Andrzej Dominik Kuciński Naturrecht in der Gegenwart Andrzej Dominik Kuciński Naturrecht in der Gegenwart Anstöße zur Erneuerung naturrechtlichen Denkens im Anschluss an Robert Spaemann Ferdinand Schöningh Meinen Eltern Stefan und Halina, und meiner Schwester Maria Umschlagabbildung: www.shutterstock.com Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2017 Verlag Ferdinand Schöningh, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Printed in Germany Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-506-78710-1 VORWORT Menschen verschiedener Herkunft, Kultur und Sprache machen immer wieder ähnliche Erfahrungen, wenn es um die Suche nach gerechtem Handeln geht, und sie äußern auch in entsprechender Weise manchmal ihren Unmut über das empfundene Unrecht: „Das ist ungerecht!“, „So etwas gehört sich doch nicht!“, „Das kann man absolut nicht tun!“ usw. Dabei erwarten sie in der Regel, dass alle anderen ihre Gerechtigkeitsansichten teilen, und es reicht nicht aus, solche Empfindungen auf bloß positivrechtliche Bestimmungen zurückzuführen, geht es ihnen doch um ihr „Sein im Recht“. Wie auch immer dies konkret begründet werden mag, ist die Frage nach der Gerechtigkeit ein unabweisbares Problem, das durch alle Epochen der Menschheit hindurchgeht, immer wieder neu aufgegriffen und behandelt werden will. Jenseits aller kulturellen Partikularitäten kann man für erwiesen halten, dass im Verlangen nach Gerechtigkeit über alle Grenzen hinweg reale Konvergenzen bestehen, so dass die Frage nach einer allgemein verbindlichen Ethik ausgehend von der Einheit des Humanum schon rein phänomenologisch sinnvoll erscheint. In der Geistesgeschichte hat dieses Faktum zur Herausbildung einer spezifischen Gestalt der Reflexion über das menschlich Gesollte geführt. Bei dieser Gestalt handelt es sich um das Naturrechtsdenken, das sich schon deshalb einer einfachen Charakterisierung entzieht, da an ihm das Gewicht Jahrtausende langer Tradition haftet. Die gegenwärtigen globalen Herausforderungen, deren Vernetzung in der sich rasch verändernden Welt kontinuierlich wächst, beeinflussen und prägen die erstarkende Sehnsucht nach gemeinsamen ethischen Orientierungen der Menschheit, bei denen man sich darauf verlassen könnte, dass alle Menschen sie respektieren. Ist das Naturrecht aber (noch) eine tragfähige Kategorie, um sich diesem Anspruch zu stellen? Wenn ja, wie sieht eine sinnvolle naturrechtliche Rede aus? Wie kann man sie dann begründen, verallgemeinern und im positiven Recht verankern? Diese und ähnliche Fragen stehen über der vorliegenden Studie, die eine geringfügig überarbeitete Fassung meiner im Juli 2016 an der KatholischTheologischen Fakultät der Universität Bonn eingereichter Dissertation darstellt. Den unmittelbaren Anstoß zu diesem Thema gab die Bundestagsrede von Papst Benedikt XVI. am 22.09.2011, in der er unter Rückgriff auf das Naturrecht zum Nachdenken über die Kriterien des Rechten aufgerufen hat. Für diese ursprüngliche Anregung bin ich ihm an erster Stelle dankbar. Seine Ausführungen über die „Ökologie des Menschen“ bildeten die Grundlage für das Cover dieser Publikation: Es drückt nämlich die Überzeugung aus, der Mensch erhält die Welt und sich selbst von einer über ihm stehenden Instanz als Geschenk und Aufgabe zugleich. Die damit aufgezeichneten naturrechtli- 6 VORWORT chen Grenzen stecken den Rahmen ab, in dem sich seine Freiheit unter Berücksichtigung der eigenen Natürlichkeit entfalten kann. Bei weiterem Suchen und Fragen erwies sich das umfassende philosophische Werk von Prof. Dr. mult. Robert Spaemann als geeignet für das Vorhaben, der Frage einer möglichen Erneuerung des Naturrechtsdenkens gründlich nachzugehen. Ihm gilt mein besonderer Dank für eine Fülle an Erkenntnissen, Denkmotiven, Argumentationshilfen, Anstößen zu philosophischen Überlegungen und nicht zuletzt für die Einladung zum persönlichen Gespräch am 24.02.2015 mit der Gelegenheit, auf konkrete Fragen zu seinem Denken direkte Antworten zu bekommen. Joachim Kardinal Meisner, dem em. Erzbischof von Köln, verdanke ich den Auftrag zur Promotion im Fach Moraltheologie in Verbindung mit der Tätigkeit des Studienpräfekten am Erzbischöflichen Missionarischen Priesterseminar Redemptoris Mater Köln. Bei seinem Nachfolger, Rainer Maria Kardinal Woelki, bedanke ich mich für die Fortsetzung dieses Auftrags und den großzügigen Zuschuss zu den Druckkosten der Dissertation seitens des Erzbistums Köln. Meinem Doktorvater, Prof. Dr. Gerhard Höver, danke ich ganz besonders für die geduldige, umfassende und freundliche Begleitung während des gesamten Projektes. Seine Richtungshinweise, Anregungen, Korrekturen und das Geschenk der Zeit waren für mich die wesentliche inhaltliche Hilfe, vor allem in den Phasen der notwendigen Orientierung in der komplexen Materie. Mein Dank gilt auch dem Zweigutachter, Prof. Dr. Jochen Sautermeister, für die Übernahme des Zweitgutachtens und alle wertvollen Hinweise. Eine wichtige Hilfe waren außerdem Gespräche mit Paul Josef Kardinal Cordes, Prof. Dr. Karl-Heinz Menke und Prof. Dr. Lothar Roos, denen ich für weitere Denkanstöße und Korrekturen danke. Einen herzlichen Dank richte ich darüber hinaus an Prof. Dr. Robert Skrzypczak und Dr. Hans-Gregor Nissing für deren Rat, Rückmeldungen und Ermutigung. Danken möchte ich insbesondere allen Bewohnern des Priesterseminars Redemptoris Mater Köln, in dem ich selbst zum Priester ausgebildet wurde und in der Zeit der Promotion als Studienpräfekt und später Subregens dienen durfte. An erster Stelle bin ich dem Regens, Msgr. Salvador Pane Domínguez, und den anderen Formatoren des Hauses, P. Pedro Remírez Gaviria und Spiritual Dariusz Szyszka, sehr dankbar für die kontinuierliche wohlwollende Begleitung und Ermutigung sowie den nötigen Rahmen für konstruktive Arbeit. Weihbischof Ansgar Puff aus Köln gebührt das Lob für die Gastfreundschaft in einer wichtigen Phase meines Projektes. Thomas Munns danke ich für das Engagement bei der Fertigstellung der Druckversion. Bei Elisabeth Doubrava, Judith Mönter und Anna Niemyska bedanke ich mich für die sprachliche Hilfe und bei Kerstin Simons – für die Übernahme der Formalitäten rund um die Publikation. Außerdem möchte ich den ermutigenden geistlichen Beistand meiner beiden Gemeinschaften des Neokatechumenalen Weges aus Warschau und Köln, 7 VORWORT sowie ihrer Katechisten und aller anderen Freunde, die mich ihre Unterstützung haben spüren lassen, würdigen. Dazu gehören vor allem Frau Bruna Spandri und andere Mitglieder des neokatechumenalen Itineranten-Teams für Deutschland und die Niederlande. Last but not least gilt meine Dankbarkeit meinen Eltern, Stefan und Halina, sowie meiner Schwester Maria, die mich die ganze Zeit treu begleitet haben. Andrzej Kuciński Bonn, Februar 2017 INHALTSVERZEICHNIS 0. EINLEITUNG ............................................................................................. 0.1. Das Naturrecht im Zeichen des Widerspruchs .................................. 0.2. Der Philosoph Robert Spaemann als ein streitbarer Denker .............. 0.2.1. Gründe für die naturrechtliche Kompetenz Robert Spaemanns ... 0.2.2. Der Kern des Spaemannʼschen Denkens ...................................... 0.2.3. Analyse der Moderne ................................................................... 0.2.3.1. Fortschritt ohne bestimmtes Telos ........................................ 0.2.3.2. Funktionalisierung ................................................................ 0.2.4. Anforderungsprofil des Philosophen nach Spaemann .................. 0.2.4.1. Kritische Haltung .................................................................. 0.2.4.2. Die alles entscheidende Wahrheitsfrage ............................... 0.2.4.3. Positivität der Kontroverse .................................................... 0.2.5. „Das Ende des Denkens“: Gott ist ................................................ 0.2.5.1. Das Dasein Gottes als Grundvoraussetzung des Denkens .... 0.2.5.2. Die „heilsgeschichtliche“ Rolle des Christentums ................ 0.3. Methodik der Arbeit .......................................................................... 0.3.1. Allgemeines .................................................................................. 0.3.2. Standortbestimmung des Naturrechtsdenkens .............................. 0.3.3. Spaemanns Ansätze zur Erneuerung des Naturrechtsdenkens ...... 1. NATURRECHTSDENKEN ALS BLEIBENDE SUCHE NACH ETHISCHER GRUNDORIENTIERUNG ............................................................................. 1.1. Begriffliche Klärung .......................................................................... 1.2. Geschichtliche Hauptlinien der Entwicklung des Naturrechtsdenkens ........................................................................... 1.2.1. Vorchristliche Antike ................................................................... 1.2.2. Christliche Antike und Frühmittelalter ......................................... 1.2.3. Hoch- und Spätmittelalter ............................................................. 1.2.4. Reformation und Neuzeit ............................................................. 1.2.5. Naturrechtsdenken im 19. und 20. Jh. .......................................... 1.2.6. Zusammenfassung ........................................................................ 1.3. Naturrecht in Kritik und Diskussion .................................................. 1.3.1. Die hohe Relevanz des Naturrechtsdenkens in Geschichte und Gegenwart Europas ...................................................................... 