unglaubens zur Last legt, die mit der für Apostasie ( Abfall
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vom Islam ) vorgesehenen Todesstrafe zu sühnen
sei.
Die übrigen 17 Thesen hält er für weniger schwerwiegend, für häretisch.
Zu den drei todeswürdigen Thesen gehört die Lehre
von der Ewigkeit und Unerschaffenheit der Welt.
BEWEIS der PHILOSOPHEN für die EWIGKEIT
der Welt:
Prämissen:
(a) Gott ist von Ewigkeit her Ursache der Welt.
(b) Eine Ursache bedingt mit Notwendigkeit eine
Wirkung. Die Wirkung kann nicht zeitlich verzögert
eintreten.
Schluss:
Aus (a) und (b) folgt, dass die Welt von Ewigkeit her
existiert.
AL-GHAZALI akzeptiert die Prämisse (a), und dass,
falls auch die Prämisse ( b) richtig ist, auch der
Schluss richtig ist.- Aber er zeigt, dass die Prämisse (b) falsch ist, wie folgt:
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Wäre die Welt ewig, gäbe es eine aktual (tatsächlich)
unendliche Menge von Seelen, da ja die Seelen Verstorbener unsterblich sind. Da jedoch nur potentiell
und nicht aktual unendliche Mengen von Dingen existieren können ( Annahme ), kann die Welt nicht
schon ewig existieren,d.h. die Prämisse (b) ist falsch.
AL-GHAZALIS SCHLUSSFOLGERUNG:
Der Zusammenhang zwischen Vermögen und Gewirktem muss nicht notwendig der der Hervorbringung sein. So erstreckt sich die Macht Gottes seit
Ewigkeit auf die Welt, ohne dass deren Hervorbringung erfolgt wäre.Die Erschaffung der Welt zu einem
bestimmten Zeitpunkt war das Resultat des Willens
Gottes, im Einklang mit dem Koran.
Al-Ghazalis Vorwurf der Häresie und Apostasie war
für die islamische Philosophie verderblich. Die Folge
war der Verfall des kritischen philosophischen Denkens seit dem 12.Jahrhundert im islamischen Osten,
und dem 13.Jahrhundert im islamischen Westen (im
Westen: 1195 erliess der Almohaden-Sultan al-Mansur ein Dekret zur Verurteilung der Philosophie und
„griechischen Wissenschaften“. Averroes wurde an
den Pranger gestellt. Seine Bücher wurden verbrannt).
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Kurzer Exkurs in die sowjetische Physikgeschichte zur Illustration der Wirkung von alGhazalis Attacke gegen die Philosophen
Für mich liegt eine gewisse Parallelität zwischen den
Bedingungen für Leben und Tätigkeit eines Intellektuellen im (mittelalterlichen) Islam und in der Sowjetunion auf der Hand, handelt es sich doch in beiden
Fällen um Leben und Tätigkeit in einem System mit
staatstragender Ideologie mit dem Anspruch der
Wahrheitsgewissheit, woraus sich spezifische Zwänge und Notwendigkeiten ergeben, wie Legitimierungszwang für neue Gedanken durch Belege aus
den kanonischen Schriften, das Prinzip Wissen
für die Eingeweihten und Ritus für das Volk , Rückzug in die innere Emigration zur Wahrung der Freiheit des Denkens usw.
Diese Parallelität erhellt sich, wenn wir erneut die
Frage der Ewigkeit oder Nichtewigkeit der Welt aufgreifen.
Grundlegendes Dogma des Dialektischen Materialismus ist die Einheit der Welt in der Materie, die ewig
sei und einen unendlich grossen Raum erfülle.
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Im Jahre 1922 fand jedoch der sowjetische Physiker
Alexander Friedmann (1888 –1925) eine Lösung der
Einstein-Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie, die ein dynamisches Universum, mit Urknall
und Expansion des Weltalls, beschreibt.
Obwohl seit der Beobachtung und Deutung der Rotverschiebung der Galaxienspektren durch Hubble
(1929) die Gültigkeit einer solchen Lösung zur Beschreibung unseres Universums nahezu gewiss ist,
wurde die Friedmannsche Theorie seitens der
staatstragenden sowjetischen Philosophen über
Jahrzehnte heftig attackiert, steht sie doch im Widerspruch zum Dogma von der Ewigkeit und Unendlichkeit der Welt. Es mussten fast 40 Jahre vergehen,
bis sie in der Sowjetunion uneingeschränkte Anerkennung fand.
