Walter Schweidler ZUR RELEVANZ DER ARISTOTELISCH-THOMISTISCHEN DENKTRADITION FÜR DAS NATURRECHT Gesetzliches Recht ist wesentlich konstituiert als ein System der Negation von Negationen, d.h. als Verhinderung bzw. Wiedergutmachung von Unrecht. Nicht nur das Strafrecht, sondern unser gesamtes System der gesetzlichen Ansprüche empfängt seine Systematik letztlich aus den Störungen von sozialen Beziehungen, die das Recht nur verteidigen kann. Schadensersatz, Unmöglichkeit, Verzug, Sachmangel, Leistungsstörungen, Verletzung von Formvorschriften, Störungen in der Erfüllung familiärer Verpflichtungen, Schutz vor ungerechtfertigter Kündigung, Kartellgesetzgebung usw.: all diese rechtlichen Kategorien entfalten das Grundprinzip der Reparatur gestörter Beziehungen. Der Gedanke des Naturrechts bleibt abstrakt und rechtlich irrelevant, wenn man ihn zu dieser Grundkonstitution gesetzlichen Rechts nicht in Beziehung setzt. Er gewinnt hingegen seine geschichtliche Konkretisierung dort, wo die umfassendste Bedingung dieser Grundkonstitution selbst gestört ist, nämlich das staatliche Zusanunenleben der Menschen, ohne das es gesetzliches Recht ja nicht geben kann. Der Naturrechtsgedanke tritt also dann in Funktion, wenn wir an die Grenzen stoßen, die der positiv-rechtlichen Störungsbeseitigung innerhalb unserer sozialen Beziehungen gezogen sind, wenn wir uns also gezwungen sehen, über die Grundkonstitution des Rechts selbst nachzudenken und sie rechtlich zu verteidigen. Ein anderes Wort für "Grundkonstitution" ist aber"Natur". Der Naturrechtsgedanke hat seinen "Sitz im Leben" dort, wo die Besinnung auf die Natur des gesetzlichen Rechts selbst rechtlich relevant wird. Das ist am eindeutigsten dann der Fall, wenn die umfassendste Konstitutionsbedingung des rechtlichen Zusammenlebens, die bestehende staatliche Ordnung, zusammenbricht und durch eine neue oder konkurrierende ersetzt wird, Dann muß das Rechtssystem sich der Aufgabe stellen, seine Natur selbst in sich einzubeziehen, also gewissermaßen seine Selbstreferentialität zu gewährleisten. Für die deutsche Naturrechtsdiskussion bedeutet dies, daß die staatliche Neuordnung nach dem Zusammenbruch des Hitlerreiches und die rechtliche Bewältigung des Untergangs der DDR zwei entscheidende geschichtliche Schaltstellen gewesen sind, von denen her die Relevanz des Naturrechtsgedankens und auch die der traditionellen Positionen zu beurteilen ist, aus denen er sich philosophisch interpretiert. Fragt man nun nach dem Inhalt des Beitrag, den eine bestimmte Denktradition für den Naturrechtsgedanken hat, so kann es im Kern nur um den Beitrag zu der skizzierten Aufgabe gehen. Der Begriff "Naturrecht" bezeichnet nicht ein Feld materialer Einsichten über fundamentale Wahrheiten betreffend den Menschen und das menschliche Zusammenleben, so daß eine bestimmte Denktradition daraufhin zu beurteilen wäre, inwieweit sie zu diesen Wahrheiten beiträgt. Man kann, etwas zugespitzt, sogar sagen, daß sich die Aktualität einer naturrechtlichen Position umgekehrt in dem Beitrag zeigt, den sie zur Destruktion einer solchen nüßverstandenen Auffassung vom"Naturrecht" leistet. Die Relevanz der aristotelisch- thonüstischen Denktradition ergibt sich gerade nicht aus einem abstrakten Katalog von vorgesetzlichen Normen oder Einsichten, über deren politische Umsetzung dann etwa noch mit anderen Positionen zu streiten wäre, sondern aus der konkreten Aufklärungsleistung, die sie dort erbringt, wo der politisch-juristische Diskurs über die richtige Gesetzgebung sich der Aufgabe stellt, die vorgesetzlichen Bedingungen der Gesetze in diese Gesetze selbst einzubeziehen und sich und uns damit gerade vor einem abstrakten Fundamentalienstreit zu bewahren. Analysiert man unter diesen Voraussetzungen die geschichtlichen Schaltstellen, an denen nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland die Besinnung auf die Begründungsbedingungen des politisch-juristischen Diskurses in diesen Diskurs und damit in unsere Gesetze selbst Eingang gefunden hat, so erweist sich der Beitrag der aristotelisch-thomistischen Denktradition daffir als zentral. Das gilt freilich nur, wenn man den Inhalt dieser Denktradition so weit faßt, daß sie nicht etwa auf neoscholastische Ansätze im engen Sinn eingeschränkt, sondern so, daß sie zusammen mit der platonisch-stoischen Komponente zu dem zusammengefaßt wird, was Leo Strauss das "klassische Naturrecht" genannt hat.' Diese Zusammenfassung läßt sich philosophisch verteidigen und begründen, und wenn man von ihr ausgeht, dann gilt, daß keine andere ethische oder rechtsphilosophische Denkweise zu sehen ist, die strukturierender und klärender für die philosophische Fundierung des juristisch-Politischen Diskurses zumindest in Deutschland wirksam geworden wäre als diese. Dies gilt für die drei deutlichsten Entwicklungen, die sich hinsichtlich der Besinnung auf die philosophischen Grundlagen des Rechts nach dem zweiten Weltkrieg feststellen lassen, welche sich folgendermaßen charakterisieren lassen: 1. Der unter dem Titel "Naturrechtsrenaissance" wirksam gewordene Ansatz zur ethischen Legitimation der deutschen Verfassungsordnung, konkretisiert in der auch juristisch operationalisierten Berufung auf Menschenwürde und Menschenrechte, der unmittelbaren Bindungs- und Drittwirkung der Grundrechte, der expliziten Unterscheidung zwischen Gesetz und Recht, der Institutionalisierung eines Verfassungsgerichts und der Festlegung der Unabänderlichkeit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes. Der Präsident des Bundesgerichtshofs, Hermann Weinkauff, proklamierte bei dessen eröffnender Sitzung 1950 seine Aufgabe, "sich auf die metaphysische Grundlage des Rechts zurückzubesinnen',2 In der diesem Programm folgenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist es zu dem gekommen, was dem Naturrechtsgedanken von rechtspositivistischer Seite als einer der Haupteinwände entgegengesetzt wird, nämlich einer Tendenz zur Moralisierung des Rechts. Als naturrechtliche Gebote gerechtfertigt wurden u. a. die Unauflöslichkeit der Ehe, sodann die Überzeugung, daß der Geschlechtsverkehr nur innerhalb der Ehe und nur zur Zeugung von Kindern erlaubt sei, die Hierarchie zwischen Mann und Frau in der Fan-ülie oder auch die Überordnung des Erziehungsrechts der Eltern über staatliche Neuordnungen des Schulsystems bzgl. interkonfessionellen Unterrichts oder der Gesamtschule.' Allerdings stand nicht nur diese Moralisierungstendenz, sondern auch ihre Überwindung im Zeichen der Berufung auf das Naturrecht, wurde also die rationale Bewältigung des Problems, zwischen Legitimation und Moralisierung der gesetzlichen Ordnung zu unterscheiden, wesentlich auf der Ebene der Diskussion darüber geleistet, was das Wort "Natur" im Begriff des Naturrechts eigentlich bedeutet. Von juristischer Seite her versuchte Gustav Radbruch dem von ihm ja entscheidend nüt beeinflußten Programm einer überpositiven Grundlegung der Gesetzesordnung mit der Konzeption eines Rechtsdenkens aus der "Natur der Sache" die Grenze zu ziehen, die von Autoren wie Coing und Fechner 4 aufgenommen wurde. In der Philosophie kam es von ganz verschiedenen Ausgangspunkten her durch Autoren wie Arthur Kaufmann, Joachim Ritter und Leo Strauss zu der Selbstbesinnung des Naturrechtsdenkens auf das, was man die proportionale Funktion des Naturbegriffs nennen kann, also auf seine Bedeutung für die Begründung einer Entsprechung zwischen der übergeschichtlichen Kategorie der Legtimation von Legalität und den 1 Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1956 (Natural Right and History, Univ. of. Chicago Press 1953), 124 ff. · Zitiert nach Hans Dieter Schelauske: Naturrechtsdiskussion in Deutschland. Ein Überblick über zwei Jahrzehnte: 1945-1965, Köln 1968, 228 3Vgl. dazu ausführlicher Wolfgang Huber: Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 1996, 86 4 Vgl. dazu Arthur Kaufmann: Rechtsphilosophie im WandeL Stationen eines Weges, Frankfurt am Main 1972, 5 geschichtlich wandelbaren Bedingungen, aufgrund derer diese Kategorie inhaltlich geffillt und der auf ihrer Basis formulierte Anspruch philosophisch eingelöst werden kann. Die Einsicht, daß das Wort "Natur" gerade das Gegenteil einer materialen Festlegung vorgesetzlicher Normenbestände bezweckt, an denen geschichtlich gewordenes positives Recht abstrakt zu messen wäre, war für die Selbstaufklärung des Naturrechtsgedankens wie für die gesellschaftliche und politische Grenzziehung zwischen Legitimation und Moralisierung der gesetzlichen Ordnung gleichermaßen zentral. 