Anna Huber Eine Frage der Zeit 19. / 20. September 2009 Dampfzentrale Bern Marzilistrasse 47 3005 Bern Foto: Caroline Minjolle dossier Anna Huber Eine Frage der Zeit Uraufführung: 29.10.2008, Dampfzentrale Bern Konzept/Choreografie/Tanz: Anna Huber Musik: Martin Schütz Raum/Licht: Thilo Reuther Künstlerische Mitarbeit: Markus Wolff Kostüm: Inge Zysk, Elke Schmid, Anna Huber Oeuil Extérieur: Elke Schmid Assistenz: Petra Rusch Produktion annahuber.compagnie. Koproduktion: Dampfzentrale Bern, Theater Chur, Centre national de la danse, Pantin/Paris, Tanzfabrik Berlin Mit freundlicher Unterstützung von Kultur Stadt Bern, Amt für Kultur des Kantons Bern, Pro Helvetia Schweizer Kulturstiftung. Tanz ist wie sichtbar vergehende Zeit. Alles ist in ständiger Veränderung. Nichts ist sicher. Wir können nichts festhalten. Es gibt keine Gewissheit, ausser, dass alles irgendwann zu Ende ist. Jeder Moment ist einmalig und im nächsten Augenblick schon vorbei. Wie speichern sich Erinnerungen im Körper, im Gedächtnis? Wie verändern sich Erinnerungen im Lauf des Lebens? Wann verblassen sie? Was für Spuren hinterlassen sie? Zeit hinterlässt Spuren, Narben, Falten. Zeit verwischt Spuren. Wir rennen der Zeit hinterher, versuchen sie einzuholen. Die Zeit soll stehen bleiben, langsamer vergehen, schneller vergehen. Wir wollen Zeit anhalten, festhalten, einfangen, einholen, wiederholen, die Zeit vergessen, zurückschrauben, vorwärts spulen. An unserem Wunsch, das Fliessen der Zeit zu beeinflussen, scheitern wir immer wieder. Lauter Gegensätze und Widersprüche prägen die Bewegung der Zeit. Wachsen vergehen, beginnen - enden, Begegnung - Abschied, anwesend - abwesend, vorwärts – rückwärts, gewinnen - verlieren. Wertvoll und vergänglich zerrinnt uns Zeit zwischen den Fingern. Das Bewusstsein, dass Zeit für uns endlich ist, macht Zeit erst erfahrbar. Die Grenze, das Ende macht uns das Vergehen der Zeit bewusst. Zeit scheint grenzenlos und setzt uns gnadenlos ihre Grenzen. Zeit gibt es ohne Ende und nie genug. Nicht die Zeit vergeht, wir vergehen. biografie Anna Huber Nach ihrer Tanzausbildung in Zürich arbeitet Anna Huber mit verschiedenen Choreografen, u.a. mit Jo Fabian und Helena Waldmann. 1989 - 2007 lebt und arbeitet sie in Berlin. Seit 2007 ist sie Artist in Residence an der Dampfzentrale Bern und wird im Rahmen eines 3-jährigen Kooperationsvertrags von Kultur Stadt Bern, Amt für Kultur des Kantons Bern und Pro Helvetia Schweizer Kulturstiftung unterstützt. Während ihres Engagements am Staatstheater Cottbus beginnt Anna Huber 1993 ihre eigene choreografische Recherche. In Berlin entstehen seit 1995 die Soli in zwischen räumen, brief letters (1996), unsichtbarst (1998), das Gruppenstück die anderen und die gleichen (1999) und das Duo l´autre et moi mit Lin Yuan Shang (1999). 2001 erarbeitet sie Stück mit Flügel mit der Pianistin Susanne Huber und das Duett two,too mit der tschechischen Tänzerchoreografin Kristyna Lhotáková. Seit 2002 entwickelt sie die architekturspezifischen Performances umwege. 2004 choreografiert sie wolkenstück am luzernertheater für 5 Tänzer und 2 Musiker sowie das Solo hierundoderhierundoderhierundoderdort. 2005 erarbeitet sie das Trio trois de pas am Theater St. Gallen. 2006 entsteht das Duo handundfuss mit dem Schlagzeuger Fritz Hauser. 