Die gegen die Friedmannsche Theorie erhobenen
Vorwürfe lauteten u.a. : Relativismus, Wiederbelebung der Schöpfungslehre, „physikalischer Idealismus aufgrund einer heftigen Infektion mit dem Geist
der Mathematik“…
Dies waren Vorwürfe ganz im Geiste Lenins ,der in
„Materialismus und Empiriokritizismus“ den Physikern unterstellt hatte, sie unterlägen immer öfter der
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Versuchung, theoretisch- mathematische Modelle
(„imaginäre Systeme“, so Lenin) an Wirklichkeits
Statt anzunehmen, und so ein „Schwanken des Denkens in der Frage der Objektivität der Physik“ und
„physikalischen Idealismus“ zu fördern.
Erst nach Stalins Tod (1953) eröffnete sich in der
Sowjetunion die Möglichkeit, in aller Öffentlichkeit ein
räumlich und massenmässig begrenztes Weltall zu
diskutieren unter Erwägung eines zeitlichen Beginns.
Erwähnt sei noch das Schicksal des sowjetischen
Physikers Matwej Bronstein, der 1936 eine erste
physikalische Begründung der Expansion des Weltalls im Rahmen von Elementen einer Theorie der
Quantengravitation formuliert hatte. Er wurde 1938
verhaftet und kurz darauf exekutiert. Der gegen ihn
erhobene Vorwurf lautete: Konterrevolutionäre Pläne
und ausserdem habe er sich „der Anwendung der
materialistischen Dialektik in den Naturwissenschaften heftig widersetzt“ .
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2. Geistige und politische Situation zur Zeit
al-Ghazalis
Geistige Situation
Die geistige Situation wurde durch Auseinandersetzungen auf folgenden Gebieten bzw. zwischen folgenden Gruppierungen bestimmt:
PHILOSOPHIE: Das Verhältnis von Vernunft und
Glauben bzw. aristotelischer Philosophie und islamischem Gesetz war von Anfang ( 9. Jh. ) bis Ende
( 13. Jh. ) der islamischen Philosophie eines der
Hauptprobleme des philosophischen Diskurses im
Islam.
KALAM ( islamische Scholastik ): Zwischen Mutaziliten (rationalistische Richtung) und Ascheriten (traditionalistische Richtung ) wurde weiterhin heftig gestritten, insbesondere über die Geschaffenheit und
damit auch Krtisierbarkeit des Koran (Mutaziliten)
oder dessen Ungeschaffenheit bzw. Ewigkeit und
damit auch Nichtkritisierbarkeit (Ascheriten).
Die Blühtezeit der Mutaziliten lag im 8. und 9.Jh.,die
der Ascheriten im 10. und 11.Jh.
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HANBALITEN ( konservative Reaktion gegen den
Kalam, sunnitische Rechtsschule): Zwischen Hanbaliten und Mutaziliten sowie zwischen Hanbaliten
und Ascheriten gab es heftige Auseinandersetzungen. Die Hanbaliten bestehen auf der wörtlichen Gültigkeit von Koran und Hadithen.
SUFISMUS ( islamische Mystik , mit dem höchsten
Ziel eines Aufgehens in Gott ): Durch das Wirken
al-Ghazalis gewann der Sufismus beträchtlich an
Attraktivität und Verbreitung.
SUNNITEN und SCHIITEN / ISMAILITEN: Diese beiden Glaubensrichtungen des Islam stritten sich insbesondere über die Unfehlbarkeit des Imam und
über die Rechtmässigkeit des Kalifen: ob der Kalif
in Bagdad (Abbasside, Sunnit) oder der Kalif in Kairo
(Fatimide, Ismailit) der rechtmässige sei.
Das geistige Klima zur Zeit al-Ghazalis kann wie
folgt beschrieben werden: Im 11.Jahrhundert begann
die geistige Freiheit im Islam immer stärker beschnitten zu werden. Der Rationalismus geriet in die Defensive. Die Mutaziliten wurden der Häresie, die Philosophen der Häresie und Apostasie bezichtigt. Eine
Kritik der theologischen Vernunft wurde unmöglich.