2. Die Aktivierung des spezifisch politischen Potentials der Grundrechte, die seit den 60er Jahren wenigstens teilweise dazu führte, daß die in Deutschland traditionelle Vorherrschaft der Staatsrechtslehrer im Feld der rechts- und staatsphilosophischen Auseinandersetzung zurückgedrängt wurde. Die Distanzierung von überkommenen, an der "Begriffsjurisprudenz" der Rechtswissenschaft der Vorkriegszeit orientierten liberal-reak-tionären Modellen, in denen der Gedanke des "allgemeinen Rechtsgesetzes" als einer quasi-mathematisch präzisen, Gesetzgeber und Richter auf ein verfassungsmäßig zementiertes Gesellschaftsmodell festlegenden Urnorm zugrundegelegt wurde, stand im Zeichen einer vom aristotelischthomistischen Denken zumindest wesentlich mitgeprägten Differenzierung zwischen "klassischem" und "modernem" Naturrecht. "Es soll ... das Naturrecht, weil es auf die vernünftige Natur der Vernunftwesen gegründet und gestützt ist, für die ganze Welt, für Erde und Himmel, für alle Sonnenwelten und für ewige Zeiten gelten, es soll das Gesetzbuch ffir den einen Staat der ganzen Welt sein. "5 Nicht das Pathos, aber die einseitig nationalistische und ungeschichtliche Ausprägung dieses programmatischen Ausrufs von Karl Christian Friedrich Krause erscheint noch in den bundesrepublikanischen Auseinandersetzungen um die verfassungsrechtliche Fundierung des Sozialstaatsprinzips und die Drittwirkung der Grundrechte in den 50er Jahren, wenn etwa Ernst Forsthoff die "Umbildung des Verfassungsgesetzes',6 durch die Relativierung einer vermeintlich absolut eigenständigen juristischen Logik zugunsten von politischen Wertentscheidungen anprangerte. Die Rückwendung zum "klassischen" in Abhebung vom "modernen", nationalistischen Naturrechtsbegriff brachte auch ein dynamisches Kritikpotential hervor, nüt dem der Naturrechtsgedanke zum Fokus der beständigen, jenseits aller revolutionären Umbrüche virulenten Auseinandersetzung um die Spannung zwischen Legalität und Legitinütät werden konnte. Zweifellos entstehen auf dieser Ebene auch Gefahren der Überdehnung und ideologischen Verzerrung rechtlicher Kategorien, aber man muß zunächst jedenfalls analytisch festhalten, daß die Kämpfe um die Erweiterung und die Anpassung der politischen Ordnung an veränderte gesellschaftliche Realitäten nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland - wie auf der internationalen Ebene auch - wesentlich als Auseinandersetzungen um die Frage geführt wurden, welche rechtlichen Ansprüche Menschen jenseits der bestehenden positiven Ordnung von Natur aus zustehen. 3. Damit geht eine dritte Entwicklung einher, die bereits in der "Naturrechtsrenaissance" nach dem Krieg angelegt war, die jedoch zu der genannten Differenzierung zwischen klassischem und modernem Naturrecht gegenläufig ist und ihre politische Realisierungsprobe nach dem Umbruch von 1989 durchlaufen mußte - eine Realisierungsprobe, die bis heute weder abgeschlossen noch abschließend bestanden worden ist. Diese dritte Entwicklung basiert auf einer spezifischen Konvergenz zwischen klassischem und modernem Naturrecht oder, wenn man so will, einer Hinwendung des aristotelisch-thomistischen Denkansatzes zum Kembegriff der modernen Naturrechtstradition, dem Begriff der Menschenrechte. Als es nach dem ' Karl Christian Friedrich Krause: Grundlage des Naturrechts, Jena und Leipzig 1803, 12, zit. nach Diethelm Klippel: Die Historisierung des Naturrechts. Rechtsphilosophie und Geschichte im 19. Jahrhundert, in: Francois Kervdgan/I-leinz Mohnhaupt (Hrsg.): Recht zwischen Natur und Geschichte, Frankfun am Main 1997, 103-124, 106 6 Ernst Forsthoff. Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Untergang der DDR, insbesondere in den "Mauerschützenprozessen", um die Bewältigung ,7 gesetzlichen Unrechts ging, wurde die "Radbruchsche Formel' , wenn sie bzw. die Denkfigur des Naturrechts überhaupt angewendet wurde, durch den Begriff der Menschenrechte konkretisiert. "Gesetze, Anordnungen und Befehle, die die fundamentalen Menschenrechte verletzen, sind nichtig, und ihre Urheber müssen sich vor dem Strafgericht verantwortend : So lautet Arthur Kaufinanns Formulierung der Radbruchschen Formel heute. Gesetzliches Unrecht heißt demnach Verstoß staatlicher Gesetzgebung gegen die Menschenrechte. Daß hier, aso in der gerichtlichen Bewältigung von DDR-Unrecht, vom "Sittengesetz" oder einer vergleichbaren Vorstellung vor- oder übergesetzlicher Normen nicht mehr die Rede gewesen ist, ist ein Faktum, das durchaus eine Grundlage in der rechtsphilosophischen Diskussion der vorangegangenen Jahrzehnte hat. Denn einer der tragenden Topoi, die gerade Arthur Kaufmann im Ringen um die Aktualisierung des Naturrechts immer wieder hervorgehoben hat, war der Hinweis auf den ontologischen Unterschied zwischen Gesetz und Recht.9 Der Begriff des Menschenrechts in seiner von Hobbes und Kant grundgelegten Fassung hat sich als das entscheidende Instrument erwiesen, mit dem es gelingen kann, den vorgesetzlichen Grund des Gesetzes strikt als einen nicht gesetzlichen zu denken und also von allen Vorstellungen einer zweiten, zur positiven in Konkurrenz tretenden Normenordnung zu reinigen. Es ist geradezu die Kernaufgabe naturrechtlichen Denkens, die paradoxe Beziehung zu rekonstruieren, die zwischen Recht und Gesetz besteht, nämlich die Beziehung zwischen vorgesetzlichen menschlichen Verhältnissen, die man sich ohne eine sie schützende und konkretisierende Gesetzesordnung nicht vorstellen kann, und eben dieser Ordnung, die sich zu ihrer Legitimation auf jene Verhältnisse und damit auf etwas berufen muß, das hinsichtlich seiner konkreten Ausgestaltung in ihrer Macht liegt und trotzdem diese Macht erst rechtfertigt. In Auseinandersetzung mit dieser paradoxen Aufgabe läßt sich der Menschenrechtsgedanke inhaltlich mit den Worten präzisieren, mit denen Ernst Cassirer die von Leibniz ausgehende staatsphilosophische Grundeinsicht formuliert hat, "daß das Prinzip, welches die Grenze der staatlichen Machtbefugnisse bezeichnet, zugleich die ideelle Rechtfertigung des Staates in sich" schließt"'. Was das Wort "Natur" im Begriff des Naturrechts genau bedeutet und welchen Beitrag das"klassische" Naturrecht zur Aufklärung dieser Bedeutung leistet, ist die Frage, der nun anhand einiger vertiefender systematischer Analysen zu den drei genannten Phasen der naturrechtlichen Fundierung des politisch-juristischen Diskurses in den letzten Jahrzehnten nachgegangen werden soll. 1. Legitimafion und Moralisierung Eines der zentralen Probleme, an denen sich die systematische Relevanz jedes naturrechtlichen ' "Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu wichen hat ... Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur unrichtiges Recht'. Vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen." (Zit. nach Arthur Kaufmann: Die Naturrechtsdiskussion in der Rechtsund Staatsphilosophie der IVachkriegszeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 33/91, 9.8.199 1, 10 " Ebd. · Vgl. Arthur Kaufmann: 1 0 Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Frankfurt am Main 1975, 318 Denkansatzes zeigen muß, ist die Abgrenzung zwischen ethischer Legitimation und Moralisierung des staatlichen Gesetzes. Die Behauptung, die etwa H.L.A. Hart auf Schritt und Tritt aufgestellt hat, wonach das naturrechtliche Denken die Konsequenz hat, daß der Bürger ein moralisch verwerfliches Gesetz nicht als gültiges Gesetz anerkennen könne," ist als Kennzeichnung der klassischen naturrechtlichen Positionen sicher falsch. Thomas von Aquin erklärt ausdrücklich, daß staatliche Gesetze, die ungerecht sind, weil sie gegen ein menschliches Gut, etwa das Prinzip der austeilenden Gerechtigkeit, verstoßen, im Gewissen nicht verpflichten, daß man aber, "um Ärgernis oder grobe Unordnung zu vermeiden", als Mensch "auch auf sein Recht verzichten können" müsse 12 , er setzt also die Unterscheidung zwischen den "in foro interno" geltenden Geboten der moralischen Gerechtigkeit und der äußeren Gehorsamspflicht gegenüber einem durch den moralisch nicht weiter zu qualifizierenden Willen der Bürger zum Zusammenleben definierten Staat und seinen Gesetzen bereits voraus, die durch den von Augustinus im 19. Buch von De civitate Dei vollzogenen Übergang zur moralisch wertfreien Definition des Volkes als einer "durch gemeinsame einträchtige Schätzung der Dinge geeinte(n) Vereinigung einer vernünftigen Menge"" und durch die aristotelische Unterscheidung zwischen "Satzungsrecht und erstem Recht" 14 und zwischen der Befolgung der Legalität und der unmoralischen Einstellung, aus der heraus sie geschehen kann, grundgelegt worden ist. Wenn es umwillen der Vermeidung grober Unordnung sogar eine Gewissenspflicht geben kann, die ungerechten Gesetze zu befolgen, dann ist a fortiori vorausgesetzt, daß staatliche Gesetze einen Geltungsgrund haben, der nicht selbst mit der Gewissensverpflichtung gegenüber dem moralisch Guten gleichgesetzt werden kann. Der Geltungsgrund des staatlichen Gesetzes, den der Begriff des "von Natur aus Rechten" zu fassen versucht, besteht nicht in moralischen Geboten, die die dem Gesetz unterworfenen Bürger anzuerkennen hätten und über die dann etwa Konflikte auszubrechen vermochten, die in den Bürgerkrieg führen müßten. Insofern ist die Behauptung, der Naturrechtsgedanke impliziere die Moralisierung des Rechts, falsch. Zu bedenken ist jedoch, daß er die Gefahr eines bestimmten Mißverständnisses eröffnet, aus dem dann tatsächlich Moralisierungstendenzen erwachsen. Dieses Nüßverständnis muß anhand des Naturbegriffs analysiert und überwunden werden. Versteht man den Begriff "Natur" im naturwissenschaftlichen Sinne als Inbegriff der Objekte, die sich gemäß naturgesetzlicher Determination beschreiben und berechnen lassen, dann gibt es für die Annahme, daß etwas zur Natur gehört, nur eine Rechtfertigung, nämlich den Aufweis einer Norm, aus der es sich als notwendige Folge eines vorhergehenden