2008 entwickelt sie das Solo Eine Frage der Zeit in Zusammenarbeit mit dem Musiker Martin Schütz. Diese Zusammenarbeit setzt in dem ortspezifischen Projekt timetraces fort. 2009 entsteht in Kooperation mit dem Klavierduo huber/thomet tasten. Mit ihren Stücken tourt Anna Huber international. 1998 erklären sie die Kritiker zur bemerkenswertesten Nachwuchschoreografin. 2001 erhält sie den Ellys Gregor-Förderpreis der Mary Wigman-Gesellschaft, Köln. 2002 wird ihr mit dem Hans Reinhart-Ring die höchste Theaterauszeichnung der Schweiz verliehen und ihre Arbeit mit dem 1. Schweizer Tanz- und Choreografiepreis 2002 (Kritikerpreis) ausgezeichnet. 2005 ermöglicht ihr ein Atelierstipendium der Zuger Kulturstiftung Landis & Gyr einen halbjährigen Londonaufenthalt. Arbeitsansatz Anna Hubers Arbeit an der Schnittstelle von darstellender und bildender Kunst und in ständiger Reibung zwischen Abstraktion und Emotion erforscht die künstlerischen Möglichkeiten von Tanz als immer wieder neu zu hinterfragender Formensprache. Menschliche Bewegung ist in ihrer komplexen Einfachheit ein Experimentierfeld, in dem sich Raum- und Zeitwahrnehmung ständig verändern. Ihre Flüchtigkeit lässt Grenzgänge und Irritationen zu. Die Komplexität, Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit menschlicher Verhaltensmuster wird aus verschiedenen Perspektiven untersucht und beleuchtet. Fragen nach Wahrnehmung, Identität und Kommunikation werden ausgelotet. In Grenzbereichen, Zwischenräumen und scheinbaren Gegensätzen, in der Lücke zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen finden sich inspirierende Neuentdeckungen. Der Körper im Raum ist Instrument und Forschungsgegenstand gleichzeitig. Die offene Frage, das Paradoxe sind Thema und Motivation, weiter zu suchen. Irene Sieben Licht und Transparenz durchdringen das Repertoire von Soli, Duetten und Gruppenstücken der Anna Huber. Luzide auch das Klima ihres Forschungslabors. Konsequent, immer wieder bei Null beginnend, befragt sie den Körper, fragmentiert, verwirft, um an der Schnittstelle zwischen Motion und Emotion den Sinn, die Sinne, ihren Eigensinn zu enthüllen. Scharf konturiert, dicht und leicht ist ihre Bewegungssprache, fern postmoderner Klischees, aufgeraut durch Kontraste. Überraschend kippt sie in Komik, wenn sich die Glieder verwirren/entwirren. Abstrakt, wenn sie ihre Körperarchitektur zum Schlagwerk Fritz Hausers mit der Struktur bühnenunspezifischer Räume konfrontiert (ihr Ton-Tanz-Dialog spinnt sich 2006 zum Thema handundfuss fort). Ergreifend konkret und verstörend in ihrem Zwiespalt und Einsamkeit atmenden Doppel-Soloabend two ones mit Kristyna Lhotáková. Als Tänzerin der freien Szene choreografiert die Bernerin aus Berlin auch am Theater, zuletzt das vor Temperament und Humor sprühende Trio trois de pas am Stadttheater St. Gallen. Jahrbuch ballettanz 2005, Katja Schneider Für Ausdauer, Konsequenz und Nachhaltigkeit: Seit mehr als zehn Jahren leistet Anna Huber mit ihren Recherchen zum tanzenden Körper im Raum Herausragendes. Es gelingen ihr immer wieder neue Perspektiven und Akzentuierungen; sie wagt Grenzgänge und bleibt trotz aller Akribie flexibel und offen. Kein Stück gleicht dem anderen, doch alle sind unverkennbar Anna Huber. Seit ihren frühen Soli, die