Glauben, Festhalten an Koran und Sunna wurden
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an die Stelle der Vernunft als Weg zur Wahrheit
gesetzt.
Die Scharia wurde zur höchsten Wahrheit. Rituale
wurden mit Glauben identifiziert. Dogma, Orthodoxie
und Intoleranz reglementierten das Geistesleben.
Politische Situatuion
Der Abbassiden-Kalif in Bagdad war nur noch geistliches Oberhaupt der Moslems.
Die politische Macht lag in der Hand der Bujiden
(930-1055) , einer schiitischen persischen Dynastie,
und danach in der der Seldschuken (1055-1243), einer sunnitischen türkischen Dynastie.
Die Bujiden förderten besonders Schiiten,als Gegengewicht zu dem sunnitischen Kalifen. Die Seldschuken bekämpften die ismailitisch-schiitischen Fatimiden.
Der Seldschuken-Sultan Alp Arslan hatte eigentlich
einen Feldzug gegen die Fatimiden geplant, aber
byzantinische kriegerische Aktivitäten veranlassten
ihn zum Feldzug gegen Byzanz.
Byzanz erlitt bei Manzikert (1071) eine vernichtende
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Niederlage und verlor daraufhin einen grossen Teil
Anatoliens an die Seldschuken. Damit begann die
Enthellenisierung Kleinasiens.
Malik Schah, Sohn und Nachfolger Alp Arslans,nahm
den Plan eines Feldzuges gegen die Fatimiden wieder auf. Er erweiterte seinen Machtbereich auf Kosten der Fatimiden nach Syrien und eroberte auch
Edessa und Antiochia.
Mächtiger und hoch gebildeter Wesir unter Alp Arslan und Malik Schah war der Perser Nizam al-Mulk
(1018-1092), der Förderer von al-Ghazali (10581111) und Omar Chajjam (1048-1031), dem grossen
persischen Dichter und berühmten Mathematiker
und Astronomen.
Nizam al-Mulk (bzw. Malik Schah) berief al-Ghazali
im Jahre 1091 zum Professor für Theologie an die
von ihm gegründete Nizamijah Medrese in Bagdad
und machte ihn auch zum politische Berater des
Hofes, insbesondere für die geistige Auseinandersetzung mit dem ideologischen Gegner, den Ismailiten.
Letztere Tätigkeit fand ihren Niederschlag in alGhazalis berühmter „Streitschrift gegen die Batiniten
(Ismailiten)“.
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Omar Chajjam wurde 1076 von Nizam al-Mulk (bzw.
Malik Schah) mit der Errichtung und Leitung eines
Observatoriums ( Prestigeobjekt Malik Schahs ) in
Isfahan beauftragt, sowie mit der Erstellung eines
Sonnenkalenders für astrologische Zwecke.
Der von Omar Chajjam erstellte Kalender ist genauer als der Gregorianische. Er wird noch heute im Iran
verwendet.
Im Jahre 1092 wurde Nizam al-Mulk ermordet, von
einem Assassinen, einem Mitglied der berüchtigten
ismailitischen Sekte der Assassinen, gegründet von
dem Perser Hasan i-Sabbah (1034-1124), der die
Bergfestung Alamut zum Hauptsitz der Sekte machte
und von dort aus seine Meuchelmorde plante und in
die Tat umsetzte .
Die Ermordung Nizam al-Mulks war der erste Assassinen–Mord, der Beginn einer Mordserie mit dem
Ziel, die Macht der Seldschuken zu schwächen und
den Einfluss der Ismailiten zu stärken.
Kurze Zeit nach Nizam al-Mulk wurde Malik Schah
ermordet. Beginnender Machtverfall der Seldschu ken war die Folge, und damit letztlich auch der Erfolg des Ersten Kreuzzuges.
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Al-Ghazali verliess Bagdad im Jahre 1095, nicht zuletzt wohl auch aus Furcht vor der Rache der Ismailiten, durchlebte eine spirituelle Krise, wandte sich
dem Sufismus zu und begab sich auf ein Wanderleben als Sufi , in Palästina und Syrien, bevor er
schliesslich in seine persische Heimat zurückkehrte.
Omar Chajjam verlor mit der Ermordung Nizam alMulks und Malik Schahs die schützende Hand des
Hofes und die finanziellen Mittel für den Erhalt seines Observatoriums. Der Nachfolger Malik Schahs
war nicht am Erhalt des Observatoriums interes siert. Und so fiel dies dem Verfall anheim.