Zustandes ableiten läßt. Kant spricht von dem Prinzip, wonach jede Veränderung in der Welt einem Gesetz unterworfen sei, "d.i. einer Regel des notwendigen Daseins, ohne welche gar nicht einmal Natur stattfinden würde"". Insofern der Mensch sich diesem allgemeinen Regelgefüge, gemäß dem alle Bestandteile der Natur miteinander in einem Determinationszusammenhang stehen, entzieht, gehört er nicht mehr zur Natur. Wird nun von der "Natur des Menschen" als Legitimationsquelle staatlicher Gesetze gesprochen, so muß dies entweder so interpretiert werden, daß eben doch die naturgesetzlichen Determinanten der menschlichen Gattung zur Basis unserer Handlungsnormen erklärt werden sollen - sei es aufgrund einer evolutionstheoretisch orientierten Gattungs- oder Überlebensmoral oder auch im biologistischsozialdarwinistischen Sinne als Bekenntnis zum"Recht des Stärkeren" - oder aber so, daß für " Vgl. H.L.A. Hart: The Concept oflaw, Oxford 1961, 206; vgl. dazu und zur Auseinandersetzung damit John Finnis: Natural Law and Natural Rights, Oxford 1980, 364 ff. 12 Thomas von Aquin: Summa Theologiae I-11, 96.4 (dt. Ausgabe Graz/Wien/Köln 1977) 1 3 Augustinus: De civitate Dei (dt. Paderborn u.a. 1971, Bd. 11) XIX.24 1 4 Aristoteles: Nikomachische Ethik (dt. Stuttgart 1969), 1136 b, vgl. Politik 1253 a sowie die Unterscheidung zwischen gerechten und ungerechten Gesetzen je nach der ihnen zugmndeliegenden Verfassung in Politik1282 a 1 5Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (Werke in zehn Bänden, Bd. 3, Darmstadt 1975), B 280 den Menschen an die Stelle der naturgesetzlichen eine andere, zweite Art von Normen tritt, die nur ihm vorgegeben sind und ihn von der restlichen Natur trennen, die ihn aber zugleich seine Abhängigkeit von deren Gesamtgefüge erkennen und sich handelnd auf sie einstellen lassen. 16 ..Natur" bezeichnet in dieser zweiten Variante dann freilich nur noch jene Grenze, die zu überwinden und hinter die nicht wieder zurückzufallen den negativen Ausgangspunkt menschlicher Handlungsorientierung markiert: exeundum est e statu naturali! Wird dann zum Grundgebot eines durch die menschliche Natur zwar vorgegebenen, sie aber in der Realisierung der nur dem Menschen eigentümlichen Vernunft transzendierenden Normsetzungsvermögens. 17 Charakteristisch ist, daß unter diesen Voraussetzungen der "Natur des Menschen" gerade keine genuine Relevanz für die Frage unserer Handlungsorientierung zugebilligt wird. Denn wo die Natur für unsere normative Bindung richtunggebend wird, dort tut sie es gerade insofern, als sie die allgemeine, die Lebewesen miteinander verknüpfende Determinante ist. Der Mensch gehört entweder als Naturwesen zu diesem allgemeinen Determinationsverbund oder er wird als das Vernunftwesen gesehen, das sich von ihm abstoßen und sich nur indirekt abwehrend zu ihm verhalten kann. In beiden Fällen ist schwerlich zu sehen, wie die Moralisierung des Rechts vermieden werden soll. Denn wenn es die uns übergreifenden Naturnotwendigkeiten sind, an denen unser Handeln sich orientieren soll, dann gelten diese für die moralischen Verpflichtungen, die Menschen gegeneinander haben, nicht anders und nicht weniger als für die Überlebensbedingungen staatlichen Zusammenlebens, wenn aber die Natur des Menschen umgekehrt darin bestehen soll, sich aufgrund eigener, also im Kantischen Sinne "sittlicher" Normen vom Naturganzen zu emanzipieren, dann erscheint die Grenzziehung zwischen staatlicher Sanktionierung und bloß moralischer Ächtung des Verstoßes gegen diese Normen als ein Dezisionismus, hinter dem letztlich weltanschauliche und geschichtlich bedingte Überzeugungen stehen. Inwieweit etwa die Lüge staatlich bestraft und inwieweit sie nur als moralisch anstößig betrachtet wird, hängt weit eher von soziok-ulturellen Faktoren ab als von einer vermeintlichen Grenze zwischen dem, was staatlich erzwingbar und dem, was nur dem Gewissen des einzelnen überantwortet ist. Der dezisionistische Charakter der hier implizierten Grenzziehung zeigt sich bei Kant nicht zuletzt darin, daß er das für die Eigenständigkeit des Rechts gegenüber der Moral wesentliche Idee der vemünftigen Selbstbegrenzung äußerer Freiheit in einer sehr eigentümlich Norm, nämlich einem"Diktat der Vernunft" verankern muß, das "sie als ein Postulat" verkündet, "welches gar keines Beweises weiter fähig ist"". Es ist eine unabdingbare Voraussetzung zum Verständnis dessen, was "klassisches" oder auch aristotelisch-thomistisches Naturrecht heißt, daß man den Begriff "Natur" nicht in dem soeben skizzierten, sondern in einem vorneuzeitlichen Sinne verwendet. "Natur" wird bei Aristoteles nicht als materiale Klassenbezeichnung zur Zusammenfassung eines bestinunten Bestandes an Objekten, also etwa der lebendigen und der mineralischen Bestandteile unseres Erdballs, gebraucht, sondern als formale Kategorie der proportionalen Bezugsetzung zwischen einem Einzelding und seinem Gestaltungsprinzip. Daß der Staat von Natur aus existiere, erläutert Aristoteles am Anfang der Politika'9 so, daß er das Ziel sei, auf das eine Ordnung menschlichen Zusammenlebens ausgerichtet sei, die um des Lebens willen entstanden ist und um des guten Lebens willen erhalten wird. "Darum ist alles staatliche Gemeinwesen von Natur, 16 In diesem Sinne etwa die vom Kantischen Vernunftverständnis ausgehende Darstellung bei Friedrich Kaulbach: Menschenrecht und Naturverhältnis, in: Volker Gerhardt/Wemer Krawietz (Hrsg.): Recht und Natur.Beiträge zu Ehren von Friedrich Kaulbach, Berlin 1992, insbes. 38 und, in kritischer Weiterführung, Ludwig Siep: Naturgesetz undrechtsgesetz, ebd. Insbes. 143 " Weshalb Femando Inciarte: Zwischen Natur- und Vernunftrecht, ebd. 81 ff. die Vermittlung zwischen Naturund Vernunftrecht auch nicht mehr gelten lassen will und die Kaulbachsche Konzeption als rein vernunftrechtliche zum Scheitern verurteilt sieht 18 Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten, Rechtslehre (Werke in sechs Bänden, Bd. IV, Darmstadt 1983) B 34 '9 1252 b wenn anders das gleiche von den ersten und ursprünglichen menschlichen Vereinen gilt. Denn der Staat verhält sich zu ihnen wie das Ziel, nach dem sie streben, das ist aber eben die Natur. Denn die Beschaffenheit, die ein jedes Ding beim Abschluß seiner Entstehung hat, nennen wir die Natur des betreffenden Dinges, sei es nun ein Mensch oder ein Pferd oder ein Haus oder was sonst immer. "20 Der Naturbegriff soll eine formale Entsprechung und damit gerade ein in sich vielfältiges, in seiner Pluralität nicht auf ein einheitliches Ableitungsprinzip reduzierbares Geffige festhalten, in dem alles mit allem Seienden in einer Wechselbeziehung steht, die aber eben keine in Gesetzen fundierte Wechselwirkung im Sinne der dritten Kantischen Analogie 21 ist. Zugrunde liegt hier der ursprüngliche Sinn des Wortes physis: "das, was sich von sich selbst her Zeigt". 22 "Natur" ist nicht ein Bestand von Seiendem, sondern dasjenige, was jedes Seiende hat, einfach weil es von einer bestimmten Art ist, sich also auf eine für es charakteristische, mit seinesgleichen geteilte Weise von der Vielfalt aller anderen Seienden abhebt. Zu seiner Natur verhält man sich prinzipiell, indem man sich zur Gliederung der Welt als ganzer verhält, und das spezifisch menschliche Verhalten zur Gliederung der Welt besteht wesentlich in deren vernünftiger Rekonstruktion, die darum nicht Basis, sondern selbst schon Hauptinhalt und Wesenskern des genuin menschlichen Handelns ist. Insofern gehört es tatsächlich zur "Natur", also zur genuinen Besonderheit des Menschen, sich durch den vernünftigen Nachvollzug der Natur aller anderen Wesen von ihnen allen abzuheben, aber dieses Heraustreten aus dem Rest der Natur ist keine Leistung, sondern zunächst ein Verhältnis, das auf je wiederum seine besondere Weise auch jedes andere Seiende einnimmt. Der formal-proportionale Naturbegriff tritt also nicht etwa an die Stelle der Rede von einer "Natur des Menschen", aber er verleiht ihr eine andere Beziehung zum Rest der Natur: Wir sind, gerade insoweit wir vernünftig sind, auf die Frage nach unserer Natur verwiesen. Die Natur des Menschen besteht darin, sich in Sprache und Rechnen der Natur der anderen Dinge so anzupassen, daß das Vermögen, sie zu beschreiben und zu berechnen, zur Grundlage unseres Umgangs mit ihnen werden kann. Was uns also erlaubt, auf unsere genuine Weise aus dem Rest der Natur herauszutreten, ist weder ein ihn und uns umfassendes noch ein uns von ihm trennendes und nur ihn, den Rest, umfassendes Gesetz, sondern gerade die vielfältige Eigenart, durch welche sich alle Seienden auf der Welt nach je ihrer Weise von den andersartigen Seienden unterscheiden. Was folgt aus dieser formal-proportionalen Konstitution des Naturbegriffs für das Verständnis der Thesen des Aristoteles, daß der Staat von Natur aus existiere und daß es ein Recht gebe, gilt2 . folgt genau das Gegenteil von das in allen Staaten unabhängig von positiver Setzung '7 Es dem, was sich ergibt, wenn man den neuzeitlichen, naturwissenschaftlich geprägten Naturbegriff zugrundelegt. Das von Natur aus geltende Recht entstammt nicht einem vor- oder übermenschlichen Gesetz, nach dem die "ersten und ursprünglichen menschlichen Vereine", also die durch die Staatsordnung geschützten bürgerlichen Lebensbeziehungen, sich zu richten hätten. Sondern das staatliche Gesetz wird seiner Natur genau dann gerecht, wenn es diese ursprünglichen Lebensbeziehungen und den sich in ihnen manifestierenden Willen der Bürger zum gemeinschaftlichen Zusammenleben als die nicht weiter reduzierbare, aus keinem allgemeinen Prinzip mehr ableitbare und von einem solchen her auch nicht abstrakt korrigierbare Rechtfertigungsbasis seines Geltungsanspruchs zum Ausdruck bringt. Wer von einem staatlichen Machthaber verlangt, er solle sich an das von Natur aus Rechte halten, beruft sich danüt nicht auf einen dem positiven Gesetz konkurrierend voran- oder gegenüberstehenden Norrnenkatalog, sondern er muß zeigen können, daß die von ihm angegriffene positive Ordnung die bürgerlichen Grundverhältnisse, also die Lebensformen nicht 20 Übers.von Rolfes, in: Aristoteles: Philosophische Schriften, Darmstadt 1995, Band 4 der reinen Vernunft B 256 22 Vgl. Martin Heidegger: Vom Wesen und Begriff der physis, in: Wegmarken, 2. Auflage Frankfurt am Main 1978, 237 ff. 23 Aristoteles: Nikomachische Ethik 1 13 4 b, vgl. Rhetorik 1. 