international beachtet wurden – in zwischen räumen war das erste –, über die Duette mit Tänzerkollegen und Musikern, bis hin zu ihren Gruppenstücken, auch für andere Ensembles, in allem überzeugt Anna Huber mit Strenge. Der Arm auf der Treppenstufe, das Bein im Türrahmen – winkelige Angelegenheiten in perfekter Entsprechung zur Architektur des Raums, in dem sie sich bewegt. Hinter der formalen Kühle pulsen dabei Kraft, Temperament und – Humor. Mit ihrer letzten Arbeit hierundoderhierundoderhierundoderdort (als Teil von two ones) hat sie endgültig bewiesen, dass sie das Zeug zum Klassiker hat. Anna Huber zeigt: Qualität setzt sich doch durch – und das lässt hoffen. Repertoire timetraces (2009), Tanz: Anna Huber, Musik: Martin Schütz Eine Frage der Zeit (2008), Tanz: Anna Huber, Musik: Martin Schütz Stück mit Flügel (2001), Tanz: Anna Huber, Klavier: Susanne Huber unsichtbarst (1998), Solo hierundoderhierundoderhierundoderdort, Solo, bzw. two ones (2004), zwei Soli von Anna Huber und Kristyna Lhotáková Improvisationen mit Martin Schütz, Hans Koch u.a. umwege (2002), architekturspezifisches Projekt two,too (2001), Duett mit Kristyna Lhotáková Biografie Anna Huber Geboren 1965 in Zürich. Gymnasium, Tanz- und Theaterunterricht in Bern. 1985–88 seit 1989 1989–97 1988–92 1992–94 1995 1996 Tanzausbildung am ch-tanztheater in Zürich in Berlin Performanceprojekte mit: Kazuo Ohno, Giorgio Barberio Corsetti, Saburo Teshigawara, Meg Stuart, Susanne Linke u.a. Engagements als Tänzerin in der Schweiz, Deutschland und Österreich (u.a. Willi Dorner) Engagement Tanztheater-Kompanie am Staatstheater Cottbus (Regie/Choreografie: Jo Fabian, Elvira Schurig) "Die Hawkingvariante" (Regie: Jo Fabian) "face… à" (Regie: Helena Waldmann) Werkverzeichnis / Eigene Arbeiten 2009 2008 2006 timetraces Tanz: Anna Huber; Musik: Martin Schütz Eine Frage der Zeit Konzept/Choreografie/Tanz: Anna Huber; Musik: Martin Schütz; Raum/Licht: Thilo Reuther; Premiere: Dampfzentrale Bern 2005 seit 2004 2004 2004 seit 2003 2002 2001 2001 1999 1999 1998 handundfuss Konzept/Musik/Tanz: Anna Huber, Fritz Hauser; Licht: Thilo Reuther; Kostüm: Inge Zysk; Premiere: Dampfzentrale Bern trois de pas Choreografie: Anna Huber; Tanz: Kristina Veit, Philipp Egli, Nunzio Verdenero; Musik: Fritz Hauser; Raum/Licht: Bert de Raeymaecker; Kostüm: Claudia Binder; Premiere: Stadttheater St. Gallen Improvisationen mit Martin Schütz, Hans Koch, Fritz Hauser u.a. wolkenstück Konzept/Choreografie: Anna Huber; Musikkonzept/Live-Musik: Susanne Huber, Fritz Hauser; Tanz: Linda Magnifico, Angela Müller, Sandro Kolbe, Fernando Nicolas Pellicioli, Marco Volta; Video: Heike Baranowsky; Raum/Licht: Thilo Reuther, David Hedinger; Kostüm: Nina Lepilina; Dramaturgie: Brigitte Knöß; Premiere: luzerntanz am luzernertheater two ones 2 Soli, Premiere: Hebbel am Ufer, Berlin, bzw. hierundoderhierundoderhierundoderdort Konzept/Choreografie/Tanz: Anna Huber; Musik: Martin Schütz; Licht: Thilo Reuther; Kostüm: Chris Kremberg I am here, you are at home Konzept/Choreografie: Kristyna Lhotáková, Ladislav Soukup; Tanz: Kristyna Lhotáková; Musik: Ladislav Soukup; Licht: Jochen Massar Neufassungen von umwege: Maison des Arts, Créteil (F), Le Manège, Maubeuge (F), KKL Luzern (CH), ehem. Feuerwehrhaus der Vitra