1.3.1.1. Die Rolle des naturrechtlich orientierten römischen Rechts in der Entwicklung der europäischen Rechtskultur ............... 1.3.1.2. Die natürliche Suche der Menschheit nach einer universalen Ethik ...................................................................................... 17 17 22 22 24 25 27 28 30 30 31 33 34 34 37 41 41 42 43 49 49 56 56 59 60 63 73 77 80 80 80 82 10 INHALTSVERZEICHNIS 1.3.1.3. Naturrecht als Grundlage von Menschenwürde und Menschenrechten ................................................................... 1.3.2. Zentrale Auseinandersetzungsfelder des Naturrechts ................... 1.3.2.1. Der Wirklichkeitsbezug des Naturrechts als Grundproblem der Verhältnisbestimmung von Sein und Sollen ................... 1.3.2.2. Der Geltungsgrund des Naturrechts ...................................... 1.3.2.3. Der Erkenntnisgrund des Naturrechts ................................... 1.3.2.4. Die „Materialität“ des Naturrechts in der Spannung zwischen Universalität und Konkretheit ............................... 1.3.2.5. Naturrechtsdenken und Rechtspositivismus .......................... 1.3.2.6. Die Geschichtlichkeit des Naturrechts .................................. 1.3.2.7. Interpretationshoheit des Naturrechts als Grundfrage nach der ethischen Kompetenz der Kirche .................................... 1.3.2.8. Scholastische Naturrechtstradition und die Frage der Wirkungsgeschichte .............................................................. 1.3.3. Aktuellere Ansätze zur Erneuerung des Naturrechtsdenkens ....... 1.3.3.1. Naturrechtliche Perspektiven im aktuellen kirchlichen Diskurs .................................................................................. 1.3.3.1.1. Das Dokument der Internationalen Theologenkommission: „Auf der Suche nach einer universellen Ethik: ein neuer Blick auf das natürliche Sittengesetz“ (2009) .......................................................... 1.3.3.1.2. Die Bundestagsrede von Papst Benedikt XVI. vom 22.09.2011 ........................................................................ 1.3.3.2. Ein unerledigtes Erbe ............................................................ 1.3.3.3. Die bleibende Bemühung um eine Universalethik ................ 1.3.3.4. Die Bedeutung des Naturrechts für die Ethik der Menschenrechte .................................................................... 1.3.3.5. „Dynamisches Naturrecht“ ................................................... Exkurs: Martin Rhonheimers thomanisch inspiriertes Konzept der aktiven Rolle der praktischen Vernunft in der Konstituierung des natürlichen Sittengesetzes ...................... 1.3.3.6. Die Berücksichtigung der geschichtlichen Kontingenz ........ 1.3.3.7. Die Verhältnisbestimmung von Naturrecht, Glaube und Lehramt ................................................................................. 1.3.4. Zusammenfassung ........................................................................ 1.4. Gegenwärtige Herausforderungen der naturrechtlichen Reflexion ... 1.4.1. Das Menschenrecht auf Leben ..................................................... 1.4.2. Erschaffung eines neuen Menschen? ............................................ 1.4.3. Ehe und Familie ............................................................................ 1.4.4. Privateigentum ............................................................................. 1.4.5. Sozialstaat und soziale Rechte ...................................................... 1.4.6. Friedensfrage ................................................................................ 1.4.7. Zusammenfassung ........................................................................ 83 84 84 88 96 100 103 107 112 117 119 120 122 129 138 145 153 160 166 171 175 181 189 189 193 199 203 205 207 209 INHALTSVERZEICHNIS 1.5. Zwischenergebnis .............................................................................. 1.5.1. Versuch einer Standortbestimmung des christlichen Naturrechtsdenkens ...................................................................... 1.5.2. Gibt es eine menschliche Natur? .................................................. 1.5.3. Glaube und Naturrecht ................................................................. 1.5.4 Naturrecht im Zeichen der Integration .......................................... 1.5.5. Perspektive für ein konkretisierungsfähiges Naturrecht: ein logisch-theoretischer Paradigmenwechsel? .................................. 2. DIE AKTUALITÄT DES N ATURRECHTSDENKENS IM WERK VON ROBERT SPAEMANN ................................................................................. 2.1. Naturteleologische Betrachtung des Lebendigen ............................... 2.1.1. Die Seinsfrage als metaphysischer Horizont der Deutung von Mensch und Welt ......................................................................... 2.1.1.1. Die Anerkennung der Wirklichkeit im Freiheitsakt .............. 2.1.1.2. Subjektivität als Objektivität ................................................. 2.1.1.3. Das Sein als Ereignis und sein Primat vor der Subjektivität .......................................................................... 2.1.1.4. Personalität: das Paradigma des Seins .................................. 2.1.2. Die Entdeckung der naturteleologischen Problematik durch Spaemann ..................................................................................... 2.1.2.1. Die Ersetzung der Metaphysik durch die Soziologie: Dissertation über Bonald ....................................................... 2.1.2.2. Der Sieg der „bürgerlichen Ontologie“ über die traditionelle Naturteleologie: Habilitation über Fénelon ........................... 2.1.3. Die metaphysische Abkehr von der Teleologie als Verfallsgeschichte ........................................................................ 2.1.3.1. Das klassische teleologische Naturverständnis bis zur Neuzeit .................................................................................. 2.1.3.2. Die neuzeitliche Wende zur „Inversion der Teleologie“ ....... 2.1.3.3. Versuche der Verbindung von zwei Perspektiven der Naturbetrachtung bei Leibniz, Wolff und Kant ..................... 2.1.3.4. Die Fortentwicklung der Teleologie im deutschen Idealismus und ihre nihilistische Umwandlung .................... 2.1.3.5. Die Radikalisierung des Antiteleologismus in den Naturwissenschaften der Gegenwart ..................................... 2.1.4. Gegenwärtige Herausforderungen für die Teleologie: Evolutionismus und Teleonomie .................................................. 2.1.4.1. Aporien des antiteleologischen Evolutionismus ................... 2.1.4.2. Teleonomie als simulierte Teleologie ................................... 2.1.5. Das Paradigma des Lebens und die Verteidigung des Anthropomorphismus ................................................................... 2.1.5.1. Plädoyer für die Wiedergewinnung des Lebensbegriffs im Horizont der Selbsttranszendenz ........................................... 11 212 212 214 215 218 220 231 231 232 232 233 234 237 239 240 241 243 245 249 252 254 256 260 260 263 267 267 12 INHALTSVERZEICHNIS 2.1.5.2. Anthropomorphismus versus Selbstabschaffung des Menschen .............................................................................. 2.1.6. Die Notwendigkeit des teleologischen Denkens .......................... 2.1.6.1. Der unhintergehbare logische Horizont des Evolutionsprogramms ........................................................... 2.1.6.2. Praktische Dimension des Teleologieproblems .................... 2.1.6.3. Zum ontologischen Status der Teleologie ............................. 2.1.7. Naturteleologie als Prolegomenon zum Naturrecht ...................... 2.1.7.1. Metaphysische Fundierung ................................................... 2.1.7.2. Anthropologischer Fokus ...................................................... 2.1.7.3. Teleologie als Voraussetzung anderer Zugangsweisen zur Wirklichkeit .......................................................................... 2.1.7.4. Die Sinnhaftigkeit der Natur und des Lebens im Kontext der Ökologiefrage .................................................................. 2.1.7.5. Die Auseinandersetzung mit den modernen Wissenschaften ...................................................................... 2.1.8. Zusammenfassung ........................................................................ 2.2. Anthropologische Grundlage des Naturrechts: die Teleologie der menschlichen Natur ........................................................................... 2.2.1. Warum menschliche Natur? ......................................................... 2.2.2. Die Entteleologisierung des anthropologischen Naturbegriffs ..... 2.2.2.1. Die Geschichte des Naturbegriffs in seiner Vieldeutigkeit ... 2.2.2.2. Auf der Suche nach Aussöhnung von Mensch und seiner Natur ..................................................................................... 2.2.3. Anthropologische Differenzierungen ........................................... 2.2.3.1. Naturalismus und Spiritualismus: zwei Extreme antiteleologischer Naturvergessenheit ................................... 2.2.3.2. Das Normative und das bloß Vorhandene: die Differenz zwischen Naturgemäßheit und Naturwüchsigkeit ................. 2.2.4. „Natur als Maß des Handelns“ und ihre erinnernde Bewahrung ................................................................................... 2.2.4.1. Die Integration von Triebnatur und Vernunft als sittliches Kriterium ............................................................................... 