10, 13,15 21 Kritik respektiert, in denen die durch sie beherrschten Menschen eigentlich leben wollen. Es gehört zur Natur des Politischen, daß es einen theoretischen Beweis im mathematischen oder auch juristischen oder in irgend einem anderen dogmatischen Sinne ffir eine solche Behauptung nicht geben kann. Wie die Menschen wirklich leben wollen, das muß sich letztendlich daran zeigen, daß eine Rechtsordnung sich durchsetzt, die sie akzeptieren. "Das Naturrecht" ist kein Kalkül und kein Katalog, der das Eintreten für eine dem Willen der Bürger gemäße Gesetzesordnung ersetzen könnte, sondern eine Denkweise, die den Rückgang auf letzte Überzeugungen und die argumentative Verständigung über die aus ihnen gemeinsam zu ziehenden Konsequenzen, die also die Philosophie zur Verständigungsbasis dieses Eintretens und des Streits über die richtige 24 Herrschaft und die richtige Gesetzgebung macht. Dies hat Leo Strauss in dem Wort festgehalten, daß der Begriff der Natur im klassischen Naturrecht genau diejenige Autorität festhalten soll, deren Wesen negativ zu bestimmen ist als der Herrschaftsanspruch, welcher der konventionellen, also überkommenen herrschaftlichen Autorität entzogen wird . 2' Daß die vorgesetzliche Autorität der menschlichen Lebensverhältnisse nur als wiederum in die Gesetze integrierte und somit rechtliche Autorität konkretisiert werden kann, hat Aristoteles von Anfang an festgehalten: Das Naturrecht ist kein vor- oder überpolitisches Recht, sondern es ist Teil des Polisrechts, aber eben jener Teil, der in jeder Polis, die ihren Sinn erfüllen will, gelten muß und durch den sie eine Entsprechungsleistung erbringt, an der jede politische Ordnung zu messen ist. 2' Die bürgerlichen Lebensverhältnisse, denen das Gesetz zu entsprechen hat, müssen weder überall noch immer dieselben sein. Keinesfalls fällt die Unterscheidung zwischen positivem Recht und Naturrecht mit der zwischen veränderlichem und unveränderlichem Recht zusammen. "Bei den Göttern", so Aristoteles, "mag ... die Veränderlichkeit ... wohl ausgeschlossen sein; bei uns aber gibt es wohl auch manches, was von Natur gilt, aber das alles ist der Veränderung unterworfen - und dennoch besteht die Scheidung: von Natur' - r@cht "27 von Natur'. «Es würde den Rahmen, der einer Erörterung der Relevanz des aristotelisch-thonüstischen Ansatzes für das naturrechtliche Denken gezogen ist, sprengen, wenn wir positiv die Frage nach der Grenzlinie zwischen Recht und Moral beantworten wollten. Wenn man vom spezifischen Beitrag des "klassischen" Naturrechts her zu verstehen versucht, warum die deutsche "Naturrechtsrenaissance" die ideologiegeschwängerte "restaurative" Moralisierungstendenz der 50er Jahre überwunden, die Forderung nach einer überpositiven Legitimation der gesetzlichen Ordnung aber entschieden bewahrt hat, muß der negative Hinweis genügen, daß es gerade die Rückwendung zu den aristotelischen - und platonischen Wurzeln ist, die den Naturrechtsgedanken von der Bezugnahme auf eine vorgesetzliche Normenordnung befreit, von der aus dann die staatliche als bloßer Spezialfall einer sie umgreifenden moralischen Ordnung erscheinen und die rechtliche als ein Reflex der durch das Sittengesetz konstituierten Pflichtenordnung zwischen Menschen interpretiert werden muß. Ebensowenig wie für Platon ist für Aristoteles der Grund der menschlichen Gesetze ein Gesetz - auch nicht ein übermenschliches. Vielmehr ist das staatliche Gesetz der spezifisch So die Grundkonzeption bei Robert Spaemann: Die Aktualität des Naturrechts, in: Philosophische Esays, Stuttgart 1982, 78 und Ders.: Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben, ebd. 80 ff. 25 Naturrecht und Geschichte (FN 1), 94 mit Hinweis auf Cicero: De legibus ii. 13 und 40 und Definibus iv.72 und v. 17 26 Hobbes wiederholt diese Konzeption im Kapitel 26 des Leviathan (4. Aufl. Frankfurt am Main 199 1): "Unter bürgerlichen Gesetzen verstehe ich Gesetze, zu deren Beachtung die Menschen nicht deshalb verpflichtet sind, weil sie Glieder dieses oderjenes besonderen Staates, sondern überhaupt eines Staates sind." (203) "Das Gesetz der Natur und das bürgerliche Gesetz schließen sich gegenseitig ein und sind von gleichem Umfang. Denn die Gesetze der Natur, die in Billigkeit, Gerechtigkeit, Dankbarkeit und anderen von ihnen abhängigen moralischen Tugenden bestehen, sind im reinen Naturzustand ... keine eigentlichen Gesetze, sondern Eigenschaften, die die Menschen zu Frieden und Gehorsam hinlenken..." (205) 21 Nikomachische Ethik 1134 b 24 menschliche Notbehelf, die "zweitbeste Lösung',21 , die Kompensation für die durch die menschliche Endlichkeit und Schwäche hervorgerufene Unfähigkeit, das eigentliche Prinzip des guten Lebens und Zusammenlebens zu realisieren: persönliche Gerechtigkeit. Indem die klassische Naturrechtslehre zwischen der philosophischen und der bürgerlichen Existenz trennte und die Herrschaft der Philosophen als nicht realisierbares Ideal von den Prinzipien des politischen Lebens trennte, entwarf sie die erste grundlegende Formulierung der Differenz zwischen Moral und Recht. 29 Die in der christlichen Tradition dann vorgenommene Verjenseitigung der philosophischen Existenz zum Postulat der Glückseligkeit in dem prinzipiell jenseitigen Zustand der beseligenden Schau Gottes hätte die Staatsphilosophie in der Tat der Moralisierung ausgeliefert, wenn sie nicht einhergegangen wäre nüt der bei Augustinus entschieden vollzogenen Wandlung des Konzepts der Staatslegitimation vom aristotelischen Prinzip des Zusammenlebens umwillen der Gerechtigkeit und des guten Lebens hin zur Beschränkung des Staates auf seine Friedensfunktion und die Relativierung seines Legitimitätsanspruchs auf die Gewährleistung des fiiedlichen Zusammenlebens zwischen Gerechten und Ungerechten.'o Thomas von Aquin hat sowohl das Modell des staatlichen Gesetzes als notwendiger Kompensation der menschlichen Schwäche und Endlichkeit" als auch der wenigstens partiellen Veränderlichkeit des NaturrechtS12 aus der aristotelischaugustinischen Tradition übemommen. Die "Zucht, die durch Furcht vor Strafe zwingt, ist ... die Zucht der Gesetze."" Der Grund dieser Zucht und damit der Gesetze ist nach Thomas, wie dann noch für Kant, derselbe Grund wie der Grund der moralischen Verpflichtung, nämlich das alle Menschen miteinander verbindende sittliche Verpflichtungsverhältnis. Aber für die Legitimation der staatlichen Ordnung entscheidend ist der Grund, der die Zufluchtnahme zu äußerem Zwang und damit das durch staatliche Gesetze geregelte Miteinander notwendig macht, und dieser Grund, die menschliche Schwäche und Endlichkeit, konstituiert eine eigene Sachlogik der Gesetzgebung und Gesetzesausführung, die sich nicht aus der göttlichen Weltordnung ableiten läßt. So ist nach Thomas etwa das Privateigentum eine Institution, die ..durch die menschliche Vernunft zum Besten des menschlichen Lebens eingeführt worden 34 ist, und zwar in jenem weiten Freiraum, in dem das Naturrecht nicht festlegt, wie unsere Beziehungen auszusehen haben.» Negativ ist also zunündest festzuhalten, daß ein Staat, der seine Ordnung durch die Berufung auf die Würde und das Recht des Menschen legitimiert, damit nicht Moral an die Stelle von Recht setzt. Wie immer der Inhalt der Grundrechte genau bestimmt werden mag, er ist doch sicher nicht auf der Ebene konstituiert, die für die Moral im Gegensatz zum staatlichen Zwangsrecht typisch ist. Der Respekt vor den Grundrechten unserer Mitbürger wird nicht im "forum internum" unseres Gewissens verlangt, sondern er ist an staatlichen Zwang und institutionelle Ausgestaltung genauso gebunden wie die gesamte Rechtsordnung. Fichtes Wort: "Auf dem Gebiete des Naturrechts hat der gute Wille nichts zu tun. Das Recht muß sich erzwingen lassen, wenn auch kein Mensch einen guten Willen hätte"", hat insofern durchaus Geltung. Die sich aus den Grundrechten ergebenden Pflichten sind im Kantischen Sinne vollkommene, d.h. auf konkrete Anspruchsgegner bezogene und im Kein negativ strukturierte, also Eingriffe ausschließende Pflichten. Wo, wie im Fall der sogenannten "sozialen Grundrechte", darüber gestritten wird, ob ein bestimmtes Feld sich in dieser Weise als Objekt 211 Vgl. Platon: Nomoi (Werke, Bd. 8, Darmstadt 1990), 301 E, 874 f 29 Vgl. Strauss: Naturrecht und Geschichte, 149 "' Vgl. oben FN 12 31 Vgl. Summa Theologiae I-11 95. 