GmbH Weil/Rhein (D), Kunstmuseum Stuttgart (D), CCS, Rom (I), Mambo Bologna (I) u.a. umwege Konzept: Anna Huber, Fritz Hauser; Choreografie/Tanz: Anna Huber; Musik: Fritz Hauser; Licht: Thilo Reuther; Kostüm: Inge Zysk, Erstaufführungen: Therme Vals, U-Bahnhof Potsdamer Platz, Berlin. Fundació Miró, Barcelona, Akademie der Künste, Berlin. two,too Konzept/Choreografie/Tanz: Anna Huber, Kristyna Lhotáková; Licht: Thilo Reuther; Song: Sophie Huber; Kostüm: Katharina Montag; Uraufführung: Theater am Halleschen Ufer, Berlin Stück mit Flügel Konzept/Choreografie/Tanz: Anna Huber; Klavier/Musikkonzept: Susanne Huber; Musik: György Ligeti, György Kurtág, Franz Liszt; elektronische Musik: Martin Schütz; Kostüm: Inge Zysk; Uraufführung: luzerntanz am luzernertheater l’autre et moi Choreografie/Tanz: Anna Huber, Lin Yuan Shang; Licht: Hervö Gary; Musik: Martin Schütz; Kostüm: Inge Zysk; Uraufführung: Theaterhaus Gessnerallee, Zürich die anderen und die gleichen Konzept/Choreografie: Anna Huber; Tanz: Heiko Büter, Vanessa Kienast, Fine Kwiatkowski, Kristyna Lhotáková, Britta Schönbrunn, Günther Willhelm, Udo Zickwolf; Raum/Licht: Thilo Reuther; Musik: Wolfgang Bley-Borkowski; Kostüm: Inge Zysk; Uraufführung: Theater am Halleschen Ufer, Berlin 1996 1995 1994 1993 Tourneen Preise 2001 2002 2002 unsichtbarst Konzept/Choreografie/Tanz: Anna Huber; Raum/Licht: Thilo Reuther; Musik: Wolfgang Bley-Borkowski; Kostüm: Inge Zysk; Uraufführung: Museum für Gegenwart im Hamburger Bahnhof, Berlin brief letters Konzept/Choreografie/Tanz: Anna Huber; Raum/Licht: Thilo Reuther; Live-Musik: Sebastian Hilken; Kostüm: Inge Zysk; Uraufführung: Hebbel-Theater, Berlin in zwischen räumen Konzept/Choreografie/Tanz: Anna Huber; Raum/Licht: Thilo Reuther; Musik: Wolfgang Bley-Borkowski; Kostüm: Inge Zysk; Uraufführung: Theater am Halleschen Ufer, Berlin brief Choreografie/Tanz: Anna Huber; Musik: Georg Wieland Wagner; Uraufführung: Staatstheater Cottbus dualLein Choreografie/Bühne/Tanz: Anna Huber; Musik: Franz Petzold; Uraufführung: Staatstheater Cottbus Seit 1996 Tourneen in ganz Europa, Asien, Australien und Lateinamerika, ermöglicht durch Pro Helvetia Schweizer Kulturstiftung und das Goethe-Institut InterNationes Ellys Gregor-Förderpreis der Mary Wigmann-Gesellschaft, Köln Hans Reinhart-Ring 1. Schweizer Tanz- und Choreografiepreis 2002: Kritikerpreis Lehrtätigkeit Freie Universität Berlin, Masterstudiengang Tanzwissenschaft Wintersemester 2007/08: Valeska-Gert-Gastprofessur für Tanz und Performance Nachdiplomstudiengang Tanz, Uni Bern Hochschule der Künste Bern Palucca Hochschule Dresden ETH Zürich Jury Studienpreis Tanz Migros-Kulturprozent Förderungen Kultur Stadt Bern Amt für Kultur des Kantons Bern Pro Helvetia Schweizer Kulturstiftung Senat für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Berlin Fonds Darstellende Künste, e.V., Essen Hauptstadtkulturfonds Berlin Atelierstipendium in London der Zuger Kulturstiftung Landis & Gyr Koproduktionen annahuber.compagnie. mit Kulturhallen Dampfzentrale, Bern luzerntanz am luzernertheater presse Anna Huber Eine Frage der Zeit Uraufführung: 29.10.2008, Dampfzentrale Bern Theaterhaus Gessnerallee, Zürich Theater am Halleschen Ufer, Berlin Tanznacht Berlin Theater St. Gallen Marianne Mühlemann, Der Bund, 