2.2.4.2. Despotische Naturbeherrschung als Gefahr für den Menschen .............................................................................. 2.2.5. Das Plädoyer für eine integrative Sicht des Menschen als vernünftige Natur ......................................................................... 2.2.5.1. Identifikation der ontologischen Gefahren für die Menschheit ............................................................................ 2.2.5.2. Der Naturbegriff als Festhalten an der klassischen Sicht des Menschen .............................................................................. 2.2.5.3. Die Natur als sittlicher Maßstab im Horizont des Personalen ............................................................................. 2.2.6. Zusammenfassung ........................................................................ 270 275 275 277 279 283 283 286 288 290 292 298 303 303 305 305 308 313 313 316 320 320 324 328 328 330 336 338 INHALTSVERZEICHNIS 2.3. Personendenken als Affirmation des Menschlichen .......................... 2.3.1. Personenontologie als Reaktion auf die Infragestellung der Grundlagen humaner Selbstverständigung ................................... 2.3.2. „Alle Menschen sind Personen“: die Grunderkenntnis von Spaemanns Personenontologie ..................................................... 2.3.2.1. Argumente für die Identifikation des Personseins mit dem „Haben der menschlichen Natur“ .......................................... 2.3.2.2. Transzendentalpragmatik in der Bestimmung des Beginns der Personalität ...................................................................... 2.3.3. Personalität als objektiv gewordene Subjektivität – im Zeichen der Vermittlung von Individualität und Allgemeinheit ................ 2.3.3.1. Die Korrelation von Objekt- und Subjektsein im Personbegriff ......................................................................... 2.3.3.2. „Jemand sein“: Die spezifische Weise zu sein, was man ist ............................................................................ 2.3.3.3. Die ethisch wirksame Aufwertung der Individualität im Personbegriff ......................................................................... 2.3.3.4. Die Grundlegung des Personbegriffs in der christlichen Theologie ............................................................................... 2.3.4. Das Sein der Person ist das Leben ................................................ 2.3.4.1. Die Eliminierung des Lebens aus dem Personbegriff und deren Konsequenzen ............................................................. 2.3.4.2. Die Rehabilitation der Seele als Träger der Lebendigkeit...... 2.3.5. Person und Menschenwürde ......................................................... 2.3.5.1. Transzendentaler Charakter der Menschenwürde in der Reichweite, im Inhalt und in der Begründung ....................... 2.3.5.2. Gewissen: sittliche Instanz der Realisierung ethischer Objektivität in freiheitlicher Subjektivität ............................. 2.3.6. Wahrheitsbezogene Freiheit als Dimension der Personalität ....... 2.3.6.1. Freiheit in der Spannung zwischen „primärem“ und konkretem Wollen ................................................................. 2.3.6.2. Die freiheitliche Selbsttranszendenz als naturbegründete Überschreitung der eigenen Natürlichkeit ............................. 2.3.6.2.1. Versprechen und Verzeihen ............................................. 2.3.6.2.2. Negativität ........................................................................ 2.3.6.2.3. Intentionalität ................................................................... 2.3.6.2.4. Transzendenz ................................................................... 2.3.6.2.5. Zeit ................................................................................... 2.3.6.2.6. Fiktion .............................................................................. 2.3.6.2.7. Religion ............................................................................ 2.3.6.2.8. Anerkennung .................................................................... 2.3.6.2.9. Vernunft und Leben ......................................................... 2.3.7. Freiheitsbewusste Naturanthropologie im Horizont des Unbedingten ................................................................................. 13 342 343 347 348 351 352 352 356 357 358 361 362 364 368 369 374 379 380 384 385 387 388 389 390 392 394 396 398 400 14 INHALTSVERZEICHNIS 2.3.7.1. Situationsbezogenheit: Antwort auf die Krise im Personverständnis .................................................................. 2.3.7.2. Der bleibende Bezug der Person zur Natur unter Wahrung ihrer Differenz ....................................................................... 2.3.7.3. Das Personverständnis als kreativer Umgang mit Vorgegebenheit im Zeichen integrativer Philosophie ........... 2.3.7.4. Person und das Unbedingte: die Frage der nichtreligiösen Begründung ihrer Würde ....................................................... 2.3.8. Zusammenfassung ........................................................................ 2.4. Handlungsteleologie und Naturrecht im Kontext einer grenzbewussten Ethik ........................................................................ 2.4.1. Die philosophische Ethik als korrektive Einmischung in sittliche Überzeugungen ............................................................................ 2.4.2. Die Grundstrukturen des Handelns .............................................. 2.4.2.1. Einzelhandlungen .................................................................. 2.4.2.2. Haupt- und Nebenfolgen von Handlungen ............................ 2.4.2.3. Die Unbedingtheitsprägung der Moral in der Frage ihrer Begründung ........................................................................... 2.4.2.4. Die Unhintergehbarkeit des Guten: zur Frage der in sich schlechten Handlungen ......................................................... 2.4.3. Verantwortung als ethischer Schlüsselbegriff .............................. 2.4.3.1. Gründe für erhöhtes Interesse an Verantwortung in der modernen Gesellschaft .......................................................... 2.4.3.2. Metaphysische Strukturen der Verantwortung ...................... 2.4.3.3. Die Begründbarkeit der Verantwortung im Horizont des Absoluten .............................................................................. 2.4.3.4. Die notwendige Begrenzung und Differenzierung der Verantwortung ...................................................................... 2.4.4. Widerspruch zum Konsequenzialismus ........................................ 2.4.4.1. Die falsche Alternative: Verantwortungs- und Gesinnungsethik .................................................................... 2.4.4.2. Abgestufte Verantwortung auf der Grundlage von divergierenden sittlichen Verhältnissen ................................ 2.4.4.3. Systematisierung der Einwände gegen den Konsequenzialismus .............................................................. Exkurs: Die Diskursethik als Alternative zum Konsequenzialismus? 2.4.5. Die Integration des Lebens durch Rehabilitierung des Eudämonismus ............................................................................. 2.4.5.1. Die Spannung von Eudämonismus und Pflichtethik ............. 2.4.5.2. Verfehlter Versuch der Glücksbestimmung im Hedonismus ........................................................................... 2.4.5.3. Anthropologische Grundlagen der ethischen Problematik von Eudaimonia .................................................................... 401 406 411 417 422 427 428 434 434 436 440 443 448 448 449 452 453 455 455 460 462 467 469 470 472 475 INHALTSVERZEICHNIS 2.4.5.4. Die Relevanz und die Relativität von Einzelzielen im Begriff der Eudaimonia ......................................................... 2.4.5.5. Eudaimonia als Synthese von subjektiver und objektiver Glücksdimension ................................................................... 2.4.5.6. Das „Erwachen zur Wirklichkeit“ im Modus der Liebe als Wohlwollen ........................................................................... 2.4.6. Ansätze zur Erneuerung des Naturrechts als Handlungsgrenze und Garantie der Normalitätsbewahrung ...................................... 2.4.6.1. Die Bedeutung des Werkes von Leo Strauss für die Evidenz des Rechten bei Robert Spaemann ........................................ 2.4.6.2. Naturrecht als Anwaltschaft des vernunftgemäßen Lebens ................................................................................... 2.4.6.3. Perspektiven der positiven Bestimmung des Naturrechts unter den Bedingungen der Moderne .................................... 2.4.6.4. Naturrecht als Grenze der Handlungslegitimation ................ 2.4.6.5. Die Frage nach den Garanten des Naturrechts ...................... 2.4.7. Die Rolle des Naturrechts in der Bewahrung des Humanum ....... 2.4.7.1. Ethik des übergeordneten Maßstabs ...................................... 2.4.7.2. Primat der Freiheit im Handeln ............................................. 2.4.7.3. Begrenzung der Verantwortung ............................................ 2.4.7.4. Die Synthese von Liebe und Glück ....................................... 2.4.7.5. Die Unabdingbarkeit der Normalität ..................................... 2.4.7.6. Auf dem Weg zu einem erneuerten Naturrechtsdenken ........ 2.4.8. Zusammenfassung ........................................................................ 