1, insbes. ad 2 12 Vgl. ebd. 1-11 94.5 I-II 95.1 34 1-11 94.5 ad 3 35 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts (1 796) (Gesamtausgabe, Stuttgart-Bad Cannstatt 1965 ff., 1. Abt. Bd.3, 432) 13 grundrechtlicher Gewährleistungen eignet, dort wird indirekt auch darüber gestritten, ob und inwieweit auf diesem Feld die Legitimität unserer staatlichen Ordnung auf dem Spiel steht. Insofern hat der Streit um Menschenwürde und Grundrechte genau den Sinn, den der klassische Naturbegriff ins Recht hineintragen will, nämlich den Sinn, dasjenige, was den Menschen von allen anderen Wesen unterscheidet und umgekehrt alle Menschen miteinander verbindet, zum Leitfaden und zugleich zur sinngebenden Grenze staatlichen Eingriffs in die menschlichen Lebensbeziehungen zu machen. Der positiven Bedeutung des hier vorausgesetzten Naturbegriffs kann man freilich nur weiter nachgehen, wenn man diese spezifisch menschlichen Beziehungen noch näher ins Auge faßt. 2. Sein und Sollen Nüt der Zurückweisung der Annahme vorgesetzlicher Normen stellt sich unverzüglich die Schwierigkeit ein, die dem "klassischen" Naturrecht nicht nur von rechtspositivistischer, sondern, so etwa bei Karl-Heinz Ilting, 16 auch von Seiten des rationalen neuzeitlichen Naturrechts vorgehalten wird: das Problem der Brücke zwischen Sein und Sollen bzw. des "naturalistischen Fehlschlusses". Erst die Neuzeit habe, so Ilting, erkannt, "daß eine streng rational entworfene Naturrechtslehre und Ethik vom Begriff des Sollens und der Norm ausgehen und sich an der Idee der Autonomie eines freien Willens orientieren MUß"37 . Dem Sollen darf demnach kein Hinweis auf Tatsachen vorgeschaltet werden, ohne in eine logisch inkorrekte Scheinlegitimation von Normen zu münden. Zur Welt der Tatsachen gehört aber auch das Wollen von Menschen. Keine Berufung darauf, daß wir "von Natur aus" etwas wollen, begründet die Forderung, daß uns das Recht dazu eingeräumt werden solle. Normative Ansprüche können nur aus Normen abgeleitet werden. Man muß auf diese Problematik mit einem Hinweis antworten, der sie nicht schon löst, den man sich aber zunächst noch einmal klarmachen muß: "Naturrecht" ist nicht die Bezeichnung für etwas, woraus Normen sich logisch ableiten ließen. Wäre es das, so gehörte das Naturrecht nicht in die Philosophie, sondern in die Rechtswissenschaft und unterläge der juristischen Auslegungskunst. Aber der Vorwurf, der der "klassischen" Naturrechtsaufassung gemacht wird, lautet ja auch nicht, daß sie keine Ableitungsquelle der staatlichen Normen angeben könne, sondern umgekehrt, daß sie eine solche Quelle annimmt, aber ein adäquates Vermittlungsprinzip zwischen Sein und Sollen, das an die Stelle logischer Ableitung treten könnte, nicht anzugeben vermag. So spricht Thomas von Aquin davon, daß das menschliche Gesetz sich vom ewigen herleite, es aber nicht voll einzuholen vermöge." Daß mit "Herleiten" hier nicht logische Ableitbarkeit gemeint sein kann, erhellt daraus, daß nach Thomas sich auch das ungerechte Gesetz, wenn es von einem legitimen Gesetzgeber erlassen wird, vom ewigen ,39 Gesetz "herleitet' . Was aber ist dann der Maßstab oder das Prinzip der Unterscheidung gerechter von ungerechter Gesetzgebung? Der inhaltlich wichtigste und geschichtlich virulenteste Begriff, den Thomas im Umgang nüt dieser Frage verwendet, ist der noch bei Kant wieder aufgegriffene Begriff des dictamen rationis. 40 Für den Menschen wird die Vernunft, also sein Vermögen, die Natur aller in der Welt existierenden Wesen nachzuvollziehen, selbst handlungsorientierend - oder Kantisch gesprochen: die Vernunft selbst wird praktisch. Lex naturalis ist die " Teilnahme am ewigen Vgl. Karl-Heinz Ilting: Naturrecht und Sittlichkeit. Begriffsgeschichtliche Studien, Stuttgart 1983, insbes. 63, 73, 85 17 Ebd. 21 311 Summa Theologiae 1-II, 93.3 ad 3 39 Ebd. ad 2: "denn alle Gewalt ist von Gott dem Herrn"' (Röm 13, 1)... 40 Vgl. dazu mein Buch Geistesmacht und Menschenrecht. Der Universalanspruch der Menschenrechte und das Problem der Ersten Philosophie, Freiburg im Breisgau/München 1994, § 1 1 36 Gesetz im vernunftbegabten Geschöpf',41; das ewige Gesetz wiederum ist kein Normenkatalog, sondern der göttliche Weltplan 42 . Die"Teilnahme" an diesem Weltplan ist uns nun nach Thomas gerade nicht in der Weise möglich, daß wir Gottes Perspektive einnehmen könnten, sondern in einer ganz spezifischen Brechung, die das vernunftbegabte Geschöpf eindeutig definiert und von allen anderen abhebt und also insofern genau dem klassischen Naturbegriff entspricht. Diese für uns charakteristische Brechung besteht darin, daß wir ein gelingendes Leben anstreben und dies nur durch vernünftige Orientierung unseres freien Handlungsvermögens erzielen können. Die Anwendung unserer Vernunft unter Voraussetzung des Ziels eines gelingenden Lebens: das ist der "klassische" Begriff von "praktischer Vernunft" als Grundlage menschlichen Handelns. Gelingendes Leben ist selbst keine Norm und kann auch nicht logisch resümiert werden, vielmehr ist gelingendes Leben Ergebnis einer Vermittlungsleistung zwischen der Chance des Individuums, sich zu seinem Lebens als einem sinnvoll geschlossenen Ganzen zu verhalten, und der prinzipiell sozial koordinierten Konstitution dieser Chance. Das Feld, auf dem diese Leistung sich ereignet, läßt sich nicht durch mathematische oder juristische Ableitungen, sondern durch Erwägungen der Angemessenheit - Rüdiger Bubner spricht von "Bekömnüichkeit" der Rationalität für eine Gesellschaft41 - bestellen. Thomas von Aquin bezeichnet die intellektuelle Kapazität, die dieser Grundaufgabe in uns entspricht, durch die wir also die Weisungen der Vernunft vernehmen, in Anlehnung an Aristoteles die Tugend der Klugheit. Die Klugheit ist bei Aristoteles das Vermögen, die Anforderungen, die der Wille, tugendhaft zu sein, an einen Menschen stellt, richtig auf die jeweilige Situation anzuwenden, in der die Tugend sich realisieren soll. Der Wille zur Tugend selbst wird also bereits vorausgesetzt, wenn es um ihre kluge Realisierung geht. Er kann im Individuum durch bloßes rationales Kalkülisieren ohnehin nicht erzeugt werden, sondern ist bei Aristoteles unreduzierbar sozial vermittelt. Der Mensch, der nicht durch die Institutionen der Polis lemt, den Wert der Tugenden für das Ziel eines gelungenen Lebens zu erkennen, ist zur Einsicht in die Legitirnität dieser Institutionen nicht fähig. Diese Aussage darf nun aber nicht etwa "subjektivistisch" verstanden werden, so als würde dem Individuum, das sich den Normen der Polis nicht unterwirft, eine Art "Wertblindheit" unterstellt und die Legitimitätsbasis dieser Normen in einem intuitiven Affirmationsakt verankert, zu dem man eben fähig wäre oder nicht. Wer durch die Polis nicht tugendhaft wird, schließt sich nicht subjektiv von der Einsicht in die Legitinütät ihrer Institutionen ab, sondern er führt objektiv einen Zustand, genauer: ein Verhältnis zu den anderen Bürgern herbei, das dieser Legitimität entgegensieht. Die Polis verfehlt, wenn sie den Bürger nicht tugendhaft zu machen versteht, den Sinn ihres Daseins, von dem aus sich erst rechtfertigen läßt, warum sie ihn tugendhaft gemacht hat. Die Legitimation des Zusammenlebens ist nicht in vorgegebenen Normen, sondern in einem vorgesehenen Zustand des Zusammenlebens verwurzelt, der in der politischen Umsetzung und gesetzlichen Konkretisierung der Polis-Ordnung immer mit auf dem Spiel steht. Die Sprache, in der das Diktat der Vernunft abgefaßt ist, muß man nicht nur subjektiv erst im sozialen Gefüge der Polis verstehen lernen, sondern sie bezieht sich objektiv auf etwas, das man in der und als die Polis erst aufbauen muß, wenn das Diktat der Vernunft die wahre Beschreibung einer Realität sein soll. Die Rechtfertigung der Institutionen unseres Zusammenlebens bleibt in diesem fundamental politischen Sinne immer spekulativ: Sie beruht auf dem, was wir im Vertrauen auf sie schaffen, um uns ihrer zu vergewissern. «In dieser spekulativ strukturierten Beziehung zwischen den Formen unseres Zusammenlebens 41 Summa Theologiae 1-11 91.2 42 Vgl. ebd. 1-11 93.3 43 Rüdiger Bubner: Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft? Vier Kapitel aus dem Naturrecht, Frankfurt am Main 1996 und ihrer Rechtfertigung durch unsere Beteiligung an ihrer Konstituierung haben nun nach Thomas von Aquin die Gesetze des Staates ihre eigentliche Heimat und Berechtigung: "Um des Friedens unter den Menschen und der Tugend willen war es daher notwendig, daß "44 Gesetze erlassen wurden... Und aus dieser unauflösbaren spekulativen Beziehung zwischen unseren Lebensformen, ihrer gesetzlichen Realisierung und der konstitutiven Beziehung beider auf Tugend als den Inbegriff gelingenden Lebens ergibt sich erst der objektive Zusammenhang zwischen Sein und Sollen, in bezug auf welchen Klugheit das adäquate Vermittlungs- und nicht weiter reduzierbare Erkenntnisprinzip iSt.4' Klugheit wird zum Rechtfertigungsmaßstab staatlichen Handelns nicht dort, wo Politiker