31.10.2008 Evolution der Vergänglichkeit Uraufführung des Solotanzstücks Eine Frage der Zeit von und mit Anna Huber in der Dampfzentrale Bern Sie ist auf der Höhe ihres tänzerischen Könnens: In ihrer jüngsten Soloperformance verblüfft die Tänzerin Anna Huber mit neuen Erkenntnissen zum Phänomen Zeit. In der Spannung ihres Körpers spiegeln sich ihre Gedanken. Zeit will sie gewinnen, Sekunden, Minuten, Zeit, dieses kostbarste aller Lebensgüter, das schon für Aristoteles untrennbar mit Bewegung und Veränderung verbunden war. Explosiv rennt sie in den Raum, mit wild drehenden Propellerarmen. Vorwärts, rückwärts, schnell, schnell. Sie hetzt durch eine Wand von metallenen Klängen und Geräuschen (ab Band Martin Schütz) und kommt vor der Rückwand kurz zur Ruhe: Wie Gletscherzungen hängen sieben glänzende Kunststoffläufer in den Bühnenraum, breiten sich als Tanzteppich gegen das Publikum aus. Mit punktgenau nadelnden Kreuzschritten grenzt Anna Huber die silbergraue Fläche ein. Als wäre sie ein Becken für die eingebrachte Zeit... Anna Huber findet ihre eigenen Bilder für ein Phänomen, das sich nicht im physikalischen Erleben erschöpft. In einer ausgeklügelten Dramaturgie zwischen Lichtquadraten und atmosphäri- schem Dämmerlicht (Thilo Reuther) spielt sie ihren Körper in eine Evolution der Vergänglichkeit. Sie verformt sich zum archaischen Insekt, zur filigran zugespitzten Körpernadel. Sie balanciert ihren Körper durch ein perfekt komponiertes Kontinuum aus Bewegungselementen, die manchmal zeichenhaft-abstrakt wie Kalligrafie aufscheinen, manchmal als transparente Körperarchitektur zu lesen sind, die sich auflöst: Etwa dann, wenn die Tänzerin ihren Körper im schwarzen Trikot vor dem dunklen Hintergrund zur Kugel verdichtet und – Schwarz auf Schwarz – unsichtbar wird. Körper-Ikebana Huber verschiebt sich von einer Gletscherzunge zur andern durch Zeit und Raum. Und spielt mit der Illusion der Zeitlosigkeit dahinter, wenn sie zwischen den grauen Nähten in neue Weiten aufbricht und zu neuen Identitäten findet. Im roten Glitzerkleid tanzt sie in einer Wolke aus Reiskörnern eine Andromeda-Galaxie. Faszinierend, wie sie die Gleichzeitigkeit des Ungleichen in spektakulären Isolationen sichtbar macht, wie sie ihre Fingerfächer hinter dem Rücken zur KörperIkebana aufblühen lässt oder blitzschnell in die Leere greift, als gäbe es da unverbrauchte Zeitreste wie Mücken einzufangen. Und wenn sie in kurzen Staccati auf die Erde klopft, scheinen da Zeitfunken zu sprühen, die ihr Uhrwerk neu mit Energie versorgen. «Nicht die Zeit vergeht, wir vergehen», sagt Anna Huber. Es ist das Fazit ihrer Bewegungsrecherchen zum Thema Zeit. Wer bei der Premiere in der Dampfzentrale genau hinsah, erlebte indessen das Gegenteil: Die kompromisslose Tänzerin zeigte in ihrer ersten Soloarbeit seit vier Jahren eine physische Klarheit, mentale Präsenz und kompositorische Frische, als ob die Zeit an ihr vorübergegangen wäre. Sie liess die Zeit vergessen. Marlies Strech, tanznetz.de 30.10.2008 Wie vom Himmel gefallen Anna Hubers neues Solo Eine Frage der Zeit Ende Oktober, früher Wintereinbruch in Bern. Beim Verlassen der Dampfzentrale unten an der Aare fallen dicke Schneeflocken auf die mit Blättern bedeckten Strassen. Dünne Strassenbeleuchtung. Eine Stimmung, so