2.5. Der Beitrag Robert Spaemanns zur Erneuerung des Naturrechtsdenkens ........................................................................... 2.5.1. Die Sinnhaftigkeit des Naturrechts auf einer sicheren ontologischen Basis ...................................................................... 2.5.2. Die Existenz und die Beschaffenheit der einen menschlichen Natur ............................................................................................. 2.5.3. Das Zusammentreffen von Allgemeinheit und Konkretheit ......... 2.5.4. Die Frage der religiösen Letztbegründung ................................... 2.5.5. Das Naturrecht im Zeichen der Integration des Menschlichen ..... 2.5.6. Die Positivität des Naturrechts ..................................................... 2.5.7. Das Naturrecht und die Verantwortungsfrage .............................. 2.5.8. Die Perspektive einer logisch-theoretischen Fortführung des Naturrechtsdenkens ...................................................................... 2.5.9. Kritik und offene Fragen .............................................................. 15 478 479 485 493 494 497 502 510 516 519 520 522 525 529 532 534 541 547 548 550 553 555 558 559 561 565 568 SCHLUSSWORT ............................................................................................ 571 LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................. 581 Werke von Spaemann ............................................................................... 581 Monografien ........................................................................................... 581 16 INHALTSVERZEICHNIS (Mit-)Herausgeberschaften und Mitverfasserschaften ..................... 582 Aufsatzsammlungen ......................................................................... 582 Einzelne Beiträge ............................................................................. 582 Interviews, Diskussionsbeiträge und kleinere Schriften ................... 589 Lehramtliche Texte ............................................................................. 589 Nachschlagewerke .............................................................................. 592 Sekundärliteratur ................................................................................ 593 ANHANG ................................................................................................. 621 Summary ............................................................................................. 621 Streszczenie ......................................................................................... 624 0. EINLEITUNG 0.1. Das Naturrecht im Zeichen des Widerspruchs „Das Naturrecht ist tot, aber was sollen wir an seine Stelle setzen?“ 1 Diese rhetorische Frage aus einem Interview mit Wolfgang Kluxen im Jahre 1979 bringt paradigmatisch die Ambivalenz zum Ausdruck, mit der das Naturrecht in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen ethischen Debatten betrachtet wird. Die Verlegenheit, die sich dahinter verbirgt, bildet ein Ergebnis der Konfrontation mit der mannigfaltigen Materie des Ethischen. Diese ist angesichts der großen menschlichen Errungenschaften und zivilisatorischen Veränderungen eher komplexer als zuvor und verlangt in vielen Fällen nach dringenden Antworten, die sich nicht durch ein einfaches Aufgreifen des Vergangenen finden lassen. Einerseits, nicht zuletzt durch seine bestimmte Profilierung im neuscholastischen Umfeld, ist das Naturrecht nach und nach in das Kreuzfeuer der Ideologiekritik geraten und somit für eine nach Universalisierung strebende Ethik „uninteressant“ geworden.2 Andererseits – und dies ist der „phänomenologische“ Grund für das in dem zitierten Satz enthaltene Fragezeichen – kann das menschliche Handeln gar nicht auf die Kriterien der Gerechtigkeit, die jeder positiven Rechtspraxis vorgelagert sind, ohne Preisgabe seiner selbst verzichten. Dieser Sachverhalt legt die Vermutung nahe, das Naturrecht bzw. irgendein Äquivalent von ihm sei ein konstanter Begleiter des menschlichen Zusammenlebens, und zwar unabhängig davon, ob es ideologisch überfrachtet oder nicht ganz wirklichkeitsgerecht in einer seiner bestimmten Zeitgestalten interpretiert wird. Denn das Recht ist von seinem Träger – der menschlichen Person – untrennbar und setzt ihre Befähigung, Herr der eigenen Handlungen zu sein, voraus. So sehr man sich in der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Öffentlichkeit von metaphysischen, geschweige denn religiösen Begründungszusammenhängen distanziert, so präsent sind gerade in den zeitgenössischen Staatsverfassungen selbstverständliche Bezüge zu Grundorientierungen des Rechts, mögen sie noch als „unsere Werte“ bezeichnet werden, die im allge1 2 KLUXEN, Wolfgang, Was kann uns heute das Naturrecht bedeuten? Ein Gespräch mit Prof. Wolfgang Kluxen, in: Herder-Korrespondenz 33 (1979), H. 2, 78–83, hier: 79. Die These über den Tod des Naturrechts „im klassischen Sinne“ stellt auch Werner Krawietz im gleichen Jahr auf. – Vgl. KRAWIETZ, Werner, Die Ausdifferenzierung religiös-ethischer, politischer und rechtlicher Grundwerte, in: BONIN, Konrad v. (Hg.), Begründungen des Rechts II (Göttinger theologische Arbeiten 13), Göttingen 1979, 57–85, hier: 57. Vgl. KLUXEN, Was kann uns heute das Naturrecht bedeuten? (1979), 79. 18 EINLEITUNG meinen Bewusstsein keiner weiteren Begründung bedürfen und auf denen die einzelnen Rechtssysteme beruhen. Solange diese Grundorientierungen allgemein anerkannt werden und tatsächlich eindeutig leitende Funktion für normative Ordnungen ausüben, besteht in pragmatischer Hinsicht wenig Anlass dazu, nach den Fundamenten erneut zu fragen. Beginnt aber eine Ordnung sich zu verabsolutieren oder droht sie die eigenen Grundlagen zu vergessen, ist es spätestens an der Zeit, an die „Basics“ des Menschlichen zu erinnern. Ob dieser Zeitpunkt gerade gekommen ist, wird niemals Gegenstand eines allgemeinen Konsenses sein. Eine Moraltheologie, die einerseits der Wirklichkeit Rechnung tragen und andererseits aus Glaubensantrieb die Stellung des Menschen in der Welt hochhalten will, kommt jedoch nicht umhin, an dieser Stelle sensibler und vorausschauender als viele andere Akteure die großen ethischen Herausforderungen der Gegenwart anzugehen und zu interpretieren. 3 An Letzteren mangelt es zurzeit gerade nicht. Es handelt sich nicht nur um Werteverschiebungen in der westlichen Gesellschaft, den z. T. radikalen Modellwandel sozialen Lebens, ökonomische Spannungen, demografische Entwicklungen und „klassische“ Themen rund um den Lebensschutz wie Abtreibung und Euthanasie. Vielmehr zeigt sich, dass die moderne Wissenschaft und Technik die Gestaltungsmöglichkeiten der menschlichen Existenz über alle bis dato bekannten Maße hinaus entgrenzt haben, einschließlich der Entdeckung, dass die psychophysische Identität des Menschen selbst ein Veränderungspotenzial enthält, das zu einer „Selbsterschaffung“ führen kann. Nicht wenige befürchten jedoch, dass der „Selbsterschaffung“ auch eine „Selbstabschaffung“ folgt. Die Gentechnologie bildet dabei zweifelsohne das die bioethische Reflexion konstant beschäftigende Hauptfeld. Man kann es dahin gehend interpretieren, dass der Kirche zunehmend eine Neuauflage der Aufgabe zuwächst, den Menschen vor sich selbst zu schützen. Dass sie es aber nicht nur durch einfaches Festhalten am Überkommenen in Opposition zu den gesellschaftlichen Trends praktizieren darf, wurde ihr ausgerechnet an der Frage des Naturrechts seit dem Ende des 19. Jh. „schmerzhaft“ deutlich gemacht. Nicht etwaige Machtansprüche, sondern die mühsame Teilnahme an ethischen Diskursen in der Gesellschaft erweist sich als der „ordentliche“, normale Weg der Mitgestaltung der empirischen Wirklichkeit. In der beschriebenen Sachlage wundert es nicht, wenn Papst Benedikt XVI. 2011 die Bundestagsabgeordneten an die Frage der Erkenntnisquellen von 3 Es gilt freilich unter der Voraussetzung des lehramtlichen Selbstverständnisses einer Kirche, die als „Hüterin der übernatürlichen christlichen Ordnung, in der Natur und Gnade konvergieren“, auftritt, „die Gewissen bilden muß, auch die jener, die berufen sind, Lösungen für die Probleme und Pflichten zu finden, die vom gesellschaftlichen Leben auferlegt werden“, wie es Pius XII. im Angesicht der Leugnung des Naturrechts im Zweiten Weltkrieg in seiner Radiobotschaft vom 01.06.1941 – wohlgemerkt noch auf der Basis des „alten“ Naturrechtsdenkens – prägnant formuliert hat. – Vgl. ital. Fassung: PIO XII, Radiomessaggio di Pentecoste (1° giugno 1941), dt. zit. nach DUMONT, Bernard, Naturrecht und Theologie, in: Die Neue Ordnung 65 (2011), H. 3, 172–181, hier: 172. DAS NATURRECHT IM ZEICHEN DES WIDERSPRUCHS 19 „wahrhaft Rechtem“ erinnerte, die Vorherrschaft der „positivistischen Vernunft“ beanstandete und vor diesem Hintergrund explizit zu einer öffentlichen Diskussion über diese Quellen einlud, in der es darum gehen sollte, die Weite der menschlichen Vernunft wieder zu finden. Und der Weg dahin führt durchaus über eine erneute Reflexion auf die Anfangsgründe: „Wenn in unserem Umgang mit der Wirklichkeit etwas nicht stimmt, dann müssen wir alle ernstlich über das Ganze nachdenken und sind alle auf die Frage nach den Grundlagen unserer Kultur überhaupt verwiesen.“ 4 Dabei soll laut Benedikt das Naturrecht nicht mehr als eine „katholische Sonderlehre“ fungieren, damit sein Anliegen – der Zusammenhang von Natur und Vernunft als Kriterium für das dem Menschen Gerechte – erneut zur Geltung kommen kann. Die vorliegende Arbeit versteht sich als von eben diesem päpstlichen Anstoß inspiriert und möchte einen bescheidenen Beitrag zu der wohl noch nicht richtig entzündeten Diskussion leisten.5 Den weiteren Hintergrund bildet das kontinuierliche Festhalten des allgemeinen kirchlichen Lehramts an der Wirklichkeit des Naturrechts bzw. -gesetzes in seiner Morallehre. 