ihre gesetzgeberischen Vorhaben aus idealen Werten oder ideologischen Programmen deduzieren, sondern dort, wo sie diese Vorhaben dergestalt auf die Lebensziele der Bürger ihres Staates abstimmen, daß die Menschen die Notwendigkeit der den Gesetzen zugrundeliegenden staatlichen Institutionen ffir die Erreichung ihrer Lebensziele einzusehen vermögen und den Gehorsam gegenüber den Gesetzen als einen Beitrag zur Erhaltung der von ihnen gewählten und gewollten Formen ihres Lebens begreifen. Insofern ist auch Klugheit, ebenso wie die Systematik der Gesetze einer grundrechtlichen Verfassung, wesentlich negativ strukturiert: Sie ist paradigmatisch dann gefragt, wenn die Politik sich mit Dilemmastrukturen und den Problemen der "defektiven Besserstellung',46 auseinandersetzen muß, also nüt der insbesondere für freiheitlich verfaßte Gesellschaften gefährlichen und irrationalen Tendenz, daß Menschen sich nur deshalb nicht gemeinschaftsorientiert verhalten, weil sie parasitärem Verhalten anderer zuvorkommen wollen. Die Gesetzgebungskunst besteht in dieser Situation in der Lösung der paradoxen Aufgabe, systematisch Anreize zu sozial orientiertem Verhalten gerade für diejenigen zu schaffen, die sich eigentlich aus sozialer Gesinnung und unabhängig von allen Anreizen sozial verhalten würden, wenn sie nicht durch mangelhafte und undurchschaubare Gesetzgebung davon abgehalten würden. In dieser Kunst, sicherlich nicht hingegen in Appellen an Solidarität oder Wertbewußtsein, zeigt sich das Verständnis, das der Gesetzgeber für die soziale Natur des Menschen hat. Eben weil das Naturrecht den Grund der Gesetze weder in moralischer Gesinnung noch in naturwissenschaftlich exakt ableitbaren Prognosen festzumachen braucht, enthält es die Rechtfertigungsbasis ffir das Handeln eines Politikers, der seinen Erfolg weder auf den moralischen Bewußtseinswandel der Bevölkerung noch auf die soziologische Akzeptanzforschung stützt, sondern auf die Überzeugung von der geschichtlich vorhandenen und durch die Politik nur gegen Irrationalität zu schützenden lebendigen Substanz der Lebensformen des eigenen Gemeinwesens.» Wir sind danüt bei der zentralen Herausforderung angelangt, die vorn ..klassischen" Naturrechtsgedanken ausgeht und letztlich immer im Mittelpunkt der Diskussion um ihn stehen wird: dem Aspekt der Teleologie. Verhalten zu seiner Natur, also zu dem, was ihn von allen anderen Wesen unterscheidet, heißt für den Menschen, sich vernünftig zu verhalten, also zu handeln. Der Handlungsbegriff ist nun im "klassischen" Naturrechtsgedanken teleologisch definiert. Das heißt: Menschliches Handeln ist seiner Natur nach auf eine bestinunte Ordnung hin angelegt, die nicht in der Macht des einzelnen handelnden Subjekts liegt, sondern essentiell sozial - und damit auch im eigentlichen Sinne politisch - konstituiert ist. Es sind also bestimmte die Menschen miteinander verbindende Beziehungen, die das "klassische" Naturrechtsdenken als sozial bzw. politisch konstituierte Bedingungen der Rationalität aufzuweisen versucht. Es ist ein entscheidendes Nüßverständnis, wenn man den Teleologiegedanken statt von dieser relationalen Größe her einseitig von Strebungen oder Interessen versteht, die man als den Menschen von Natur aus gemeinsame unterstellt. Es wäre 44 Ebd. 1-11 95.1 Vgl. hierzu die Interpretation des Zusammenhangs von Tugend und Naturrecht bei Thomas bei Daniel Mark Nelson: The Priority ofprudence. Virtue and Natural Law in Thomas Aquinas and the Implicationsfor Modern Ethics, Pennsylvania State University Press 1992, insbes. 109 ff. 4" Vgl. dazu Karl Homann: 45 in der Tat ein naturalistischer Fehlschluß, wenn man daraus, daß Menschen in bestimmten Interessen oder Bedürfnissen übereinstimmen, ableiten wollte, daß sie ein Recht auf deren Erfüllung hätten. Es geht nicht darum, worin wir übereinstimmen, sondern darum, worin wir aufeinander angewiesen sind. Nicht die Iteration von subjektiven Strebungen, die es in jedem von uns gibt, sondern die Konstitution von objektiven Verhältnissen, die es ohne ein einander ergänzendes Zusammenwirken von Subjekten prinzipiell nicht gibt, begründet Forderungen, die allein durch die Tatsache, daß wir als Menschen handeln müssen, impliziert werden. Man kann die Herausarbeitung und Hervorhebung dieses relationalen Grundzugs des Teleologiegedankens als das zentrale Anliegen bezeichnen, das die Autoren nüteinander verbindet, die den"klassischen" Naturrechtsgedanken nach der ersten Phase seiner noch relativ dogmatischen "Renaissance" - verbunden nüt Namen wie Heinrich Rommen 47 oder Johannes Messner 48 - auf die Höhe der philosophischen Diskussion unserer Zeit gehoben haben: Joachim Ritter mit seiner Aristoteles-Interpretation, wonach "der Mensch..., wo die Polis nicht ist, nur an sich und nur der Möglichkeit nach, nicht aber actu als Mensch zu existieren vermag "49 , Michel Villey mit seiner ausdrücklichen Verankerung der naturrechtlichen Erkenntnisbildung in der Eigenart und in den Grenzen des politisch-juristischen Diskurses über die Regelung gemeinschaftlicher Angelegenheiten"; Rüdiger Bubner nüt seiner These vom Eigenrecht der sozialen Praxis gegenüber der Subjektivität und ihrer konstitutiven Bedeutung als Prinzip der Rationalität und des das individuelle Leben prägenden "kairos""; und Robert Spaemann, der zwar in seiner Betonung der Faktoren des Strebens und der "basalen Normalität"12 menschlichen Daseinsvollzugs die individuelle, an den klassischen begriffen der orexis und der inclinatio anknüpfende Komponente des Naturbegriffs mitunter einseitig hervorgehoben hat, dem wir aber zugleich die präziseste Analyse der Bedeutung verdanken, die gerade der relationale Aspekt, der dem Naturrechtsbegriff seine Grundlage gibt, für die gesamte praktische Philosophie hat. Die Verbindung von Sein und Sollen ist bei Spaemann noch einmal ganz im aristotelisch-thomistischen Sinne als die gegenseitig konstitutive Verbindung von Politik und Ethik rekonstruiert worden - eine Verbindung, die auch Kant noch in Anspruch genommen hat, wenn er Recht und Moral als die zwei strikt getrennten, aber einer gemeinsamen, sie also übergreifenden ethischen Legitimationsbasis verdankten Grundkomponenten des Praktischwerdens der Vernunft konzipiert. Dieser Moral und Recht ethisch miteinander verknüpfende Aspekt besteht in der für jegliche rationale Rechtfertigung menschlichen Handelns vorausgesetzten Notwendigkeit einer der subjektiven Willkür entzogenen Handlungsgliederung, also der gerade für die kulturelle Verständigung der Menschen 13 im Unterschied zu allen anderen Naturwesen fundamentalen Typisierung unseres Handelns. Wodurch unterscheidet sich menschliches Handeln von tierischem Verhalten und überhaupt von allen "Sachverhalten" auf der Welt? Dadurch, daß Menschen sich rechtfertigen können. Vernünftig ist die Handlung, für die man Gründe angeben, also sich vor den anderen Menschen 47 48 49 Joachim Ritter: Naturrecht bei Aristoteles. Zum Problem einer Erneuerung des Naturrechts, Stuttgart 196 1, 28 50 Michel Villey: Le droit naturel et l'histoire, in: Ders.: Seize Essais de Philosophie du droit dont un sur la crise universitaire, Paris 1969, 76; vgl. auch Michel Villey: Philosophie du droit, tome 11: Les moyens du droit, Paris 1979, Kapitel 206 Rüdiger Bubner: Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft? Vier Kapitel aus dem Naturrecht, Frankfurt am Main 1996, 24 52 Vgl. Robert Spaemann: Die Bedeutung des Natürlichen im Recht, in: Karl Graf Ballestrem (Hrsg.): Naturrecht und Politik, Berlin 1993, 119 5' 53 Vgl. hierzu Spaemanns Einleitung zu Rolf Schönberger: Über die Sittlichkeit der Handlung ... sowie Robert Spaemann: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen, etwas' und jemand', Stuttgart 1996, 255 f, 140 f rechtfertigen kann. "Können" ist hier aber eigentlich mit "Müssen" identisch. Wer beteuert, daß er sich für eine bestimmte Handlung rechtfertigen "könne", erkennt dan@üt implizit an, daß er sich ffir sie rechtfertigen muß - egal ob die entsprechende Forderung von außen kommt oder er sie im "forum internum" des Gewissens empfindet. In diesem impliziten Müssen steckt schon die ganze Verbindung von "Sein und Sollen". Daß wir uns für alles, was wir bewußt tun, rechtfertigen können, ist gleichbedeutend mit der Tatsache, daß wir handeln müssen, d.h. daß wir vernünftige Wesen sind. Wer auf nicht zu rechtfertigende Weise handelt, setzt sich gerade dem Rechtfertigungsdruck aus, den rational zu systematisieren die Kernaufgabe unserer staatlichen Gesetze ist. Und selbst wer sich in einen Zustand versetzt, der ihn zurechnungs- und damit rechtfertigungsunfähig macht, wird wiederum für diese "actio libera in causa" zur Verantwortung gezogen. Daß wir uns rechtfertigen müssen, ist keine Norm, aber eine Notwendigkeit. Sie entstammt unseren Lebensformen, geht aus ihnen in spontaner Unableitbarkeit 14 hervor wie die Notwendigkeit der mathematischen und grammatischen Denkformen, mittels derer wir uns auf Wirklichkeit beziehen können. Zwar könnten wir durch bestimmte Handlungen uns und womöglich einmal die ganze Menschheit wieder von dieser Notwendigkeit befreien, aber diese Handlungen selbst stünden erst noch einmal unter Rechtfertigungszwang. Dieser Zwang, uns ffir