wirklich-unwirklich wie zuvor bei der Uraufführung von Anna Hubers jüngstem Solo Eine Frage der Zeit. Die Kreation, das sei vorweggenommen, ist ein Wurf. Man darf ihr eine lange Zukunft prophezeien. Wie eine Außerirdische erscheint Huber in Eine Frage der Zeit - vom Himmel gefallen mit dem Schnee? Das neue Solo erinnert auch insofern an eine Schneeflocke, als die Tanzelemente so ziseliert sind wie die Muster einer Flocke, wenn man sie unter die Lupe nimmt. Zwar hat auch Anna Huber nur zwei Arme und Beine, zwei Hände und Füße. Aber ihre Bewegungen im Großen und erst recht im Kleinen nehmen hunderterlei Gestalt an. Manchmal erinnert die Tänzerin an eine indische Gottheit mit vielen vibrierenden Armen, dann wieder reduziert sich das Geschehen auf ein paar Finger, die auf dem Boden laufen. Kleinkindern gleich, die miteinander spielen oder in Streit geraten. Die Tänzerin scheint wirklich von einem andern Stern zu kommen. Das Besondere an ihr sind die Neugier an ihrem eigenen biegsamen Körper, das Erproben jedes einzelnen Müskelchens, das Staunen über sich selbst. Ihre Präzision. Alles mit der kühnen Ausdauer einer Forscherin. Für einprägsame Strukturen in diesem filigranen Stück sorgt der Sound. Martin Schütz hat eine Musik-Geräusch-Kulisse geschaffen, die an Weltraum erinnern, an Sphärenklänge und Meteoritengeklirr. Am Anfang und Schluss erschreckt Schütz durch Lautexzesse, zwischendurch bezaubert oder befremdet er mit Effekten aller Art. Die Musik kommt vom Tonträger, doch ist sie in enger Zusammenarbeit mit der Tänzerin entstanden. Ein Wesen voller Gegensätze: schüchtern, subtil, introvertiert – und gleichzeitig ausdauernd, energisch und weltbezogen. Für ihre Arbeit wurde Anna Huber vielfach ausgezeichnet: 1998 von der Zeitschrift Ballett International/tanz aktuell, 2001 von der Mary-Wigman-Gesellschaft Köln, 2005 mit dem Hans-ReinhartRing, dem wichtigsten Schweizer Theaterpreis. Auch Eine Frage der Zeit erscheint medaillenverdächtig. Lucie Machac, Berner Zeitung, 31.10.2008 Von der Zeit verschluckt Die Bernerin Anna Huber macht Zeit sichtbar: Ihre Soloperformance Eine Frage der Zeit ist ein fesselndes Experiment mit dieser relativen und doch unerbittlichen Dimension. ... hat die international beachtete Choreografin und Tänzerin mit Eine Frage der Zeit in der Dampfzentrale eine Soloperformance präsentiert, wie man sie von ihr gewohnt ist: formstreng und doch verspielt, simpel, aber raffiniert, unspektakulär und dennoch fesselnd. Im Strudel der Zeit Für die 43-Jährige bedeutet Tanz «sichtbar vergehende Zeit». Weshalb also nicht die Zeit selbst zum Thema machen? Ein kahler, mit herabfliessenden schwarzen Plastikbahnen begrenzter Raum scheint die ideale Spielwiese, um diese relative Dimension sinnlich erfahrbar zu machen. Zum Beispiel, wenn die Zeit heimlich davonläuft und Anna Huber ihr hinterherrennen muss. Oder umgekehrt, wenn die Zeit sie von einem Ort zum nächsten hetzt, sodass der Körper samt wild rudernden Uhrzeiger-Armen vergeblich ums Gleichgewicht ringt. Sich im Strudel der Zeit einzupendeln ist unmöglich, da kann Anna Huber ihren geschmeidigen Bewegungsapparat noch so lange zum Pendel umfunktionieren. Dass sie aber mit scheinbar minimalen Mitteln die vierte Dimension erschliessen kann, das muss ihr erst eine nachmachen.