6 Gesucht werden hier Perspektiven für ein erneuertes Verständnis des Naturrechts, das sich einerseits von seiner weit über zweitausendjährigen Tradition nicht völlig ablöst, andererseits aber bestimmter Aporien der Vergangenheit bewusst bleibt und sie im Hinblick auf die Zukunft der Menschheit zu überwinden sucht. Unterstützend wirkt im Hintergrund die historische Tatsache einer seit jeher im Nachdenken über die sozialen Zusammenhänge vorhandenen Einsicht, dass das rein menschliche Gesetz nicht das Letzte in der Praxis ausmachen kann. Damit hängt die ebenfalls in den Wirren der Geschichte durchgehaltene Überzeugung zusammen, dass die Hypothese anthropologischer Gemeinsamkeiten aller Menschen in synchroner und diachroner Perspektive eine vernünftige sei. Phänomenologisch argumentierend könnte man außerdem darauf hinweisen, dass die Menschen nach wie vor nach Gerechtigkeit verlangen und ihren Gerechtigkeitsforderungen ein Vorverständnis beilegen, das sie durch alle anerkannt sehen wollen. Des Weiteren begünstigt die wachsende Orientierungslosigkeit auf dem Markt der Handlungsmöglichkeiten die Suche nach objektiven Kriterien in verschiedenen Bereichen des menschlichen Lebens. In pragmatischer Hinsicht erfordert das Streben nach Sozialität die Reflexion über Gesetze, die für alle gelten und das Zusammenleben dauerhaft organi4 5 6 BENEDIKT XVI., Ansprache beim Besuch des Deutschen Bundestags, Berliner Reichstagsgebäude (22.09.2011). Meines Wissens gibt es bisher eine Dissertation, die explizit auf Benedikts Einladung zurückgeht – HÖLSCHER, Maria R., Das Naturrecht bei Joseph Ratzinger, Papst Benedikt XVI. Die Bedeutung des Naturrechts in Geschichte und Gegenwart, Heiligenkreuz im Wienerwald 2014. Dies bezeugen verschiedene päpstliche Dokumente der Gegenwart, allen voran die Enzyklika Veritatis splendor von Johannes Paul II. – Vgl. JOHANNES P AUL II., Enzyklika „Veritatis splendor“ über einige grundlegende Fragen der kirchlichen Morallehre (06.08.1993), bes. Nr. 44.50. 20 EINLEITUNG sieren. In diesem Kontext erscheint das Naturrecht als Garant der Sinnhaftigkeit dieses menschlichen Grundstrebens, indem es die entsprechende Basis für die positive Gesetzgebung zu formulieren trachtet. So könnte es möglicherweise auch als Rückgrat der Integration von verschiedenen Dimensionen des Humanum fungieren. All dies lässt die Vermutung formulieren, dass das Naturrechtsdenken – trotz des Anscheins der Rückwärtsgewandtheit – nach wie vor einen plausiblen Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft zu leisten vermag. Der Totgesagte könnte sich überraschenderweise als langlebiger als vielfach angenommen erweisen. Nicht ausgeblendet werden sollten dabei die grundsätzlichen Anfragen an das Naturrecht, die sich gegen einen allzu großen naturrechtlichen Optimismus auftürmen. Historisch gesehen, selbst nach der umstürzenden Erfahrung des radikalen Niedergangs des Humanum im Zweiten Weltkrieg, die den Rekurs auf den Gedanken des Naturrechts in den Nürnberger Prozessen mitbegünstigt hat, kam die Skepsis bzgl. seiner Anwendung schnell wieder auf. 7 Diese Skepsis betraf nicht zuletzt das Verhältnis von allgemeinen Prinzipien und deren Konkretisierung in Einzelentscheidungen. Das oberste, von allen prinzipiell anzuerkennende ethische Prinzip bonum est faciendum malum est vitandum wirkt trivial, wenn es nicht an die Erkenntnis gebunden ist, dass das bonum und das malum der praktischen Vernunft grundsätzlich zugänglich sind, und dies trotz der geschichtlichen Gebundenheit der Vernunft. Angesichts der globalen Vernetzung der Menschheit kommen hierbei auch andere Fragen dazu, die den Anstoß für weitere Reflexionen über Grundregeln von universaler Gültigkeit geben. Man fragt nach der Interdependenz von verschiedenen rechtsrelevanten Feldern wie Natur, Kultur und Geschichte und versucht dadurch, der Diversität der normativen Wirklichkeit Rechnung zu tragen.8 Das Naturrecht rechtsphilosophisch bzw. moraltheologisch in Frage zu stellen, muss nicht notwendigerweise heißen, seine Idee gänzlich zu verwerfen, etwa unter dem Eindruck eines neuen Zeitalters, das die das freie Subjekt bevormundenden Residuen vorkritischer Epochen angeblich abgestreift hat. Al7 8 „Daß die Wiederentdeckung des Naturrechts nicht dem Auffinden einer Zauberformel gleichkam, mit deren Hilfe man alle Probleme spielend zu lösen vermochte, mußte um so deutlicher werden, je mehr man sich Einzelproblemen zuwandte.“ – SCHELAUSKE, Hans D., Naturrechtsdiskussion in Deutschland. Ein Überblick über zwei Jahrzehnte: 1945–1965, Köln 1968, 17. In diesem Sinne spricht Werner Gephart von einem Übergang vom Naturrecht zum Kulturrecht: „The discourse about principles of normative validity has apparently not come to an end: the very old questions of Nature, Culture and History still run through the veins of legal cultures who strive for, in an idealistic view, the best solutions to normative problems that in the process of globalization are no longer separated and encapsulated in sharply divided legal spaces, but overlap and plead for hybrid solutions. Here, Nature becomes historicized, Culture is related to Nature, and History becomes the playground for competing visions of Culture and Society.“ – GEPHART, Werner, From „Natural Law“ to „Cultural Law“? „Culture“ as a New Source of Normative Validity, 16. DAS NATURRECHT IM ZEICHEN DES WIDERSPRUCHS 21 ternativ zu einer solchen Feststellung kann man nämlich behaupten: Die Hinterfragung von humanen Selbstverständlichkeiten früherer Zeiten ist ein Ansporn dazu, sie neu zu durchdenken und auf eine verlässlichere Basis als zuvor zu stellen, wie es die oben zitierte Bundestagsrede nahelegt. Genau diese Alternative könnte als Inbegriff des philosophischen Engagements eines bekannten Denkers der Gegenwart, nämlich Robert Spaemann9, bezeichnet werden. In der vorliegenden Arbeit wird deshalb versucht, im Ausgang von seinem umfangreichen Opus Ansätze für eine mögliche Erneuerung des Naturrechts zu finden. 9 Seine Lebensstationen und prägenden biografischen Tatsachen werden hier verkürzt genannt: Robert Spaemann wurde 1927 in Berlin geboren. Sein Vater Heinrich, der Kunstgeschichte studiert hatte und aus einem liberalen protestantischen Haus stammte, war durch den Einfluss von sozialistischen Ideen eine Zeit lang Atheist. Unter dem Eindruck der Krankheit der Mutter von Robert, Ruth Krämer, konvertierten die beiden Eltern mit ihrem Kind 1930 zum Katholizismus. Nach dem Tod seiner Frau wurde Heinrich Spaemann Priester. Der spätere Philosoph wuchs also in einer geistigen Atmosphäre auf, die denkerische Auseinandersetzungen mit der Wirklichkeit begünstigte. Er studierte sodann Philosophie, Geschichte, Theologie und Romanistik, dachte zwischenzeitlich auch an eine Ordensberufung, heiratete aber schließlich 1950 Cordelia Steiner, mit der er drei Kinder bekam. Nach einer kurzen Annäherungsphase an den Marxismus wandte er sich vor allem unter dem Eindruck der inzwischen bekannten ostdeutschen Verhältnisse vom Sozialismus ab. Seine freiheitliche Grundüberzeugung im Denken profilierte sich nicht zuletzt durch die Teilnahme am Collegium Philosophicum seines Lehrers und Doktorvaters, Joachim Ritter, in Münster. Zwischen 1952 und 1956 arbeitete Spaemann als Lektor im Kohlhammer-Verlag in Stuttgart. Er wurde 1952 in Münster promoviert, 1962 folgte die Habilitation. Von 1962 bis 1969 war er Ordinarius für Philosophie und Pädagogik an der Technischen Hochschule Stuttgart, 1969 erhielt er den Gadamer-Lehrstuhl für Philosophie in Heidelberg und ab 1973 unterrichtete er bis zu seiner Emeritierung 1992 ebenfalls Philosophie in München. Außerdem übernahm er mehrere Gastprofessuren und erhielt Ehrendoktorate, war Berater bei der Würzburger Synode, nahm an den Castelgandolfer Sommergesprächen teil und wurde u. a. Mitglied in der päpstlichen Akademie für das Leben. Im Jahre 1979 gründete er die CIVITAS mit, eine gemeinnützige Privatgesellschaft zur Förderung von Wissenschaft und Kunst. Zu detaillierten biografischen Informationen – s. SPAEMANN, Robert, Über Gott und die Welt. Eine Autobiographie in Gesprächen, Stuttgart 2012; MEISERT, Stefan, Ethik, die sich einmischt. Eine Untersuchung der Moralphilosophie Robert Spaemanns (Studien zur theologischen Ethik 140), Freiburg (Schweiz) 2014, 14–17; auf Polnisch: TEINERT, Zbigniew, Spór o naturę. Wokół konstytucji osoby w ujęciu Roberta Spaemanna, Poznań 2003, 7–8. 0.2. Der Philosoph Robert Spaemann als ein streitbarer Denker 0.2.1. Gründe für die naturrechtliche Kompetenz Robert Spaemanns An erster Stelle wäre zu fragen, inwieweit Robert Spaemann ein geeigneter Philosoph ist, um mit ihm ins Gespräch über das Naturrecht zu treten. Hier muss man zunächst auf die äußeren Merkmale seiner Philosophie verweisen. Es steht außer Frage, dass er hinsichtlich Einfluss, Werkumfang, Interessenprofil und Häufigkeit der Wortmeldungen zu zeitgenössischen Problemen zu den aktuell bedeutendsten Philosophen gezählt werden kann, wobei seine Wirkung weit über den deutschsprachigen Raum hinausragt. 