unser Verhalten rational zu rechtfertigen, ist die letzte Verbindlichkeitsquelle für moralische wie für rechtliche Gebote, aber weil er selbst nicht einer Norm entstammt, kann ihn keine Norm als solche adäquat einholen, sondern bleibt jede normsetzende Reaktion auf ihn wieder angewiesen auf die freie argumentative Verständigung über den Zusammenhang zwischen Norm und Lebensform. Die fundamentale negative Grundbedingung, ohne die wir der Notwendigkeit zu handeln nicht gerecht werden können, besteht nun aber darin, daß die Beschreibung dessen, was wir tun, nicht in die subjektive Willkür des einzelnen gestellt sein kann. Die "Artengliederung" unseres Handelns muß, wenn der Anspruch auf Rechtfertigung nicht zu einem ideologischen Instrument verkommen soll, unserer praktischen Reflexion ebenso willkürfrei vorgegeben sein wie die Artengliederung der Natur unserer theoretischen Forschung. Gerade für die grundlegenden ethischen Modelle der Neuzeit gilt dies ganz offensichtlich: Kants kategorischer Imperativ läuft leer, wenn nicht vor seiner Anwendung feststeht, auf welche Art von Handlung er sich richten soll. Die Maxime, Stehlen sei geboten, wann immer man die Gelegenheit dazu habe, läßt sich nicht verallgemeinern, ohne in einen logischen Selbstwiderspruch zu führen; aber wenn man an ihre Stelle die Maxime setzt, es sei geboten, anderen Menschen wegzunehmen, was man ihnen nur wegnehmen könne, läßt sich die entsprechende allgemeine Praxis durchaus ohne logische Inkonsistenz denken. Ob das, was man tut, Diebstahl ist oder nicht, muß daher die Gesellschaft nach Maßstäben entschieden haben, deren enge Verbindung mit dem ethischen Grundgebot, das der kategorische Imperativ entfaltet, auf der Hand liegt, die aber aus diesem Imperativ jedenfalls nicht im Sinne einer logischen Deduktion folgen. Entsprechendes gilt für die einzig haltbare Form der Folgenethik, den Regelutilitarismus: Nfit dem Prinzip, daß eine Handlung ethisch daraufhin zu beurteilen sei, ob die ihr zugrundeliegende Regel die Glücksbilanz der von der Handlung Betroffenen mehre, läßt sich die Frage nach dem moralischen Wert einer Handlung nicht entscheiden, solange nicht feststeht, wie diese Handlung zu beschreiben sei, also ob beispielsweise die Organentnahme zum Zweck der Transplantation als Tötung einer noch lebenden Person, deren fürnfunktionen definitiv erloschen sind, oder als Verwertung von Leichenteilen zu klassifizieren ist. Die Formulierung der Regel hängt von der Handlungsbeschreibung, also von der vorgängigen Verständigung über den Typus ab, dem die einzelne Handlung unterfällt. Dieses Feld der aller Unableitbarkeit bedeutet nicht Unerklärlichkeit, aber eine kausale Erklärung kann nur Eröffhungs-, nicht Rechtfertigungsbedingungen rationaler Verständigung offenlegen - so wie die Analyse der evolutionären Eröffnungsbedingungen unseres Rechnenkönnens nicht darüber entscheidet, ob eine bestimmte Rechnung, die wir durchgeführt haben, richtig oder falsch ist ... 14 moralischen Beurteilung vorgeschalteten, aber nur im Hinblick auf sie ethisch zu rechtfertigenden Verständigung über die richtige Klassifikation, Subsumtion und gesellschaftliche Sanktionierung unserer Handlungen ist eben das Feld, auf dem der "klassische" Naturrechtsbegriff die Domäne des philosophischen Streitens über richtige soziale und juristische Normen ansiedelt. Naturrechtliches Nachdenken darüber, worauflün unsere rechtliche Ordnung "angelegt" sei, verlangt von der Politik nicht mehr und nicht weniger als den Streit darüber, welche Gesetze im Staat gelten müssen, wenn die Haltungen und Einstellungen, von denen das Zusammenleben der Bürger getragen wird, gefestigt und den jeweiligen Herausforderungen der Zeit angepaßt werden oder durch zumindest nicht Schaden leiden sollen. Denn auch und gerade wenn der Inhalt des von Natur aus Rechten nÜt der spezifisch neuzeitlichen Kategorie der Menschenrechte rekonstruiert wird, so bleibt die ..klassische" Problematik doch grundsätzlich erhalten, wenn der Diskurs über die Menschenrechte sich letztendlich aus der Funktion bestimmt, den uns verfügbaren Spielraum der Neudefinition unserer Handlungsmöglichkeiten so zu begrenzen, daß die Maßstäbe der ethischen Beurteilung des Handelns von Menschen der Verfügbarkeit für den jeweils Handelnden prinzipiell entzogen bleiben. 3. Die Person als Rechtsgrund Der Beitrag des "klassischen" Naturrechtsgedankens zur Diskussion über die Legitimation der Gesetze seit dem zweiten Weltkrieg hat zu einer Selbstaufldärung und Fortentwicklung dieses Gedankens geführt, die man als partielle Konvergenz mit der modernen Naturrechtskonzeption charakterisieren muß. Nicht unwichtig zum Verständnis des Hintergrunds dieser Entwicklung ist der Umstand, daß für die Mehrzahl ihrer wichtigsten Exponenten, in jedem Fall für Ritter, Bubner und Spaemann, die Hegelsche Rechtsphilosophie für ihren Zugang zum Sinn des Naturrechtsgedankens eine entscheidende Rolle gespielt hat. Die Konvergenz zwischen klassischem und modernem Naturrecht geht einher mit der systematisch ausgewerteten Aufmerksamkeit für die Brüche, die es innerhalb der "klassischen" Denklinie, und zwar gerade auch zwischen Aristoteles und Thomas, gibt. Die "lnversion der Teleologie"", also der Übergang von der aristotelischen Konzeption der Zeitgestalt als unableitbarem, in sich pluralem Grund der Naturgliederung zur Vorstellung von einem durch Schöpfungsakt gesetzten Programm am Grunde aller Naturgestalten, hat sich nicht etwa erst im Bruch zwischen dem thon-@stischen Intellektualismus und dem scotistisch-ockhamschen Voluntarismus ereignet, sondern schon bei Thomas von Aquin selbst. In diesem Übergang und in der augustinischen Abwendung von der aristotelischen Verknüpfung zwischen Staat und Gerechtigkeit 16 sind die ausschlaggebenden Trennlinien zu sehen, an denen der Kembegriff ansetzt, der in jede noch so sehr an der "klassischen" Tradition orientierte heutige Naturrechtskonzeption die Verbindung von christlichem mit neuzeitlichem und ihrer beider Abhebung vom griechisch-antiken Denken hineinträgt, nämlich der Begriff der Person. 17 Die Person als Bezeichnung für einen individuell-menschlich konstituierten Inbegriff der Chance gelingenden Lebens ist gegenüber der platonisch-aristotelischen Grundvorstellung von Gerechtigkeit als einer sozialen Ordnung, in der jeder "das Seinige tut" und in der zwischen dem Bürger und der gemeinschaftlichen Rolle, mit der er in seinem Leben eins wird, letztlich nicht mehr unterschieden werden kann," eine grundsätzlich neue Kategorie. Offenbar ist der Personbegriff eine Bastion gewesen, mit deren Besetzung sich eine ähnlich tiefgreifende geistige Revolution abgespielt hat wie mit der hobbesschen Okkupation des Begriffs ius '5 Vgl. Robert Spaemann: Fenelon, ...; Ders.: Die Frage Wozu?... " S.o. FN 13 s' Vgl. dazu vor allem Robert Spaemann: Personen (FN 52), insbes. 26 ff. 58 Vgl. ebd. 32 und Bubner: Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft? (FN 50), 19 naturale durch das "Recht des Stärkeren". Denn bei Paulus heißt es unter Voraussetzung des alten Begriffs der Person als sozialer Rollenbezeichnung noch "Gott sieht nicht auf die Person", während in der Definition der Person als individueller Konkretisierung einer rationalen Natur bei Boethius fünfhundert Jahre später genau das bezeichnet wird, worauf nach Paulus Gott statt auf die "Person" im alten Sinne sieht. Neben den spezifisch christlichen und theologischen Bedingungen dieser Begriffsrevolution kommt in ihr doch auch ein Topos zum tragen, der seinen genuinen Ursprung in der stoischen Philosophie und, vernüttelt über den stoischen Begriff des Weisen, in der für den Übergang von der Polis zum Hellenismus charakteristischen Verlagerung der Existenzweise des platonischen Philosophen gehabt hat und der auch den Hintergrund mit bestimmt, ohne den der Begriff des Naturrechts auch in seinem modernen Kontext nicht zu begreifen ist. Die entscheidende Differenz ist diejenige, die Cicero in De officiis zwischen der allen Menschen gemeinsamen ersten und einer zweiten persona, nänflich derjenigen einffihrt, die jedes menschliche Individuum zu einem inkomrnensurablen, für alle anderen seinesgleichen unbeschreiblichen Prinzip der mit seinen Lebensvoraussetzungen zur Deckung kommenden Selbsterfüllung macht.'9 Es gibt demnach ein Sinnprinzip menschlichen Handelns, das nicht durch die Notwendigkeit des Handelns überhaupt und danüt durch die vernünftige Natur des Menschen als Gattungswesen, sondern gleichursprünglich durch die Notwendigkeit des Individuums konstituiert wird, sich rational zu etwas zu verhalten, wozu sich nur ein rationales Wesen verhalten kann, was aber selbst ein gänzlich irrationales Konstitutivum seines natürlichmenschlichen Daseins ist, nämlich zur Endlichkeit und Einheit seines und nur seines Lebens. Diese spezifisch menschliche Notwendigkeit, durch die noch einmal analog zur Trennung der menschlichen von allen anderen natürlichen Arten jeder Mensch von jedem anderen seinesgleichen unüberbrückbar getrennt wird, ist in ihrer Spannung zwischen Natürlichkeit und Rationalität in der Tradition von Thomas" bis zu Heidegger6' vor allem durch die Interpretation des Todes philosophisch zu begreifen versucht worden. Aber