Omar Chajjam begab sich auf eine Pilgerfahrt nach
Mekka, nicht aus Gläubigkeit, sondern weil er in
ständiger Furcht lebte, wegen seines Hanges zu
Rationalität und unabhängigem Denken von der
Orthodoxie der Häresie bezichtigt zu werden . Es
war gewissermassen eine Pilgerfahrt zum Zwecke
der Tarnung. Späterhin kehrte er in seine persische
Heimat zurück.
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Geist der Zeit al-Ghazalis im Spiegel von
Texten von und über Omar Chajjam
Omar Chajjams Rückzug in die innere Emigration
nach Verlust seines Observatoriums lassen seine
folgenden Zeilen erahnen:
„Jene, die höchste Bildung und
Gelehrsamkeit erreichten,
in vollkommener Gesellschaft
Kerzenschein Ihresgleichen wurden,
sie konnten bei Tageslicht
nicht der Finsternis entfliehen.
Ein Märchen erzählten sie
und fielen in Schlaf.“
Den Niedergang der Wissenschaften beklagt Omar
Chajjam im Vorwort zu seinem berühmt gewordenen
Algebra –Buch (1070):
„Wir sind Zeugen gewesen, wie die Männer der Wissenschaft untergegangen und auf ein winziges Häuflein zusammengeschmolzen sind, dessen Zahl so
gering ist, wie seine Leiden gross sind…
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Aber die meisten von denen, welche heutzutage für
Gelehrte gelten, verbergen die Wahrheit durch Lüge
und kommen nicht über die Schranken eines blossen
Scheingelehrtentums hinaus…“.
In ständiger Furcht,wie schon gesagt,von der Orthodoxie der Häresie oder gar Apostasie bezichtigt zu
werden, mied Omar Chajjam öffentliche Debatten,
lehrte aber Philosophie, insbesondere die Ibn Sinas
(Avicennas) ,über viele Jahre als Ein-Mann-Universität,nicht ohne Risiko, wie folgender Bericht,nach verschiedenen Quellen aus dem 13. Jahrhundert, zeigt:
„Einer der Gelehrten der Scharia ( AL-GHAZALI !)
pflegte täglich vor Sonnenaufgang zu Omar Chajjam
zu kommen, um Philosophie bei ihm zu studieren.
Derselbe schwärzte ihn aber bei den Leuten an. Als
Omar dies erfuhr, liess er alle Paukenschläger und
Trompetenbläser kommen, und als der Rechtsgelehrte wie gewöhnlich zum Unterricht kam, liess er
Pauken schlagen und Trompeten blasen, so dass
sich eine grosse Volksmenge aus allen Teilen der
Stadt ansammelte. Dann sprach er zu den Leuten:
„Männer aus Nischapur, hier ist euer Lehrer ! Jeden
Tag um diese Stunde kommt er zu mir,um bei mir die
Wissenschaften zu studieren . Zu euch aber spricht
er in der Art, die ihr kennt.
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Wenn ich wirklich so bin, wie er sagt, weshalb
kommt er dann, um von mir zu lernen? Und wenn
nicht,weshalb verleumdet er dann seinen Lehrer? ““.
Omar Chajjams Enttäuschung über vermeintliche
Freunde, die in Wirklichkeit aber Denunzianten waren, findet ihren Ausdruck in folgendem Gedicht:
„Durch all die Jahre ,die ich durchlebt,
Hab´ eines Bruders Freundschaft ich erstrebt,
Der unsern Freundschaftsbund nicht jählings ende,
Sein Wort nicht bräche, noch von mir sich wende.
Bei wieviel Freunden musst´ ich dann erfahren,
Dass alles eher sie als Brüder waren!
Und ach, wie oft, wie oft ersetzte wieder
Ich solche Brüder dann durch neue Brüder!
…“.
Und schliesslich , Omar Chajjam über die Frömmler
seiner Zeit, die ihm das Leben so schwer machten,
in einem Rubai ( Mehrzahl: Rubaijat, Vierzeiler ):
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„O Frömmler, einen Wunsch nur mir erfülle,
Spar deinen guten Ruf und schweige stille!
Glaub mir, ich gehe geradeaus, und du siehst
nur schief .