10 Er situiert sich im Zentrum der aktuellen Auseinandersetzungen der westeuropäischen Zivilisation und tritt in ihnen selbstbewusst, profiliert, den eigenen Prinzipien treu, aber gleichzeitig differenziert und diskussionsoffen auf. 11 Er betreibt keine verkürzte Apologetik vergangener Denkpositionen, die angeblich wiederbelebt werden müssten, vielmehr bildet das Engagement der Philosophie in konkreten Lebensfragen zugunsten der Affirmation des Humanum den eigentlichen spiritus movens seines Schaffens. So besitzt er auch die Fähigkeit, die wissenschaftliche Sprache und die Theoriebildung auf praktische Fragestellungen zu übertragen sowie dabei eine breite Adressatenschaft im Blick zu behalten. Sein Schrifttum ist ferner durch eine profunde, vielschichtige und bisweilen sehr detaillierte Kenntnis geistesgeschichtlicher Phänomene gekennzeichnet, denen er sich sowohl in historischer als auch systematischer Hinsicht annähern kann.12 Ein besonderes Spaemannʼsches Signum ist auch der durchgehaltene Glaube an die bleibende Bedeutung von Metaphysik trotz ihres wiederholt erklärten „Todes“, trotz der Erschütterungen durch Kant, Nietzsche und Witt- 10 11 12 Vgl. MEISERT, Ethik, die sich einmischt (2014), 369. Vgl. KOŻUCHOWSKI, Józef, O człowieku i moralności w filozofii Roberta Spaemanna (Źródła i monografie 398), Lublin 2013, 15 (Übersetzung AK): „Nie są mu obce bieżące zagadnienia, szczegółowe i aktualne problemy natury społecznej, politycznej, etycznej, bioetycznej, duchowej, religijnej, a także osobistej.“ [„Derzeitige Fragestellungen, besondere und aktuelle Probleme sozialer, politischer, ethischer, bioethischer, geistlicher, religiöser und auch privater Natur sind ihm nicht fremd.“]. Spaemann sucht nach Verbindung von Tradition und Neuzeit und vermittelt zwischen der historischen und systematischen Methode, um philosophische Grundlagen für die Bewältigung bestimmter Herausforderungen zu gewinnen. – Vgl. SCHÖNDORF, Harald, Der Philosoph Robert Spaemann, in: Stimmen der Zeit 230,1 (2012), H. 1, 315–322, hier: 315. Deswegen würdigt er die Leistung Heideggers, die für ihn darin besteht, die Philosophie in historischer und systematischer Sicht zusammen zu denken. Es handelt sich dabei um einen Rückgang zu den Anfängen, wodurch die Philosophie als Denken des Anfangs, also letztlich als Denken des Seins, das sich aber als Verborgenes zeigt, fungiert. – Vgl. SPAEMANN, Robert, Philosophiegeschichte nach Martin Heidegger, in: DERS., Schritte über uns hinaus (Gesammelte Reden und Aufsätze 1), Stuttgart 2010, 233–241, hier: bes. 237. DER PHILOSOPH ROBERT SPAEMANN ALS EIN STREIITBARER DENKER 23 genstein. Der Primat der Metaphysik13 in der Philosophie, die philosophia perennis und die Orientierung an den „letzten Fragen“ der Menschheit machen das konstante und feste Gerüst seiner Ausführungen aus. Mit den Seinsfragen sieht er die ethischen Probleme untrennbar verbunden. 14 Dabei lässt er sich nicht durch die Versuchung denkerischer Reduktionismen beeinflussen und zielt jeweils auf tiefere Zusammenhänge ab.15 Auf dieser Grundlage versteht sich besser, dass Spaemann ein sehr bewusst kritisches Verhältnis zu manchen Mainstreamzwängen, scheinbaren Rationalitäten sowie „Selbstverständlichkeiten“, die sich letztlich als zeitbedingt erweisen, hegt. Es ist z. T. ein Protest gegen die Verengung des Denkens, der im Namen der Wahrheit erfolgt. 16 Eine solche Perspektive bleibt unerlässlich, wenn man sich für die Erneuerung des Naturrechtsdenkens in der geistigen Situation der Gegenwart einsetzen will. Für seine naturrechtliche Kompetenz spricht außerdem das explizite Bekenntnis zur Existenz des Naturrechts, und zwar nicht aus „musealen“ Interessen, sondern als reales und plausibles Mittel der Bewältigung vieler Probleme der Menschheit, wobei er dies mit der Offenheit für eine kreative Neugestaltung der alten Denkmuster in diesem Bereich in der veränderten Gegenwart verbindet. Unter moraltheologischem Gesichtspunkt ist Spaemanns denkerische Affinität zum Christentum, zu dem er sich auch sonst offen bekennt, Bereicherung 13 14 15 16 Wohlgemerkt geht es dabei um eine in ihren geistesgeschichtlichen „Krisen“ „bereinigte“ Metaphysik: „Metaphysik […] versteht sich als philosophia prima. Diese […] kann als sie selbst nicht durch eine Hermeneutik der geschichtlichen Wirklichkeit bewahrt werden, sondern nur durch sich selbst durch den Vollzug metaphysischer Einsichten. Aber jede Weise, heute unmittelbar Metaphysik zu treiben ohne Reflexion auf die geschichtliche Krise der Metaphysik und auf das, was gegen Metaphysik gedacht wurde, fällt hinter den Begriff von Philosophie zurück. Es wird zum bloßen Willensakt.“ – DERS., Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte: Philosophische Strömungen im heutigen Deutschland, in: DERS., Schritte über uns hinaus, Bd. 1 (2010), 81–113, hier: 111 (Hervorhebung im Original). „Wenn man die gesamte Philosophie Spaemanns zu überblicken versucht, kann man sagen: Spaemann geht es um die Selbstverständigung des Menschen mit sich und über sich, über sein Sein und sein Handeln, denn beides läßt sich nicht voneinander abkoppeln.“ – SCHÖNDORF, Der Philosoph Robert Spaemann (2012), 316. Deshalb definiert er die Philosophie nicht von den praktischen Fragen her, sondern als „eine Lehre von dem, was immer ist“. – Vgl. SPAEMANN, Robert/NISSING, Hanns-Gregor, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens. Entwicklungen und Entfaltungen eines philosophischen Werks. Ein Gespräch, in: NISSING, Hanns-Gregor (Hg.), Grundvollzüge der Person, München 2008, 121–136, hier: 125. Vieles ist dabei vor seinem biografischen Hintergrund sehr gut nachvollziehbar: Sein Leben ist seit der Kindheit in der NS-Zeit durch den denkerischen Widerstand gegen die herrschenden Ideologien beliebiger Couleurs gekennzeichnet, in der späteren Phase vor allem gegen die sog. „wissenschaftliche Weltanschauung“. – Vgl. SPAEMANN , Über Gott (2012), 9 (Vorwort von Stephan Sattler). Charakteristisch bleibt dabei in erster Linie die philosophische Motivation: Der Totalitarismus scheidet für ihn schon aufgrund seines Reduktionismus und der Unfähigkeit, eine attraktive Alternative im Leben darzustellen, aus. Mit anderen Worten: Die Wahrheit ist immer interessanter als ihre ideologischen Entstellungen. – Vgl. ebd., 34. Dieser wahrheitssensible Ansatz trifft sich gut mit dem oben zitierten Plädoyer Benedikts XVI. für die Weite des Denkens. 24 EINLEITUNG und Herausforderung zugleich. Seine Schriften enthalten immer wieder fließende Übergänge von der Religionsphilosophie in die Moraltheologie, obwohl Spaemann sich um die Wahrung der methodischen Unterschiede stets bemüht. Genau dieses Charakteristikum bietet aber eine der wichtigsten Angriffsflächen in Bezug auf seine philosophische Kompetenz. 17 Die Wahrheitsfrage ist bei ihm durchgehend an die Gottesfrage gebunden. Er geht den in der gegenwärtigen Intellektuellenwelt eher schwierigen Weg, das Christentum als eine plausible Denkoption zu präsentieren, ohne die Sensibilität für die person- und subjektorientierte Moderne und ihre Wirkungsgeschichte zu verlieren. In dieser Perspektive präsentiert er Ansätze für eine Versöhnung zwischen säkularem und christlich inspiriertem Denken. Nicht zuletzt spricht die von ihm zumindest in wesentlichen Themen durchgehaltene Konstanz 18 seines Denkens für eine durchdachte und tief begründete Verankerung des Naturrechts in der eigenen Philosophie. 0.2.2. Der Kern des Spaemannʼschen Denkens Fragt man nach einer näheren inhaltlichen Bestimmung seines Denkens, kann man sich auf eine prägnante Aussage aus einem Gespräch mit Hanns-Gregor Nissing im Jahr 2008 berufen. 19 Spaemann führt darin seine Philosophie auf zwei Kerngedanken zurück: Es ist die teleologische Struktur alles Lebendigen im Sinne von „Aus-Sein-auf“ und die Begründung des Denkens in der Tatsache „Gott ist“.20 Von daher versteht sich die konstante Präsenz der Teleologie und der Religionsphilosophie in seinen Schriften, d. h. der beiden Grundmotive, die den eigentlichen Horizont des ganzen Werkes ausmachen. Diese systematisierende Vereinfachung soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Einstieg in das Schrifttum Spaemanns von verschiedenen Seiten erfolgen kann, weil sich die einzelnen Werke gegenseitig beleuchten und feste Motive in immer neuen Zusammenhängen immer wieder vorkommen. Holger Zaborowski bezeichnet deshalb das komplexe Denken Spaemanns als ein „Hologramm“.21 Insofern ist es auch recht schwierig, diese Komplexität 17 18 19 20 21 Vgl. PIETROWSKI, Damian, Alles, was ist, ist auf etwas aus. Die schöpfungstheologischen Prämissen der Philosophie Robert Spaemanns (Schriftenreihe Theos 120), Bonn 2015, 9. Spaemann’s philosophy is rather the continuous examination of an original and self-evident insight about the very nature of reality.“ – ZABOROWSKI, Holger, Robert Spaemannʼs Philosophy of the human person. Nature, freedom, and the critique of modernity (Oxford theological monographs), Oxford/New York 2010, 17. Vgl. SPAEMANN u. a., Die Natur des Lebendigen (2008). Vgl. ebd., 135–136. „It should be said, though, that the coherence and complexity of Spaemann’s thought make it a difficult challenge to provide a comprehensive and systematic account. There is always the danger of losing sight either of the overall context or of the details and subtle nuances of his philosophy. Spaemannʼs thought can be compared to a hologram in which the parts re- DER PHILOSOPH ROBERT SPAEMANN ALS EIN STREIITBARER DENKER 25 zusammen mit der Detailliertheit gleichermaßen zu berücksichtigen und zu systematisieren. 22 Es kann jedoch nicht übersehen werden, dass die genannten Grundorientierungen des Denkens mit einer äußerst scharfsinnigen Betrachtung der zeitgenössischen Phänomene einerseits 23 und einem profilierten Philosophiebegriff andererseits zusammenhängen. Und weil die Teleologie aufgrund ihrer Bedeutung für das Naturrecht ein eigenes Kapitel dieser Arbeit ausmacht, geht es in diesem einleitenden Teil um eine möglichst konzise und mehrere Schriften Spaemanns übergreifende Andeutung seiner Fundamente – Analyse der Moderne, Anforderungsprofil des Philosophen und Gottesfrage –, ohne sie jedoch im Detail auszuführen. 