bereits Cicero hat den Naturbegriff nüt dieser philosophischen Problematik aufgeladen, wenn er das Verhalten zur zweiten, singulärenpersona negativ so charakterisiert, daß man das Ziel eines mit seinen Voraussetzungen einigen und in sich konsistenten Lebens nicht erreicht, "wenn man die Natur anderer nachahmt und die eigene aufgibt',62 . Es ist nicht einzusehen, wie ein Autor wie Charles Taylor die hier implizierte Vorstellung des "einen Weges", den es für jeden von uns Menschen gibt, bzw. des "inneren Maßes", von dem her sich die Lebenslogik eines menschlichen Individuums erschließt, als eine neuzeitliche oder gar nachaufldärerische "Entdeckung" 63 interpretieren kann . Das Vertrauen auf ein individuelles Selbstverhältnis, innerhalb dessen der einzelne als das spezifische Glück seines Lebens den Grund erfährt, aus dem sich die Rechtfertigung seiner Beteiligung an sozialen Institutionen ergibt, ohne die dieser Grund nicht herbeigeffihrt worden wäre, ist vielmehr gerade die individual-teleologische Komponente, durch die der Begriff der Person und die mit ihm verknüpfte Vorstellung von Menschenwürde zum spezifisch modernen Prinzip der Tradition und Transformation jener spekulativen Rechtfertigung staatlicher Institutionen werden konnten, wie sie im antiken Polis-Modell durch den Tugendbegriff entworfen worden war. Die Idee des "einen Weges" oder "einen Maßes" ist weder von Nietzsche noch von Herder erfunden worden, sondern sie steht in einer Denktradition, mit der insbesondere die deutsche Rezeption des hobbesschen Staatsmodells durch Pufendorf, Leibniz und Wolff dem Begriff der Menschenrechte einen bis heute virulenten qualitativen Inhalt gegeben hat, der in der heute wieder neuen Diskussion um "positive '9 Vgl. hierzu Maximilian Forschner: Über das Glück des Menschen, Darmstadt 1993, 70 ff. w Vgl. die Begrenzung des Tugendgedankens für die Definition menschlicher Lebenserfüllung durch den 1-Iinweis auf den Tod in 61 Martin Heidegger: Sein und Zeit, 152 Cicero: De officiis ( ... ) I.110 113 Vgl. Charles Taylor: Negative Freiheit? ... Freiheit" seine Relevanz und Aktualität erweist. Im Respekt vor dem Recht des Menschen macht staatliche Gewalt nicht einfach Halt vor einer privaten Willkürsphäre, sondern sie begrenzt sich ausdrücklich in der Einsicht, daß die einzige Art von Legitimation, die das menschliche Zusammenleben erlangen kann, aus der Kraft eines freien Individuums entsteht, nüt dem von ihm selbst entworfenen Lebensplan in einem sich zum Ganzen schließenden Prozeß der Selbsterfüllung zur Deckung zu kommen. «"Die Menschenrechte" werden deshalb auch mißverstanden, wenn man sie als rechtliche Zementier-ung bestimmter kulturell bedingter Lebensformen interpretiert, die durch ihre universale Verkündung zu kulturimperialistischen Einheitsmaßstäben über den ganzen Erdball hin erhoben werden sollten. Wenn man den mit dem stoisch-christlich-neuzeitlichen Personkonzept verbundenen Naturbegriff zugrundelegt, dann gehören zu den Menschenrechten im juristisch operationalisierbaren Sinne nur jene minimalen Freiheits- und Nichtdiskrinünierungsgewährleistungen, aufgrund derer es Menschen möglich wird, selbst über die Lebensformen zu entscheiden, in denen sie die ihnen vergönnte Spanne Lebenszeit verbringen wollen und aufgrund derer es insbesondere politischen Machthabern unmöglich wird, sich an die Stelle der von ihnen beherrschten Menschen zu setzen und die Frage nach den ihnen gemäßen Lebensformen für sie und statt ihrer zu beantworten. Umgekehrt ist es genauso ein Mißverständnis, wenn im Namen der universalen Menschenrechte der Staat in die Pflicht genommen wird, zwischen seinen Bürgern so etwas wie allgemeine "Optionengleichheit" herzustellen, so daß am Ende aufgrund der Leistungen sozialer Institutionen jeder über die Lebensmöglichkeiten verfügen können müßte, die ihm aufgrund seiner natürlichen Begabungen und kontingenten Lebensvoraussetzungen im Vergleich zu seinen Mitbürgern verwehrt geblieben sind. Wenn die legitimitätsstiftende Ausgangsvoraussetzung der staatlichen Gesetzgebung gerade nicht letztlich in sozialen Gemeinschaftsstrukturen, sondern in personaler Authentizität verankert sein soll, dann kann die über die Begrenzung negativer Freiheitseingriffe hinausgehende positive Verpflichtung des Gemeinwesens zur Gewährleistung staatsbürgerlicher Gleichheit nur bis zum Anspruch auf Chancen-, nicht Optionengleichheit gehen, d.h. bis zum Respekt vor der Chance jedes Individuums, aus seinen individuellen Voraussetzungen proportional zu den Voraussetzungen der anderen ein möglichst sinnvoll geführtes Leben zu entfalten. Der Naturbegriff bietet hier wiederum keine Basis, von der aus die dafür relevanten Proportionalitäten exakt definiert werden könnten, aber er erlaubt zumindest, die politischen Vorentscheidungen, die sich in jeder für sie gegebenen Definition zeigen werden, rational rekonstruierbar und einer auf Klugheitsund Zweckmäßigkeitserwägungen gestützten Normsetzungsdiskussion zugänglich zu machen.» Mit dem Begriff "PersoW' wird der "natürlichen" Berufung auf vorgesetzliche Verhältnisse ein sie, diese Berufung, noch einmal zugleich begründendes und begrenzendes Prinzip zugrundegelegt, durch welches die rechtliche Fundierung unserer Gesetze zwar auch wiederum nicht in eine Norm verwandelt wird, das jedoch den einen entscheidenden Aspekt sichert, den Normen neben ihrer verpflichtenden Notwendigkeit noch haben müssen, um einen Bezug zur Natur des Menschen beanspruchen zu können, nämlich den Aspekt der Universalität. Der Begriff"Naturrecht' hat hierin seine zweite, neben der ersten oft unterschätzte Grundfunktion: Er hält nicht nur fest, daß die gemeinschaftliche Legitimation der Gesetze ein natürlicher Grund ist, sondern ebenso, daß die Beruffing auf gemeinschaftliche Verhältnisse nur als rechtlicher Grund Gesetze zu legitimieren vermag. Es ist gerade nicht die Gemeinschaft als solche, sondern dasjenige an ihr, was repräsentativ für jede menschliche Gemeinschaft auf der Welt" ist, worin Gesetze einen legitimen Grund zu finden vermögen. Eine Theorie dessen zu geben, was hier Repräsentativität heißt, das darf man als den Sinn von Hegels Geschichtsphilosophie und zugleich als das Hauptthema betrachten, vor das sich ein um seine Aktualisierung bemühtes naturrechtliches Denken heute gestellt sieht. Ohne Zweifel spielt der Begriff der "Anerkennung" hier eine wesentliche Rolle, aber er steht, isoliert genommen, zu sehr in der Gefahr, den Eindruck hervorzurufen, als könne eine Theorie der Repräsentativität menschlicher Gemeinschaft schließlich durch die Kategorie des Gemeinschaftlichen k-ürzen und sich als Theorie des funktionalen Zusammenhalts von Gesellschaften formulieren. Es gibt hinsichtlich der für rechtliche Universalität vorausgesetzten Kraft zur Selbstrelativierung gemeinschaftlicher Identität eine Dimension, die man immer dann nicht erfaßt, wenn man den Aspekt ausblendet, unter dem die jeweilige Gemeinschaft nicht eine, sondern diese also meine ist. Diesen konkreten, mit Heidegger gesprochen jemeinigen" Aspekt der Universalität zu fassen, ist eine paradoxe Aufgabe. Robert Spaemann hat sie mit dem vielleicht originellsten Begriff seiner Naturrechtslehre zu fundieren versucht, nämlich mit dem Begriff der Nähe. "Es gibt das," so Spaemann in "Glück und Wohlwollen',64 im Anschluß an Max Scheler, "was Augustinus den ordo amoris genannt hat. Jeder hat im ordo amoris des anderen einen eigenen Ort. Die Universalität der Vernunft läßt uns selbst realisieren, daß wir nicht jedem so wichtig sein können, wie wir es uns selbst sind. Und eben weil jeder Mensch das weiß, hat jeder Mensch einen Anspruch, niemandem als ein Niemand zu gelten." Die universale Anerkennung aller anderen Menschen ist uns nur möglich, wenn wir einen Maßstab haben, dem gegenüber uns die Schwäche und die Grenzen faßbar werden, in deren vernünftiger Kompensation das Recht seine gesetzliche, nämlich abstrakt-universelle Konkretisierung fordert. Das Unerreichbare, zu dem das Gesetz, wie schon Platon und Aristoteles sagten, die "zweitbeste Lösung" bietet, ist die Übertragung eines partiell Erreichbaren auf die Menschheit als ganze. Das insofern notwendige Korrelat zur universalen Anerkennung aller Menschen als Personen besteht in der Bereitschaft jedes einzelnen Menschen, für einige wenige, die Seinigen, etwas zu tun, was er für andere nie tun würde. Erst wer diese Näheverpflichtung erfahren hat, kann sie freilich wiederum in einem "Schluß von sich auf andere", der kein logisch-deduktiver Schluß ist - entsprechend auf unbegrenzt viele andere übertragen und ihnen zubilligen, daß es für sie den entsprechenden Anspruch und die entsprechende Verpflichtung gibt. Man erwirbt sich den Respekt aller, indem man gegenüber wenigen alles gibt, was man ihnen schuldet. Darum bestimmt sich die Eigenart der Person niemals nur aus universaler Äquidistanz, sondern immer zugleich aus einer sozialen und kulturellen Nähestaffelung, um deretwillen die vorgesetzlichen Verhältnisse aufrecht erhalten werden, auf die wir uns berufen, wenn wir die universale Verantwortlichkeit unserer Gesetzgebung und Gesetzesausführung verlangen. 154 Robert Spaemann: Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 1989, 145