Drum lass mich gehen und kauf dir eine Brille.“
Mehr als tausend Rubaijat sind von Omar Chajjam
überliefert. Auf ihnen gründet sich sein Ruhm, bis
heute.
Erneuter Exkurs in die jüngere Geschichte
Ende des 20. Jahrhunderts wurden nach Omar Chajjam ein Mondkrater und ein Kleinplanet benannt.
Auch nach Boris Gerasimovich, in den 1930 er Jahren Leiter des Observatoriums Pulkovo ( St. Petersburg / Leningrad) , der bekanntesten Sternwarte
Russlands, wurden Ende des 20. Jahrhunderts ein
Mondkrater und ein Kleinplanet benannt.
Während der berüchtigten Stalinschen Säuberungen, Mitte der 1930 er Jahre, wurde Gerasimovich
der Spionage (zu viele Kontakte zum Ausland !) be26
zichtigt . Er wurde verurteit (Mitteilung an seine Familie: „10 Jahre ohne Recht auf Briefwechsel“) und
exekutiert. Auch die meisten seiner leitenden Mitarbeiter wurde verhaftet und in den Gulag geschickt,
den nur wenige von ihnen überlebten.
Nach A.I. Eremeeva (JHV 26, 297 (1995)) wurde Gerasimovich von seinem ehemaligen Mitarbeiter und
Kontrahenten Viktor Ambarzumjan, in der Sowjetunion später hoch geehrter Astronom, denunziert,
u.a. mit folgenden Vorwürfen: „Unterwürfigkeit gegenüber ausländischen Wissenschaftlern, Aufnahme
von „Harvard-Themen“ in das Forschungsprogramm
des Observatoriums, Publizieren vorrangig in ausländischen Zeitschriften, Herausdrängen junger Astronomen (Ambarzumjan !) aus dem Mitarbeiterkreis
des Observatoriums“.
Die Dinge sprechen für sich. Die genannte Parallelität ist unübersehbar.
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Zusammenfassung und abschliessende
Bemerkungen
Al-Ghazali war mitverantwortlich für den Niedergang von Wissenschaft und Philosophie im Islam
nach dem 12./13. Jh.
Seine Haltung zu Wissenschaft und Philosophie war
geprägt durch seine feste Überzeugung, dass im
Zweifelsfalle, wenn Koran und Wissenschaft bzw.
Philosophie im Widerspruch stehen, der Koran recht
hat.
Nach seiner Überzeugung stiften Wissenschaft und
Philosophie mehr Verwirrung als Verständnis, erregen Zweifel, erschüttern fest eingewurzelte Überzeugungen, schwächen den Glauben.
Er kam schliesslich zu der Überzeugung, dass zweifelsfreie Erkenntnis allein durch göttliche Erleuchtung
gewonnen werden kann, und nicht durch Sinneserfahrung und Vernunft.
Al-Ghazalis Abwendung vom Rationalen und Hinwendung zum Irrationalen, zur gefühlsbetonten Re-
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ligiosität, hatten einen entscheidenden Einfluss auf
die islamische Gemeinschaft insgesamt.
Al-Ghazalis Gedanken sind im Islam auch heute
noch lebendig. So strebt die orthodoxe Richtung des
modernen Reformislam, repräsentiert etwa durch
den bedeutenden persischsprachigen Dichter und
Philosophen Muhammad Iqbal, mit Bezug auf alGhazali, eine Wiederbelebung des religiösen Denkens, geleitet durch mystische Gotteserfahrung, an,
mit dem Ziel des Wiedererstarkens der islamischen
Gemeinschaft, und mit der Vision von einer „spirituellen Demokratie“ als Alternative zur nicht-spirituellen westlichen Demokratie , als „höchstes Ziel des
Islam, als Beitrag zum Fortschritt der Menschheit“.
Zum Schluss,ohne Kommentar,ein Zitat (von Hindeja
Farah, Magazin „Zeit-Geschichte“ 1,54 (2010)) zur
Zukunft Europas:
„… Heute beziehen wir uns in Europa auf eine
jüdisch-christliche Tradition… Seine arabischen Wurzeln hält Europa noch immer versteckt. Doch…(ein)
Identitätswandel wird eines Tages kommen.Bekanntlich –und das wussten die Gelehrten aus Bagdad im
29
9. Jahrhundert schon - ist es kurz vor der Dämmerung immer am dunkelsten“.
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