0.2.3. Analyse der Moderne Der Grund für die Auseinandersetzung mit der „Moderne“ (deren Begriff Spaemann weit auslegt) wurzelt einerseits in der „Verehrung des Untergehenden“ 24 und andererseits in der Überzeugung, die Philosophie müsse sich mit der Gegenwart beschäftigen. 25 Spaemann betrachtet viele weltliche Phänomene als Symptome einer Krise, die mit der Selbstüberschätzung der Aufklärung zusammenhängt. Diese Aufklärung braucht nun „Selbstaufklärung“, d. h., sie muss sich „in Kategorien begreifen, die fundamentaler sind als ihre eigenen“ 26. Dabei zeigt sich die Abneigung Spaemanns gegen Redeweisen wie etwa „Hinter etwas kann man nicht zurück“, wenn sie als einfache Opposition von „Neuem“ und „Altem“ verstanden werden. Seiner Meinung nach bleibt ein Rückgriff auf Früheres immer notwendig, weil kein Denker seine Vorläufer 22 23 24 25 26 semble the whole and one another: the components of Spaemann’s philosophy elucidate one another.“ – ZABOROWSKI, Robert Spaemannʼs Philosophy (2010), 11. Spaemann selbst weist auf diese Besonderheit seiner Werke hin und führt sie auf eine bewusste Arbeitsweise zurück: „Im Allgemeinen muß ich sagen, daß bei meinen eigenen Beiträgen die Tendenz und die Abfolge sehr ungeplant sind. Es gibt Philosophen, die deduktiv arbeiten. Sie haben einen Grundgedanken und entfalten dann logisch daraus eine Abfolge von Schriften. Bei mir ist es so, daß mir der innere Zusammenhang der Dinge, die ich geschrieben habe, immer erst nachträglich deutlich wird. Manchmal wird er überhaupt erst von anderen entdeckt. Denn ich neige dazu, philosophische Fragen in intentio directa anzugehen. Wie mein Denken im Zusammenhang mit dem steht, was ich früher gedacht habe, kann ich nachträglich reflektieren. Es ist aber nicht leitend bei Arbeit. Es ist eher wie ein Puzzle ist, das hinterher zusammengesetzt plötzlich ein Bild ergibt.“ – SPAEMANN u. a., Die Natur des Lebendigen (2008), 132. Vgl. ebd., 126: „Die ethischen Beiträge sind […] eigentlich allesamt durch Provokation entstanden.“ SPAEMANN, Über Gott (2012), 28. „Den Nomos des gegenwärtigen Daseins, des Bewusstseins der Zeit aus einem Horizont zu begreifen, der nicht durch dieses Bewusstsein definiert ist, das schien mit immer Aufgabe der Philosophie.“ – DERS., Versuche, das Ganze zu denken. Anstelle eines Vorworts, in: DERS., Schritte über uns hinaus, Bd. 1 (2010), 7–23, hier: 11. DERS., Über Gott (2012), 132. 26 EINLEITUNG vollständig „integriert“.27 „Moderne“ im Sinne der Gegenüberstellung von „Neu“ und „Alt“, wie sie den Begriff historisch geprägt hat, stellt für Spaemann eher ein Krisenphänomen dar, das u. a. durch den unbestimmten Fortschrittsbegriff, die Dominanz des Szientismus, die progressive Naturbeherrschung sowie ein durch Objektivismus, Homogenisierung, Hypothetisierung und naturalistischen Universalismus reduziertes Wirklichkeitsverständnis gekennzeichnet ist. Vor diesem Hintergrund hat Spaemann in einem zusammen mit Peter Koslowski und Reinhard Löw herausgegebenen Sammelband auch ein Konzept von „Postmoderne“ entwickelt, das somit dieser Arbeit zugrunde liegt. 28 Demnach muss nämlich der Begriff „Postmoderne“, soweit er sich überhaupt klar eruieren lässt, zumindest von den Anfangsintentionen her durchaus nicht rein negativ gesehen werden. Als Kritik an den totalitären Erscheinungen der Moderne kann er sehr wohl eine befreiende Wirkung haben, soweit er in ein neues Verhältnis zu dem führt, was über die Vernunft in den Grenzen szientistischer Weltanschauung hinausgeht, d. h. „zum Absoluten und zur Natur“. Konkret gesagt: Gegen die Diktatur des Allgemeinen und der Kollektivsingulare bzw. jener Bildungen, die nur noch als singulare tantum vorkommen, setzt das postmoderne Denken die Vielheit der Pluralbildungen. An die Stelle des einen Diskurses, des einen Konsensus, der Geschichte, des Fortschritts, der Evolution treten die Diskurse, Geschichten, Übereinstimmungen, Fortschritte und Evolutionen der geschichtlichen Prozesse und ihrer Erscheinung im Spiegel der Vernunft.“29 „Postmoderne“ bleibt in diesem Sinne durchaus auf „Moderne“ bezogen, aber, wie Reinhard Löw im Anschluss an Umberto Eco behauptet, besteht die postmoderne Antwort auf die Moderne „in der Einsicht und Anerkennung, daß die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann […] auf neue Weise ins Auge gefasst werden muß“ 30, was impliziert, dass die Moderne historisch und die Postmoderne metahistorisch ist 31. Genau dies verlangt eine Wiederaufarbeitung und Weiterführung der für Spaemann grundlegenden Frage der Teleologie. Außerdem bleibt auch das postmoderne Denken für Spae27 28 29 30 31 Ebd., 136. Vgl. KOSLOWSKI, Peter/SPAEMANN, Robert/LÖW, Reinhard (Hg.), Moderne oder Postmoderne? Zur Signatur des gegenwärtigen Zeitalters (Civitas-Resultate 10), Weinheim 1986; sowie insbesondere die darin enthaltenen Aufsätze: KOSLOWSKI, Peter, Die Baustellen der Postmoderne, 1–16; NEUMANN, Tanja, Diskussion über die These vom Ende der Modernität, 41–43; LÖW, Reinhard, Ontologische Aspekte der Postmoderne. Kommentar zu Kurt Hübner, 79–86. KOSLOWSKI, Peter, Die Baustellen (1986), 7 (Hervorhebungen im Original). ECO, Umberto, Nachschrift zum „Namen der Rose“, München 41984, 78; vgl. LÖW, Ontologische Aspekte (1986), 80–81. Ebd., 81. Ähnlich wie Koslowski/Spaemann/Löw bezieht sich Albrecht Wellmer auf das postmoderne Denken nicht nur kritisch, sondern hebt auch dessen Chancen hervor. – Vgl. WELLMER, Albrecht, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 532), Frankfurt a. M. 1986. DER PHILOSOPH ROBERT SPAEMANN ALS EIN STREIITBARER DENKER 27 mann auf die Entwicklung einer universalen Ethik angewiesen, will sie nicht selbstwidersprüchlich werden und in relativistischer Weise der besonderen Achtsamkeit für das Einzelne und Konkrete verlustig gehen. 0.2.3.1. Fortschritt ohne bestimmtes Telos Unter den Exponenten der Krise der Moderne widmet Spaemann besonders der Fortschrittsproblematik viel Platz. „Gut“ ist für ihn nicht gleichbedeutend mit „Fortschritt“, eine sittliche Grundansicht, deren Bewusstsein in den elementarsten intuitiven Erkenntnissen angelegt ist. 32 Spaemann konstatiert, dass der Fortschrittsbegriff in der Moderne einer Radikalisierung unterzogen wurde. Der Kern dieser Radikalisierung besteht darin, dass man ihn zu einem unaufhaltsamen Schicksal erklärt hat, 33 für den sich aber keine Kriterien von Mehr oder Weniger an Fortschritt formulieren lassen. Es bleibt nur noch ein unbestimmtes zukünftiges Ziel übrig, das prinzipiell alle Mittel zu seiner Erreichung bereitstellt. 34 Im Hintergrund steht nach seiner Einschätzung u. a. die Emanzipationsideologie, die eine Totalbefreiung von der Natur durch deren Vergegenständlichung verspricht. 35 Spaemann postuliert stattdessen die Rückbindung des Fortschritts an das konkrete Telos des Lebendigen, d. h., es sollte um die Entwicklung des Lebewesens als solches gemäß seinem inneren Ziel gehen. Dabei handelt es sich um den Unterschied zwischen einem Fortschrittstyp A im Sinne der Herstellung (als „Poiesis“) eines vom Kontext des bewussten Lebens losgelösten Ziels und einem Fortschrittstyp B, der es ermöglicht, die im Menschen selbst angelegten Potenzialitäten im Sinne der „Praxis“ zu entwickeln und zur Reifung zu bringen. 36 Vor diesem Hintergrund sollte von „Fortschritt“ nur noch im Plural gesprochen werden, verstanden als einzelne Schritte nach 32 33 34 35 36 „Man muss dies übrigens nicht eigentlich lernen. Kinder wissen es sowieso. Man darf es sich nur nicht ausreden lassen.“ – SPAEMANN, Versuche (2010), 13–14; DERS., Einleitung, in: DERS., Philosophische Essays (Reclams Universal-Bibliothek 7961), Stuttgart 2012, 3– 18, hier: 8. Vgl. DERS., Versuche (2010), 14. Diese Gedanken stehen im Kontext des verabsolutierten Naturbeherrschungsparadigmas, das Spaemann besonders betont und das deshalb im weiteren Verlauf der Arbeit eingehender expliziert werden muss. – S. Kap. 2.2.4.2 Despotische Naturbeherrschung als Gefahr für den Menschen. Zum Fortschrittsbegriff und seiner Problematik vgl. NEUSER, Wolfgang, Art. Fortschritt, in: KOLMER, Petra/WILDFEUER, Armin G. (Hg.), Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Freiburg i. Br./München 2011, Bd. 1, 787–801. Vgl. SPAEMANN, Robert, Unter welchen Umständen kann man noch heute vom Fortschritt sprechen?, in: DERS., Philosophische Essays (2012), 131–150, hier: bes. 143; DERS., Über Gott (2012), 200. Die Emanzipationsideologie nimmt auch einen breiten Raum in den pädagogischen Äußerungen Spaemanns ein. – Vgl. SPAEMANN u. a., Die Natur des Lebendigen (2008), 124. Vgl. SPAEMANN, Robert, Aufhalter und letztes Gefecht, in: DERS., Schritte über uns hinaus, Bd. 1 (2010), 332–352, hier: bes. 344. 28 EINLEITUNG vorn, damit der Mensch eine echte Emanzipation in dem Sinne erfährt, dass deren höchster Freiheitsakt im „Seinlassen“ des Anderen besteht. 37 Als Katalysator dieser Notwendigkeit betrachtet der Philosoph das wachsende ökologische Bewusstsein, das die Krisenerscheinungen der Moderne am deutlichsten offenbart.38 Aus diesem Blickwinkel gilt es, auch das Naturrecht neu zu thematisieren, und zwar nicht aus einer romantischen Nostalgie heraus, sondern aus der Notwendigkeit, das Überleben des Menschengeschlechts zu sichern. 39 Erforderlich wird eine definitive Begrenzung der Prozessualität im Sinne zielloser Maximalisierung von Möglichkeiten, weil sie letztlich zur Selbstaufhebung des Subjekts auf dem Wege seiner Instrumentalisierung führt. Spaemann will also den drohenden Nihilismus abwehren; deshalb plädiert er für die Objektivität der Wahrheit, um die bedeutsamen Elemente der Moderne vor diesem Kollaps zu retten. 40 0.2.3.2. Funktionalisierung Die Problematik des Fortschritts verbindet sich mit einem zweiten für Spaemann besonders wichtigen Thema: Funktionalisierung. Spätestens seit der Dissertation über Bonald, 41 in der der Philosoph sich mit der Ablösung der Metaphysik und der Religion durch eine soziologisch-funktionale Begründung ihrer Notwendigkeit beschäftigte, ist Spaemann besonders sensibel für verschiedene Spielarten der Übertragung von Lebensinhalten auf deren Äquivalente. Darin erblickt er im Endeffekt die Gefahr der Dekonstruktion der Rationalität durch den Aufweis ihrer Funktionalität im Rahmen einer Überlebensstrategie – eine Deutung, die in seiner Einschätzung durch die Naturwissenschaft forciert wird. 42 Denn was nur funktional gedacht wird, riskiert früher oder später ausgetauscht zu werden. 43 37 38 39 40 41 42 Vgl. DERS., Unter welchen Umständen (2012), 149. Spaemann zählt hierbei vor allem folgende Phänomene auf: Krise der hypothetischen Zivilisation, der ungezügelten Naturbeherrschung, des homogenisierten Erfahrungsbegriffs und des naturalistischen Universalismus. – Vgl. DERS., Einleitung (2012), 8. Vgl. DERS., Einleitung, in: DERS., Zur Kritik der politischen Utopie, Stuttgart 1977, VII– XII, hier: XI. S. dazu vor allem DERS., Ende der Modernität?, in: DERS., Philosophische Essays (2012), 232–260; DERS., Über Gott (2012), 244. S. Kap. 2.1.2.1 Die Ersetzung der Metaphysik durch die Soziologie: Dissertation über Bonald. Vgl. auch ebd., 109. Spaemann betont, dass es Dimensionen des Seins gibt, die sich nicht durch die Überlebensdienlichkeit erfassen lassen, vielmehr eines Rekurses auf das Unbedingte bedürfen – vgl. DERS., Deszendenz und Intelligent Design, in: DERS., Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und die Täuschung der Moderne, Stuttgart 62007, 54–64. Der Funktionalismus kehrt zudem die ursprüngliche Ordnung des Primats des Unsichtbaren, das Spaemann mit der „Welt des Lebendigen“ identifiziert, vor dem Sichtbaren um und führt dadurch zur Ent- DER PHILOSOPH ROBERT SPAEMANN ALS EIN STREIITBARER DENKER 29 Demgegenüber stellt sich Spaemann auf die Seite der lebensweltlichen Sicht der Dinge anstatt ihrer rationalistisch-wissenschaftlichen Übersetzung. 44 In diesem Kontext übernimmt er auch das „Schlüsselwort“ von Adorno/Horkheimer, nämlich von der „Unterwerfung des Daseins unter die Bedingungen seiner Erhaltung“ als Inbegriff der Dialektik der Aufklärung. 45 Von der Funktionalisierung wird besonders auch im Hinblick auf den Gottesbegriff gesprochen.46 Insgesamt bewirkt nämlich nach Spaemanns Überzeugung die funktionale Deutung der Religion deren Aufhebung, aber eine solche Deutung übersieht, dass alle Sinnanfragen an das Religiöse bereits aus dem Blickwinkel eines Sinnes gestellt werden.47 Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, wenn Spaemann dezidiert die These der Vorordnung der Gottesliebe vor der Nächstenliebe vertritt. 48 Damit 43 44 45 46 47 48 mündigung des Menschen. – Vgl. DERS., Das Unsichtbare gestalten, in: DERS., Schritte über uns hinaus (Gesammelte Reden und Aufsätze 2), Stuttgart 2011, 278–300, hier: 279–283. In einem Aufsatz über die Bedeutung von Überzeugungen zeigt Spaemann auf, wie die Hypothetisierung der Wissenschaft zu einer solchen funktionalistischen Ersetzbarkeit von Dingen und Menschen führt. In der Moderne wird der Akzent auf die Hypothetisierung des Lebens gelegt, wodurch letztlich die Freiheit genommen wird, die zunächst versprochen wurde. – Vgl. DERS., Überzeugungen in einer hypothetischen Zivilisation, in: DERS., Schritte über uns hinaus, Bd. 1 (2010), 285–309. Vgl. DERS., Einleitung (2012), 6–10. Vgl. SPAEMANN u. a., Die Natur des Lebendigen (2008), 126; HORKHEIMER, Max/ADORNO, Theodor W., Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 21969; s. auch Kap. 2.1.2 Die Entdeckung der naturteleologischen Problematik durch Spaemann. Hierbei geht es besonders um die Funktionalisierung der Rede von Gott durch die Sprachphilosophie. Sie interpretiert in der Sicht von Spaemann die moderne Entwicklung der Philosophie von der Entsprechung von Denken und Sein zu einem immer weiter voranschreitenden Rückzug in die Subjektivität und Verfremdung der Wirklichkeit dahin gehend, dass sie die Rede von Gott nicht mehr als bloß unwissenschaftlich zu brandmarken sucht, um sie aus der Philosophie unter dem Vorwand der Nichtfalsifizierbarkeit auszumerzen. Vielmehr tendiert sie dazu, die Wirklichkeit in Sprachspielen mit jeweils eigenem Regelwerk zu fassen, für das es aber keine Metaebene mehr gibt. – Vgl. SPAEMANN, Robert, Die Frage nach der Bedeutung des Wortes „Gott“, in: DERS., Einsprüche. Christliche Reden (Sammlung Horizonte N. F. 12), Einsiedeln 1977, 13–35. Vgl. DERS., Funktionale Religionsbegründung und Religion, in: DERS., Philosophische Essays (2012), 208–231. Der Gedanke hat für Spaemann weitreichende Konsequenzen für die Ethik: „Da das Christentum in der Tat kein konkretes, statutarisches Ethos besitzt, sondern nur das Gebot der Nächstenliebe, hängt m. E. für das Christentum nicht nur, sondern für die Zukunft des Menschen auf diesem Planeten alles daran, ob es gelingt, das, was Gottesliebe heißt, mit Sinn zu füllen.“ – DERS., Christliche Religion und Ethik, in: DERS., Einsprüche (1977), 51–64, hier: 58. Wenn man als Gott „eine ursprüngliche Einheit von Sein und Sinn“ betrachtet und davon ausgeht, „daß wir jene Einheit von Sein und Sinn handelnd immer schon bejaht haben, ist es vielleicht besser, wir fragen umgekehrt: was ändert sich, wenn wir sie theoretisch leugnen? Denn daß sich hierbei etwas ändert, hat wiederum Nietzsche mit den erschütterndsten Worten ausgedrückt. Die Konstruktion des Übermenschen ist ja der Versuch, den vernichtenden Konsequenzen zu entgehen und einen Ersatz für Gott zu schaffen. Die Frage nach den ethischen Konsequenzen der Religion versuchen wir also so zu stellen, daß wir nach den praktischen Konsequenzen des Atheismus fragen.“ – Ebd., 59. Zu diesen Konsequenzen zählt für Spaemann das Entstehen von Gegensätzlichkeiten, die eine fatale Dialektik zeitigen wie etwa die Antithese von Theorie und Praxis, von Egoismus und Altruismus, 30 EINLEITUNG möchte er vermeiden, dass Gott durch seine Funktion für den Menschen definiert wird – eine Tendenz, die er auch in der Moraltheologie zu finden glaubt –, um dadurch gerade die unbedingte Achtung vor dem Menschen abzusichern, der auf diese Weise nämlich als Repräsentant des real existierenden Unbedingten verstanden werden kann. 49 Auch wenn die Religion selbstverständlich auf den Lebensstil des Menschen einwirkt, kann sie nicht von diesen Wirkungen her definiert werden. Vielmehr „steht und fällt [sie] mit ihrem kognitiven Gehalt“50. Gegen die Funktionalisierung des Religiösen spricht darüber hinaus auch die Einheit von Ritus und Ethos.51 0.2.4. Anforderungsprofil des Philosophen nach Spaemann 0.2.4.1. Kritische Haltung Charakteristisch für Robert Spaemanns Konzept des Philosophierens ist die explizite Distanz zur philosophischen Lagerbildung. Man kann ihn keiner besonderen Strömung zuordnen, obwohl sich seine Ausführungen in der Regel sehr pointiert und profiliert präsentieren. Dieser Umstand hängt mit seinem Verständnis der Aufgaben des Philosophen zusammen: Letzterer muss vor allem kritisch sein, aber nicht im Sinne der Suche nach Originalität und der Infragestellung von allem, was noch nicht in Frage gestellt wurde. 52 Vielmehr ist hierbei die Orientierung an der objektiven Wahrheit leitend, was bisweilen Misstrauen gegenüber dem Zeitgeist, der „politischen Korrektheit“ und jeglichen scheinbar unumstößlichen Behauptungen impliziert. 53 So wird verständ- 49 50 51 52 53 von „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“ sowie vor allem als wichtigste Konsequenz der „Verlust der Gegenwart als der eigentlichen Dimension der Wirklichkeit, also der Verlust der Wirklichkeit“. – Ebd., 61. Vgl. DERS., Vorbemerkungen, in: DERS., Einsprüche (1977), 7–12. Zur Diskussion um das Verhältnis von Gottes- und Nächstenliebe vgl. WESTERHORSTMANN, Katharina, Das Liebesgebot als Gabe und Auftrag. Moraltheologie im Licht des jüdisch-christlichen Dialogs (Studien zu Judentum und Christentum 29), Paderborn 2014. SPAEMANN, Robert, Vorwort, in: DERS., Das unsterbliche Gerücht (2007), 7–10, hier: 8. Vgl. DERS., Ritual und Ethos, in: DERS., Schritte über uns hinaus, Bd. 1 (2010), 353–373. Vgl. MERECKI, Jarosław, Robert Spaemann i współczesny spór o osobę, in: SPAEMANN, Robert, Osoby. O różnicy między czymś a kimś (Terminus 22), hg. v. J. Merecki, Warszawa 2001, VII–XVII, hier: IX. Auf ihn passt genau das Wort von Johann W. Goethe: „Wer philosophiert, ist mit den Vorstellungen seiner Zeit nicht einig“. – Vgl. SPAEMANN, Über Gott (2012), 9 (Vorwort von Stephan Sattler). Spaemann selbst bekennt sich auch zu einem anderen Spruch von Goethe: „Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn“. – Vgl. SPAEMANN u. a., Die Natur des Lebendigen (2008), 134. Ein Schlüsselbegriff ist in diesem Kontext das Wort „Überzeugungen“, die er nicht mit subjektiven Momentaufnahmen der eigenen Befindlichkeit verwechselt haben möchte, sondern mit in der Wirklichkeit einlösbaren Wahrheitsansprüchen in Verbindung bringt. Denn die Möglichkeit, die eigenen Überzeugungen zu vertreten, ist ein Implikat der Menschenwürde. – Vgl. SPAEMANN, Robert, Wahrheit und Freiheit, in: DERS., Schritte über uns hinaus, Bd. 1 (2010), 310–331, hier: 321.